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Full text of "Nachrichten"

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Nachrichten 


von  der 


Königlichen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 


zu '  Göttingen. 


Philologisch-historische  Klasse 

aus  dem  Jahre  1908. 


ßerlin, 

Weidmannsche  ßuchhandlunj 
1908. 


m 


Druck  der  Dleterichsclicn  Univ.-Buclidnickerei  (W.  Fr.  Kaestner) 
in  Outtingen. 


Register 

über 

die  Nachrichten  von  der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften 

philologiscli-liistorisclie  Klasse 

aus  dem  Jahre  1908. 


Seite 

F.  C.  Andreas,    Notiz   über   eine   Streitschrift   des  Herrn 

Ter-Mikaelian 375 

F.  Bechtel,  Über  einige  thessalische  Namen 571 

P.  J.  Blök,    Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit  608 
N.  Bonwetsch,  Die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen 

Litteratur 581 

H.  Jacobi,  Über  Begriff  und  Wesen  der  poetischen  Figuren 

in  der  indischen  Poetik 1 

P.  Kehr,  Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens.    II.     .  223 

F.  Leo,  Weitere  Beiträge  zu  Menander 430 

L.  Meyer,  Zu  Tacitus'  de  origine  et  situ  Germanorum  .     .  443 
W.  Meyer,  Ein  Merowinger  Rythmus  über  Fortunat  und 

Altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen      ....  31 

W.  Meyer,  Über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunats      .  82 

W.  Meyer,  Das  erste  Gedicht  der  Carolina  Burana   .     .     .  189 

W.  Meyer,  Lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik  194 

W.  Meyer,  Zwei  Gedichte  zur  Geschichte  des  Cistercienser 

Ordens 377 

W.  Meyer,    Quondam   fuit    factus    festus,    ein    Gedicht   in 

Spottlatein 406 

L.  Morsbach,  Shakespeare  und  der  Euphuismus     ....  660 
R.  Pietschmann,   Nueva   Coronica  y  Buen  Gobierno   des 
Don  Felipe  Guaman  Poma  de  Ayala,    eine  peruanische 

Bilderhandschrift " 637 


IV 

Seite 

E.  Schröder,  BLACEFELB 15 

{3.  Schröder,  Maler  Müllers  große  Liebesode 561 

E.  Schwartz,  Aporien  im  vierten  Evangelium. 

n 125 

in.    . 149 

IV 497 

E.  Schwartz,  Zur  Greschichte  des  Athanasius.   VII.  .     .     .  305 
J.  Jak.  Werner,  Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines 

Basler  Klerikers  aus  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts     .  449 


Ueber  Begriff  und  Wesen  der  poetischen  Figuren 
in  der  indischen  Poetik. 

Von 

Hermann  Jaeobi. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  25.  Januar  von  F.  Kielhorn. 

Die  poetischen  Figuren  ÄlamJcäraSj  von  denen  die  indische 
Poetik  ihren  Namen  Alamkära^ästra  erhalten  hat,  haben  das  In- 
teresse der  Inder  immer  in  hohem  Grrade  gefesselt.  Nicht  nur 
daß  man  bis  in  späteste  Zeiten  neuen  und  immer  neuen  Figuren 
oder  Figürchen  nachspürte,  sondern  auch  die  theoretische  Unter- 
suchung des  Begriffs  und  des  Gebietes  der  einzelnen  Figuren  hat 
eine  Peihe  scharfsinniger  und  gelehrter  Köpfe  angelentlichst  be- 
schäftigt, unter  denen  Ruyyaka,  der  Verfasser  des  Alamkärasar- 
vasva,  im  12.  Jhd.,  sein  Commentator  Jayaratha,  der  Verfasser 
der  Vimar^ini,  im  13.  Jhd.,  und  der  letzte  und  größte  Meister 
der  Analyse  Jagannätha,  der  Verfasser  des  Pasagangädhara,  im  17. 
Jhd.,  an  erster  Stelle  zu  nennen  sind.  Von  ihren  Untersuchungen 
will  ich  nur  einen  Punkt  hier  herausheben  und  zusammenstellend 
mitteilen,  was  sie  über  Begriff  und  Wesen  der  poetischen  Figur 
als  solchen  gelehrt  haben.  Man  muß  hierbei  beachten,  daß  die 
Inder  nicht  über  die  Figuren  überhaupt,  sondern  über  poetische 
Figuren  gehandelt  haben,  im  Unterschied  von  den  Alte^,  welche 
die  Figuren  vom  Gesichtspunkte  des  Pedners  behandelten,  ihre 
Beispiele  aber  meist  aus  Homer  und  den  Dichtern  wählten,  so  daß 
eine  reinliche  Scheidung  zwischen  Phetorik  und  Poetik  nicht  zu- 
stande kam  ^).     Wenn  es  üblich  geworden  ist,  die  indische  Poetik, 

1)  Auch  die  Figurenlehre  der  Araber  geht  sowohl  auf  Poesie  wie  auf  nicht 
poetische  Rede.  Sie  ist  daher  ein  Teü  der  Rhetorik  im  weiteren  Sinne.  Einen 
Einblick  in  diese  arabische  Wissenschaft  und  ihr  Wesen  erhält  man  leicht  aus 
A.  F.  Mehren,  die  Rhetorik  der  Araber,  Wien  1853. 

Kgl.  Ges.  d.  Wisa.    Nachrichten.    Philolog.-Mst.  Klasse.    1908.    Heft  l.  1 


2  Hermann  Jacobi 


das  AlamkäraSästra,  als  Rhetorik  zu  bezeichnen,  so  ist  das  eine 
Mißbenennnng,  die  nicht  weiter  fortgeschleppt  werden  sollte^). 

Welche  Figuren  die  Inder  aufgestellt  haben,  darüber  wird 
man  sich  in  den  betreffenden  Lehrbüchern  unterrichten  können. 
Namentlich  verweise  ich  auf  meine  in  ZDMGr,  LXII  erscheinende 
Uebersetzung  des  Alamkärasarvasva.  Aber  aus  einigen  Beispielen 
möge  man  sehen,  wie  weit  die  Spezialisierung  der  Figuren  ge- 
trieben wurde.  Es  sei  von  einem  mächtigen  Könige  die  Rede; 
sagt  man  „Du  bist  mächtig  wie  Indra",  so  ist  das  ein  Vergleich 
(Upama)]  „der  König  N.  N.  ist  Indra",  eine  Metapher  (Rüpaka),  „Du 
bist  ein  zweiter  Indra",  eine  Hyperbel  {AtisayoUi)]  „Du  bist  gleich- 
sam ein  zweiter  Indra",  eine  UtpreJcsä;  „Bist  Du  Indra  oder  der 
König  N.  N.",  ein  Sarndeha-,  Du  bist  Indra,  nicht  der  König  N.  N.^, 
eine  ApahnuU ;  „Indra  herrscht  nur  im  Himmel,  Du  über  die  drei 
Welten"  ein  VyatireJca;  „Indra  herrscht  im  Himmel,  Du  regierst 
die  Erde",  eine  Fraüvastüpamä  etc.  Dies  sind  nur  einige  der  Fi- 
guren, denen  die Aehnlichkeit  zugrunde  liegt;  sie  alle  werden  scharf 
von  einander  unterschieden  und  von  jeder  wird  gezeigt,  was  das 
ihr  Eigentümliche  ist,  wodurch  sie  sich  von  allen  übrigen  unter- 
scheidet. Dem  Scharfsinn,  den  die  Poetiker  bei  diesem  Geschäfte 
entwickelt  haben,  werden  wir  unsere  Anerkennung  nicht  ver- 
sagen können ;  um  so  mehr  muß  es  uns  aber  Wunder  nehmen,  daß 
ihre  Begriffsbestimmung  von  poetischer  Figur  zunächst  wenig  be- 
friedigend ausfiel.  Und  dennoch  haben  sie  das  Wesen  der  poetischen 
Figur  richtig  erkannt  und  genau  bestimmt,  nur  daß  sie  die  darauf 
gegründete  Definition  nicht  da  geben,  wo  es  sich  darum  handelt, 
den  Begriff  von  alamkära  gegenüber  andern  Elementen  der  Poesie 
festzustellen,  also  nicht  im  Anfange  der  Lehre  von  den  ÄlamkaraSj 
sondern,  wie  wir  sehen  werden,  gelegentlich  bei  Untersuchungen 
über  einzelne  poetische  Figuren. 

Die  erste  Definition  von  alamJiära,  welche  wir  kennen,  hat 
Daij^in  Kävyädaräa  II  1  gegeben  (aufgenommen  im  Agni  Puräpa 
341,  27):  Mvyasohhäkarän  dharmän  alamkärän  pracak^ate.  „Poetische 
Figuren  nennt  man  diejenigen  Bestandteile  eines  Gedichtes,  welche 
ihm  Schönheit  verleihen".  Ich  übersetze  dharma  hier  mit  „Be- 
standteil", obgleich  es  allgemein  „Eigenschaft"  bedeutet.  Denn 
Daijdin  hatte  1 42  {iti  Vaidarhhamärgasya  prätia  dasa  Gunäh  smrtäh) 


1)  Untersuchungen  über  Figuren  überhaupt  haben  die  Inder  nicht  angestellt. 
Sie  haben  für  diese  den  Ausdruck  vägvikalpa,  glauben  aber,  daß  es  ihrer  un- 
endlich viele  gebe,  siehe  unten  S.  8.  Darum  kann  man  bei  den  Indern  nicht 
von  einer  Rhetorik  weder  im  weitern  Sinne,  noch  im  engeren  (als  Kunst  des 
Bedners)  sprechen. 


lieber  Begriff  und  Wesen  der  poetischen  Figuren  in  der  indischen  Poetik.  3 

die  10  Gunas  oder  Vorzüge  als  die  Lebenshauche  pränäh  bezeichnet. 
Die  Gunas  sind  aber  auch  ^Eigenschaften"  des  Gedichtes;  nur 
müssen  sie,  darauf  weist  ihre  Vergleichung  mit  den  Lebenshauchen 
hin,  in  viel  engerer  Beziehung  zu  dem  Wesen  des  (xedichtes  stehen, 
als  andere  Eigenschaften,  die  AlamMras,  welche  wir  daher  als  „Be- 
standteile" bezeichnen  dürfen. 

Denselben  Gedanken,  daß  die  Gunas  in  innigerer,  die  AlamMras 
in  loserer  Beziehung  zum  Gedichte  stehen,  drückt  der  Ausspruch 
eines  alten  Poetikers  ^)  so  aus,  daß  dies  Verhältnis  wie  einerseits 
bei  den  Charaktereigenschaften  Tapferkeit  etc.,  anderseits  bei 
Schmucksachen  sei,  nämlich  bei  den  Gunas  Inhärenz  (samaväya), 
heiden  Alaml'äras  Yerhindun g  (samyoga)  sei.  Hiergegen  richtete  sich 
Udbhata  in  seinem  Bhämahavivarana  ^) :  wie  könne  man  Verhältnisse 
sinnlicher  Dinge  auf  geistige  übertragen?  Bei  letzteren,  den 
Gunas  xind  AlamMras ,  könne  nur  von  Inhärenz  die  Rede  sein.  In 
der  Unterscheidung  beider  folgten  die  Schriftsteller  blindlings 
irgend  einer  Autorität  wie  Schafe  dem  Leithammel.  Udbhata  hat 
daher  die  Gunas  und  AlamMras,  nicht  prinzipiell  geschieden;  sie 
unterschieden  sich  nur  hinsichtlicb  ihres  Wirkungsgebietes  ^).  Doch 
in  diesem  Punkte  scheint  Udbhata,  so  groß  auch  im  Uebrigen 
seine  Autorität  war,  keine  anhaltende  Nachfolge  gehabt  zu  haben. 
Aber  es  verdient  bemerkt  zu  werden,  daß  auch  eine  andere  ältere 
Alamkäraschule,  nämlich  diejenige,  welcher  das  Agni  Puräna  und 
Sarasvatikanthäbharana  folgen,  manches  zu  den  SabdälamMras 
rechnet,  was  bei  den  Uebrigen  zu  den  Gunas  gezogen  wird. 

An  dem  prinzipiellen  Unterschied  zwischen  Gunas  und  Alarn- 
häras  wird  also  festgehalten.  Vämana  III  1,  L  2  bestimmt  ihn 
folgendermaßen :  die  „Eigenschaften  des  Gedichtes,  welche  seine 
Schönheit  bewirken,  heißen  Gtinas;  diejenigen  aber,  welche  sie 
vermehren,  AlaniMras^Y.  Die  AlamMras  bewirkten  nicht  ohne  die 
Gunas  die  Schönheit  des  Gedichtes,  wohl  aber  letztere  ohne  erstere. 
Aber  auch  diese  Unterscheidung  ist  nicht  stichhaltig,  wie  Mammata 
zu  Kävya  Prakä^a  VIII  2  mit  guten  Gründen  gezeigt  hat.  Die 
definitive  Entscheidung  brachte   der  Dhvanyäloka  II  7,   dem    der 


1)  Vergl.  Hemacandra,  Kävyänusäsana  Com.  p.  17.,  Kävya  Prakäsa  zu  VIII  2 
-Kävya  Pradipa  ib.  p.  327. 

2)  Im  Auszug  oder  referierend  ist  die  Stelle  an  den  in  der  vorhergehenden 
Note  genannten  Oertern  mitgeteilt. 

3)  Ruyyaka     Alaipkärasarvasva   p.  7 :     üdbhatädibhis  tu   gunälarnkäränäm 
j^äyasalt,  sämyam  eva  südtam,  visayamätre'^a  bhedapratipädanät. 

4)  Kävyasöbhäyäljb  kartäro  gui^äi,^  tadatisayahetavas  tv  alamlcäräj}. 

1* 


4  H  ermann  Jacobi, 

Kävya  Prakäsa  VIII  2  und  die  ganze  Schaar  seiner  Anhänger 
folgt.     Jener  Vers  lautet: 

„Diejenigen  (Eigenschaften  eines  Gredichtes),  welche  auf  diesem 
Inhalt  (nämlich  Stimmung,  Gefühl  etc.)  als  dem  selbständigen 
Ganzen  (angin)  beruhen,  heißen  Gimas;  diejenigen  aber,  welche  in 
dessen  Bestandteilen  (anga)  ihren  Sitz  haben,  gelten  als  Älam- 
l'äras  (wie  von  den  Gliedern  des  Leibes  die  Schmucksachen)  Arm- 
bänder etc." 

Dies  erklärt  Anandavardhana  folgendermaßen:  „diejenigen 
(Eigenschaften),  welche  auf  diesem  Inhalt,  nämlich  Stimmung  etc., 
was  das  selbständige  Ganze  ausmacht,  beruhen,  sind  die  Gunas, 
ähnlich  wie  Tapferkeit  etc.  Diejenigen  aber,  welche  in  den  Teilen, 
nämlich  dem  Ausgesprochenen  und  seinem  Ausdruck,  ihren  Sitz 
haben,  gelten  als  Alamkäras,  wie  Armbänder  etc."  Die  Gunas  be- 
ziehen sich  also  direkt  auf  die  „Seele  des  Gedichtes",  da^  ÄlamMras 
schmücken  diese  nur  mittelbar  als  Schmuck  des  Inhaltes  oder  des 
Ausdruckes.  Man  beachte,  daß  an  der  Parallele  zwischen  Gunas 
und  Charaktereigenschaften  wie  Tapferkeit  etc.,  und  zwischen 
Alamkäras  und  Geschmeide  festgehalten  wird ;  wir  sahen  ja  oben, 
daß  diese  Vergleiche  von  Alters  her  gebraucht  wurden.  Aber 
von  Inhärenz  und  Verbindung  ist  keiue  Rede  mehr,  sondern  das 
Verhältnis  wird  von  dem  Kernpunkte  des  Systems  aus  beurteilt, 
nämlich  nach  der  Lehre  von  dem  Unausgesprochenen,  speziell  von 
der  Stimmung  als  „der  Seele  der  Poesie".  Aber  wenn  nun  der 
Dichter  nicht  wegen  der  Stimmung  oder  wegen  etwas  anderm  Un- 
ausgesprochenen sein  Gedicht  abfaßte,  sondern  wenn  eine  frappante 
dichterische  Konzeption  in  Gestalt  einer  poetischen  Figur  die 
Hauptsache  ist,  wie  dann  ?  Auch  solche  Fälle  sucht  der  Dhvanyä- 
loka  dem  System  einzuordnen.     Darüber  handelt  III  37 : 

„Alle  jene  ausgesprochenen  Figuren,  die  einen  großen  Reiz 
besitzen,  wenn  sich  ihnen  ein  unausgesprochenes  Element  beigesellt, 
erweisen  sich  zumeist  als  in  das  in  Rede  stehende  Gebiet  (der 
Poesie  mit  subordiniertem  Unausgesprochenen)  gehörig": 

Anandavardhana  führt  hierzu  aus,  daß  einige  Figuren  ihrer 
Natur  nach  immer  auf  etwas  Unausgesprochenes  hinweisen,  daß 
in  allen  nach  Bhämaha  eine  Hyperbel  zu  (jrunde  liege,  und  daß  in 
gewissen  Figuren  subordiniert  eine  andere  enthalten  sei.  „Darum 
gehören  alle  Figuren,  Metapher  etc.,  welche  durch  Verbindung 
mit  einem  unausgesprochenen  Elemente  hervorragende  Schönheit 
besitzen,  zur  Poesie  mit  subordiniertem  Unausgesprochenen".  Ja, 
dies  ist  nach  ihm  für  alle  solche  Figuren  das  charakteristische 
Merkmal.     „Wenn  dies  also  angegeben  wird,    dann  sind  alle  diese 


über  Begriff  und  Wesen  der  poetischen  Figuren  in  der  indischen  Poetik.         5 

Figuren  definiert".  Änandavardhana  tut,  als  hätte  er  eine  Defi.- 
nition  von  alatnkära  gegeben,  da  er  fortfährt :  „wenn  aber  von 
jeder  einzelnen  Figur  die  spezielle  Form  ohne  Angabe  des  Genus- 
merkmal^  beschrieben  wird,  so  können,  gerade  als  wenn  man  von 
einer  Strophe  die  Zeilen  besonders  rezitierte,  die  sprachlichen  Aus- 
drücke nicht  ihrem  Wesen  nach  erfaßt  werden,  weil  sie  an  Zahl 
unendlich  sind.  Denn  zahllos  sind  die  Formen  der  Rede  (vägvi- 
'kalpd)  und  die  Figuren  sind  Arten  der  ßedeformen".  Aber  trotz 
alledem  ist  dies  keine  Definition  von  alamhära  überhaupt,  sondern 
nur  von  solchen,  „welche  durch  Verbindung  mit  einem  unausge- 
sprochenem Elemente  hervorragende  Schönheit  besitzen".  Denn 
Änandavardhana  erkennt  auch  noch  andere  Alamkaras  als  die,  von 
denen  eben  die  Rede  war,  an.  In  III  43  wird  nämlich  von  der 
niedrigsten  Art  der  Poesie,  vom  sabdacitra  und  väcyacitra,  ge- 
handelt. ,,Es  ist  das  nicht  eigenliche  Poesie,  sondern  nur  eine 
Nachahmung  derselben'*,  „väcyacitra  ist  bar  jeder  Beimischung 
eines  unausgesprochenen  Sinnes  und  besteht  nur  in  dem  ausge- 
sprochenen Sinne  als  Hauptsache,  wie  z.  B  eine  Utpreksä  etc., 
wenn  in  ihr  die  Stimmung  etc.  nicht  die  eigentliche  Hauptsache 
bildet^'.  Und  gleich  darauf  p.  221  präzisiert  er  diese  Erklärung : 
,,Wennder  Dichter  selbst  ohne  eine  Stimmung,  ein  Gefühl  etc.  zu  be- 
absichtigen eine  Laut-  oder  Sinnfigur  schafft,  dann  betrachtet  man 
den  Inhalt  eben  mit  Bezug  auf  die  Absicht  des  Dichters  als  der 
Stimmung  etc.  bar''.  Änandavardhana  erkennt  somit  Figuren  ohne 
unausgesprochenes  Element  an,  die  also  nicht  unter  die  vorherge- 
gebene Definition  fallen.  Und  wenn  er  auch  dies  nicht  als  eigent- 
liche Poesie  gelten  lassen  will,  so  ist  er  damit  nicht  durchge- 
drungen ;  denn  nach  der  gemeinen  Ansicht  ist  es  doch  Poesie. 
Was  aber  solche  reine,  der  Stimmung  etc.  bare  Figuren  sind,  da- 
rüber gibt  Änandavardhana  keinen  Aufschluß  und  kann  es  auch 
wohl  nach  seinem  System  nicht  tun.  Versuchen  wir  nun  selbst, 
diese  Frage  in  seinem  Sinne  zu  beantworten,  so  müßten  wir  sagen : 
solche  Älomkäras  sind  Redeformen  (vägvikalpa).  Fragte  man 
weiter,  ob  denn  alle  vägvihalpas  auch  alamJcäras  seien,  so  würde 
er  voraussichtlich  mit  Nein  geantwortet  haben.  Aber  wir  suchen 
in  seinem  Werke  vergeblich  nach  einem  Anhalte  dafür,  wie  er  die 
Frage  beantwortet  haben  würde,  wodurch  ein  vägvikalpa  zu  einem 
alamkära  werde.  Diese  Frage  war  eben  noch  nicht  aufgeworfen 
worden. 

Der  Kävya  Prakäsa  VIII  2  wiederholt  die  Definition  der 
Alamkaras  nach  Dhvanyäloka  II  7  dem  Sinne  nach,  wobei  er  aller- 
dings   ihre    Allgemeingültigkeit    etwas     einschränkt:     „Was    die 


6  Hermann  Jacobi, 

Stimmung  etc.,  wenn  vorhanden,  indirekt  durch  die  Bestandteile 
(des  Gredichtes)  gemeiniglich  schmückt  nach  Analogie  von  Hals- 
ketten etc.,  das  sind  die  Figuren:  Aliteration  etc.,  und  Vergleich 
etc."  Mammata  bemerkt  noch,  daß  die  Alamkäras  „da  wo  keine 
Stimmung  vorhanden  ist,  nur  „  Buntheit  des  Ausdrucks,  uktivaicitrya, 
bewirken  könnten  ^)". 

Hier  begegnet  uns  das  Wort  vaicitrya  in  technischer  Bedeutung, 
das  bei  der  Begriffsbestimmung  von  alamkära  eine  wichtige  B;0lle 
spielt.  Wir  finden  es  bei  Ruyyaka  p.  94,  wo  er  vom  Parikara 
spricht:  ;,er  wird  hier  behandelt,  weil  vom  visesana-vaicitrya 
die  Rede  ist.  Vorher  p.  84  hatte  er  gesagt:  „jetzt  werden  zwei 
Figuren  besprochen  in  Hinsicht  auf  dsesana-vicchitti.  Es  sind 
also  vaicitrya  und  vicchitti^)  synonym.  Ebenso  gebraucht  Jagan- 
nätha  vaicitrya-visesa,  Rasagangädhara  387,  und  vicchitti-visesa  p.  388 
als  synonym,  und  p.  470  erklärt  er  vicchittivisesa  mit  vaicitryatman. 
Als  ein  drittes  Synonym  erscheint  hhaniti ;  denn  Rasag.  p.  442 
wird  in  genau  entsprechender  Weise  gesagt:  alamkäränäm  hhaniti- 
V  isesa  mätrarüpa  tvät. 

Die  Bedeutung  dieser  Wörter,  deren  genauen  Begriff  wir 
nachher  bestimmen  wollen,  ergibt  sich  aus  folgendem.  Jayaratha 
sagt  in  der  Vimarsini  p.  94  über  den  Farikara :  „so  kommt  durch 
Anbringung  mehrerer  derartiger  Attribute  ein  vaicitryätisaya  zu- 
stande, und  das  macht  ihn  zu  einem  alamkära  (ity  asyä  Hamkära- 
tvam);  und  p.  144  sagt  er:  kavipratibhätmakasya  viccJnttivisesäfmakasyä 
^lamkäratveno  Idattät,  und  p.  149  f. :  tasya  (i.  e.  alarnkäratvasga)  kavi- 
2)ratibhätmakavicchittivisesatveno  ^ktatväd.  „Der  vicchittivisesa^)^  der 
in  einem  Akt  der  Einbildungskraft  des  Dichters  besteht,  ist  das 
charakteristische  Merkmal  der  poetischen  Figuren".  Man  ersieht 
hieraus,  daß  eine  Redewendung  oder  Ausdrucksweise  zu  einer 
poetischen  Figur  wird,  wenn  die  produktive  Einbildungskraft  des 


1)  yatra  tu  nästi   rasas,   tatro  ^ktivaicitryamätraparyavasäyinal^.    vaicitrya 
wird  englisch  meist  mit  'strikingness'  wiedergegeben. 

2)  Ueber  das  Wort  vicchitti  und  seine  mannigfachen  Bedeutungen  hat  Zacha- 

riae  gehandelt:  GGA  1885  S.  381  f.  Bezzenbergers  Beitr.  XIII  S.  93—110 Zu 

vicchitti  „strikingness"  bemerkt  er  noch  folgendes:  „Aehnlich  wie  vicchitti  werden 
im  Sähityadarpapa,  wenigstens  in  der  englischen  Uebersetzung  ähnlich  wiederge- 
geben die  Ausdrücke  camatkära,  camatkäritva  (Staunen,  Ueberraschung)  und 
vaicitrya^  vaicitryavise^a  (Mannigfaltigkeit,  Verschiedenartigkeit,  Seltsamkeit)". 
Nach  Zachariae's  Ansicht  wäre  „diese  Bedeutung  von  vicchitti  mit  viccheda,  vic- 
chedana  (Unterschied,  das  Unterscheiden)  auf  eine  Linie  zu  stellen.  Vergl.  noch 
Sahfdayalilä  II  20". 

3)  vicchittivisesa   wird    schon  AI.  Sarv.  p.  112   als   das    genannt,    was    zwei 
poetische  Figuren  von  einander  unterscheidet. 


über  Begriff  und  Wesen  der  poetischen  Figuren  in  der  indischen  Poetik.  7 

Dichters  ihr  einen  vicchitlivisesa  verleiht.  Daher  sagt  Jayaratha  p. 
147:  Tcavikammna  evä  Uamkäranihandkanatveno  ^ktatvät  „die  Tätigkeit 
des  Dichters  ist  das,  was  den  alamJcära  bedingt".  Und  zwei  Zeilen 
weiter  bezeichnet  er  alamküratva  als  kavipratibhänirvartitatva^). 

Es  erübrigt  zur  Vervollständigung  der  Definition  von  alamkära 
der  genaue  Begriff  von  vicchitti.  Diesen  findet  man  im  Rasagan- 
gädhara  p.  466  folgendermaßen  definiert :  alamkäränäm  paraspara- 
vicc]ieda{ka)sya  vaüaksanyasya  hetuhhütä  janyatäsamsargena  kävya- 
nisthä  kavipratibhäj  tajjanyatvaprayuktä  camatkaritä  vä  vicchittih. 
„Unter  vicchitti,  welche  die  die  einzelnen  Älamkäras  von  einander 
unterscheidende  Besonderheit  begründet,  versteht  man  den  Akt 
der  produktiven  Einbildungskraft  des  Dichters,  sofern  er  in  dem 
Gedichte  als  das  es  erzeugende  liegt,  oder :  das  ästhetische  "Wohl- 
gefallen, das  dadurch  bedingt  ist,  daß  es  durch  jenen  (Akt  der 
Einbildungskraft)  erzeugt  wird".  Ich  übersetze  camatkäritä  mit 
ästhetischem  Wohlgefallen;  die  Berechtigung  ergibt  sich  aus  fol- 
gendem. Im  Rasagangädhara  p.  4  wird  kävya,  Gredicht,  definiert 
als  eine  sprachliche  Komposition,  die  einen  schönen  Gredanken  zum 
Ausdruck  bringt:  ramaniyärthapratipädakah  sahdah  kävyam.  Schön 
ist,  was  Gregenstand  einer  Vorstellung  ist,  die  uninteressiertes 
Wohlgefallen  erzeugt:  ramaniyatä  ca  lokottarählädajanakajnänago- 
caratä.  Uninteressiertheit  als  jenem  Wohlgefallen  inne  wohnend, 
auch  synonym  als  camatkäratva  bezeichnet,  ist  ein  spezifisches  Ge- 
nusmerkmal, dessen  wir  uns  unmittelbar  bewußt  werden:  lokotta- 
ratiam  cä  ^Uüadagatas  camafkäratväparaparyäyo  ^nuhhavasäksiko  jäti- 
visesah.  Und  die  Ursache  (des  Wohlgefallens)  ist  eine  bestimmte 
Art  des  Vorstellens,  bestehend  in  einem  fortgesetzten  Ueberdenken, 
desjenigen,  dem  jenes  (spezifische  Merkmal)  eigentümlich  ist :  kära- 
rmm  ca  tadavacchinne  bhävanävisesah  punahpunaramisamdhänätmä. 
Nicht  uninteressiert  ist  also  ein  Gefallen,  welches  durch  Vorstellung 
eines  Satzinhaltes  wie  „Dir  ist  ein  Sohn  geboren",  „ich  werde  Dir 
Geld  geben"  entsteht:  ^piitras  te  jatah,  dhanam  te  däsyämi'  iti  väk- 
yärthadhljanyasyä  ^^hlädasya  im  lokottaratcam.  Also  camatkära  ist 
ein  uninteressiertes  Wohlgefallen,  wie  auch  Kant,  Kritik  der  Ur- 
teilskraft I  §  2  ff.  es  bezeichnet  hat;  camatkärin  ist,  was  dieses 
Wohlgefallen  erweckt,  also  das  Schöne ;  synonym  damit  ist  hrdya, 

1)  Dieses  Element  ist  bei  denjenigen  Figuren  maßgebend,  bei  denen  der 
Reiz  nicht  in  der  Form,  sondern  in  der  Behandlung  des  Stoffes  liegt  wie  bei 
svobhävokti  etc.  Siehe  AI.  Sarv.  p.  177  f.  und  Jagannäthas  Bemerkung:  va- 
stuvrttasya  lokasiddhatvenä  HamTcäratväyogät ;  yato  bahir  asantalt  kavipratibhämä- 
irakalpitä  arthäjjb  kävye  'larfikärapadäspadam.  Rasag.  p.  448.  cf.  p.  460  na  hi  lo- 
kasiddho  ^rthajf,  kävyälamkäräspadam  bhavitum  arhati. 


8  Hermann  Jacobi, 

So  heißt  es  Rasagangädhara  p.  424:  camathäritcam  cä  Hamkärasä- 
mänyalaksanapräptam  eva  und  gleichbedeutend  p.  357:  hrdyatvarri 
cä  HamTcärasämänyalaksaiiägatam  sarvälamjcärasädhäranam  ^). 

Unsere  Unter suchnng  hat  uns  also  gezeigt,  was  unter  vicchitti- 
vise§a  verstanden  wird :  es  ist,  wenn  alamkära  definiert  werden 
soll,  die  difPerentia  specifica.  Wir  müssen  noch  das  genus  nennen ; 
dies  ist  vägvikalpa.  In  der  oben  übersetzten  Stelle  aus  Änanda- 
vardhana  p.  210  hieß  es:  „zahllos  sind  die  Formen  der  Rede  und 
die  Figuren  sind  Arten  der  Redeformen"  :  anantä  hi  vägvikalpäs 
tatprakärä  eva  cä  'lamkäräh  (cf.  p.  8).  Statt  vägvikalpa  gebraucht 
Rasag.  p.  362  vacanahhangt.  Es  sind  darunter  „Redewendungen" 
verstanden,  und  zwar  dürfte  dem  vikalpoj  noch  mehr  dem  bhangt, 
der  Begriff  des  Künstlichen  anhängen^).  Ohne  diesen  Nebenbegriff 
lautet  die  dem  Vakroktijivitakära  in  den  Mund  gelegte  Definition: 
„die  poetischen  Figuren  sind  besondere  Arten  des  Ausdrucks"  ahhi- 
dhänaprakäravisesä  eva  alamkäräh  (AI.  Sarv.  p.  8).  Eine  poetische 
Figur  wäre  also:  eine  unser  uninteressiertes  Gefallen  erweckende 
Redewendung,  die  des  Dichters  Phantasie  zu  diesem  Zwecke  zur 
Einkleidung  seines  Gredankens  schuf.  Zwei  Figuren  unterscheiden 
sich  von  einander  durch  die  Eigenart  ihrer  Wendung  {vicchittivisesa) 
(was  wir  füglich  mit  „besonderer  Reiz"  oder  „Colorit„  übersetzen 
können),  die  aber  immer  in  der  produktiven  Einbildungskraft  des 
Dichters  ihre  Entstehung  haben  muß.  Wenn  also  eine  Fignr  dieses 
Elementes  ermangelt,  wie  z.  B.  das  Yathäsankhga,  da  wird  ihre 
Berechtigung  als  alamkära  zu  gelten  bestritten,  was  in  genanntem 
Falle  zuerst  der  Vakroktijivitakära,  siehe  Vimarsini  p.  150,  und 
nach  ihm  Jayaratha  1.  c.  und  Jagannätha  p.  478  und  andere  getan 
haben.     In  einem  solchen  Falle  liegt  also  nur  eine  Redeform  vor, 


1)  Hier  möge  eine  Bemerkung  Appayyadiksitas  ihre  Stelle  finden,  die  aller- 
dings recht  äußerlicher  Natur  ist:  sarvo  ^py  alaifikärafi  kavisamayapi'asiddhya- 
nurodhena  hrdyatayä  kävyasobhäkara  evä  Harfikatäratäm  bhajate.  Citrami- 
mäipsä  p.  6. 

2)  So  gebraucht  in,  diesem  Sinne  Hemacandra  für  vägvikalpa  p.  273  ukti- 
vaicitrya,  indem  er  den  Gedanken  Änandavardhanas  folgendermaßen  wiedergibt: 
uktivaicitryamäträd  bhede  ca  Idk^atikdkararie  'lafnkäränaniyaprasangah',  Jagan- 
nätha aber  sagt  ausdrücklich  Rasag.  p.  326 :  vicchittivaüak?anyasyaivä  latjikära- 
vibhägahetutvät.  Offenbar  hat  Hemacandra  uktivaicitrya  mit  vägvikalpa  zu- 
sammengeworfen, um  seine  Behauptung  zu  beweisen,  daß  vibhävanä  vise^okti 
asarfufati  vißama  adhika  vyäghäta  atadguna  nicht  verschiedene  Alatfikäras  seien, 
sondern  nur  verschiedene  Arten  der  einen  Figur  Virodha.  (Vergl.  hierüber  Rasag. 
p.  461).  Den  von  Hemacandra  beabsichtigten  Gedanken  drückt  Jagannätha  ge- 
nauer so  aus:  kirticidvailakßanyamätrenaivä  Hartikärdbhede  vacanabhariglnäm 
änantyäd  alartikäränantyaprasangät.    Rasag.  362. 


über  Begriff  und  Wesen  der  poetischen  Figuren  in  der  indischen  Poetik.  9 

deren  Schema  fest  stellt  und  durch  den  objektiven  Gedanken  ge- 
geben ist,  ohne  daß  der  Dichter  dabei  ein  anderes  Verdienst  hätte, 
als  eine  falsche  Ausdrucksweise  vermieden  zu  haben.  Es  gibt 
aber  auch  Figuren  dieser  Art,  die  an  sich,  soweit  ihr  Schema  in 
Betracht  kommt,  durchaus  unpoetisch  sind,  wie  die  Alternative 
(vikalpa)  und  der  Syllogismus  (aimmänd) ;  aber  wenn  solche  Figuren 
mit  einem  anderen  figürlichen  Element  verquickt  sind,  wie  erstere 
mit  einem  Vergleich  ^),  oder  sonstwie  einen  Reiz  bekommen,  wie 
die  letztere^),  so  werden  sie  zu  poetischen  Figuren.  Ueber  solche 
Fälle,  wo  ein  anderes  Element  hinzukommen  muß,  um  eine  Rede- 
figur zu  einer  poetischen  Figur  zu  machen,  enthält  der  Rasagan- 
gädhara,  p.  470  folgende  Auseinandersetzung,  die  allerdings  in 
einem  Referat  über  eine  fremde  Ansicht  vorkommt :  ;,Wo  der  Reiz 
des  ausstattenden  Elements  von  dem  Reiz  des  dadurch  Ausge- 
statteten verschieden  ist,  da  möge  meinetwegen  das  Ausgestattete 
besonders  neben  dem  Ausstattenden  als  ÄJamlära  gelten,  wie 
Hetu-  und  Phala-UtpreJcsä  neben  AtismjoUi.  Wo  es  aber  bei  dem 
Reiz  des  Ausstattenden  sein  endgiltiges  Bewenden  hat,  da  ist  das 
Ausgestattete  keine  besondere  Figur,  wie  beim  vorliegenden  (i.  e. 
Tcävyalinga).  Wenn  das  zur  Folge  hat,  daß  dann  viele  von  den 
Alten  anerkannte  Figuren  geleugnet  werden  müßten,  so  geben  wir 
das  zu;  aber  was  liegt  daran?  Darum  ist  Jcävyalinga  (keine 
poetische  Figur),  sondern  die  Abwesenheit  eines  Fehlers,  nämlich 
der  mangelnden  Begründung^)." 

Ich  glaube  in  der  vorausstehenden  Zusammenstellung  nichts 
Wesentliches  übersehen  zu  haben.  Man  ersieht  daraus,  daß  die 
Poetiker  sehr  eindringend  über  das  Wesen  der  poetischen  Figur 
nachgedacht  und  den  Kern  der  Sache  durchaus  richtig  erfaßt 
haben.  Wie  kommt  es  nun,  daß  diese  Darlegungen  nebenher  und 
zerstreut  in  den  Kommentaren  beigebracht,  statt,  wie  es  sich  bei 
ihrer  prinzipiellen  Wichtigkeit  eigentlich  gehörte,  im  Anfang  der 
Lehre  von  den  poetischen  Figuren  als  grundlegender  Lehrsatz  ge- 
geben zn  werden?  Diese  Frage  wollen  wir  jetzt  zu  beantworten 
suchen. 


1)  AI,  Sarv.  p.  158:  awpamyagarhhatväc  cä  Hra  cärutvam. 

2)  ib.  p.  146  vicchittivisesas  cä  Hrä  Wthäsrayaniyah,\  aber  Kasag.  p.  475 
asga  ca  Icavipratibhollikhitatvena  camatkäritve  Tcävyälamkäratä. 

3)  yatra  tu  ^paskärakavaicitryäd  vüaksanam  tadupaskäryavaicitryam,  taträ 
^stu  nämo  ^paskärakäd  upaskäryasya  prthagalamkäratvam,  yathä  ^tisayokter  hetu- 
phalotpreksayoJi.  yatra  tu  'paskärakavaicitrya  eva  visräntis,  tatro  ^paskäryam 
analamkära  eva,  yathä  prakfie.  evam  tarlii  bahünäm  alamkäratvena  präcinair 
ünkj-tänäm  analamkäratäpattir  iti  cet,  astu,  kim  nas  chinnam  ?  tasmän  nirhetu- 
rüpadosabhävah  kävyalingam  —  ity  api  vadanti. 


10  Hermann  Jacobi, 

Die  Dhvani-Lelire  hatte  den  Erfolg,  daß  sie  als  die  theore- 
tische Grundlage  der  Poetik  allgemeine  Anerkennung  fand.  Das 
fertige  System  der  Poetik  tritt  uns  im  Kävya  Prakäsa  zuerst 
entgegen,  und  dieses  Werk  gewann  ein  solches  Ansehn,  daß  es 
für  die  ganze  Folgezeit  als  eine  Autorität  ersten  Ranges  galt. 
Wir  sahen,  daß  in  demselben  die  Stellung  und  Bedeutung  der 
Alamlcäras  im  Anschluß  an  den  Dhvanyäloka  nach  ihrem  Ver- 
hältnis zur  „Seele  der  Poesie",  der  Stimmung  etc.,  bestimmt  wurde, 
ohne  daß  man  eine  Realerklärung  derselben  zu  geben  suchte. 
Aber  die  Dhvani-Lehre  blieb  nicht  ohne  Gregner  und  Rivalen  ^), 
deren  Werke  zwar  in  Vergessenheit  geraten  sind,  deren  Ansichten 
aber,  soweit  sie  sachlich  Beachtenswertes  enthielten,  sicher  Be- 
rücksichtigung fanden.  Für  unsere  Frage  konmit  der  Vakrokti- 
jivitakära  in  Betracht;  derselbe  ging  nämlich  gerade  von  dem- 
jenigen Punkte  aus,  der  in  der  Dhvani-Lehre  nicht  befriedigend, 
wie  wir  oben  sahen,  behandelt  worden  war:  der  prinzipiellen  Be- 
deutung der  Alamlcäras  für  das  Wesen  der  Poesie.  Während  nach 
dem  Dhvanikära  die  Alamlcäras  nur  von  nebensächlicher  Bedeutung 
für  das  Wesen  der  Poesie  sind,  stellte  er  den  Satz  auf:  ulcfivaici- 
tryajivitam  kavyam  „das  Leben  der  Poesie  besteht  in  der  „Bunt- 
heit" (oder  Reiz)  der  Rede  (bez.  des  Ausdrucks),"  oder  ausführ- 
licher :  i'aidagdhyahhangtbhanitisvahhcivätn  haliuvidhäm  valcrohtim  prä- 
dhanyät  Tcävynjwitam  uktavän  ^)  „er  erklärte,  daß  die  mannigfaltige 
rakrolcti,  die  in  dem  Aussprechen  (des  Gedankens)  durch  gewählte 
Wendungen  besteht,  als  das  Hauptsächliche  das  Leben  der  Poesie 
sei".  Die  valcrata  ist  also  die  Künstlichkeit  des  Ausdrucks,  und 
dieser  muß  von  dem  Dichter  selbst  hervorgebracht  sein :  vyäpärasya 
prädhänyam  ca  Icävyasya  pratipede.  ib.  Hier  haben  wir  nun  beide 
Momente,  die  nach  der  obigen  Untersuchung  als  das  Wesen  einer 
poetischen  Figur  ausmachend  gelten,  nämlich  vaicitryavisesa  (oder 
vicchittivisesa)  und  kavipratihhotthäpitatvam.  Man  beachte,  daß  obige 
Sätze  in  Ruyyakas  knappem  Resum^  von  der  Lehre  des  Vakrok- 
jivitikära  stehen;   die  darin  behandelten  Begriffe   müssen   also  zu 


1)  Vakroktijivitakära,  Bhattanäyaka  und  Vyaktivivekakära  (Mahimabhatta) 
AI.  Sarv.  p.  8  ff.  Alle  drei  später  als  der  Dhvanikära,  siehe  Vimarsini  p.  12. 
Ihre  Zeit  liegt  also  zwischen  dem  Ende  des  9.  und  dem  Anfange  des  12.  Jhd. 

2)  AI.  Sarv.  p.  8.  In  der  Vimarsini  ib.  werden  die  eigenen  Worte  des  Ver- 
fassers zitiert :  vakrokiir  eva  vaidagdhyabhahglbha'^itir  ucyate  und  viciträ  yatra 
vdkroktir,  vaidtryarii  jivitäyata  (so  zu  lesen),  lieber  eine  besondere  Art  der 
vakratä  handeln  folgende  2  Verse:  yatra  düräntare  ^nyasmät  sämänyam  upacar- 
yate  \  le6enä  ^pi  bhavet  kartutfi  ('f  l)  kitficid  udriktavrttitä  \\  yanmülä  sarasollekhä 
rüpakädir  alaifikrtil^  \  upacärapradhänä  ^sau  vakratä  kädd  i^yate  [|.  ib. 


über  Begriff  und  Wesen  der  poetischen  Figuren  in  der  indischen  Poetik.       H 

dessen  Grundgedanken  gehören.  In  der  Tat  scheinen  jene 
beiden  Ausdrücke  auf  den  Vakroktijivitakära  als  ihren  Urheber 
zurückzugehen.  Denn  wo  in  der  Vimarsini  p.  149  f.  gezeigt  wird, 
Yatbäsankhya  sei  kein  alamkära,  heißt  es :  etac  ca  Vdkrohtijivatalrtä 
saprapancam  uktam  ity  asmähhir  iha  näyastam.  Also  Untersuchungen 
über  das,  was  eine  Redefigur  zu  einer  poetischen  macht,  hat  der 
Vakroktijivitakära  angestellt,  und  er  wird  darin  von  Jayaratha 
als  Autorität  anerkannt.  Diese  Untersuchungen  gingen  aber  von 
den  oben  zusammengestellten  Gresichtspunkten  aus.  Somit  dürfen 
wir  es  als  das  Verdienst  des  Vakroktijivitakära  ansehn,  den  Be- 
griff der  poetischen  Figur  definiert  zu  haben.  Seine  Definition 
wurde  als  richtig  anerkannt  und  von  Spätem  akzeptiert;  aber 
seine  Behauptung,  daß  die  vakroJäi  das  Leben  der  Poesie  ausmache, 
fand  keine  allgemeine  Annahme.  Man  hielt  vielmehr  an  der  Lehre 
des  Dhvanikära  über  das  Verhältnis  der  Älamlmras  zur  Seele  der 
Poesie  fest,  woraus  sich,  wie  oben  gezeigt,  die  ungenügende  Fun- 
dierung  der  Lehre  von  den  poetischen  Figuren  in  der  systemati- 
schen Darstellung  ergibt. 

Begriff  und  Ausdruck  vaJcrokti  sind  aber  viel  älter  und  gehen 
wahrscheinlich  schon  auf  Bhämaba  zurück.  Denn  er  sagt  von  der 
atisayoMi  ^) :  sai  ^sä  sarvatra  vaJcroliir  anaya  ^rtho  vibhävyate  \  yatno 
^syäm  kavinä  Jcäryah  ko  ^lamkäro  ^nayä  vinä  ||  und  Abhinavagupta 
bringt  in  dem  Kommentar  zu  der  in  der  letzten  Anmerkung  zi- 
tierten Stelle  folgendes  anonyme  Zitat: 

vakräbhidheyasahdoktir  istä  väcäm  alamkrtih. 

„Das  Aussprechen  eines  gekünstelten  Gedankens  oder  eines 
gekünstelten  Ausdrucks  gilt  als  Schmuck  der  E-ede".  Und  Dandin, 
Kävyädar^a  II  363  sagt: 

bhinnam  dvidhä  svabhävoktir  vakroktis  ceti  vänmayam. 
„Das   ganze  Gebiet  der  (poetischen)  Rede   zerfällt   in  svabhävokti 
und  vakrokti^. 

Also  die  vakrokti  umfaßt  das  ganze  Gebiet  der  poetischen  Fi- 
guren mit  einziger  Ausnahme  der  svabhävokti  (oder  jäti)]  denn 
auch  diese  reihte  man  sonderbarer  Weise  auch  unter  die  poetischen 
Figuren  ein.  Nicht  zu  verwechseln  ist  unsere  vakrokti  mit  einer 
gleichbenannten  Figur,  siehe  AI.  Sarv.  p.  177:  (vakroktisabdas  cä 
Ha/rnkärasämänyavacano  ^pl  ^hä  Hamkäravisese  samjnitah) ;  oder  mit 
einer  andern  bei  Vämana  IV  3,  8  (sadrsyäl  laksanä  vakroktih). 
Letztere  vakrokti  ist  offenbar  das,  was  der  Vakroktijivitakära 
(siehe  note  2,  S.  10)  als  upacärapradhänä  vakrokti   bezeichnet   hat. 


1)  Ekavali,  notes  p.  589,  und  Dhvanyaloka  p.  208. 


12  Hermann  Jacobi, 

Man  ersieht  daraus,  daß  sein  System  mit  alten  Bestandteilen  des 
Alainkärasästra  operierte;  es  scheint  eine  Weiterentwicklung  in 
der  Richtung  zu  sein,  die  Vämana  mit  seinem  ersten  Sütra :  kävyam 
grähyam  alamkärät  bereits  eingeschlagen  hatte.  Existenzberechti- 
gung hatte  sein  System,  weil  es  eine  vom  Dhvanikära  nicht  ge- 
nügend gewürdigte  Seite  der  Poesie,  die  dieser  organisch  seinem 
System  einzuordnen  nicht  verstanden  hatte,  zum  Mittelpunkt  des 
seinigen  machte.  Aber  sein  System  konnte  sich  dennoch  dem  des 
Dhvanikära  gegenüber  nicht  halten,  weil  er  Dichter  und  Dichtung 
doch  nur  von  der  formalen  Seite  auffaßte,  während  jener  tiefe 
Blicke  in  das  Wesen  der  Poesie  getan  hatte. 

So  war  zwar  die  Frage  nach  dem  Wesen  der  poetischen  Fi- 
guren im  Allgemeinen  richtig  beantwortet ;  es  verblieben  aber 
noch  dunkle  Punkte,  die  einer  prinzipiellen  Lösung  unzugänglich 
waren.  Wir  sahen,  daß  zwei  AlamMras  verschieden  sind,  wenn 
jede  ihren  vicchittivisesa,  speziellen  Reiz,  hat.  Aber  ein  allgemein- 
giltiges  Kriterium  dafür,  ob  etwas  bloß  ein  geringfügiger  Unter- 
schied sei,  wodurch  nur  eine  Unterarteines  Älamkära  bestimmt  werde, 
oder  hinreiche,  um  einen  besonderen  Älamkära  zu  bilden,  konnte 
man  nicht  angeben.  Diese  Frage  kommt  in  der  Vimarsini  p.  140 
bei  Gelegenheit  der  auf  der  Verkettung  oder  Gradation  (srnkhala) 
beruhenden  Figuren  zur  Erörterung.  Dort  wird  gesagt,  daß  die 
Verkettung  selbst  nicht  eine  Figur  sei.  „Wenn  sie  es  wäre,  dann 
müßte  auch  die  Aehnlichkeit  (sädharmya)  nur  eine  Figur  bilden. 
Denn  wenn  man  beim  Vergleich  etc.  von  der  Aehnlichkeit  absieht, 
so  ist  für  die  einzelnen  (verwandten  Figuren)  kein  spezieller  Reiz 
denkbar,  worauf  ihre  Unterscheidung  beruhen  sollte.  Und  so 
müßte  man  auch  den  Widerspruch  (virodha)  als  eine  einzige  Figur 
bezeichnen;  denn  bei  Vibliäva  etc.  ist  außerhalb  des  Wider- 
sprechenden kein  Unterschied.  Man  käme  auf  diese  Weise  dazu, 
nur  7  oder  8  Alamkäras  definieren  zu  müssen.  Läßt  man  aber 
bei  Vergleich  etc.  in  der  Aehnlichkeit  selbst  weitere  Unter- 
scheidungen zu  und  ebenso  bei  den  andern  Kategorieen  von  Fi- 
guren", so  muß  man  es  auch  bei  den  verketteten  Figuren  tun. 
In  Rasag.  p.  466  wird  derselbe  Gegenstand  folgendermaßen  dar- 
gestellt: „da  auf  Grund  unserer  Empfindung  feststeht  (anubhava- 
siddha),  daß  die  einzelnen  verketteten  Figuren  verschieden  sind 
hinsichtlich  ihres  Reizes,  so  steht  auch  fest,  daß  sie  alle  besondere 
Figuren  sind;  darum  darf  die  Verkettung  (srnkhala)  gerade  wie 
Widerspruch,  Ununterschiedenheit,  Aehnlichkeit  nur  als  das  ge- 
meinsame Lebenselement  (anupränakatä)  gelten,  nicht  aber  als  Figur. 
ALndemfalls  müßte  auch  Ununterschiedenheit  (lies  ahJieda)  etc.  eine 


über  Begriff  und  Wesen  der  poetischen  Figuren  in  der  indischen  Poetik.        13 

besondere  Figur  sein.  Bei  dem  kompleten  und  dem  defekten  Ver- 
gleich ist  aber  keine  Verschiedenheit  des  Reizes,  sondern  der  Ver- 
gleich bildet  da  den  Reiz.  Das  ist  die  üeberlieferung'^  (hier 
schließt  die  oben  S.  7  übersetzte  Stelle  über  vicchitti  an). 

So  entscheidet  Jagannätha  die  Frage  mit  Berufung  auf  anu- 
bhava  und  sampradäya.  Aber  die  Verschiedenheit  des  Standpunktes 
bei  der  Beurteilung  der  Frage,  ob  man  etwas  als  besondere  Figur 
oder  nur  als  eine  Unterart  einer  solchen  anzusehn  habe,  ergibt 
sich  aus  folgenden  Stellen.  Rasag.  p.  461  handelt  von  der  Reihe 
der  Figuren  Virodhäbhäsa  bis  Vyäghäta,  die  auf  dem  Widerspruch 
(virodha)  beruhen.  Dieser  Widerspruch,  der  durch  verschiedene 
Mittel  hervorgebracht  im  ersten  Moment  empfunden  werde,  habe 
eine  Spur  von  Reiz  (vicchittimäträtma),  halte  aber  wie  der  Blitz 
nicht  an.  „Indem  diese  Figuren  je  verschiedenartigen  Reiz  {vai- 
citrya)  bekommen,  erscheinen  sie  als  Unterarten  des  Virodhäbhäsa, 
nicht  aber  als  von  ihm  verschieden,  wie  Armbänder  etc.  nur  For- 
men des  Goldes  sind.  So  meinen  einige.  Andere  aber  sagen,  daß 
diese  Figuren,  die  nur  einen  gewissen  Schein  mit  einander  gemein 
haben  {parasparacchäyämätraniisärinah)^  als  jede  ihren  besonderen 
Reiz  besitzend  verschiedene  Figuren  sind.  Denn  sonst  müßten 
auch  Metapher  etc.,  in  deren  Wesen  eine  Aehnlichkeit  einge- 
schlossen ist,  auch  nur  Formen  des  Vergleichs  sein,  und  dadurch 
würde  ein  gut  Stück  (unserer  Wissenschaft)  in  Unordnung  kommen". 

Auf  diese  Stelle  folgt  die  Diskussion,  ob  die  Verkettung  (srnlhalä) 
als  Figur  zu  gelten  haben,  oder  die  auf  ihr  beruhenden  Figuren 
selbständige  Figuren  sind.  Gegen  ersteres  wird  geltend  gemacht, 
daß  die  Verkettung  in  jenen  besondern  Figuren  vollständig  auf- 
ginge (gatärthatvät)  und  sie  kein  eigenes  Feld  des  Vorkommens 
außer  jenen  habe.  „Wie  in  Metapher  etc.  das  (allen  verwandten 
Figuren)  gemeinsame  Lebenselement,  der  durch  die  Ununter- 
schiedenheit  oder  durch  die  Gleichartigkeit  gebildete  Bestandteil, 
nicht  selbst  eine  besondere  Figur  ist,  so  ist  es  auch  im  vorliegen- 
den Falle.  Andere  geben  das  nicht  zu,  sondern  sagen:  Auch  die 
Metapher  geht  in  ihren  Unterarten,  ausgeführte  Metapher  etc. 
vollständig  auf,  ebenso  der  Vergleich  in  kompletem  und  defektem 
Vergleich ;  sie  dürften  darum  nicht  als  selbständige  Figuren  gelten. 
Denn  das  Genus  kommt  nicht  für  sich  vor,  sondern  nur  in  den 
einzelnen  Arten.  Darum  sind  Käranamälä  etc.  nur  Unterarten 
der  Verkettung".  Vergleiche  auch  die  auf  S.  9  übersetzte  und 
die  in  note  2,  S.  8  angeführten  Stellen. 

Wir  sehen  aus  den  mitgeteilten  Erörterungen,  daß  die  Poetiker 
den  Begriff  der  poetischen  Figur  bis  in  die  letzten  Konsequenzen 


14  Hermann  Jacobi, 

analysierten.  So  mußten  sie  an  den  Punkt  geführt  werden,  wo 
das  Prinzip  versagte.  Einen  praktischen  Ausweg  aus  der  Ver- 
legenheit hat  Jagannätha  gefunden,  indem  er  sich  für  die  Fest- 
setzung der  einzelnen  Figuren  auf  eigene  Empfindung  und  das 
Herkommen  berief.  Aber  die  Lücke  in  der  Theorie  ist  damit  doch 
nicht  in  jeder  Beziehung  befriedigend  ausgefüllt. 


BLACHFELB. 

Von 

Edward  Schröder. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  25.  Januar  1908. 

Unsere  neuhochdeutschen  Wörterbüclier,  von  denen  freilich 
keines  für  sich  in  diesem  Punkte  vollständig  ist,  enthalten  alles 
in  allem  fünf  Substantiva  mit  Black-.  Davon  nimmt  eine  besondere 
Stellung  ein  Blachsah  (schon  mhd.)  'Salz  in  blaken^  (d.  h.  groben 
Leinensäcken);  zu  Mach  'atramentum'  stellen  sich  BJachmann  für 
die  schwarze  Hornblende,  Blachmal  (schon  ahd.  mhd.)  'Niellover- 
zierung'  und  'argentum  sine  colore  albo',  und  wohl  auch  Blacltfrost 
(engl.  Uackfrost)  Trost  ohne  Schneedecke'.  Von  diesen  unterscheidet 
sich  deutlich  BlacJifeld  'planities',  das  seit  Luther  (Belege  bei  Dietz, 
Luther- Wörterbuch  I  311)  belegt  und  durch  das  ebenso  bei  Luther 
bezeugte  Adjectivum  hlach  'planus'  einfach  genug  erklärt  scheint. 
Li  der  Tat  haben  sich  unsere  Lexikographen  zumeist  damit  be- 
gnügt, das  Kompositum  Blachfeld  als  eine  Zusammenrückung  des 
Adj.  UacJi  mit  dem  Subst.  feld  hinzustellen;  daß  dieses  Uachn^h^n 
dem  weit  häufigeren  flach  (vlach)  aufi'ällig  sei,  notiren  zwar  die  Grram- 
matiker,  wie  zuletzt  Wilmanns  I  ^  123  (§  97  Anm.),  aber  ein  Er- 
klärungsversuch, der  direkt  das  Kompositum  zum  Ausgangspunkt 
nimmt,  liegt  m.  W.  bisher  nur  von  S.  Bugge  vor:  in  seinen  aller 
Fehlgriffe  ungeachtet  höchst  anregenden  Studien  über  die  ger- 
manische Anlautsverschiebung  hat  er  Beitr.  12,  411  *blaJcafelpa  prä- 
historisch aus  *flaJcafelßa  entstehen  lassen  und  weiterhin  die  Exi- 
stenz des  Simplex  Nach  aus  diesem  und  ähnlichen  Kompositis  ab- 
geleitet. Er  fügt  dann  aber  ausdrücklich  hinzu ;  'die  Dissimilation 
hat  vielleicht  dazu  mitgewirkt,  daß  sich  die  Form  mit  h  eben  in 
blachfeld  erhalten  hat.  Man  fand  die  Form  flachfeld  mit  anlauten- 
dem f  in  beiden  Gliedern  mißtönend  u.  s.  w.' 

In  Wirklichkeit  ist  dies  Moment,  welches  Bugge  nur  als   ein 


16  Edward  Schröder, 

erhaltendes  einführt,  das  erzeugende:  hlachfeld  ist  nichts  anderes 
als  eine  Dissimilation,  und  zwar  anscheinend  eine  junge  Dissimi- 
lation, aus  fJachfeld,  und  lediglich  aus  diesem  Dissimilationsprodukt 
ist  das  Adjektivum  blacJi  abgeleitet.  Auf  neuhochdeutschem  Boden 
ist  das  ohne  weiteres  klar :  Luther  braucht  blach  (s.  Dietz  a.  a.  0.) 
ausschließlich  in  Verbindung  mit  Feld,  und  die  litterairischen  Belege 
bei  Grimm,  Sanders  und  Heyne,  die  von  Hans  Sachs  bis  Conrad 
Ferd.  Meyer  herunterreichen,  beweisen  diesen  Zusammenhang  auch 
für  die  Folgezeit.  Daneben  begegnen  freilich  ein  paar  Zeugnisse 
früherer  Lexikographen,  wie  hlachstirnig  ^fronto'  bei  Henisch  und 
Uach  Angesicht  'facies  plana'  bei  Stieler.  Die  Übertragung  auf 
das  'Gresichtsfeld',  die  Gresichtsfläche,  die  später  wieder  geschwun- 
den ist,  wird  also  für  die  frühere  Zeit  nicht  zu  leugnen  sein.  —  Mit 
dem  mhd.  Adj.  hlach  freilich  ist  es  eine  eigene  Sache.  Von  den 
drei  Belegen,  welche  die  Wörterbücher  aufführen,  ist  zunächst  zu 
streichen  Alexius  A  321  bei  Maßmann,  wo  plaech  nur  ein  Schreib- 
fehler der  Hs.  P  für  plaich  und  dies  eine  fehlerhafte  Wiederholung 
aus  dem  vorhergehenden  Verse  ist ;  mit  Gr  muß  man  schreiben :  sin 
antlitz  swarz  und  missevar.  Boner  63,30  hat  schon  Pfeiffer  für 
Beneckes  hlach  und  hungric  was  sin  lip  richtig  nach  der  Hs.  B  an- 
gesetzt stach  {swach  CD,  siecht  d,  magrig  b  u.  s.  w).  Es  bliebe 
also  nur  Helbling  1, 315,  wo  es  von  einem  Föltingmre,  von  einem 
Eock  aus  dem  groben  Tuch  von  S.  Polten,  in  der  (bekanntlich  nicht 
guten)  Überlieferung  der  einzigen  Hs.  heißt:  der  was  in  der  grcewe 
hlach]  was  dasteht,  hat  der  Herausgeber  Seemüller  gewiß  richtig 
übersetzt:  der  war  'grau  und  glatt'  —  ob  das  aber  gerade  für 
das  Tuch  von  S.  Polten  paßt,  wofür  man  nach  dem  Zusammenhang 
dieser  Stelle  und  nach  3, 180  f.  fast  eher  das  umgekehrte  ('grau 
und  rauh')  erwartet?  Kurz,  das  Adj.  hlach  ist  für  die  Zeit  vor 
dem  ersten  Auftauchen  von  hlachfeld  jedenfalls  schlecht  bezeugt  — 
es  ganz  abzuleugnen,  hab  ich  keinen  Grrund;  denn  daß  die  ersten 
Zeugnisse  für  das  Kompositum  in  Luthers  Schriften  stehn,  spricht 
so  wenig  gegen  ein  höheres  Alter  des  Wortes,  wie  etwa  bei  Quelle^ 
für  das  (zwar  ältere  lexikalische,  aber)  kein  einziger  litterarischer 
Beleg  vor  Luther  bekannt  ist.  —  Daß  neben  hlachfeld  die  Form  ohne 
Dissimilation  fortlebte,  mögen  für  das  16.  Jh.  ein  oberdeutscher 
und  ein  niederdeutscher  Lexikograph  bezeugen:  Dasypodius:  flach- 
feld  'campus'  und  Kilian:  vlackveld  'camporum  aequor'. 

Die  Dissimilation  im  Wortanlaut  und  speciell  im  Kompositum, 
auf  die  allein  ich,  abweichend  von  Bugge,  die  Entstehung  von 
hlachfeld  zurückführe,  ist  eine  wenig  beachtete  Erscheinung,  und  es 
lohnt  sich  wohl,  sie  einmal  durch  reichlichere  Beispiele  zu  beleuchten, 


BL  ACHFELD.  17 

nachdem  neuerdings  das  ganze  Problem  der  Dissimilation  an  einem 
AusscliDitt  zum  ersten  Male  eindringlicli  behandelt  worden  ist 
von  Ed.  Hoffmann-Krayer:  Ferndissimilation  von  r  und  l  im 
Deutschen.  Ein  Beitrag  zu  den  Prinzipien  des  Lautwandels.  (Fest- 
schrift zur  49.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner, 
Basel  1907,  S.  491 — 506).  Ich  sage:  zum  ersten  Male,  denn  die 
bekannte  Monographie  von  Grammont,  La  dissimilation  consonan- 
tique  dans  les  langues  indo-europeennes  et  dans  les  langues  roma- 
nes,  Dijon  1895,  ist  nicht  einmal  zu  der  einfachsten  Erkenntnis 
vorgedrungen,  daß  es  sich  hier  um  etwas  anderes  als  um  feste  'Lautr 
gesetze'  handelt,  und  daß  beim  Eintritt  wie  beim  Unterbleiben  der 
Dissimilation  neben  den  Accentverhältnissen  psychologische  Fak- 
toren eminent  wirksam  sind.  Ich  selbst  gehe  auf  die  principiellen 
Fragen  nicht  näher  ein,  betone  aber,  daß  eben  die  Dissimilation  im 
Anlaut  des  Nominalkompositums,  die  ich  zum  ersten  Mal  behandle, 
die  Rolle  des  Accents  gegenüber  den  von  Hoffmann-Krayer  erörterten 
Erscheinungen  überraschend  zurückdrängt.  In  Widerspruch  zu 
meinem  Vorgänger  tret  ich  trotzdem  nicht:  denn  er  hat  sehr 
wohl  die  Grründe  beachtet  und  hervorgehoben,  welche  diese  Ver- 
schiedenheit erklären.  Das  Wortmaterial  mit  dem  ich  operiere 
hab  ich  in  der  Hauptsache  vor  Jahren  gesammelt,  wie  mein  Aufsatz 
über  Alliteration  im  Nominalkompositum  Zs.  f.  d.  Alt.  43,  361  ff. 
ankündet.  Ich  habe  mich  damals  hauptsächlich  auf  Ortsnamen  und 
Pflanzennamen  beschränkt:  daß  sich  der  Stoff  für  diese  wie  für 
jede  andere  Art  von  Dissimilation  aus  unseren  Idiotiken  und  aus 
den  Eigennamen  unserer  Adreßbücher  gewaltig  anhäufen  ließe, 
weiß  ich  sehr  wohl.  Aber  ich  will  für  heute  nur  Blachfeld  lehr- 
reich erläutern,  und  dafür  reicht  mein  SammelstofF  aus. 

Ich    beginne    mit  Beispielen,    die    dem    unseren    am   nächsten 
liegen,  also  mit  der  Dissimilation 

/:/>&:/■ 
Der  gemeine  Staubschwamm :  ^Lycoperdon',  im  mittellatein.  'Crepitus 
lupi',  heißt  in  altdeutscher  Übersetzung  des  lateinischen  (resp.  grie- 
chischen) Ausdrucks  zunächst  wolves  vist  (Pritzel- Jessen  461),  dann 
aber  auch  vohen  vtst  'Crepitus  vulpis'  (Belege  bei  Lexer  III  432) : 
aus  diesem  voltenvist  resp.  vohvist  (vgl.  die  Ortsn.  Vohemvinkel  und 
VoJiwinhel)  wurde  das  mnd.  hövist,  unser  Bovist  dissimiliert,  und 
dies  ist  dann  einerseits  wieder  zu  Bubenfi^t  u.  ä.  umgedeutet, 
anderseits  wegen  seines  merkwürdigen  Klanges  in  die  lateini- 
sche Nomenclatur:  'Lycoperdon  bovista'  aufgenommen  worden. 
Unsere  Wörterbücher  haben  den  einfachen  Vorgang  sämtlich  ver- 
kannt, ja  bis  auf  Heyne  sogar  den  vohenvist  übersehen;  viele  halten 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Philolog.-histor.  Klasse  1908.     Heft  1.  2 


^8  Edward  Schröder, 

bovista  für  echtes  Latein,  so  auch  auch  Brüten  u.  Holland,  Engl, 
plant-names. 

Im  hessischen  Gerichte  Steinau  lag  ein  kleiner  Ort,  der  in 
fuldischen  Urkunden  der  Karolingerzeit  frigero  manno  velt  heißt  und 
der  noch  1382  existierte:  aber  als  Brymendefelt\  Seit  1416  (Bremi- 
feld)  liegt  er  wüste,  in  der  Wüstung  Bremenfeld  lebt  sein  Name 
fort  (Landau,  Wettereiba  S.  128.  133;  Wüstungen  S.  371). 

Der  umgekehrte  Vorgang  ist  die  Dissimilation 

b  :  b)  f  :h. 

Im  Kreise  Witzenhausen  treffen  wir  am  Ausgang  eines  schmalen 
Waldbachtales  unterhalb  des  Ludwigssteins  die  Flachsbachsmühle:  das 
Tal  selbst  hat  nur  wenige  Morgen  unter  dem  Pfluge,  Flachsbau  ist 
dort  wohl  nie  getrieben  worden,  —  in  der  Tat  hieß  der  Bach  und 
die  kleine  Siedelung,  deren  letzter  Überrest  die  Mühle  ist,  von 
Haus  aus  BlaspacJi^  so  noch  1369,  während  1418  dafür  Flaspach 
auftritt,  wie  das  Volk  noch  heute  spricht;  Flachshach  ist  nur  die 
hochdeutsche  Umschreibung.  Blas  ist  das  bekannte  Adjectivum 
blas^  hlessi  'pallidus,  calvus',  das  in  zahlreichen  Bach-  und  Berg- 
namen Deutschlands  und  der  Niederlande  begegnet.  Wir  werden  bei 
einem  dieser  Namen  noch  andere  Schicksale  constatieren  (S.  20  oben). 
—  Wenn  es  nun  im  Rheinland  und  anderwärts  einen  Familiennamen 
Blasherg  u.  ä.  gibt,  aber  vorläufig  ein  entsprechender  Ortsname 
nicht  nachweisbar  ist,  so  mag  die  Vermutung  wohl  ausgesprochen 
werden,  daß  die  Hofstatt  Flachsberg  der  Stadt  Gräfrath  einst  diesen 
Namen  getragen  habe. 

Unter  den  nicht  wenigen  Ortsnamen,  welche  den  Namen  Bocl'S- 
herg  'Mons  hirci'  oder  *Mons  capri'  führen,  hat  das  im  badischen 
Amt  Breisach  gelegene  Bochesberch  (so  972  bis  1027  4  mal)  daa 
Schicksal  gehabt,  zu  Vochesberch  (1186),  Vockesberg  (1308),  Foxberg 
(1333)  dissimiliert  und  demnächst  zu  Vogtsberg  (so  schon  1235?) 
resp.  Vogtsburg  umgedeutet  zu  werden  (Krieger,  Topograph.  Wörter- 
buch des  Großherzogtums  Badens  11^  1288).  Wir  sehen  hier  deut- 
lich: die  Etymologie  bemächtigt  sich  der  neuen  Form  erst  nach- 
träglich, von  einer  volksetymologischen  Umdeutung  ist  zunächst 
nicht  die  Rede,  sondern  nur  von  einer  lautlichen  Dissimilation. 
Die  Umdeutung  hätte  ebenso  gut  auf  Fuchsberg  führen  können. 

Dies  Resultat  hatte  die  Dissimilation  bei  einem  Pflanzennamen  r 
*Rubus  caesius'  heißt  sowohl  Bocksbeere  als  Fuchsbeere  (Pritzel- 
Jessen  S.  343) ;  die  'Bocksbeere'  ist  natürlich  das  primäre :  der  Fuchs 
verschont  den  Strauch,  den  der  Rehbock  aufsucht. 

Daß  in  Fällen  wie  den  Ortsnamen  auf  -bach,  -berg,  -bürg,  den 


BLACHFELB.  19 

Pflanzennamen  auf  -beere,. -Uume  die  Dissimilation  den  ersten  Be- 
standteil trifft,  obwohl  dieser  den  Hanptton  trägt,  ist  selbstver- 
ständlich. Aber  einmal  war  sie  natürlich  nicht  auf  das  Ausweichen 
in  /'  beschränkt,  und  dann  war  in  Fällen  wo  der  zweite  Teil  des 
Kompositums  nicht  ein  geläufiges  Appellativum  darstellte,  auch 
dieser  nicht  vor  der  Dissimilation  geschützt:  der  bekannte  Name 
für  'Artemisia  vulgaris' :  Beifuss,  nd.  Bifot  ist  dissimiliert  aus  ahd. 
mhd.  bibö^:  es  ist  das  Gregenstück  zu  der  Dissimilation,  welche  aus 
der  Bibel  die  Fibel  abspaltete. 

An  den  Schicksalen  einiger  Pflanzennamen  ließe  sich  die  ganze 
Mannigfaltigkeit  der  Dissimilation  demonstrieren.  Besonders  lehr- 
reich sind  'Rubus  fruticosus',  'Vaccinium  vitis  idaea'  und  'Solanum 
tuberosum'.  Für  die  Brombeere  verweise  ich  auf  Pritzel- Jessen  S. 
344  und  Vilmar,  Idiotikon  v.  Kurhessen  S.  134  und  stelle  hier  nur 
susammen 

b  :  h  bewahrt  :  Brämbeere,  Brommbeere 
b  :  b  y  f  :  b  in  Frommbeeri  (St.  Grallen) 
b  :  b  }  g  :  b  in  Grambeeren  (Niederhessen) 
b  :  b  }  —  :  b  in  Rahmbeerstrauch  (Schlesien) 
b  :  b  )  b  :  —  in  Brömcrn  (Siebenbürgen),  auch  Blömrde 
(Ottenheim,  Beitr.  13,  216)  "■). 

Und  mit  diesem  Falle  der  'Brombeere',  der  sich  ähnlich  bei 
der  'Preißelbeere'  ('Vaccinium  vitis  idaea'  Pritzel-Jessen  S.  424  f.) 
wiederholt,  sind  die  Möglichkeiten  der  Dissimilation  noch  nicht  er- 
schöpft: denn  der  naheliegende  Übertritt  von  b  in  m  und  in  w^ 
mit  dem  wir  im  gleichen  Artikulationsgebiete  verbleiben,  ist  bei 
dem  Anlaut  br-  ausgeschlossen.  Ich  gebe  also  zunächst  hierfür 
ein  paar  Beispiele  aus  dem  freien  Wortanlaut. 

b  \  h  )  m  '.  h,  Beispiel :  Mollenbacli  im  Elsaß  (Seitenbach  der 
Leber)  für  älteres  Bollenbach  (Zs.  f.  d.  Alt.  49,  471). 

h  \  h  )  w  :  h,  Beispiele:  der  Wellenberg  bei  Gerbershausen 
(Elr.  Heiligenstadt),  in  Urkunden  d.  14.  Jhs.  Bellenberch ;  der  Wahl- 
berg bei  Coswig  in  Anhalt,  in  Urkunden  d.  10.  bis  13.  Jhs.  Bai- 
berg (Hey  u.  Schulze,  Die  Siedlungen  in  Anhalt  S.  101) ;  der  Zinken 
Bestenbach  der  Gem.  Petersthal  (A.  Oberkirch),  der  im  14.  Jh.  auch 
als   Westembach  vorkommt  (Krieger  I^  164). 

Merkwürdiger  ist  der  Übertritt  in  ein  anderes  Artikulations- 
gebiet, das  gutturale,  also  b  :  b  )  g(7c)  :  b,  wie  ihn  die  Beispiele 
aufweisen :  Gutenbach  (A.  Mosbach),  schon  a.  1349  Gudembach,  aber 


1)  In  Brommer,  Brommel-  u.  s.  w.  hingegen  liegt  Assimilation  mh  >  mm  vor. 

2* 


20  Edward  Schröder, 

vorher   Budenbach  1141.   1299   (Krieger  I^  800 f.);   der  Kiesberg  in 
Nassau,  urkdl.  1231  Bieseberg  (Nass.  Annalen  37,  70). 

Von  deutschen  Belegen  für  den  Übertritt  aus  der  Labial- 
in die  Dental  reihe  hab  ich  für  den  Wortanlaut  mir  zunächst  einen 
notiert,  der  unsern  Göttinger  Dialekt  angeht :  aus  ihm  verzeichnet 
Schambach  S.  29  u.  231  für  'Clematis  vitalba'  die  beiden  Wörter 
Bocksbart  und  Tockebart.  Damit  läßt  sich  vergleichen  die  hübsche 
Dreiheit  von  engl.  Benennungen,  welche  Britten  u.  Holland  p.  578 
für  'Dactylis  glomerata'  (Knaulgras)  aufführen:  Fox's-foot  —  Dog^s- 
foot  —  CocFs-foot.  Und  wenn  wir  nun  sehen,  daß  ^Caltha  palustris' 
in  England  wie  in  Deutschland  (Britten- Holland  p.  572,  Pritzel- 
Jessen  73  f.)  eine  Menge  von  Namen  in  der  Richtung  auf  'Butter- 
blume' (Ankeblume,  Schmalzblume  u.  s.  w.)  führt,  so  werden  wir 
kaum  mehr  zweifeln,  daß  Dutterblume,  Dotterblume  aus  Butterblume^ 
B Otterblume  durch  Dissimilation  entstanden  sind.  Der  gute  Sinn, 
den  diese  Entgleisung  der  Aussprache  bot,  hat  ihre  Existenz  ge- 
sichert und  sie  sogar  bei  den  Botanikern  zu  officieller  Anerkennung 
gebracht. 

Im  Inlaut  ist  der  Übertritt  aus  der  einen  in  die  andere  Reihe 
nichts  seltenes  und  in  Familiennamen  sogar  recht  häufig:  so  ist 
am  Rhein  der  Name  Rautenstrauth  zu  Raupenstrauch,  dissimiliert, 
und  in  Niedersachsen  haben  besonders  die  alten  Handwerkernamen 
auf  -werte  (hd.  würhte)^  später  auch  -werter  {-werder)  die  merkwür- 
digsten Ent Wickelungen  durchgemacht :  für  mestwerte  ^Messerschmied' 
verzeichnet  das  Adreßbuch  der  Stadt  Hannover  neben  Mestwerdt 
auch  Mestwarb  und  mit  späterer  Erleichterung  Messwarb,  aus  dem 
bardenwerteif)  hat  sich  ein  Bardenwerper  und  mit  strammer  Ver- 
hochdeutschung  ein  Bartenwerffer  entwickelt;  von  einem  lichtwerte, 
lichtwarte  stammt  die  Familie  Lichtwark  ab  —  überall  liegen  hier 
Dissimilationen  vor  ^).  Wir  werden  also  mit  der  Möglichkeit  einer 
Dissimilation  t  :  t  }  p  :  t  auch  für  den  Anlaut  rechnen  dürfen,  und 
ebenso  mit  t  :  t  )  k  :  t,  wie  sie  ja  in  dem  Pseudo-Kompositum 
Kartoffel  ans  Tartoffel  tatsächlich  vorliegt. 

Den  oben  citierten  Fällen  des  Übergangs  b  :  b  )  tv  :  b  stell 
ich  hier  ein  hübsches  Beispiel  des  umgekehrten  Falles  gegenüber: 
w  :  Ol  )  b  :  w.  Im  Kreise  Arnsberg  liegen  zwei  Orte  'Nordwig' 
und  'Sundwig'  und  ein  dritter:  Bestwig \  Auch  ohne  nach  einem 
'Ostwig'  zu  suchen,  werden  wir  hier  die  Vorstufe  *Westwig  als 
sicher  annehmen  dürfen.  —  Der  andere  Fall  w  :  w  )  w  :  b  ist  mir 


1)  Die  Fricadelle  bringen  einige  Fremdwörterbücher  als  Fricaudelle  mit  dem 
Fricandtau  zusammen,  und  auch  Kluge  stellt  sie  dazu,  es  ist  aber  ital.  frittatella ! 


BL  ACHFELD.  21 

nur  in  einem  engl.  Pflanzennamen  zur  Hand:  wood-hind,  ivood-hine 
(Convolvulus,  Lonicera,  Hedera)  Britten-Holland  p.  498  stellt  für 
ags.  tvudii'tvinde,  woneben  schon  Bosworth-Toller  p.  1278a  wudu-bind 
u.  ä.  verzeichnet. 

Die  Rahmbeere  und  Reisseiheere  haben  uns  bereits  Beispiele  des 
dissimilatorischen  Konsonantenschwundes  am  Wort- 
anlaut geboten.  Sehr  zahlreich  sind  die  Fälle  nicht  gerade,  aber 
es  finden  sich  doch  sehr  markante  darunter.  Die  Artoffel  für  Tar- 
toffel (Pritzel- Jessen  382),  die  doch  möglicherweise  wenigstens  an 
der  einen  oder  anderen  Stelle  die  Vorstufe  oder  Stütze  für  den 
weitverbreiteten  Erdapfel  gebildet  hat,  mag  hier  stehn,  obwohl 
sie  kein  Beispiel  für  ein  echtes  Kompositum  ist.  Auch  die  Ilge 
für  Lüge  (und  Uilge^  Pritzel-Jessen  215)  ist  anderer  Art,  und  Or- 
manie  für  Normanie  (in  der  Kudrun)  nenn  ich  hier  nur  deshalb, 
weil  Hoffmann-Krayer  S.  501  das  ganz  parallele  elsäss.  ewenlnts 
für  reverence  so  schwierig  erschienen  ist.  Ein  recht  hübscher  Vor- 
gang dieser  Art  ist  das  Schicksal  des  Landesnamens  Lif-lant: 
wir  kennen  ihn  aus  der  Kudrun  als  Niflant;  weiter  verbreitet  aber 
war  die  Form  Iflard,  die  nicht  nur  durcb  den  Familiennamen  Iff- 
land  (Hessen  seit  dem  16.  Jh.)  gefordert,  sondern  aucb  durch 
geographiekundige  oberdeutsche  Autoren  des  14.  und  15.  Jlis.  mit 
bairischer  Diphthongierung  als  Eiflant  bezeugt  ist:  Suchenwirt 
XIV  224,  Oswald  V.  Wolkenstein  (ed.  Schatz)  107,7.8;  Oswald 
nennt  kurioser  Weise  Eiffenlant  und  Liffen  neben  einander  und 
hat  an  einer  anderen  Stelle  (36, 77)  Eifensirant  neu  gebildet  ^). 
—  Auch  tirol.  Urmenti  (Schöpf)  aus  Murmenti  (Murmeltier)  =  mar 
(mus)  montana  mag  hier  angeführt  werden. 

Es  ist  durchaus  begreiflich,  daß  sich  der  dissimilatorische 
Schwund  eines  anlautenden  Konsonanten  und  andererseits  auch 
assimilatorische  Prothese  (richtiger :  Anticipation)  im  Kompositum 
besonders  leicht  einstellt  bei  Lauten  von  schwacber  Artikulation, 
in  erster  Linie  bei  w  und  h. 

IV  :  IV  y  —'.  w  (und  w  :  w  )  w  :—) 

altenivachs,  altwachs  'nervus',  bes.  'Halssehne'  (DWB.  I  268.  275)  ist 
seit  dem  15.  Jh.  reichlich  bezeugt  für  ahd.  waUotvahso  (GrraffI689), 
fries.  waldiiwaxe  (Richthof en  1123),  das  im  Mhd.  (Lexer  III  660) 
und  in  verschiedenen  neueren  Mundarten  in  der  alten  Form  oder 
zu  'Wildwachs'  umgedeutet  fortlebt.     In  gleicher  Lage  zeigt  frühes 


1)  Vergleichbar  diesen  Vorgängen  sind  die  Schicksale,  die  der  Eigenname  Liul- 
iold  —  Lippold  in  den  Familiennamen  Nijßpold  und  Ippold,  Ippel  gehabt  hat. 


22  Edward  Schröder, 

Schwanken  der  Name  des  heutigen  Ortes  Walprechtsweier  (A. 
Rastatt),  der  1065  als  Aljwahtcswilre,  1271  und  weiterhin  als  Wal- 
in-echtswüer  erscheint,  Hier  kann  nach  vorübergehendem  Schwanken 
die  Festigung  der  alten  Form  eingetreten  sein,  es  ist  aber  auch 
möglich,  daß  die  frühstbezeugte  Form  Alprahtesw'dre  wirklich  die 
älteste  und  erst  später  mit  Anticipation  des  Anlauts  vom  zweiten 
Kompositionsteil  die  Form  Wdlprechtswiler  aufgekommen  ist.  Beim 
h  werden  wir  unten  diese  Erscheinung  der  'Assimilation'  des  ersten 
Bestandteils  an  den  zweiten  ausreichend  sichern,  für  w  hab  ich 
einen  guten  Zeugen  in  dem  Personennamen  Wortwin,  der  seit  dem 
9.  Jh.  (Förstemann  I^  1637)  in  rheinischen,  ostfränkischen  und 
hessischen  Quellen  auftaucht  und  noch  ein  paar  andere  Namen 
(Wordolf,  Wordlief)  hinter  sich  hergezogen  hat:  es  ist  ganz  gewiß 
nur  ein  Bastard  von  Ortwin. 

Denselben  Vorgang  wie  bei  waUwalis )  altwahs  aber  haben  wir 
sodann  schon  früh  für  den  Namen  des  Odenwalds  anzunehmen! 
Denn  die  beiden  Deutungen,  mit  denen  man  sich  bisher  beholfen 
bat:  'öder  Wald'  und  'Wald  des  Odo'  (Förstemann  II ^  166,  Krieger 
11^  408  f.)  vertragen  sich  nicht  mit  den  ältesten  Formen,  wie  sie 
durch  die  karolingisehen  Schriftsteller  bezeugt  sind  (s.  Krieger  a. 
a.  0.):  Odenewald,  Odoneiuald,  Odartoivald.  Odonowald:  sie  alle  lassen 
sich  mit  einer  Form  ^Wodanaivald  o.  ä.  weit  besser  vereinigen; 
auch  der  Odenherg  bei  dem  niederhessischen  Grudensberg  (Wodenes- 
herg)  könnte  sehr  wohl  durch  einen  Wodenwald  )  Odenwald  zu  seinem 
Namen  gekommen  sein. 

Fortfall  des  w  im  Anlaut  des  zweiten  Bestandteils  haben  wir 
z.  B.  im  On.  Wiesendangeti  (nö.  Wintertbur)  für  Wisuntwangas  des 
9.  Jhs.  (Förstemann  II  ^  1632)  gegenüber  Feuchtwangen,  Flirtwangen 
U.S.W.  In  den  Graunamen  Wctareiha  und  Wingarteiha  (nur  diese 
beiden  von  solcher  Art  gibt  es)  hat  man  das  eiha  allgemein  mit 
dem  aib  {haib)  in  den  Gaunamen  Ant/iaib,  Bainaib  und  Burgiindaib 
der  Origo  gentis  Langobardorum  zusammengebracht  (J.  Grimm, 
Gesch.  d.  d.  Spr.  686,  Brückner,  Q.  F.  75, 182)  und  sich  wohl  auch 
bemüht,  ein  ahd.  eiba  mit  ouwa  lautlich  zu  vermitteln.  Übersehen 
wurde  dabei  nicht  nur,  daß  die  beiden  deutschen  Gaunamen  mit 
tv  anlauten,  sondern  auch,  daß  für  den  einen  das  w  im  Anlaut  des 
zweiten  Teiles  durch  ein  halbes  Dutzend  Urkunden  aus  dem  8. — 10. 
Jh.  gesichert  ist :  Wingart  -  iveiba  (die  Belege  bei  Krieger  II  ^  1470). 
Wir  erhalten  damit  für  den  Begriff  'Gau'  ein  neues  Wort  weiba^ 
das  etymologisch  wohl  unserm  'Kreis'  als  Verwaltungsbezirk  zu 
vergleichen  wäre ;  es  mag  auch  in  Ortsnamen  wie  Waibstadt  (Krie- 
ger 11 2  1305)  vorliegen. 


BLACHFELD.  23 

Sehr  reichlich  ist  das  Material  für  die  Assimilation  und  Dissi- 
milation bei  h-  und  vokalischem  Anlaut;  hier  ergeben  sich 
die  Möglichkeiten: 

1)  h  :  h)  Vokal  :  h  (und  h  :  Yokal), 

2)  Vokal  :  Vokal  >  h  :  Vokal  (und  Vokal :  h). 

Diese  vier  Konstellationen  kreuzen  sich,  und  daraus  lassen  sich 
manche  von  den  Erscheinungen  erklären,  welche  H.  Garke  in  seiner 
unendlich  fleißigen,  aber  recht  unkritischen  Studie  über  Prothese 
une  Aphärese  des  H  im  Ahd.  (Q.  F.  69,  Straßburg  1891)  zusammen- 
gestellt hat.  Dazu  treten  aber  noch  die  weiteren  Fälle  von  Ent- 
gleisung der  Aussprache,  welche  bei  der  ursprünglichen  Grruppie- 
rung  3)  // :  Vokal  und  4)  Yokal :  h  zu  einem  Umspringen  oder 
Vorgreifen  des  Anlauts  führen^). 

Ich  gebe  zunächst  ein  paar  Beispiele  für  1).  "Wenn  wir  in 
Westfalen  neben  Herlingliausen  (Kr.  Warburg)  ein  Orlinghausen 
(bei  Detmold)  finden,  bei  dem  alle  für  Herlinghausen  von  Schuch- 
hardt  nachgewiesenen  archäologischen  Bedingungen  zutreflPen,  so 
ist  der  Abfall  eines  H-  auch  ohne  nachweisbare  ältere  Formen 
zweifellos;  und  ebenso  wird  man  für  lldehausen  (zwischen  Seesen 
und  Grandersheim)  getrost  ein  *Hildehaiisey}  o.  ä.  fordern  dürfen^). 
Grute  Belege  aus  meiner  hessischen  Heimat  bieten  Elmshausen  bei 
Ebsdorf :  Helmuäehusen  a.  1267.  1279.  1282,  Almudehusen  1292,  El- 
mishusen  1422  (Arnold,  Ansiedelungen  und  Wanderungen  S.  398)  — 
und  EJmarshausen  bei  Wolfhagen:  Hildhnereshusen  10.  Jh.,  Hilti- 
mareshusen    12.  Jh.    Cop.,    Elimaresliusen    1150,    Elmershusen    1417 


1)  Ich  Labe,  um  die  Dinge  nicht  noch  mehr  zu  komplicieren,  oben  die  rela- 
tiv seltenen  Fälle,  wo  h  vor  Konsonant  (r,  ?,  n,  iv)  stand,  unterdrückt,  will  aber 
eines  der  bekanntesten  Beispiele  dieser  Kategorie  hier  anführen:  die  Heiternessel 
'Urtica  urens'.  Die  Doppelheit  eitarnezzila  und  heitarnezzila  ist  sehr  alt,  ja  Graff 
II  1116  führt  nur  das  letztere  an,  und  doch  bezweifelt  niemand,  daß  eitarnezzüa  das 
ursprüngliche  sei.  Die  'Prothese  des  W  erklärt  sich  wohl  aus  der  frühahd.  (resp.  as.j 
Form  eüarhnezzüa  (eitarhnetüa).  —  Die  heutige  Verbreitung  der  Formen  mit  H- 
belegt  Pritzel-Jessen  S.  421;  vgl.  auch  DWB.  IV  2, 029  und  III  393.  Unter  ihnen 
fehlt  merkwürdiger  Weise  ganz  die  fürs  spätahd.  und  mhd.  bezeugte  Form  heiz- 
nezzel  (Garke  S.  92,  Lexer  I  1227) :  Garke  nimmt  Prothese  des  h  an,  jedenfalls 
wegen  des  nahen  Verliältnisses  von  eitar  und  eiz,  aber  da  *eiznezzel  nirgends  be- 
zeugt ist,  heiznezzüa  aber  trefflich  zu  'Urtica  urens'  paßt,  so  wag  ich  nicht,  jene 
Form  zu  konstruieren.  Ich  muß  dann  freilich  auch  zugestehen,  daß  das  h  von 
heiznezzüa  (Brennessel)  auf  eitarnezzila  (Giftnessel)  hinübergewirkt  haben  könnte, 
und  es  somit  nicht  nötig  wäre,  mit  der  Erklärung  von  heitarnezzila  auf  eitarhnez- 
zila  zurückzugreifen. 

2)  Sudendorf  IX  76  setzt  Illinghausen  (a.  1400)  mit  lldehausen  gleich; 
dann  könnte  Illing-  für  Hilling-  und  Hilding-  stehen. 


24  Edward  Schröder, 

(ebenda).  —  Derselbe  Vorgang  aber  vollzieht  sieb,  wenn  neben 
harthöu  ('hypericum')  frühzeitig  arthewe  u.  ä.  tritt  (Grarke  S.  118) 
oder  aus  den  heithaften  harren  der  Kaiserchronik  16878  in  der  treff- 
lichen Heidelberger  Hs.  4  eithafte  geworden  sind.  —  Festge worden 
ist   unser  Oxhoft,  nd.  nl.  oxhooft  aus  engl,  hogshead. 

Für  den  Fortfall  des  h  im  zweiten  Kompositionsteil  fehlt  es 
mir  an  entscheidenden  Belegen:  denn  entweder  ist  dies  Element 
als  das  grundlegende  konstanter  in  Verständnis  und  Form  (z.  B. 
oberdeutsch  -heim,  -hausen),  oder  aber  es  erscheint  das  h  im  An- 
laut des  zweiten  Teils  überhaupt  gefährdet:  man  denke  an  die 
mittelfränkischen  Everard,  Gerard  und  andererseits  an  die  -em,  -um 
und  -sen  des  niederdeutschen  Gebietes.  Immerbin  sind  Fälle  hier- 
her zu  rechnen  wie  holippeln  {  hohl-hippeln,  das  dann  durch  eine 
zweite  Dissimilation  honippehi  wurde. 

2)  Wenn  der  Erdapfel  'volksetymologisch'  zum  Herdapfel  ge- 
worden ist  (vgl.  DWB.  IV  2, 1077  und  Pritzel-Jessen  S.  382  'So- 
lanum tuberosum',  dazu  Register  S.  508),  so  ist  das  die  gleiche 
Dissimilation,  wie  sie  besonders  in  oberdeutschen  Dialekten  sich 
bei  Heidechse  und  Heidochs  für  Eidechse,  bei  Hameise  u.  ä.  für  Ameise, 
bei  Heieise  'Processionsfabne'  für  Eleise  (aus  sXsetööv)  findet  (reich- 
liche Nachweise  gibt  Garke  S.  122  ff.).  Denn  selbstverständlich 
machen  derartige  Lautdifferenzierungen  nicht  beim  Kompositum 
Halt,  dessen  sich  der  Sprechende  keineswegs  etymologisch  bewußt 
bleibt :  wo  zwei  benachbarte  Sprechsilben  mit  Vokal,  d.  h.  mit  dem 
gleichen  konsonantischen  Einsatz  beginnen,  stellt  sich  die  Neigung 
zur  Dissimilation  ein.  Wenn  also  mnd.  Herasmus  für  Erasmus  ge- 
schrieben und  gesprochen  wird,  so  ist  das  dasselbe  wie  wenn  es 
schweizerisch  Hanselme  heißt:  denn  dies  geht  bereits  auf  Anselme 
nicht  auf  Anshelm  zurück.  Der  weitverbreitete  Hulahne  und  das 
nicht  seltene  Hameriga  gehen  auf  die  Aussprache  Ul-äne  und  Am- 
eriga  zurück  —  aber  selbstverständlich  hält  sieb  das  hier  festge- 
wordene Ä,  auch  wenn  sich  die  Silbengrenze  verschiebt,  also  Hu-Jäne, 
Ha-meriga  gesprochen  wird.  So  bin  ich  denn  auch  geneigt,  das 
merkwürdig  konstante  helfant  'elephas'  auf  eine  Aussprache  elf-ant 
zurückzuführen,  etwa  wie  nl.  harpoen  wohl  ein  arp-ön  (nicht  ar-pö») 
zur  Vorstufe  hat.  Festgeworden  sind  derartige  'Prothesen'  zu- 
nächst nur  dann,  wenn  die  neue  Form  der  Vorstellung  eine  be- 
queme etymologische  Anlehnung  ergab. 

Ein  sehr  lehrreiches  Beispiel  bietet  der  Holzbach,  welcher 
durch  die  Stadt  Ansbach  fließt  (Zeuß,  Herkimft  der  Baiern  s.  XXV) 
und  ihr  den  Namen  gegeben  hat:  Onoldesbah  'Bach  des  Onold'.  Be- 
kanntlich ist  der  altertümliche,   officiell  lange  festgehaltene  Name 


£L  ACHFELD.  25 

Onohhach  erst  im  19.  Jh.  von  der  volkstümliclien  Form  verdrängt 
worden:  aus  Onoldes  war  über  Öns-  O'^ns-  geworden,  und  dies  hat 
man  als  Ans-  recipiert.  Es  gab  aber  neben  der  Aussprache  On- 
oldes- offenbar  früh  eine  Dissimilation  '^Hön-oldts-,  am  selben  Ort 
und  zur  selben  Zeit!  Aus  der  ersten  hat  sich  O^ns-  entwickelt, 
aus  der  zweiten  (über  *IIönldes-,  *Höldes-,  *IIöh-)  Höh- ;  die  Tren- 
nung der  Bedeutung  in  der  Weise,  daß  O^nshach  die  Stadt  und 
Hohbach  das  Grewässer  benannt  wurde,  ist  erst  sekundär.  —  In 
der  Bavaria  III  2, 1144  (wo  sehr  törichte  Erklärungsversuche  für 
den  Ortsnamen  gemacht  werden)  find  ich  in  der  Anm.  noch  eine 
dritte  Entwickelung  des  Onoldes  :  Onhoh  bei  Untersteinbach  in 
Franken.  Bewahrt  ist  Onolz-  in  Onohheim  bei  Krailsheim  a.  d. 
Maulach. 

Die  theoretische  Möglichkeit,  daß  sich  Vokal :  Vokal  in  Vokal : 
h  umsetzte  (wie  oben  Onoldes  )  Onhoh),  hat  praktisch  geringe  Be- 
deutung: aus  ähnlichen  Gründen  wie  ich  sie  schon  S.24  für  den  zweiten 
Bestandteil  ausführte.  Es  kommt  noch  hinzu,  daß  Komposita  mit 
Vokal  im  Anlaut  des  zweiten  Teils,  aus  Ursachen  die  ich  später 
einmal  erörtern  werde,  im  Deutschen  überhaupt  selten  sind:  unter 
den  alten  Personennamen  fehlen  sie  ganz.  Immerhin  stellten  sich 
auch  hier  sekundär  derartige  Fälle  ein,  nachdem  ivalt  zu  olt  ge- 
worden war :  die  'volksetymologische'  Umdeutung  von  -olt  in  -hold 
kann  recht  wohl  von  Beispielen  ausgehen  wie  Eberhold  (Förstern. 
1  ^  446),  Arnliold  u.  s.  w. 

Aus  den  zahlreichen  Beispielen  für  3)  4)  bei  Förstemann  müssen 
wir  alle  diejenigen  ausscheiden,  die  aus  romanischem  Gebiet 
stammen:  hier  ist  das  h  im  Wortanlaut  ebenso  oft  vorgeschlagen 
als  fortgefallen,  und  im  zweiten  Element  fehlt  es  schon  sehr  früh, 
ohne  daß  wir  die  Dissimilation  heranziehen  dürften.  Für  3)  hab 
ich  ein  gutes  Beispiel  (etwa  des  Typus  asen-hore  für  hasen-ore) 
nicht  zur  Hand;  um  so  mehr  für  4).  Das  Material  bei  Garke 
weist  vorzugsweise  Schreibfehler  auf,  die  freilich  psy- 
chologisch unter  genau  den  gleichen  Gesichtspunkt 
fallen  wie  die  sprachlichen  Vorgänge,  aber  doch  eben 
nicht  zu  dauernden  Verschiebungen  führen  können,  auch  wenn 
sie,  wie  viele  psychologisch  motivierte  Schreibfehler,  öfter  vor- 
kommen: ich  meine  Fälle  wie  Imnorsami  (für  unhorsami  S.  121.) 
Bemerkenswert  ist  es,  daß  öheim  (ccheim)  nicht  nur  vereinzelt 
hohelm  geschrieben  erscheint,  sondern  auch  Jioem,  und  zwar  in  so 
verschiedenen  Quellen  aus  Mitteldeutschland  und  Niederdeutsch- 
land (S.  105),  daß  man  an  ein  zeitweiliges  lokales  Festwerden 
dieser  Form  glauben  muß.     Es  handelt  sich  in  solchen  Fällen  nicht 


26 


Edward  Schröder, 


um  ein  einfaches  Umspringen  des  Silbenanlauts,  sondern  zunächst 
trat  die  Anticipation  des  h  auf:  hoheim,  und  weiterhinist  die  cirkum- 
flektierte  Form  hoeni  kontrahiert,  wobei  es  nicht  nötig  ist,  an  einen 
eigentlichen  Dissimilationsproceß  zu  denken. 

Die  Grruppe  4),  zu  der  ja  auch  hoheim  gehört,  ist  überhaupt 
bei  Grarke  sehr  stark  vertreten,  und  nicht  nur  durch  Schreibfehler 
wie  hafterJiemede  (S.  84),  hahorn  (S.  84),  hanthei^zom  (S.  87),  Hehar- 
hart  iß.  89),  heinhenti  (S.  91),  herhaft  (S.  95.  96!),  Herhart  (S.  97), 
Hisanhart  (S.  104),  hopferhus  (S.  106),  hosthalhon  (S.  106),  houerhant 
(S.  108),  huohaldi  (S.  109),  hurhano  und  horhun  (S.  109)  u.  s.  w., 
sondern  auch  durch  Fälle,  wo  die  'Assimilation'  bestimmt  sprach- 
licher Natur  war  und  festgeworden  ist:  so  schreibt  Luther  kon- 
stant Hehenholz  (s.  Dietz  s.  v.  Ebenholz),  und  das  DWB.  IV  2,  731 
fügt  noch  weitere  Belege  hinzu.  Ich  bin  auch  der  Überzeugung, 
daß  unser  Handhabe  auf  diese  Weise  zu  Stande  gekommen  ist: 
es  findet  sich  freilich  schon  ahd.  als  hanthaba,  und  auf  das  von 
Grraif  IV  738  daneben  verzeichnete  anthaba  will  ich  um  so  weniger 
Wert  legen,  als  auch  (sogar  in  der  gleichen  Hs.!)  hantaba  vor- 
kommt; aber  einmal  ist  mir  die  Bildungsweise  an  sich  in  so 
früher  Zeit  verdächtig,  und  dann  mag  ich  ^anthaba  'capulus,  ansa' 
doch  nicht  trennen  von  den  reichlich  bezeugten  inthaben  'sustinere, 
sustentare,  suffulcire'  und  intheffeti  in  gleicher  Bedeutung^). 

Zahlreich  ist  dies  Vorausgreifen  des  h  bezeugt  in  süddeutschen 
Ortsnamen  (während  wir  in  norddeutschen  umgekehrt  öfter  den  Fori>- 
fall  durch  Dissimilation  fanden  S.  23).  So  notiere  ich  aus  dem  ersten 
Bande  von  Kriegers  Topogr.  Wb.  des  Grhzt.  Baden  (2.  Aufl.  1904) : 
Hassmersheim  am  Neckar  (S.  860  f.),  dessen  Name  schon  im  Cod. 
dipl.  Laureshamensis  zwischen  UasmarsJieim  und  Asmaresheim  (793) 
schwankt  und  dies  Schwanken  noch  bis  ins  14/15.  Jh.  fortsetzt: 
die  ursprüngliche  Form  ist  sicher  Asmaresheim.  —  Henchhurst 
(ausgegangener  Hof  im  Beza.  Bühl) :  so  seit  1505,  aber  noch  1475 
Emychenhurst  (S.  932).  —  Hockenheim  bei  Schwetzingen  (S.  997): 
Ochinheim  769,  aber  schon  im  gleichen  Jahrhundert  mehrfach  Hochin- 
heim  u.  ä.  Ich  hebe  ausdrücklich  hervor:  die  Festsetzung  der 
^assimilierten'  Form  erfolgt  zu  ganz  verschiedenen  Zeiten,  das 
Schwanken  tritt  sehr  früh  auf  und  kann  sich  durch  Jahrhunderte 
hindurchziehen.  — 


1)  Echte  Volksetymologie  liegt  dagegen  vor  im  Handlanger  für  andelanger; 
bei  dem  Ersatz  von  antwerc  durch  Handwerk  aher  wurde  nicht  ein  neues  Wort 
geschaffen  wie  dort,  sondern  der  Begriff  'machina,  instrumentum'  durch  den  Be- 
griff *manufactura'  verdrängt,  selbstverständlich  unter  dem  Einfluß  des  ähnlichen 
Wortbildes. 


BL  ACHFELD.  27 

Daß  h  in  der  Dissimilation  fast  nur  mit  vokaliscliem  Anlaut 
wechselt,  ist  natürlich:  aber  ich  halte  es  nicht  für  unwahrschein- 
lich, daß  sich  auch  der  Wechsel  mit  w  und  j  findet.  Eigenartig 
ist  der  Fall  g  :  g  }  h  :  g  in  hogreve  für  gogreve :  so  haben  mehrere 
Hss.  des  Sachsenspiegels  (Landr.  I  2  §  4.  I  56  §  2),  und  die  Form 
wird  noch  weiter  als  durch  Homeyer*^  S.  441  gestützt  durch  den 
heutigen  Familiennamen  Hogreve  u.  ä.  neben  Gogreve  (z.  B.  Adreß- 
buch von  Hannover).  Im  Fn.  ist  die  H-Form  festgeworden  durch 
den  Anschluß  an  Eo[ve]wann,  IIo[ie]n}eier,  Ho[ve\meister.  —  Zur  Hand 
hab  ich  ferner  ein  vereinzeltes  Beispiel,  wo  sich  die  Assimilation 
f :  h  )  h  :  h  vollzogen  hat :  Krieger  I  ^  564  führt  eine  Odung  auf 
der  Gemarkung  Haslach  bei  Oberkirch  an,  die  als  VaJiuen-haselahe 
u.a.  von  1304  bis  1593  vielfach  bezeugt  ist  —  ihr  Andenken  lebt 
heute  nur  in  dem  Flurnamen  Hcdbhaslach  fort.  Ich  weiß,  daß  man 
mir  hier  entgegenhalten  wird,  das  sei  einfach  Volksetymologie. 
Aber  der  Leser  hat  schon  aus  meinen  Gränsefüßchen  gemerkt,  daß 
ich  der  weiten  Ausdehnung  dieses  Begriffs  sehr  skeptisch  gegen- 
überstehe (vergl.  auch  Anz.  f.  d.  Alt.  24, 23) :  gewiß  geb  ich  die 
mechanische  Umwandlung  mancher  Fremdwörter  und  auch  Eigen- 
namen aus  dem  Bestreben  einer  Deutung  oder  doch  unbewußten 
Anlehnung  zu,  aber  in  einer  sehr  großen  Anzahl  der  Fälle  ist 
das  primäre  eine  Lautentwickelung,  Assimilation,  Dissimilation, 
nicht  selten  eine  Laut-  und  gelegentlich  auch  Silbensubstitution  ^) ; 
viel  häufiger  ein  sprachliche  Entgleisung,  die  sich  wiederholt  ein- 
stellt und  schließlich  durchsetzt,  als  ein  sog.  Lautgesetz.     Von  dem 

1)  Mit  der  Sübensubstitution  sollte  man  in  manchen  Fällen  rechnen,  wo  ad 
hoc  ein  Lautgesetz  constatiert  wird.  So  hat  man  sich  vergeblich  abgequält  mit 
mhd.  hetalle  (mnl.  bedalle)  <  metalle  <  mit  alliu.  Bugge  (Beitr.  12,  419  f.),  der 
die  älteren  Erklärungsversuche  verwarf,  wollte  das  spät  auftauchende  het-,  bed- 
aus  prähistorischen  Accentverhältnissen  erklären,  indem  er  es  gleich  Ttstd  stellte; 
dann  benutzte  Franck  die  schöne  Etymologie  von  nl.  hezaan  aus  it.  mezzana  span. 
viesana  zu  einer  lautgesetzlichen  Auffassung  unseres  hetalle,  wonach  m  sich  in  un- 
betonter Silbe  in  b  verwandeln  sollte,  und  Wilmanns  I^  135  hat  das  übernommen. 
Die  Erklärung  die  ich  biete  stammt  aus  der  Kinderstube,  ist  aber  darum  nicht 
weniger  empfehlenswert:  meine  Geschwister  und  ich  sagten  allgemein  für  Visiten- 
stube: Besittenstube  und  moquierten  uns  über  die  Dienstboten,  welche  Frisitten- 
stube  brauchten ;  meine  eigenen  Kinder  haben  in  der  Bezeichnung  des  Desserts  lange 
geschwankt  zwischen  Geser  und  Beser;  die  beiden  oder  vielmehr  die  vier  ver- 
schiedenen Abwandlungen  erklären  sich  aus  demselben  Prinzip:  eine  ungewöhn- 
liche unbetonte  Vorsatzsilbe  wird  ersetzt  durch  eine  geläufige :  be-,  ge-  (fri-)  treten 
an  die  Stelle  der  in  dem  beschränkten  Sprachschatz  kaum  vorhandenen  oder  wenig 
gegenwärtigen  fi-  {vi-),  de  etc.  So  ist  auch  metalle,  nachdem  die  Komposition  festge- 
worden war  und  die  Silbengrenze  me-talle  ergab,  zu  be-talle  geworden,  wie  man 
he-nameriy  be-sunder  und  viele  andere  besaß. 


28  Edward  Schröder, 

sog.  Lautgesetz,  das  eine  zeitliche  und  örtliche  Beschränkung  zu- 
läßt oder  vielmehr  verlangt,  unterscheiden  sich  die  Tendenzen  der 
Dissimilation  und  Assimilation,  die  niemals  zu  'Gesetzen'  werden, 
auch  dadurch,  daß  sie  wohl  zu  gewissen  Zeiten  und  in  gewissen 
Gegenden  deutlich  hervortreten,  aber  niemals  darauf  beschränkt 
erscheinen. 

So  will  ich  denn  auch  schließen  mit  einem  Beispiel,  für  das 
man  sich,  soweit  man  es  überhaupt  beachtet  hat,  ganz  gewiß  mit 
der  Volksetymologie  als  Erklärung  zufrieden  gegeben  haben 
wird.  Ein  Fall,  für  den  ich  in  der  Litteratur  keine  Parallele  ge- 
funden habe,  bezeugt  die  Dissimilation: 

th  :  th  (d  :  d)  )  s  :  th  {s  :  th) 

und  zwar  durchaus  gleichmäßig  für  das  Deutsche  und  das  Englische. 
Verschiedene  stachliche  Pflanzen  mit  starker  Milchsaftentwickelung 
führten  schon  in  westgermanischer  Zeit  den  Namen  ßü-pistil,  der, 
wie  Pritzel-Jessen  S.  883  zeigt,  ganz  besonders  an  ^Sonchus  oler- 
aceus'  haftet.  Wir  haben  auf  englischem  Boden  puäistel  'lactuca' 
schon  ziemlich  früh :  in  dem  ags.  Corpus-Glossar  bei  Sweet,  Oldest 
English  Texts  73, 1179  ^)  —  daraus  ist  spätestens  im  Mitteleng- 
lischen Siipistel  (sugepistel),  ne.  soivthisüe  geworden,  s.  Stratmann- 
Bradley  s.  v.  und  die  neuenglischen  Wörterbücher,  die  das  Wort 
mit  'Sonchus'  wiedergeben ;  daneben  aber  hat  sich  im  Dialekt  z.  B. 
von  Sussex  thow-thistle  erhalten,  s.  Britten  and  Holland,  Dict.  of 
engl,  plant-names  (1886)  p.  467^).  —  In  Deutschland  aber  treffen 
wir  dndistel  in  den  Ahd.  GH.  III  386  ^^  (13.  Jh.,  aber  aus  älterer 
niederrhein.  Vorlage  um  ca.  1150);  dndistel^  daudistel  bei  Diefenbach, 
Gloss.  latino-germanicum  (1857)  S.  315*';  dudistel  aus  Quellen  von 
1500  und  1530  bei  Pritzel-Jessen  und  daudistel  ebenda  aus  dem  heutigen 
Eifeldialekt  —  dem  steht  gegenüber  sudistü  'lactuca'  Ahd.  Gll.  II 
263,  57  (Cod.  S.  Galli  s.  IX/X  u.  Cod.  Seiest.),  sudistel  'lactucella' 
Ahd.  GU.  III  560,  7  (14.  Jh.)  und  Zs.  f.  d.  Wortforschung  9,  218 
(15.  Jh.),  dazu  zahlreiche  neuzeitliche  Belege  bei  Pritzel-Jessen. 
Die  gleiche  Dissimilation  hab  ich  kein  zweites  Mal  gefunden,  wohl 
aber  reichliche  Zeugnisse  für  die  ihr  entsprechende  s  :  s  )  d  :  8. 
Dafür  zeugen,  wenn  auch  freilich  nicht  im  Anlaut  von  Kompositis, 
folgende   Ortsnamen:    Ansidfisheim  (im  Elsaß)  saec.  IX  wird   über 


1)  thüfe-thistel  Cockaync  Leechdoms  II  312'"^^  ist  jünger  und  |gewiß  Um- 
deutnng. 

2)  thow-sisle,  das  ich  ebenda  fand,  hielt  ich  lange  für  ein  Beispiel  der  Dissi- 
milation th  :  th  >  th  :  8,  bis  ich  aus  Parish,  Dict.  of  the  Sussex  dialect  p.  105 
ersah,  daß  auch  das  Simplex  sisael  'is  the  usual  form  of  thistle'. 


B  LACHFELD.  29 

Ansoltzheim  zu  Ändolsheim  (die  Belege  im  Register  zum  Rappolt- 
steiner  Urkundenbucli  I  605);  ebenso  Änsoldesleba  saec.  VIII/IX 
(bei  Erfurt),  heute  Andisleben  (Forst emann  II  ^  94) ;  Oesingesesze  (Amt 
Wertheim),  so  urkundlich  1307 — 1485,  heute  Ödengesäss  (Krieger 
II  ^  404) ;  also  Alemannien,  Thüringen,  Franken.  Dazu  kommt  noch 
die  gut  bezeugte  Form  schardas  für  scharsas  in  einem  elsäß.  Text 
des  15.  Jhs.  (Germ.  3,424,1).  Ist  somit  auch  an  der  Dissimilation 
d  id)  s  :  d  kein  Zweifel  möglich,  so  ergibt  sich,  daß  die  Saudistel 
die  in  Deutschland  und  England  gleichmäßig  an  die  Stelle  der  Dau- 
distel  getreten  ist,  nicht  ihre  Entstehung,  sondern  nur  ihre  Festi- 
gung der  etymologischen  Verständlichkeit  zu  danken  hat. 

Das  Material,  das  ich  im  vorstehenden  aufgeführt  habe 
und  von  dem  ich  mir  schmeichle,  daß  es  den  Fachgenossen  allerlei 
unbekanntes  und  überraschendes  bietet,  reicht  gewiß  aus,  um  die 
eingangs  behauptete  Dissimilation  von  hlachfeJd  aus  flachfeld  zu  er- 
weisen. Alle  die  Fragen  die  sich  an  die  alliterierenden  Komposita 
knüpfen,  hier  aufzurollen,  war  nicht  meine  Absicht:  ich  hoffe  da- 
rauf recht  bald  in  einer  Abhandlung  zurückzukommen,  die  sich  in 
ganz  anderer  Richtung  bewegt. 

Hier  möcht  ich  nur  noch  dem  Einwand  begegnen,  daß  jenes 
eigentümliche  Nebeneinander  von  anlautendem  b  und  f,  in  dem 
einige  eine  'Weiterverschiebung'  erblicken  [wie  soeben  wieder  die 
Bearbeiter  des  neuen  Weigand  s.  v.  BlacJifeld],  noch  in  ein  paar 
andern  Wörtern  erscheine.  Ich  kenne  deren  nur  noch  drei,  denn 
die  beiden  Fremdwörterpaare  bibel-fibel  und  fiever-biever  kann  ich 
jetzt  getrost  bei  Seite  lassen.  Am  frühsten  (schon  ahd.)  bezeugt  ist 
harch  neben  farcJi ;  später  treten  belche  neben  felche  und  baU  neben 
faU  auf;  in  farch  (lt.  porcus)  und  flach  (gr.  3rAa|)  ist  die  Priorität 
des  f  zweifellos,  in  felche  und  fah  ist  sie  höchst  wahrscheinlich  ^). 
Soll  es  da  nun  ganz  ein  Zufall  sein,  daß  farch  zum  Vieh  gehört, 
felche  ein  Fisch  ist  und  fah  von  den  Vögeln  gebraucht  wird?  Aus 
einem  Kompositum  farch-fihu  konnte  sich  über  barch-fihu  das  Sim- 
plex 6arcÄ,  ebenso  aus  felch-fisc:  belch-fisc  und  belche  entwickeln.  Daß 
bei  fogal-faU  die  Dissimilation  den  zweiten  Teil  traf,  also  fogal-balz, 
ist  bei  der  etymologischen  Bewußtheit  des  ersten  selbstverständlich. 

Zum  Schluß  noch  ein  Wort  über  das  Alter  der  hier  besproche- 
nen Erscheinungen,    und   zugleich   über   die  nicht  ganz  freiwillige 


1)  In  den  neuen  Auflagen  von  Kluges  Et.  Wb.  wird  unter  Verschweigung 
der  Form  falz  der  alte,  von  Frisch  aufgebrachte,  von  Grimm  weitergegebene  Hin- 
weis auf  it.  haUo,  halzare  'Sprung,  springen'  von  G.  Baist  als  neu  dargeboten. 


30  Edward  Schröder,  BLACHFELB. 

Beschränkung  des  Materials  mit  dem  ich  operiert  habe.  Im  Gegen- 
satz zu  jenen  an  Gesetzmäßigkeit  streifenden  lautlichen  Processen, 
die  wir  gewohnt  sind  als  'Lautgesetze'  zu  bezeichnen,  sind  die 
^Vorgänge  der  Assimilation  und  Dissimilation  zeitlich  und  örtlich 
nicht  begrenzt.  Daß  sie  zumeist  erst  in  relativ  jungen  Sprach- 
schichten auftreten  (wie  Grammont  scharf  hervorhob),  läßt  sich 
leicht  erklären:  die  frühe  litterarische  (und  epigraphische)  Über- 
lieferung gilt  zumeist  einer  Umgangs-  und  Litteratursprache,  aus 
welcher  die  physiologisch  unbequemen  (und  demnächst  akustisch 
unschönen)  Wortgebilde  massenhaft  ausgeschieden  sind,  wie  das  in 
unserer  Sprache  noch  täglich  geschieht;  oder  aber  einer  Kunst- 
sprache, die  die  Feuerprobe  im  Volksmunde  noch  nicht  bestanden 
hat.  Die  Ortsnamen  hingegen,  und  in  gewissem  Grade  auch  die 
Pflanzennamen,  mit  denen  mußte  sich  ein  zumeist  beschränkter 
Kreis  von  Menschen  abfinden,  wie  sie  einmal  geprägt  waren.  Ich 
habe  bereits  Zs.  f.  d.  Alt.  43,  361  ff.  angedeutet,  daß  speciell  allit- 
terierende  Komposita  in  altgerm.  Zeit  selten  sind,  daß  sie  unter 
den  Personennamen  und  im  Wortschatz  der  Dichter  geradezu  ge- 
mieden werden.  Zu  den  Gebieten,  auf  denen  wir  sie  häufiger  an- 
treffen, gehört  die  alte  Rechtssprache.  Sehen  wir  uns  nun  aber 
um,  was  aus  jenem  Teil  ihres  "Wortbestandes  am  Ausgang  des 
Mittelalters  geworden  ist,  so  machen  wir  eine  eigentümliche  Beob- 
achtung. Das  als  westgermanisch  gesicherte  dömdag  ist  gleich- 
mäßig auf  englischem  wie  auf  deutschem  Boden  aufgelöst  worden: 
dömes  dcpg,  dooms-day]  tumes  tac,  dömes  dach.  Das  wgerm.  Hechts- 
wort  ahd.  nötnumft  ist  bei  uns  durch  Notzucht,  bei  den  Engländern 
(ags.  n^d-nema  u.  ä.)  durch  Fremdwörter  ('violence',  'rapture')  ersetzt 
worden ;  und  ganz  ähnlich  ist  für  ahd.  Itpleita  eingetreten  Leihzucht, 
während  neben  dem  ags.  ltflöd(e)  seit  dem  13.  Jh.  das  nordische 
Lehnwort  lifnop,  livenaä  (aisl.  lifnaär)  auftaucht,  das  auf  den  ersten 
Blick  wie  eine  Dissimilation  erscheinen  könnte.  Man  sieht,  eine 
Volksgemeinschaft  hat  mancherlei  Mittel  und  Wege,  um  unbequeme 
Sprachgebilde  zu  beseitigen  oder  umzuwandeln:  die  Dissimilation 
ist  nur  eines  von  vielen,  aber  man  wird  mit  ihr  unbedingt  schon 
für  die  ältesten  Zeiten  der  Sprachgeschichte  rechnen  dürfen. 


Ein  Merowinger  Rythmus  über  Fortunat 

und 
Altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen. 

Von 

Wilhelm  Meyer  aus  Speyer, 
Professor  in  Göttingen. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  8.  Februar  1908. 

Als  ich  1906  vor  einer  Reise  nach  London  die  Kataloge  der 
Handschriften  durchlas,  notirte  ich  mir  aus  der  Beschreibung  von 
Additional  24193,  einer  Handschrift  der  Gedichte  des  Fortunat, 
den  Zusatz :  At  the  end  (fol.  ISS**)  is  an  additional  poem,  entitled 
Trologus',  beginning  'Felicis  patriae  praeconanda  fertilitas'.  In 
London  schrieb  ich  das  Gredicht  ab.  In  Göttigen  später  erkannte 
ich  wohl,  daß  es  ein  interessantes  Produkt  der  Merowinger  Zeit 
sei,  aber  es  entstanden  mir  dabei  mancherlei  Schwierigkeiten. 
Darüber  verhandelte  ich  mit  Bruno  Krusch,  dem  besten  Kenner 
dieser  Literatur.  Ich  verdanke  ihm  für  diese  Arbeit  manchen 
guten  Rath;  er  wies  mich  auch  darauf  hin,  daß  Leo  in  seiner 
Ausgabe  des  Fortunat  (Monumenta  Hist.  Germ.,  Auetores  ant. 
IV,  I,  1881)  genau  zu  derselben  Stelle  (zum  Schlüsse  des  11. 
Buches)  notirt,  daß  in  der  von  ihm  mit  A  bezeichneten  Pariser 
Handschrift  14144  'sequitur  prologus  de  privilegio'.  Durch  Omont's 
stets  hilfreiche  Güte  erhielt  ich  eine  Abschrift,  welche  zeigte,  daß 
wirklich  beide  Handschriften  an  derselben  Stelle  denselben  Text 
enthalten.  Ich  frug  noch  wegen  etlicher  andern  Handschriften  an^ 
allein  vergeblich.  Bis  jetzt  ist  dies  Gedicht  nur  in  jenen  2  Hand- 
schriften gefunden,  deren  Photographie  mir  vorliegt.  Beide  sind 
mit  Karolinger  Minuskel  im  9.  Jahrhundert  geschrieben. 


32  Wilhelm  Meyer, 

In  id  =  London  Additional  24193   f.  158^   sind   die   voran- 
gehenden Verse    des  Fortunat   abgesetzt    geschrieben.     Der  letzte 
Vers  des  Fortunat  (XI  26,  12)  lautet: 
#  cui  dabit  illa  uiam  quae  sibi  pugnat  aqua,     explit 

INQUANTU  AUCTOR    HABUIT   SCRIPTU;    INCIP   PROLOGUS. 

Felicis  patri^  etc.  Am  Schlüsse  des  Eythmus  steht  halb 
weggewischt :  explicit  prologus. 

In  A  =  Paris  latin.  14144  fol.  60*  sind  die  vorangehenden 
Verse  nicht  abgesetzt.    Der  Schluß  derselben  lautet  hier: 

nat  aqua,  explic  lib.  inquantü  auctor  habuit 
lieber  das  gewöhnliche  Zeilenende  hinaus  steht  nach  habuit  noch 
ein  abwärts  gekrümmter  Strich  (wie  ein  schliesendes  s  des  14. 
Jahrhunderts),  durch  dessen  Obertheil  ein  Querstrich  gezogen  ist, 
also  ziemlich  sicher  die  aus  der  Cursivschrift  genonmiene  Abkürzung 
für  das  in  Ad  stehende  'scriptum'.  Dann  folgt  in  großer  Kapital- 
schrift, die  ganze  Breite  der  Seite  füllend: 

INCfT  PROLOa-  DEFEIVILEaiO- 
Felicis  patriae   usw.        Die   letzte   Zeile    des  ßythmus   füllt   den 
Schluß  der  Seite  vollständig.     Deshalb   ist  die  eigentliche  Schluß- 
schrift in  großer  Kapitalschrift  in  5  Stücken  neben  dem  ßythmus 
am  Rand  übereinander  geschrieben: 

EXPE  LIB  I  FORTV  |  NATI  |  DO  QRATI  |  ASAM 

Der  Rythmus  ist  in  beiden  Handschriften  so  geschrieben,  wie 
ich  ihn  habe  drucken  lassen,  so  daß  die  Zeilen  mit  ungeraden 
Zahlen  mit  vorspringenden  Initialen  beginnen,  die  andern  mit  ein- 
gerückten kleinen  Buchstaben.  Die  10.  Zeile  ist  in  beiden  Hand- 
schriften ungebührlich  lang. 

1  Felicis  patriae  (nostrae)        praeconanda  fertilitas, 

in  qua  Christi  mandatorum         declaratur  profunditas. 
3  Quae  nee  poterit  absque         gloria  esse  civitas, 

in  qua  sensum  sapientum         veneratur  sublimitas, 
5  Per  quos  praesentis  temporis        calcatur  cupiditas 

et  peritura  huius  vitae        evitatur  vanitas. 
7  Ac  in  tabulis  scriptitatur         cordis  vera  Caritas 

atque  valde  stabilitur        futurae  vitae  aeternitas. 
9  Per  Moysen  latorem  legis        —  sie  refert  antiquitas  — 

populo  praecepit  deus:         cum  terrae  vobis  repromissae 

venerit  hereditas, 
11  Mensae  vestrae  peregrini        comedant  dilicias, 

ut  vobis  semper  ministretur        datae  terrae  bonitas. 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       33 

13  Per  lesum  Christum  confirmatur,        qui  est  vita  et  veritas, 
peregrinorum  quanta  sit         susceptionis  qualitas 

15  Et  metendi  huius  fructus         caelestis  summa  dignitas. 

Hyronimo  Bethlem  recepto        ecclesiae  crevit  sanctitas. 
17  Et  Martino  Armorigo         refulsit  magna  claritas, 

cuius  vita  et  virtute         Toronus  multas  epulas 
19  Mendici  ac  flebiles         dirimunt  per  plateas. 

et  Eortunato  ab  Eavenna  Pictonum  floret  civitas. 
1  nostrae  oder  huius  ergänze  ich :  fehlt  in  Ad  A.  3  Quae  A ,  Qu§  Ad : 
Quia  oder  Quare?  3  pot.  ab.  Meyer:  ahsq:  poterit  A  Ad  4  sensum  Ad: 
senum  A  5  temporis  praesentis?  8  adque  Ad  9  latorem  A:  lator  est 
Ad  10  populo  Meyer :  populum  A  Ad ;  praecepit  A :  praecipit  Ad  10  heri- 
ditas  Ad         12  date  Ad         13   ihm  xpm  A  Ad        14   quanta  sit  peregrinorum? 

16  bethleem  Ad  17  Ex  Martino  Ärmoricae?  18  uitae  uirtute  A;  Toronus 
Meyer :  thronus  A  Ad  18  aepulas  Ad  19  über  ac  steht  in  Ad  ein  Strich,  wie 
£in gekrümmter  Oxytonon-,  atque?       19  flebilis  Ad      20  pictonum  Ad:  pictanum  A 

Bibelstellen  V.  4  sublimitas  =  sublimes  viri  (laici):  vgl.  I.  Tim.  2,  2 
pro  regibus  et  omnibus,  qui  in  sublimitate  sunt  V.  7  verbinde  in  tabulis  cordis : 
Fracerb.  3,  3  und  7,  3  scribe  (describe)  in  tabulis  cordis  tui.  V.  8  vgl.  Marcus 
X  30  qui  non  accipiet  in  seculo  futuro  vitam  aeternam.  V.  10 — 12  berufen 
«ich  auf  das  alte,  V.  13 — 15  auf  das  neue  Testament.  Aber  dort  gibt  es  keine 
peregrini  in  dem  hier  angenommenen  Sinne;  deshalb  sind  genau  entsprechende 
Stellen  der  Vulgata  kaum  zu  finden.  Oft  werden  in  der  Vulgata  advenae  und 
peregrini  zusammen  genannt.  Dann  passen  am  ehesten  folgende  Stellen :  Deuteron. 
26,  1  Cum  intraveris  terram,  quam  dominus  deus  tuus  tibi  daturus  est  possiden- 
dam ;  1 1  epulaberis  in  omnibus  bonis  .  .  et  advena,  qui  tecum  est ;  12  veniet .  .  et 
peregrinus  .  .  et  comedent.  Levit.  25,  2  loquere  filiis  Israel  .  .  Quando  ingressi 
fueritis  terram ,  quam  ego  dabo  vobis  .  .  .  Sed  erunt  vobis  in  cibo  et .  .  advenae, 
qui  peregrinaverit  apud  te.  V.  13  Joh.  14,  6  ego  sum  via  et  veritas  et  vita. 
V.  14  Gedacht  ist  wohl  an  Stellen  wie:  Matth.  X  40  Qui  recipit  vos,  me  recipit 
et,  qui  me  recipit,  recipit  eum  qui  me  misit ;  vgl.  Matth.  25,  35  und  40;  Joh.  13,  20 
V.  15  vgl.  Joh.  4,  36  qui  metit,  mercedem  accipit  et  congregat  fructum  in  vitam 
aeternam. 

Dieser  Rythmus  ist  in  2  Handschriften  des  9.  Jahrhunderts 
von  der  ersten  Hand  geschrieben.  Die  Handschrift  Ad  ist  ver- 
derbt in  V.  9  lator  est  und  in  V.  10  praecipit;  A  ist  verderbt  in 
V.  4  senum,  V.  18  uitae  uirtute  und  V.  20  pictanum.  Diese  Stellen 
waren  wohl  richtig  geschrieben  in  der  Mutterhandschrift.  Allein 
auch  diese  ist  nicht  die  erste  Niederschrift  dieses  Rythmus  ge- 
wesen. Das  beweist  das  fehlerhafte  thronus  statt  Toronus  in  V. 
18;  da  dies  in  A  wie  in  Ad  steht,  so  muß  es  schon  in  der  Mutter- 
handschrift gestanden  sein.  Also  schon  die  handschriftlichen  Ver- 
hältnisse zeigen,  daß  dies  Gedicht  in  der  frühen  Karolinger  oder 
schon  in  der  Merowinger  Zeit  entstanden  und  in  ein  Exemplar 
der  Gredichte  des  Fortunat  eingeschrieben  worden  ist. 

Kgl.  Ges.  d.  Wlss.    Nachrichten.  Phüolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft  1.  3 


34  Wilhelm  Meyer, 

So  läßt  sich  vielleicht  auch  die  Ueberschrift  begreifen.  Ad 
bietet  nur  'Prologus' ;  A  bietet  'Prologus  de  privilegio'.  Die  Worte 
^de  privilegio'  mögen  des  Inhaltes  wegen  zugesetzt  sein :  'über  die 
besondere  Stellung,  welche  die  Stadt  Poitiers  einnimmt'. 

Dagegen  für  die  Bezeichnung  'prologus'  finde  ich  nur  eine 
Erklärung.  Auf  den  Schluß  des  11.  Buches  der  Gedichte  folgen 
in  vielen  Handschriften  die  4  Bücher  über  den  h.  Martin;  aber 
diesen  geht  voran  eine  an  Agnes  und  Eadegunde  gerichtete  Vor- 
rede. Diese  wird  in  den  Handschriften  Praefatio,  Prooemium  oder 
Prologus  betitelt.  Da  wo  in  A  und  Ad  unser  Rythmus  steht, 
steht  in  der  Handschrift  B  die  Unterschrift:  expligit  liber  xi.  pro* 

LOGUS    AD    AGIsTEN   ET  RADEGVNDEM   DE   VITA  SANCTI  MARTINI.      Der  Rcst  ciucr 

solchen  Unter-  und  Ueberschrift  kann  das  Wort  'Prologus'  in  A 
und  Ad  sein ,  welcher  Rest  stehen  geblieben  war ,  als  die  Vita 
Martini  nicht  mehr  beigeschrieben  wurde. 

(Inhalt)  Zuerst  meinte  ich,  der  Inhalt  dieses  Rythmus  sei 
einfach :  das  häufige  Lob  der  Mildtätigkeit  gegen  peregrini,  gegen 
mendici  et  debiles;  das  sei  eines  der  praecepta  dei,  welche  die 
sapientes,  die  Grottesgelehrten,  predigen.  Allmählig  erkannte 
ich,  daß  der  Inhalt  ein  anderer  sei,  ein  ziemlich  seltsamer.  Be- 
sprochen wird,  quanta  sit  peregrinorum  susceptionis  qualitas  (V. 
14),  d.  h.  welchen  Segen  es  einer  Stadt  bringe,  wenn  sie  Fremd- 
linge freundlich  beherberge:  aber  Fremdlinge,  welche  sapientes 
sind  und  das  lehren,  was  V.  5 — 8  angeben,  also  Fremdlinge,  wie 
der  Hlyrier  Hieronymus  in  Bethleem ,  der  Pannonier  Martin  in 
Tours  und  der  Italiener  Fortunat  in  Poitiers  gewesen  sind.  Die 
Einleitung  (V.  1 — 4)  preist  die  Stadt  (Poitiers)  glücklich,  in  welcher 
die  weltlichen  Würdenträger  die  geistige  Thätigkeit  von  weisen 
Männern  ehren,  deren  Wirksamkeit  dann  (in  V.  5 — 8)  geschildert 
wird.  Das  alte  (V.  9 — 12),  wie  das  neue  (V.  13 — 15)  Testament 
habe  die  freundliche  Beherbergung  von  Fremdlingen  anbefohlen.  So 
habe  Hieronymus  in  der  Stadt  Bethleem  Segen  gebracht,  Martin 
in  Tours,  der  Ravennate  Fortunat  in  Poitiers. 

Gegenüber  dem  Hieronymus  und  dem  Martin  ist  Fortunat 
ein  unbedeutender  Mann:  allein  der  Rythmus  ist  in  eine  Hand- 
schrift der  Gredichte  des  Fortunat  eingeschrieben:  schon  daraus 
ist  sicher,  daß  dieser  Rythmus  zum  Lobe  nicht  des  Hieronymus 
oder  des  Martin,  sondern  des  Fortunat  gedichtet  ist,  und  ebenso, 
daß  er  in  Poitiers  entstanden  und  ebendort  in  ein  Exemplar  der 
Gedichte  des  Fortunat  eingeschrieben  ist. 

Es  könnte  auffallend  erscheinen,  daß  diese  Eigenschaft  des 
Fortunat  als  Fremdling  hervorgehoben  wird.     Allein  die  seltsame 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.        35 

Erscheinung,  daß  ein  hochbegabter  Italiener  mitten  im  Reiche  der 
halb  barbarischen  Merowinger  als  Hofdichter  glänzte ,  wurde 
wenigstens  in  der  Zeit  des  Fortunat  selbst  empfunden.  Fortunat 
selbst  hat  kurz  nach  dem  Antritt  seines  Amtes  bei  Radegunde 
der  gebildeten  Welt  Gralliens  sich  mit  den  Worten  vorgestellt 
(VIII,  1,11): 

Fortunatus  ego  hinc  humili  prece  voce  saluto : 

Italiae  genitum  Gallica  terra  tenet  (so  die  Handschrift  U). 

Wer  auch  den  Titel  am  Anfang  und  Ende  der  Gedichte  ge- 
macht hat  'Venanti  Honori  Clementiani  Fortunati  Presbyter! 
Italici  liber',  auch  er  hat  auf  die  fremdländische  Abkunft  des 
Fortunat  hingewiesen.  Eine  solche  Hervorhebung  der  fremden 
Abkunft  wäre  seltsam  in  späterer  Zeit,  z.  B.  in  der  Zeil  Karl 
d.  Gr. ,  der  seine  Leute  überallher  holte :  für  unsern  Rythmus, 
welcher  auf  die  Hervorhebung  der  fremdländischen  Abkunft  des 
Fortunat  aufgebaut  ist,  mag  eben  dies  ein  Zeichen  sein,  daß  er 
nicht  lange  nach  dem  Tode  des  Fortunat  in  Poitiers  entstanden  ist. 

Die  Her  Vorkehrung  dieses  ungewöhnlichen  Gedankens  zeigt, 
daß  der  Verfasser  der  Verse  selbständig  dachte,  und  dieser  Geist 
schimmert  auch  durch  die  gespreizten  Merowinger  Ausdrücke.  In 
diesen  Zeiten  galt  hochtrabende,  ungewöhnliche  Ausdrucksweise  als 
die  schönste  Zier  eines  Schriftstückes,  wofür  ja  die  Schriften  des 
Fortunat  selbst  ein  Beweis  sind,  insbesondere  seine  kaum  zu  ver- 
stehenden künstlich  stilisirten  prosaischen  Briefe.  Das  ist  wichtig 
nicht  nur  für  die  damalige  lateinische  Literatur,  sondern  auch  für 
die  alten  Denkmäler  der  angelsächsischen  und  der  deutschen,  aber 
auch  der  spanischen  Literatur. 

Die  Form  des  Rythmus  ist  ebenso  interessant  als  der  Inhalt. 
Zunächst  ist  sehr  auffällig  die  Reimfülle.  Bis  gegen  das  12. 
Jahrhundert  sind  lateinische  Gedichte  sehr  selten,  in  welchen  jede 
Zeile  mit  dem  Reim  belegt  ist,  vielmehr  sind  fast  überall  reimlose 
Zeilen  dazwischen  gemischt;  zum  Zweiten  ist  der  Reim  bis  zum 
12.  Jahrhundert  fast  überall  nur  einsilbig:  in  diesem  alten  Ge- 
dichte aber  hat  jede  Zeile  den  Reim,  und  zwar  den  zweisilbigen 
auf  itas;  geringe  Ausnahmen  finden  sich  in  V.  11  dilicias,  18 
epulas,  19  plateas.  Dasselbe  Reimwort  (civitas)  findet  sich  nur 
in  V.  3  und  20.  Solche  Reimfülle  findet  sich  in  den  alten  Zeiten 
höchstens  bei  den  Iren  und  ihren  Schülern. 

(Zeilenbau  und  Zeilengruppen)  Die  durch  die  Reime  ge- 
schiedenen Langzeilen  zerfallen  ofi'enbar  in  2  Kurzzeilen,  welche 
ich  im  Druck  durch  kleine  Zwischenräume  getrennt  habe.  Die  2. 
Kurzzeile   schließt  stets  mit  Proparoxytonon,    also   steigend:    und 

3* 


36  Wilhelm  Meyer, 

es  ergeben  sich  10  Kurzzeilen  zu8u_-,  8zu7u_  und  2  Kurz- 
zeilen (V.  8  und  16?)  zu  9  w —  Die  erste  Halbzeile  schließt  16 
Mal  mit  Paroxytonon,  also  sinkend,  und  nur  5  Mal  steigend,  also 
ergeben  sich  9  Kurzzeilen  zu  8  _u,  7  Kurzzeilen  zu  9  _u;  2  (V. 
ö  und  14)   zu   8u_,    2  (V.  3  und  19)   zu   7  u_  und    1  (V.  1)  zu 

6  o Wir  haben  es  also  mit   der  alten  rythmischen  Umformung 

des  trochaeischen  Septenars  zu  thun  8  _u  +  7  u  — ,  doch  mit  einer 
besondern  Art,  welche  ich  nachher  behandeln  will. 

(Die  Zeilengruppen)  Ich  habe  schon  öfter  hervorge- 
hoben, welch  auffallende  Erscheinung  in  der  Entwicklung  der  la- 
teinischen Dichtungsform  es  ist,  daß  die  Sinnespausen  immer  mehr 
die  Dichtungsform  berücksichtigen.  Horaz  läßt  noch  mitten  im 
Satz  eine  neue  Strophe  beginnen.  Doch  bald  wird  nach  einem 
Distichon  gern  eine  starke  Interpunktion  gesetzt.  Commodian 
setzt  in  dem  Apologeticum  nach  jedem  2.  Hexameter  eine  stärkere 
Sinnespause;  die  griechischen  Uebersetzer  des  Ephrem  stellen  die 
Viersilber  in  Langzeilen  oder  Strophen  zusammen ;  Ambrosius 
läßt  nach  jeder  2.  Strophe  kräftige  Pause  eintreten.  Ja,  bald 
dringt  die  Herrschaft  der  Sinnespausen  in  das  Innere  der  Stophen : 
die  ambrosianischen  Strophen  haben  gern  in  der  Mitte  eine  Sinnes- 
pause (s.  Ges.  Abhandlungen  II  119  und  diese  Nachrichten  1906 
S.  198  über  Auspicius);  die  Strophen  der  byzantinischen  Hymnen- 
dichter haben  wie  unsere  Kirchenlieder  für  Melodie  und  Sinn  ganz 
feste  Pausen,  und  nicht  anders  steht  es  mit  der  mittelalterlichen 
Gesangslyrik.  Bei  jedem  Gedichte  z.  B.  der  Carmina  Burana 
kann  und  soll  der  Forscher  fragen,  an  welchen  Stellen  der  Strophe 
regelmäßig  Sinnespausen  stehen.  Ich  glaube,  diese  auffallende 
Entwicklung  hängt  damit  zusammen,  daß  bei  den  alten  Griechen 
die  Worte  die  Hauptsache  waren  und  der  Vortrag  der  Melodie 
nur  ein  so  dünner  Schleier,  daß  der  Sinn  der  Worte  verständlich 
blieb,  auch  wenn  die  Pausen  der  Melodie  nicht  mit  den  Pausen 
der  Worte  zusammen  fielen.  Bei  den  frühsten  Christen  war  der 
musikalische  Vortrag  intensiver ;  er  zwang  so  zu  sagen  die  Worte, 
dem  Steigen  und  Fallen  der  Melodie  sich  anzuschließen,  wenn  sie 
verstanden  werden  wollten.  Das  ist  vielleicht  ein  semitisches 
Erbstück  gewesen.  Denn  wie  in  den  Hymnenstrophen  der  Byzan- 
tiner und  des  Ephrem  die  Sinnespausen  die  Strophe  in  ganz  feste 
Absätze  gliedern,  so  soll  es  schon  in  den  Psalmen  sein  (s.  Ges. 
Abhandl.  II  111). 

Auch  die  aus  gleichen  Zeilen  bestehenden  frühen  Rythmen 
werden  meistens  durch  Sinnespausen  in  gleiche  Gruppen  von  Lang- 
zeilen zerlegt,   welche   dann   oft   noch  durch  Akrostichon  gekenn- 


ein  Merowinger  Kythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       37 

zeichnet  werden  (s.  Ges.  Abh.  I  240).  Unser  Rythmus  ist  so  ge- 
schrieben, daß  man  Gruppen  von  je  2  Langzeilen  erwarten  sollte; 
doch  diese  Gliederung  ist  nicht  durchzuführen.  Dagegen  habe  ich 
schon  oben  bei  der  Inhaltsübersicht  (S.  34)  angezeigt,  daß  mit 
^iner  Ausnahme  vierzeilige  Gruppen  sich  ergeben:  Z.  1 — 4,  5 — 8, 
9 — 12.  Weiterhin  ergeben  sich  die  unregelmäßigen  Gruppen  Z. 
13—15  und  Z.  16 — 20;  da  aber  Martin  von  Tours  nnd  Fortunat 
von  Poitiers  (V.  17 — 20)  doch  eng  zusammen  gehören  und  mit 
Hieronymus  (Y.  16)  nicht  viel  zu  thun  haben,  so  ist  diese  Ver- 
letzung der  Gruppentheilung  nicht  sehr  schwer. 

So   können   wir    eher    die   verzweifelte  10.  Zeile  beurtheilen: 
hier  steht  eine  Kurzzeile  8  _  u  zu  viel :  populo  praecepit  deus : 
Cum    terrae    vobis    repromissae         venerit    hereditas.      Zunächst 
denkt   man  daran,    daß   nach   'praecepit  deus'   eine  Kurzzeile    mit 
dem  Reim  auf  'itas'  ausgefallen  sei:    allein  dann  würde  die  Grup- 
pierung der  Zeilen  zerstört.    Auch  wenn  die  beiden  Zeilen  lauteten: 
Populo  praecepit  deus         (sie  refert  antiquitas) : 
cum  terrae  vobis  repromissae         venerit  hereditas 
wäre  alles  gut:   aber  wer  sollte    die  Worte  Ter  Moysen  latorem 
legis'  interpolirt  haben?     So  weiß  ich  keinen  andern  Weg  als  bei 
der  Ueberlieferung  zu  bleiben  und  anzunehmen,  daß  der  Verfasser 
gewagt  hat,  eine  Kurzzeile  mehr  zu  setzen,  also  8_u  +  9_u  +  7u  — 
statt  8_u  +  7u —    Ich  gestehe,  daß  ich  keinen  andern  Fall  solcher 
Kühnheit  und  Unregelmäßigkeit  kenne,  auch  nicht  in  diesen  ältesten 
Zeiten  der  Rythmik. 

(Zeilenbau)  Nachdem  die  Umrahmung  der  Zeilen  klarer 
geworden  ist,  werden  die  Kurzzeilen  selbst  leichter  sich  besprechen 
lassen.  Neben  den  9  regelmäßigen  Kurzzeilen  zu  8  -^  u  stehen  7 
zu  9  _u,  neben  den  8  regelmäßigen  zu  7  u_  stehen  sogar  10 Kurz- 
zeilen zu  8u_;  s.  oben  S.  36.  Als  ich  1882  die  ältesten  latei- 
nischen Rythmen  untersuchte  und  zu  den  gedruckten  Texten  auch 
die  Lesarten  der  Handschriften  prüfte,  fand  ich  Aehnliches.  Die 
Herausgeber  hatten  die  überschüssige  Silbenzahl  vielfach  auf  die 
des  Schema's  herabcorrigirt :  ich  erkannte,  daß  in  der  Gesetz- 
losigkeit Methode  sei,  d.  h.  daß  in  der  Merowinger  und  in  der 
frühen  Karolinger  Zeit  viele  Dichter  sich  erlaubt  haben,  in  den 
wenigen  damals  gebräuchlichen  einfachen  rythmischen  Zeilen  die 
Silbenzahl  des  Schema's  zu  überschreiten;  vgl.  meine  Ges.  Ab- 
handlungen I  187.  Diese  Freiheit  war  vielleicht  deshalb  aufge- 
kommen, weil  man  auch  in  den  entsprechenden  quantitirten  Zeilen 
so  oft  überschüssige  Silben  sah,  freilich  solche,  welche  durch 
Elision  außer  Rechnung  standen.     Von  Gedichten,    in  denen  diese 


38  Wilhelm  Meyer, 

Freiheit  angewendet  ist,  habe  ich  zusammengestellt:  einige  in 
Trimetern  und  einige  in  Achtsilbern  mit  sinkendem  Schlüsse  (Gres. 
Abb.  I  213  und  214)  und  ziemlich  viele  Fünfzehnsilber  (I  208). 
Zu  diesen  letzten  ist  unser  ßythmus  über  Fortunat  zu  fügen  und 
ein  Hymnus  sancti  Medardi,  welcher  in  der  Zürcher  Handschrift 
auf  den  vom  König  Chilperich  verfaßten  Hymnus  Sancti  Medardi 
(bei  mir  S.  208  no  37  B)  folgt  und  im  Anschluß  daran  von  P.  v. 
Winterfeld  in  der  Zeitschrift  f.  deutsches  Alt.  (Bd.  47,  S.  80)  ver- 
öffentlicht worden  ist^). 

Diese  ßythmen  sind  meistens  nur  in  einer  einzigen  Hand- 
schrift erhalten,  und  oft  ist  diese  Handschrift  eine  sehr  alte  und 
noch  beherrscht  von  der  Merowiugischen  Sprachbarbarei.  Oft  auch 
hat  wie  in  Andachtsstücken  so  hier  die  Verschönerungs sucht  ge- 
haust, wie  z.  B.  in  Chilperich's  Hynmus  auf  Medard,  so  daß  viel- 
leicht mancher  Rythmus  hierher  gehört,  den  ich  unter  den  ganz 
verwilderten  aufgezählt  habe.  Jedenfalls,  so  lange  nicht  alle 
hierher  gehörigen  Rythmen  veröffentlicht  sind,  läßt  sich  über  die 
Form  dieser  freien  Rythmen  nichts  Abschließendes  sagen. 

Die  Untersuchung  der  erträglich  überlieferten  E-ythmen  scheint 
schon  jetzt  zu  lehren,  1)  daß  die  gesetzmäßige  Silbenzahl  nur  sehr 
selten  um  2  Silben  überschritten  worden  ist,  daß  aber  gemieden 
wurde,  weniger  Silben  zu  setzen  als  das  Schema  verlangt,  2)  daß 
der  gesetzmäßige  Tonfall  im  Schlüsse  der  Kurzzeilen  nur  in  den 
verwilderten  Rythmen  verlassen  ist. 

Wie  gezeigt,  war  schon  die  Mutter  der  beiden  Handschriften 
des  Fortunatrythmus  an  einigen  Stellen  gefälscht;    wir    sind  also 


1)  Winterfeld  druckt  meistens  die  Handschrift  ab,  dann  wieder  gibt  er 
corrigirten  Text  (z.  B.  16,  2).  Der  Hymnus  ist  ja  in  Orthographie  und  in  Text 
verderbt :  aber  er  kann  und  soll  doch  dem  Verständnis  mehr  erschlossen  werden, 
als  es  von  Winterfeld  geschehen  ist.  In  den  Text  zu  setzen  sind  manche  Vor- 
schläge V.  Winterfeld's ;  3,  1  commissi ;  3,  2  pigre ;  4,  1  'utique  könnte  auch  fehlen' 
(brieflich).  4,2  doctrinae  divinae;  5,2  sancte;  6,2  debiles  manus  (brieflich); 
14,  1  angelicos  choros;  14,2  sedule;  16,2  dominum  qui  sanctos;  17,  1  filioque; 
17, 2  sanctos  coronat  in  perpetuo  (brieflich).  Dann  ist  wohl  2,  1  'nanctus' 
passivisch  =  'befunden'.  3,1  Norma?  5,1  vielleicht:  Magna  parvae  pec- 
tore  gestans  fide  grana  sinapis ;  vgl.  Matth.  17,  19  si  habueritis  fidem  sicut 
granum  sinapis.  7,2  invocato  numine?  8,2  reddens?  9,2  stelle  um: 
His  et  aliis  insignis  virtutibus  es  habitus.  11,  1  germine?  11,2  tene  oder 
pete?  12,2  perenniter  negotiaV  vgl.  Matth.  25,21;  dann  Macc.  I  10,35  (II 
10,  11):  constituentur  super  negotia  regni.  13,2  Viventum  terra  celsum  posthac 
regnum  promereberis  V  15  Nee  a  mente  tua,  pie,  oder 
Nee  amenae  tuae,  pie,  paradisi  epulae 
nosmet  ymnis  te  laudantes        seducant  memoriae? 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       39 

berechtigt,  auch  der  Rythmik  halber  zu  ändern.  Es  ist  durchaus 
unwahrscheinlich,  daß  die  1.  Kurzzeile  statt  8  Silben  mit  sinkendem 
Schlüsse  nur  6  oder  7  Silben  mit  steigendem  Schlüsse  gezählt 
habe,  wie  die  Handschriften  in  V.  1,  3  und  19  überliefert  haben. 
Die  Silbenzabl  ist  richtig,  aber  die  Schlußcadenz  falsch  in  V.  5 
und  14:  hier  ist  durch  leichte  Wortumstellung  zu  helfen.  Die 
2.  Kurzzeile  ist  nur  bedenklich  in  V.  8  futurae  vitae  aeternitas 
xmd  16  ecclesiae  crevit  sanctitas,  wo  9  statt  7  Silben  zu  stehen 
scheinen.  Da  Synizese  in  den  alten  Rythmen  häufig  ist,  so  ist 
vielleicht  in  V.  16  ecclesiae  dreisilbig.  Aber  V.  8  wäre  nur  dann 
regelmäßig,  wenn  Elision  angenommen  werden  dürfte.  Allein  Hiat 
ist  in  unserm  Rythmus  gestattet,  aber  Elision  und  Hiatus  neben- 
einander konmien  wohl  in  quantitirenden  Hymnen  der  Westgothen 
vor  (Ges.  Abb.  I  204  210  217  227),  sind  aber  in  rythmischen  Zeilen, 
abgesehen  vom  Psalm  des  Augustin,  äußerst  selten  (s.  Ges.  Abh.  1  210). 

Die  alten  lateinischen  Rythmen  und  die  älteste 
einlieiniisehe  Zeile. 

Die  mittellateinischen  Philologen  haben  schon  nachgewiesen, 
daß  in  der  Blüthezeit  des  Mittelalters  die  Formen  der  französischen, 
englischen  und  deutschen  Dichtung  durch  die  großen  Neuschöpfungen 
der  mittellateinischen  Dichtung,  besonders  der  Gesangslyrik,  theils 
hervorgerufen,  theils  sehr  stark  beeinflußt  worden  sind.  Das 
Motett  ist  nicht  eine  Erfindung  der  französischen  Volksdichter, 
sondern  stammt  aus  dem  lateinischen  Earchengesang. 

lieber  die  Form  der  ältesten  germanischen  und  romanischen 
Dichtungen  und  über  ihren  Ursprung  ist  viel  verhandelt  worden 
und  die  Ansichten  gehen  noch  jetzt  weit  auseinander.  Mit  prinzi- 
piellen Behauptungen,  wie  z.  B.  die  Alliteration  sei  so  innerlich 
mit  dem  Wesen  der  germanischen  Sprachen  verwachsen,  daß  das 
Urgesetz  der  germanischen  Dichtung  alliterirend  sein  und  gewesen 
sein  müsse,  oder  mit  Rückschlüssen,  wie  z.  B.  da  im  11.  Jahr- 
hundert dieses  oder  jenes  Gesetz  herrschte,  so  habe  es  schon  vom 
Anfang  an  oder  schon  im  9.  Jahrhundert  geherrscht,  kann  ich 
wenigstens  nichts  anfangen.  Wie  haben  dann  die  Deutschen  im 
9.  Jahrhundert  aus  der  lateinischen  Dichtung  den  Reim  annehmen 
und  die  Alliteration  für  alle  Zeiten  so  gründlich  aufgeben  können, 
daß  unsem  Kindern,  wenn  sie  die  ersten  Versuche  im  Dichten 
machen,  nur  Reime  in  den  Mund  kommen?  Und  wer  den 
wunderbaren  Reichthum  der  Dich tungs formen  des  12.  Jahr- 
hunderts kennen  lernt,  wie  möchte  der  die  Dürre  der  poeti- 
schen   Formen     der    Karolinger   Zeit    für     möglich    halten? 


40  Wilhelm  Meyer, 

Nein,  eine  neue  Mode  kann  in  wenigen  Jahrzehnten  vieles  Alte 
stürzen  und  vergessen  machen,  zumal  wenn  sie  Bedürfnissen  in  ein- 
facher Weise  entgegen  kommt.  So  ist  es  mit  der  lateinischen 
Seqnenzendichtung  gegangen:  in  1^/2 — 2  Jahrhunderten  hat  sie  die 
Dichtungsformen  im  nördlichen  Europa  von  Grund  aus  geändert 
und  die  meisten  neu  geschaffen. 

Deshalb  sind  die  Erforscher  der  mittellateinischen  Rythmik 
berechtigt  zu  fragen,  ob  nicht  auch  die  alte  lateinische  Rythmik 
schon  vom  6.  Jahrhundert  ab  auf  die  Dichter  in  den  germanischen 
und  romanischen  Sprachen  Einfluß  geübt  hat. 

In  dem  6. — 8.  Jahrhundert  wuchsen  die  Völker  in  Süddeutsch- 
land und  am  Rhein,  in  Frankreich  und  England,  in  Italien  und 
Spanien  in  die  Formen  hinein,  welche  die  Römer  im  Verein  mit 
den  alten  Eingeborenen  geschaffen  hatten,  im  Handel  und  Wandel 
in  der  Stadt  und  auf  dem  Lande,  in  Recht  Verwaltung  und  Staats- 
einrichtungen und  nicht  zum  Wenigsten  in  Kirche  und  in  Schule. 
Die  römische  Bildung  war  das,  freilich  recht  unklare,  Ideal.  Der 
Frankenkönig  Chilperich  wollte  um  580  neue  Buchstaben  in  den 
Schulen  einführen  und  machte  lateinische  Gedichte.  In  Pavia 
setzte  man  um  700  den  Langobardenkönigen  Grabinschriften  in 
lateinischen  Rythmen.  Als  ein  Langobardenkönig  einige  Jahre  vor 
700  eine  Kircheneinigung  zu  Stande  brachte,  wollte  er  dies  Ereignis 
durch  ein  Gedicht  verherrlicht  wissen.  Das  geschah  in  lateinischer, 
nicht  in  langobardischer,  Sprache.  Aber  der  Dichter  machte  Rythmen 
und  entschuldigte  sich :  iussa  nequivi,  ut  condecet,  Pangere  ore  sty- 
loque  contexere,  Recte  ut  valent  edissere  metrici :  Scripsi  per  prosam 
ut  oratiunculam.  Die  vornehmsten  Dichter  waren  also  die  Dichter 
von  lateinischen  quantitirenden  Hexametern,  ihnen  stehen  nach  die 
Dichter  von  lateinischen  Rythmen.  Aber  die,  welche  in  den  ver- 
schiedenen Landessprachen  oder  in  einem  der  vielen  Dialekte  Verse 
zu  machen  versuchten,  waren  am  wenigsten  geschätzt. 

In  Frankreich  und  in  den  romanischen  Ländern  konnten  auch 
wenig  Gebildete  Lateinisches  verstehen.  Das  Bedürfnis  oder  der 
Wunsch  nach  Texten  in  der  Volkssprache  regte  sich  daher  in 
Frankreich  viel  später.  Die  ältesten  Dichtungen  in  französischer 
Sprache,  welche  wir  haben,  sind  in'  einer  Zeit  entstanden,  in  welcher 
die  lateinischen  Rjrthmiker  bereits  die  schematische  Silbenzahl 
genau  einhielten  und  bereits  Sequenzen  gebaut  wurden,  in  denen 
die  gleiche  Silbenzahl  regiert:  Phtongis  paribus  metricata  phalanx 
reboet  ac  librata  {von  der  Gegenstrophe,  hei  Dieves  X  150).  Natür- 
lich zählen  nun  auch  diese  ältesten  französischen  Rythmiker  die 
Silben  schon  genau  ab. 


ein  Merowinger  Kytlimus  ii.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.        41 

Dagegen  in  den  germanisclien  Sprachgebieten  war  und  blieb 
Lateinisches  nicht  nur  für  das  Volk,  sondern  auch  für  die  meisten 
Vornehmen  unverständlich.  Die  Bedürfnisse  der  Kirche  und  vieler 
Vorgänge  des  Lebens  machten  bald  Uebersetzungen  in  die  be- 
treffenden einheimischen  Sprachen  sehr  wünschenswerth  oder  noth- 
wendig ;  das  führte  naturgemäß  dazu,  daß  in  diesen  Landessprachen 
bald  auch  originale  Stücke  abgefaßt  wurden,  hauptsächlich  Pre- 
digten oder  fromme  Gedichte  zur  Erbauung  der  Frommen,  aber 
auch  geschichtliche  Texte  oder  erzählende  Gredichte  zur  Unter- 
haltung der  Weltlichen. 

Unter  den  germanischen  Stämmen  wurden  wohl  am  frühsten 
die  Angelsachsen  von  den  Iren,  dem  ältesten  Gelehrten volke 
Europa' s,  zu  literarischer  Thätigkeit  in  ihrer  eigenen  Sprache  an- 
geregt. Etwas  später  regte  sich  in  Deutschland  die  Prosa  und 
Dichtung  in  den  einheimischen  Sprachen. 

Diese  Dichter  in  der  einheimischen  Sprache  des  gewöhnlichen 
Volkes  standen  nicht  in  selbstbewußtem  Gegensatz  zu  den  Dichtern 
in  lateinischer  Sprache,  sondern  sie  sahen  zu  ihnen  hinauf.  Den 
Zeilenbau  der  quantitir enden  Dichter  nachzuahmen,  war  unmöglich. 
Bsigegen  war  es  möglich,  Lehren  der  lateinischen  Ehetorenschulen 
über  den  schönen  Stil  nachzuahmen,  so  z.  B.  die  über  E-eim  und 
Alliteration.  Ferner  konnten  die  lateinischen  Rythmen  ein  Vor- 
bild für  den  inneren  Bau  der  Zeile  bieten.  x 

Das  seltsame  Ringen  nach  neuen  Formen  der  lateinischen 
Sprache  und  Dichtung,  welches  im  6.  Jahrhundert  und  in  der 
nächsten  Zeit  im  westlichen  Europa  vorhanden  gewesen  ist,  können 
wir  noch  nicht  klar  erkennen;  aber  daß  diese  Bewegung  stark 
war  und  daß  sie  Merkwürdiges  schuf,  lehren  uns  die  verbreiteten 
Schriften  des  Grammatikers  Virgilius  Maro  und  die  noch  selt- 
sameren Hisperica  Famina,  welche  Zimmer  in  diesen  Nachrichten 
1895  S.  117 — 165  besprochen  und  als  südbritanisches  Rhetoren- 
latein  aus  der  Wende  des  5.  und  6.  Jahrhunderts  charakterisirt 
hat.  Die  Sprache  dieser  Denkmäler  mag  aus  der  Dunkelheit, 
welche  Sprache  eigentlich  ein  gebildeter  Christ  lernen  solle,  ob 
Hebräisch  ob  Griechisch  oder  ob  Latein,  einen  Ausweg  suchen 
dahin,  daß  Alles  gemischt  werden  solle.  Aber  sicher  wurden 
damals  auch  mancherlei  Versuche  mit  neuen  Versformen  gemacht: 
welches  mehr  unruhige  als  fröhliche  neue  Leben  durch  den  Sieg 
der  lateinischen  Sprache  und  Literatur  bald  wieder  erstickt  wurde, 
so  daß  in  den  Schulen  nur  die  wenigen  rythmischen  Formen  der 
klassischen  Karolinger  Zeit  übrig  blieben.  Aber  von  Virgilius 
Maro    war    eine    förmliche    Eythmik    mit    mancherlei   reimenden 


42  Wilhelm  Meyer, 

Zeilenformen  entworfen  und  die  Alliteration  ist  durch  ein  krasses 
Beispiel  belegt  (s.  Ges.  Abs.  I  199),  und  wenn  man  auch  in  den 
Hisperica  Famina  die  3  Ausarbeitungen  aus  einander  halten  muß, 
so  sind  sie  doch  sicher  in  Kolenform  geschrieben  mit  sehr  viel 
Reim  und  häufiger  Alliteration  (s.  Gres.  Abh.  I  234). 

Zu  diesen  geheimnisvollen  Schriftstellern  scheint  der  Italiener 
Fortunat  den  äußersten  Gregensatz  zu  bilden.  Doch  auch  bei  ihm 
ist  Reim  häufig  und  offenbar  mit  Absicht  gesetzt,  und  genug  Verse 
beweisen,  daß  Fortunat  auch  in  der  Alliteration  einen  Schmuck 
seiner  Dichtungen  fand  (s.  Ges.  Abhandlungen  II  366/9);  z.  B. 
Vita  Martini: 

I  506  foedere  fida  fides  formosat  foeda  fidelis. 
II  352  Martinique  fidem  neque  fulgida  forma  fefellit. 
III  115  et  data  letiferum  revocat  retro  fistula  rivum. 
III  354  tum  sacer  ex  solito  miseratus  more  salubri. 

Diese  Verse  beweisen,  daß  auch  in  denjenigen  Versen,  wo 
Fortunat  mit  demselben  Wortstamm  spielt,  es  ihm  nicht  sowohl  auf 
dieses  Spiel  ankam  als  vielmehr  auf  die  Alliteration.  Außer  dem 
krassen  Beispiel  in  Appendix  no  5  vgl.  Verse,   wie  Vita  Martini: 

I     99  ne  timeam  timidum,  timor  est  deus  arma  timentum. 

I  347  dum  rapit  eripitur  rapienda  rapina  rapaci. 

I  508  inlustris  lustrante  viro  loca  lustra  ligustra. 
II  329  unde  probanda  probo,  reprobo  reprobantia  probra. 
Niemand  wohl  möchte  behaupten,  daß  Fortunat  in  Ravenna  den 
Ostgothen,  Virgilius  Maro  in  Frankreich  etwa  den  "Westgothen, 
jene  Engländer  den  Angeln  und  Sachsen  Alliteration  oder  Reim 
abgelernt  haben.  Dieser  Redeschmuck  wurde  neben  vielen  andern 
ähnlichen  Kunstgriffen  in  den  Lateinschulen  dieser  Länder  be- 
sprochen und  angewendet. 

Reim  und  Alliteration  waren  also  schon  vor  600  bei  latei- 
nischen Schriftstellern  Italiens,  Frankreichs  und  Englands  als  ein 
besonderer  Schmuck  der  prosaischen  wie  der  poetischen  Rede  an- 
erkannt und  sind  als  solcher  oft,  aber  nicht  regelmäßig  oder  immer, 
angewendet  worden. 

Anderseits  haben,  wie  oben  S.  37/38  besprochen,  mehr  als  ein 
Dutzend  lateinische  Rythmen  aus  der  Zeit  vor  800,  welche  den 
trochaeischen  Scptenar  nachahmen,  also  Zeilen  zu  15u— .  =  8—u-f 

7  u  _ ,  dann  etliche  Rythmen  in  Trimetern  und  einige  in  Zeilen  zu 

8  -u  (s.  Ges.  Abh.  I  208  213  214)  statt  der  regelmäßigen  Silben- 
zahl der  Kurzzeile  oft  ^ine  Silbe,  selten  vielleicht  2  Silben  zuge- 
setzt. Die  meisten  dieser  Gedichte  stammen  aus  Frankreich,  einige 
aus    Oberitalien.     Ob   diese   Dichter    sich   gestattet   haben,    auch 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       43 

weniger  Silben  in  die  Kurzzeile  zu  setzen  als  das  Schema  ver- 
langt, ist  sehr  unsicher;  es  ist  auch  wenig  wahrscheinlich,  falls 
die  Dichter  wirklich  sich  die  Zusatzsilben  nur  deswegen  erlaubt 
haben,  weil  sie  in  den  quantitirenden  Gedichten  die  überschüssigen, 
aber  durch  Elision  wegfallenden  Silben  im  Auge  hatten. 

Die  lateinischen  rythmischen  Dichter  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Zeiten  bildeten  hauptsächlich:  rythmische  Hexameter, 
rythmische  Trimeter  (5  —  o  +  7w_)  und  rythmische  Fünfzehn- 
silber  (8_u  +  7u_),  aber  besonders  oft  die  ambrosianische  Zeile 
zu  8  Silben  mit  steigendem  Schlüsse. 

Diese  Elemente  kamen  hauptsächlich  in  Betracht,  wenn  christ- 
liche Dichter  in  England  im  6.  oder  7.  Jahrhundert  in  ihrer  eigenen 
Sprache  Gedichte  verfassen  und  dabei  von  der  lateinischen  Rythmik 
lernen  wollten,  wie  sie  ihre  bisher  gebrauchte  Versform  umge- 
stalten oder  wie  sie  Neues  machen  sollten.  Dabei  ist  das  Ver- 
fahren der  Nachahmer  zu  beachten.  Wenn  man  bei  Andern 
Schönes  zu  finden  glaubt  und  den  Entschluß  faßt,  das  selbst  her- 
überzunehmen, so  geschieht  es  leicht,  daß  das,  was  bei  dem  Andern 
beliebt,  aber  nur  Nebensache,  nur  Gewohnheit  war,  von  dem  Nach- 
ahmenden viel  schärfer  betont  wird ,  daß  die  beliebte  Mode ,  die 
Regel  zum  Gesetz  wird,  welches  nicht  verletzt  werden  soll.  So 
ging  es  mit  dem  Reim.  Bis  in  die  Karolinger  Zeit  ist  der  Reim 
in  der  lateinischen  Dichtung  nur  ein  Schmuck,  der  gern  angewendet 
wird,  der  aber  auch  in  diesem  oder  jenem  Verse  fehlen  kann.  Im 
9.  Jahrhundert  wurde  er  in  die  deutsche  Dichtung,  dann  bald  in 
die  französische  Dichtung  eingeführt  und  hat  bald  die  ganze  mittel- 
alterliche Dichtung  erobert:  in  diesen  nationalen  Dichtungen  aber 
darf  von  Anfang  an  kein  Vers  ohne  Reim  stehen:  die  Nachahmer 
haben  die  freie  Wohlklangsregel  zum  strikten  Gesetz  gemacht. 
Dieses  Gesetz  ist  dann  im  Laufe  des  11.  Jahrhunderts  wiederum 
rückwärts  in  die  mittellateinische  Dichtung  übergegangen,  so  daß 
von  da  an  auch  in  den  mittellateinischen  Gedichten  die  Reimkette 
eine  ununterbrochene  sein  muß. 

Diejenigen,  welche  in  England  nach  dem  Vorbild  der  latei- 
nischen Rythmen  Verse  in  ihrer  einheimischen  Sprache  formen 
wollten ,  hatten  keinen  Anlaß ,  die  verschiedenen  Zeilenarten  der 
damaligen  lateinischen  Rythmik  nachzumachen;  sie  konnten  froh 
sei,  einen  brauchbaren  Vers  zu  haben.  So  haben  die  altlateinischen 
Dichter  sich  statt  der  3,  ganz  verschieden  gebauten  Arten  des  grie- 
chischen Trimeters,  des  lyrischen,  tragischen  und  komischen,  sich 
eine  Art,  den  altlateinischen  Senar,  zusammen  gemischt  und  diesen 
dann  für  alles  Mögliche  gebraucht.    Für  jene  englischen  Dichter  war 


44  Wilhelm  Meyer, 

am  geeignetsten  die  viel  gebrauchte  und  einfache  Kurzzeile  von 
8  Silben  mit  steigendem  Schlüsse.  Nach  dem  Vorgang  des  Am- 
brosius  waren  meistens  4  solcher  Achtsilber  zu  einer  Strophe  zu- 
sammen gestellt,  indem  je  2  eine  Langzeile  bildeten;  nach  der 
ersten  Langzeile  trat  meistens  mittlere  Sinnespause  ein  (vgl.  zu 
Auspicius  S.  197,  in  diesen  Nachrichten  1906). 

Die  lateinischen  Dichter  jener  Zeit  wendeten  oft  Alliteration 
als  Schmuck  an,  doch  ohne  Zwang:  die  Nachahmer  machten  aus 
der  Mode  ein  Gesetz.  Dies  hat  wiederum  in  den  lateinischen 
Versen  späterer  Angelsachsen  übertriebene  Alliteration  hervor- 
gerufen, wie  in  den  vor  706  verfaßten  Versen  des  Aldhelm  (Mon. 
Germ.,  Epistolae  III  246): 

Summo  satore  sobolis         satus  fuisti  nobilis. 
Tegat  totum  tutamine         truso  hostis  acumine. 

So  hoben  sich  in  den  Zeilen  die  alliterirenden  Silben  besonders 
hervor.  Das  waren  natürlich  wichtige  Silben,  hauptsächlich  Stamm- 
silben. Diese  Stammsilben  tragen  in  den  germanischen  Sprachen 
stets  besonderen  Accent,  weshalb  auch  jede  germanische  Rythmik 
von  Hebungen  ausgehen  muß.  Es  wurden  nun  diese  von  Wortaccent 
und  Alliteration  hervorgehobenen  Silben  die  wichtigen  Pfeiler  der 
Silbenkette  des  Verses,  welche  sonst  wie  Prosa  dahinlief.  Aber  alle 
vom  Wortaccent  hervorgehobenen  Stammsilben  auch  noch  durch 
regelmäßige  Allitteration  oder  Assonanz  hervor  zu  heben,  wäre, 
wie  in  den  obigen  lateinischen  Versen,  mehr  Künstlichkeit  als  Kunst 
geworden.  So  schieden  sich  für  gewöhnlich  in  den  Zeilen  3  Arten 
von  Silben:  die  unbetonten,  die  betonten  und  die  betonten  und 
zugleich  alliterirenden. 

Die  freien  lateinischen  Rythmiker  hielten  nicht  streng  die 
Silbenzahl  des  Schema's  ein:  sie  haben  sicher  oft  mehr  Silben  ge- 
setzt als  das  Schema  wollte;  ob  auch  weniger,  das  ist  noch  nicht 
sicher  gestellt.  Für  die  germanischen  Nachahmer  lag  kein  Grund 
vor,  weshalb  sie  nur  mehr  und  nicht  auch  weniger  Silben  sich 
gestatten  sollten ;  sie  hielten  sich  für  berechtigt,  von  der  gewöhn- 
lichen Silbenzahl  abzuweichen  und  mehr  oder  weniger  Silben  zu  setzen. 

Allein  auf  Harmonie  und  auf  Wiederholung  derselben  Maße 
beruht  die  Dichtungsform:  wenn  man  die  Gleichheit  oder  Aehn- 
lichkeit  der  Silbenzahl  überhaupt  aufgab,  so  mußte  an  anderer 
Stelle  eine  Gleichheit  geschaffen  werden.  Dazu  boten  sich  die  in 
germanischen  Zeilen  wichtigsten  Silben,  nämlich  die  betonten 
Stammsilben  oder  das,  was  wir  Hebungen  nennen.  Sie  repräsen- 
tirten  etwa  die  wichtigen,  vom  Versaccent  getroffenen  Längen  der 
quantitirenden  Verse.    Das  einfachste  Gesetz  war  also,  daß  in  den 


ein  Merowinger  Kythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       45 

Zeilen  die  betonten  Silben  gezählt  wurden.  Dazu  konnte  als  höhere 
Stufe  sich  gesellen,  daß  von  diesen  betonten  Silben  eine  bestimmte 
Anzahl  zugleich  alliterirte.  Dieses  zweite  Element  war  eine  Zu- 
gabe, konnte  also  wegfallen :  was  ja  auch  in  Deutschland  im  9. 
Jahrhundert  geschehen  ist,  als  der  Endreim  den  Stabreim  über- 
flüssig zu  machen  schien.  So  hatte  also  die  lateinische  rythmische 
Zeile  zu  8  Silben  mit  steigendem  Schlüsse  sich  dahin  verändert, 
daß  4  stark  betonte  Silben  stehen  mußten,  neben  und  zwischen 
denen  bis  zu  5  schwach  betonte  Silben  stehen  konnten,  aber  nicht 
stehen  mußten.  Von  den  betonten  wurden  in  der  Regel  eine  An- 
zahl durch  Alliteration  besonders  hervorgehoben. 

Altdeutsche  ßythmik  in  lateinischen  Versen. 

Die  Formen  der  lateinischen  Dichtung  in  der  Karolinger  Zeit 
waren  recht  spärlich,  trotzdem  das  geistige  Leben  ein  reges  war. 
Erst  gegen  Ende  des  neunten  Jährhunderts  wagten  in  dem  sanges- 
kundigen St.  Grallen  Tutilo  und  Notker  vom  Gresang  sich  zu 
Neuerungen  führen  zu  lassen,  zu  den  Tropen  und  Sequenzen.  Diese 
Neuerungen,  besonders  die  Sequenzendichtung,  gestalteten  dann 
die  ganze  mittelalterliche  Dichtung  um.  Es  scheint,  daß  diesem 
Ruhme  St.  Gallen's  noch    eine  weitere  Erfindung  zuzurechnen  ist. 

In  der  Karolinger  Zeit  wurde ,  wie  die  lateinische ,  so  auch 
die  deutsche  Dichtung  eifrig  gepflegt  und  dabei  natürlich  auch  die 
deutsche  Rythmik  genau  ausgebildet.  Das  war  aber  ein  seltsames 
Gebilde.  Die  quantitirenden  lateinischen  Verse  kümmerten  sich 
nur  um  lange  und  kurze  Silben  und  um  deren  Zusammensetzung 
in  abgemessenen  Füßen  und  in  den  bekannten  Zeilenarten.  Die  la- 
teinischen Rythmen  zählten  die  Silben  der  Kurzzeilen  ab,  achteten 
auf  die  Schlußkadenz  dieser  Kurzzeilen  und  suchten  damit  einige 
der  bekanntesten  quantitirenden  Zeilenarten   äußerlich  zu  copiren. 

Anders  die  altdeutschen  Zeilen:  sie  rechneten  nur  die  stark 
accentuirten  Silben,  die  Hebungen,  in  der  Regel  4  in  einer  Kurz- 
zeile. Dagegen  die  Senkungen  waren  Nebensache;  sie  konnten 
ganz  fehlen;  es  konnten  eine  oder  es  konnten  zwei  vor  einer 
Hebung  stehen.  Nur  am  Zeilenschluß  herrschte  eine  besondere 
Regel.  Die  Zeile  sollte  mit  einer  Hebung  schließen,  und  Wörter 
wie  miner  galten  als  -j--i.,  d.  h.  als  2  Hebungen.  Eine  vierhebige 
Zeile  der  Art  konnte  4  Silben  zählen  (ohne  jede  Senkung),  sie 
konnte  aber  auch,  mit  je  2  Senkungen  vor  jeder  Hebung,  theo- 
retisch nicht  weniger  als  12  Silben  zählen.  Diese  vierhebige  Zeile 
war  also  außerordentlich  vielgestaltig  und  brauchbar ;  sie  war  aber 


46  Wilhelm  Meyer, 

auch  fast  die  einzige,  also  beim  Volk  sehr  beliebt  und  verbreitet. 
War  es  nicht  schwer  von  den  quantitirenden  Zeilenarten  eine 
Brücke  zu  schlagen  zu  ihren  Nachbildungen  in  den  rythmischen 
Zeilen,  so  schien  eine  Brücke  von  den  Formen  der  auf  Silbenzahl 
und  Schlußkadenz  achtenden  lateinischen  Rythmik  hinüber  zu  der 
nur  die  Hebungen  zählenden  altdeutschen  Rythmik  undenkbar. 

Da  hat  ein  Deutscher  und,  wie  es  scheint,  ebenfalls  in  St. 
Gallen  es  gewagt,  in  das  fremde  Formengebiet,  in  welches  keine 
Brücke  führte,  mit  kühnem  Sprung  einzubrechen  und  lateinische 
Verse  nach  den  Regeln  des  altdeutschen  Zeilenbaues 
zu  formen. 

Ratpert  hatte  vor  880  in  St.  Gallen  einen  deutschen  Lob- 
gesang auf  den  h.  Gallus  gedichtet;  er  ist  verloren.  Ekkehard  IV 
hat  diesen  Hymnus  in  St.  Gallen  nm  1020  ins  Lateinische  über- 
setzt, der  Melodie  halber  möglichst  Wort  um  Wort.  Jac.  Grimm 
hat  1838  von  diesen  lateinischen  Zeilen  gesagt:  'Zwischen  den 
otfriedischen  Langzeilen  und  denen  des  Gallusliedes  ist  unver- 
kennbare Aehnlichkeit;  jede  Hälfte  zeigt  die  vier  Hebungen  mit 
den  ausgedrückten  oder  auch  fehlenden  Senkungen'.  Doch  seit  70 
Jahren  haben  Manche  diese  Worte  Grimms  nur  nachgeschrieben, 
Viele  sie  nicht  geachtet.  Denn  selbst,  wenn  Grimm  Recht  hatte, 
konnte  ja  das  Bestreben,  eine  gegebene  Melodie  genau  nachzu- 
ahmen, den  Ekkehard  zu  einem  Unicum  von  Zeilenbau  geführt  haben. 

Auf  seltsamen  Umwegen  bin  ich  in  dieser  Sache  zum  Ziel  ge- 
kommen. Ekkehard's  Zeilen  beschäftigten  mich  schon  1882;  doch 
habe  ich  damals  nur  den  Bau  der  Strophe  genauer  erkannt ;  für 
Grimm's  Erklärung  des  Zeilenbaues  war  auch  ich  verständnislos 
(s.  Ges.  Abhandl.  I  239).  Später  mühte  ich  mich  oft,  die  Formen 
etlicher  Carmina  Burana  zu  enträthseln  (Ges.  Abh.  I  249).  1905 
war  ich  zur  Vermuthung  geführt  worden,  daß  in  ganz  später  Zeit 
des  Mittelalters  ein  und  der  andere  Dichter  lateinischer  Zeilen 
eine  oder  die  andere  Freiheit  der  spätesten  mittelhochdeutschen 
Rythmik  nachgeahmt  habe.  1906  erkannte  ich,  daß  eines  der 
bösen  Carmina  Burana,  no  22,  verständliche  Formen  habe,  wenn 
man  nach  der  altdeutschen  Ryihmik  den  Schluß  primüs  ==  dem 
Schlüsse  wovissimüs  setze;  daß  aber  das  andere,  noch  bösere  no 
17,  verständliche  Formen  habe,  wenn  man  überhaupt  altdeutschen 
Zeilenbau  hier  für  möglich  halte.  Das  habe  ich  in  der  Abhandlung 
über  die  rythmischen  Jamben  des  Auspicius  angedeutet  (s.  diese 
Nachrichten  1906,  S.  214  Note).  Neulich  stieß  ich  auf  den 
Rythmus  'Audi  me  deus  piissime',  den  Dreves  (Blume)  Analecta 
33,  237   aus   der  Brüsseler  Handschrift   1351   gedruckt   hat.     Die 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.        47 

Handschrift  ist  im  10.  Jahrhundert  geschrieben  und  stammt  wahr- 
scheinlich aus  St.  Grallen.  Ich  versuchte  Vieles;  doch  endlich  sah 
ich :  Die  Formen  der  88  Zeilen  dieses  Rythmus  sind  nur  verständ- 
lich, wenn  sie  als  Vierheber  der  altdeutschen  Art  mit  allen  Frei- 
heiten aufgefaßt  werden.  Jetzt  kehrte  ich  natürlich  zu  dem  sicher 
St.  Gallen'schen  Denkmal  zurück ,  zu  den  Strophen  Ekkehard's. 
Es  war  sofort  klar,  daß  sie  Vierheber  altdeutscher  Art  enthalten, 
die  aber  der  eigenartigen  Melodie  halber  viele  Freiheiten  nicht 
angewendet  haben.  Endlich  prüfte  ich  wiederum  die  räthselhaften 
Gedichte  der  Carmina  Burana,  von  denen  ich  ausgegangen  war, 
und  kam  auch  in  no  51,  158,  182,  192  und  195  zum  Ziel;  no  29 
und  no.  197/8  sind  mir  noch  nicht  klar.  Nachdem  jetzt  die 
Augen  geöffnet  sind,  ist  zu  erwarten,  daß  noch  weitere  Denkmäler 
dieser  altdeutsch-lateinischen  Rythmik  nachgewiesen  werden. 

(Die  Beichte)  In  der  Brüsseler  Handschrift,  no.  8860/67 
nach  der  alten  Bezeichnung,  no.  1351  nach  der  neuen  im  Kataloge 
J.  van  den  Gheyn's  Vol.  II,  steht  das  folgende  Gedicht  fol.  12^ — 14. 
Die  Handschrift  ist  gewiß  in  Deutschland  geschrieben  und  wahr- 
scheinlich in  St.  Gallen,  und  zwar  im  10.  Jahrhundert.  Das  Ge- 
dicht ist  ein  Abcdarius,  wie  solche  in  jenen  Zeiten  viele  gedichtet 
wurden.  Ich  gebe  den  Text  nach  dem  Abdruck  bei  Dreves,  Ana- 
lecta  hymnica  33  S.  237.  Dazu  habe  ich  von  Karl  Strecker, 
welcher  die  Handschrift  copirt  hat,  die  Nachricht  erhalten,  daß 
der  Abdruck  mit  der  Handschrift  übereinstimme  außer  an  den  zu 
6,  2.  20,  5.  22, 1  und  2  mit  'Str.'  bezeichneten  Stellen. 

De  accusatione  hominis  erga  deum. 

1  Audi  me,  deus  piissime !  3  Coepi  servire  domino : 
impie  vivendo  peccavi,  invidia  diaboli 

nimis.  vicit  me. 

Mortem  cönsecütus  süm  Donum  döi  habui: 

oboediendo  satanae,  dies  meos  negl^xi. 

captus  sum.  heu  me! 

2  Bone  plasmator,  aüdi  me!  4  D^us  invisibilis, 
longe  factus  sum  d  te,  qui  siirsum  sedes,  vide 

piissime.  humilem, 

peccata  m^a  ligant  me.  cor  contritum.   plango  ad  te, 

ut  rev^rtar  ad  te,  miserere  super  m^, 

adiuva  me.  quia  plasmasti  me. 

3,  4  vgl.  1  Cor.  7,  7        4,  3  humilem.  Contritus  plängo  ad  t^  ? 


48 


Wilhelm  Meyer, 


5  Exednt  peccatä, 

quae  siint  in  me  confixä, 

misero. 
Abrenüntio  diabolo 
et  Omnibus  ^ius  actibüs, 

adiuvante  te, 

6  Fiant  mihi  lacrimae 
pänis  die  ac  nöcte, 

cotidie. 
ömnia  möa  crimina 
veniant  in  memoria, 

ante  te. 

7  Gravia  enim  delicta 
gravia  quaerunt  lamenta: 

sie  et  in  me. 
mcesti  quöque  oculi 
flüunt  mihi  amariter, 

undique. 

8  Haec  erat  lamentätiö 
in  aliönis  opibüs, 

et  non  in  meis. 
AÜena  congregavi, 
caeli  thesaiirum  p^rdidi. 

heu  me! 

9  Infra  saneta  r^gulä 
nutritus  füi  dülciter. 

postmodmn 
omnia  mala  perföci: 
te  sölum  nön  negdvi, 

omnipotens. 

10  Kalümnia  super  calümniä, 
fiii  super  omniä, 

ego  miser. 
si  peccdvi  grdvit^r, 
iam  fl^bo  amäritfer. 
indulge  me! 
5,  5  Omnibus  Dreves,  omnes  Codex 


11  Lux  desiderabilis, 
scio  me  lönge  a  te, 

piissime. 
si  av^rtis  faci^m, 
übi  p^to  veniäm, 

nisi  a  te? 

12  Mihi  lamentätiö 

pliira  fiat  prae  Omnibus, 

pro  delictis  meis. 
De  tüis  quod  perdidi, 
in  quo  mihi  recüperem, 
nisi  per  te? 

13  Non  mereör,  ut  mihi 
parcas,  nisi  fiierit 

pietas  tua. 
HOC  precor,  ut  memineris, 
quod  pretium  me  emisti, 

redemptor  vitae. 

14  0  mira  exspectatio 
et  cördis  lamentätiö, 

pro  delictis  meis. 
ömnia  möa  crimina 
reduco  in  memoria 

coram  te. 

15  Peccavi  cum  peccantibüs. 
nüUus  ^st,  qui  adiuv^t 

in  planctibus. 
Qui  mihi  sunt  consimü^s  ? 
planxi  incössabiliter, 

apud  me. 

16  Quare  non  füi  mörtuüs, 
dum  füi  in  sacris  föntibüs? 

ego  miser! 
vel  cüi  süm  consimilis 
in  tam  mdlis  criminibüs? 
ego  miser! 
6,  1   Psalm  41,  3        6,  2  die  Äa<  die 


Handschrift  {Str.) 
ähnlich  6,  4—6. 


13,  5   pretio?    vgl.    1  Cor.  7,  23        14,  4—6  =  18,  4—6; 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen,        49 

17  Revertere  ad  me,  domine,  20  TJni  d^o  per  ömnia 
ne  pereamus  invicem!  ägimus  paönit^ntiam 

succurre  nobis!  vivendi. 

Eedemptor  vitae  maxime,  ut  mäior  iracimdiä 

quid  sum  dictiirus  ante  te,  culpa  inquirit  gratiä, 

domine?  indulge  me! 

18  Sancte  et  immortalis,  21  X  Y  et  Z 

indulge  meis  peccatis,  conclüdunt  ista  verba 

altissime !  simplicia. 

omnia  mea  criminä  ömnes  intente  auditfe, 

redüco  in  memoria,  paenitentiam  ägite 
ante  te.  et  vivite. 

19  Tibi  refero  gloriäm,  22  Gloria  d^o  coa^vo 

qui  me  exspectas  per  t^mpora,  cüi  honorem  semper  dö, 

domine.  altissime, 

porrige  auxiliüm,  Üna  cum  dei  filiö 

eripe  m^  de  exsilio,  öt  cum  säncto  spiritü. 
quo  captus  sum!  Amen. 

18,  6  ante  te  Dreves,  ante  te  domine  Codex        20,  3  viventi  ?  s.  Vulgata 
20,  4  maior  iracundiä  culpam  inquirat  gratiä?       gratia  Handschrift  (Str.),    nicht 
gratiam   (Dreves)        21,  1    xi  ypsilon   et   ze'tä         22,  1   coaevo   Dreves:    q   aevo 
Handschrift  {Str.)        22,  2  do  Dreves:  deo  Handschrift  (Str.)        22,  3  altissimo  ? 

Die  3.  und  6.  Zeile  jeder  Strophe  scheinen  regellose  Nach- 
rufe; ich  bespreche  nur  die  1.  und  2.,  4.  und  5.  Zeile:  also  88 
Zeilen.  Ich  scheide  zunächst  2  Klassen,  je  nachdem  (I)  die  Zeilen 
sinkend  schließen  (23),  oder  (II)  steigend  (65).  Jede  Klasse  teile 
ich  in  2  Arten,  je  nachdem  die  Zeilen  mit  der  Hebung  beginnen 
(lA:  14;  IIA:  43  =  57),  oder  mit  einer  Senkung  (IB:  9;  IIB: 
22  =  31).  Oft  stehen  statt  einer  Senkung  2  Senkungen  (52  Mal); 
darnach  scheide  ich  Unterarten. 

I:  vierhebige  Zeilen  mit  sinkendem  Schlüsse:  (23) 

I,  A :    Zeilen,    welche   mit  der  Hebung   beginnen :  (14) 

1.  ^u^u^^:  exeant  peccatä  5,  1;  2,  5  =2 

2.  a.uu-£.u^A:  sancte  et  immortalis  18, 1 ;  11,2  =2 

3.  ^u^uu_£_jl:  dies  möos  negl^xi  3,  5;  2,  2;  6,  2;  21, 1  =     4 

4.  -^uu^uu^jl:  gravia  quaerunt  lamenta  7,  1  u.  2 ;  9,  4 ; 

21,4;  22,1  =     5 

Zweifelhaft  (5) :  1,2  impiö  viv^ndö  pöccävi  (s.  S.  63  Note)     =     1 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss,  Nachrichten.  Philolog.-histor.  Klasse  1908,    Heft,  1.  4 


50  Wilhelm  Meyer, 

I,  B:  Zeilen,  welche  mit  einer  Senkung  beginnen:  (9) 

6.  u^u^uj-jl:    qui    sürsnm    sedes    vide    4,2;    5,2;    9,5; 

13, 1 ;  21,  2  =5 

7.  uu-z.u^u_i.jL:  ali^na  congregavi  8,4  =     1 

8.  u^uu_«_u^j_:  qnod  pretium  me  emisti  13,  5  =1 

9.  u-<Lu-Luu^-^:  indulge  meis  peccätis  18,2  =     1 
Zweifelhaft  4,  4  contritus  plango  ad  te  =1 

II:  vierhebige  Zeilen  mit  steigendem  Schlüsse:  (65) 

n,  A:    Zeilen,   welche   mit   der    Hebung   beginnen:  (43) 

10.  ^u^u_^o2_:  dönum  dei  habui  1,4;  3,4;  4,1;  4,5;  6,1; 

9,1;  10,2;  10,  4;  (10,  5?);  11,1.4.5;  12,1; 
(12,4?);  13,2;  15,2;  19,4;  22,5  =  18 

11.  _^uu^u^ujl:  böne  plasmator  aüdi  me  2,1;  3,1;  6,4.5; 

8,5;  14,4;  15,5;   16,1;  17,5;    18,4;   20, 

2.5;  22,2.4  =  14 

12.  _^u_^uu-«_u_l:  tibi   refero   gratiäm   5,4;  7,  5;  12,2.5; 

16,5;  19,1;  20,1;  21,5  =     8 

13.  -e.KJUJLUKju.u±.:  aüdi  me  d^us  piissime  1,  1;  19,2.  5  =3 

n,  B:  Zeilen,  welche  mit  der  Senkung  beginnen:  (22) 

14.  u^u^u^u^:  et  cordis  Jamentatio  1,5;  2,4;  3,2;  7,4; 

8,  1.2;  10,  2;   13,  4;  14,  1.  2.  5;    15,1.4; 

16,4;  17,2.4;  18,5;  20,4  =  18 

15.  u_e.uu^u_/i-v^^:  revertere  ad  me  domine  5,5;  16,2;  17,1  =     3 

16.  wx  uu-x  uu_«_u_^:  kalümnia  super  calümnia  10,1  =     1 

Dies  sind  16  verschiedene  Zeilen  von  6 — 10  Silben  und  von 
verschiedener  Schlußcadenz.  Mit  den  bisherigen  Hilfsmitteln  der 
lateinischen  Rythmik  sind  sie  nicht  zu  verstehen.  Aber  mit  den 
Regeln  der  altdeutschen  Rythmik  sind  sie  verständlich  als  vier- 
hebige Kurzzeilen. 

(Hebungen)  Wenn  im  Schlüsse  -ljl  =  u-uJ-  gesetzt  wird, 
wie  vide  =  vi-i-de,  dann  haben  alle  88  Zeilen  4  Hebungen,  d.  h. 
4  von  rythmischem  Wortaccent  belegte  Silben.  Vom  Nebenaccent 
macht  der  Dichter  in  der  Zeile  selten  Gebrauch,  wie  13,1  non 
m^reor  ut  mihi  (19,  4 ;  3,  2 ;  5,  1).  Wichtig  sind  die  2  Zeilen : 
10,  5  iam  flebo  amariter,  und  12,  4  de  tuis  quod  perdidi.  Sie 
scheinen  nur  3  Hebungen  zu  haben.  Sie  können  mit  der  ger- 
manistischen Lehre  von  der  schwebenden  Betonung  einge- 
renkt werden :  Idm  flebo  amdriter,  D6  tuis  quod  perdidi.  Doch 
der  Dichter,  welcher  350  Hebungen  richtig  auf  die  Accentsilben 
gesetzt  hat,  soll  2  solche  unnatürlichen  Betonungen  gesetzt  haben? 
Ich   glaube   vielmehr,    daß   der  Dichter   das  Gesetz   des  Schlusses 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       51 

hier  als  Ausnahme  2  Mal  in  einer  Art  von  Caesurschluß  zuge- 
lassen hat:  (17)  lam  flebo  •  amariter,  De  tiüs  *  quod  perdidi. 
Ein  Vers  ist  falsch :  4,  4  Cor  contritum.  plango  ad  te  hat  5 
Hebungen.  Doch  der  Vers  gibt  Anlaß  zu  andern  Bedenken.  Die 
Strophen  haben  (mit  Ausnahme  der  9.  und  vielleicht  der  15.  Strophe) 
nach  der  ersten  Halbstrophe  stets  eine  Sinnespause;  hier  aber 
müßte  'cor  contritum'  neben  'humilem'  von  'vide'  abhängen;  außer- 
dem steht  'plango  ad  te'  ganz  kahl.  Deswegen  glaube  ich ,  daß 
^cor'  zu  tilgen  und  'Contritus  plango  ad  te'  zu  ändern  ist. 

(Senkungen)  1  Senkung  darf  vor  jeder  Hebung  stehen: 
vor  der  1.  Hebung  kann  sie  stehen  oder  fehlen;  vor  der  2.  und 
3.  Hebung  ist  sie  nach  der  barytonen  Beschaifenheit  der  lateinischen 
"Wörter  nicht  zu  vermeiden;  zwischen  der  3.  und  4.  Hebung  kann 
sie  fehlen.  2  Senkungen  sind  erlaubt  und  in  merkwürdiger  Fülle 
zugelassen :  in  43  Zeilen  von  den  88  findet  sich  Doppelhebung  und 
davon  in  9  Zeilen  sogar  2  Mal :  gravia  quaerünt  lämenta,  aüdi  mö 
deüs  piissime,  kalumniä  süpör  cäliünnia.  Die  Zeile  scheint  auch 
mit  doppelter  Hebung  anfangen  zu  dürfen,  da  in  8,  4  äliena  con- 
gregavi  kein  Grund  vorliegt,  Synizese  anzunehmen.  3  Senkungen 
hinter  einander  widersprechen  eigentlich  der  Rythmik,  da  die 
menschliche  Zunge  dann  die  mittlere  accentuirt:  allein  in  1,  2 
impie  vivendo  peccävi  würden  durch  die  Betonung  impie  5  He- 
bungen sich  ergeben;  also  ist  entweder  pie  mit  Synizese  als  1 
Silbe  zu  lesen,  oder  man  muß  3  Senkungen  lesen:  impiö  viv^ndo 
pgccävi  (s.  S.  63  Note). 

Der  Vierheber  ist  hier  durch  freie  Verwendung  von  ein- 
fachen und  doppelten  Senkungen  zu  16  Zeilenarten  von  ver- 
schiedenem Tonfall  ausgestaltet,  und  noch  mehr  Arten  wären  mög- 
lich. Solche  Verschiedenheit  im  Tonfall  und  in  der  Silbenzahl  ist 
nur  möglich  bei  einem  Deklamations-  oder  Sprechvers :  in  ge- 
sungenen Versen  verlangt  die  Gleichheit  der  Melodie  wenigstens 
einige  Gleichheit  des  Tonfalls  und  der  Silbenzahl.  Das  beweist 
das  folgende  Gedicht. 

(Ratpert's  Lobi^esang  von  Ekkehard  in's  Lateinische  über- 
setzt) Ekkehard  des  IV.  lateinische  Uebersetzung  findet  sich 
nach  Müllenhoff-Scherer-Steinmeyer's  Denkmälern  (no  XII),  die 
ich  hier  zu  Grunde  lege,  in  3  Handschriften  in  St.  Gallen:  no 
393  A,  no  168  (ß)  und  no  174  (C).  Alle  3  Handschriften  scheinen 
von  Ekkehard  IV.  selbst  herzurühren.  Der  Text  ist  also  trefi'lich 
überliefert;    nur  in  Strophe  1,  Zeile  2,  glaube  ich  mit  Recht  'um- 


52  Wilhelm  Meyer, 

quam'  getilgt  und  'misit'  umgestellt  zu  haben;    dazu  kommt  wohl 
noch  Str.  8,  Zeile  3,  wo  'deum  meum'  rythmisch  falsch  ist^). 

lieber  den  Zeilenbau  hat  das  Richtige  eigentlich  schon 
Grrimm  1838  erkannt;  er  hat  es  aber  so  undeutlich  gesagt  oder 
so  mit  Irrthümlichem  oder  Nebensächlichem  verquickt,  daß  Niemand 
nachher  Grrimm's  richtigen  Fund  verstanden  oder  verwertet  hat. 
Die  Initialen  der  Handschriften  zeigen  deutlich,  daß  das  Gedicht 
in  17  Strophen  von  je  5  Langzeilen  zerfällt.  Grrimm  erwähnt, 
daß  Otfried  Gruppen  von  je  2  Langzeilen  bilde,  und  fährt  fort 
(Lateinische  Gedichte  des  X.  und  XL  Jh.,  S.  XXXIV:  'Sonst  aber 
ist  zwischen  den  otfriedischen  Langzeilen  und  denen  des  Gallus- 
liedes  unverkennbare  Aehnlichkeit,  jede  Hälfte  zeigt  die  vier  He- 
bungen mit  den  ausgedrückten  oder  auch  fehlenden  Senkungen. 
Man  vergleiche: 

7,  3     diix  fit  Hiltibaldüs.  occürrit  locus  commodüs. 

IV  23,  39  antwurtita  lindö.  ther  keisor  ewinigo  tho. 
6,  2  cui  mandat  mötüs.  quod  restet  Columbaniis. 
V  23,  20  allo  thio  scöni.  wio  wiinnisam  thar  wäri. 
Nur  daß  im  Ganzen  die  zweite  Hälfte  der  ersten  merklich  vorwiegt, 
d.  h.  in  dieser  die  Senkungen  öfter  mangeln.  Soll  ich  es  nach 
der  Silben  zahl  ausdrücken,  so  findet  sich,  daß  die  zweite  Hälfte 
häufig  aus  8  und  7,  seltener  aus  6  Silben  besteht,  die  erste  da- 
gegen oft  aus  6  und  7,  niemals  aus  8.  Die  8  Silben  verleihen  der 
zweiten  Hälfte  jambischen  Klang,  die  6  Silben  der  ersten  Hälfte 
des  Verses  trochäischen  oder  auch  der  zweiten  (2,  5  Francis  immo- 
rantur).  Allerdings  scheint  die  Schlußzeile  jeder  Strophe  sechs- 
silbige  Hälften  zu  lieben'.  Den  Umstand,  daß  die  erste  Hälfte 
niemals  8  Silben  zählt,  die  zweite  Hälfte  aber  oft,  benützt  Grimm 
S.  XXXVII  um  für  eine  Aehnlichkeit  dieser  Langzeilen  mit  dem 
Hexameter  zu  sprechen,  dessen  erste  Hälfte  vor  der  Caesur  ja 
kürzer  ist  als  die  zweite. 

Den  Bau  der  Strophe  hat  Grimm  nicht  erkannt,  wie  seine 
Bemerkung  zeigt  (S.  XXXIV):  'Auf  den  Bau  der  einzelnen  Verse 
selbst  scheint  dies  strophische  Verhältnis  keinen  Einfluß  zu  haben'. 
Dem  gegenüber  habe  ich  schon  1882  (Ges.  Abhandlungen  I  239) 
festgestellt,  daß  die  letzte  Zeile  der  Strophe  anders  gebaut  ist, 
als  die  4  ersten,  indem  ihre  zweite  Halbzeile  stets  mit  einer  He- 
bung beginnt. 

Da  der  musikalische  Carakter   dieses  Liedes   wichtig   ist, 


1)  Hiatus  in   der  Kurzzeüe  findet  sich  nur  in  4,  1  Tucconio  ingrato  und 
17,  5  in  tremeudo  examine ;  zwischen  den  Kurzzeilen  in  12,  3  und  5 ;  14,  1. 


ein  Merowinger  Rythraus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       53 

SO  setze  ich  die  Einleitung  des  Uebersetzers  selbst  hierher,  in  den 
beiden  Fassungen,  welche  er  ihr  gegeben  hat :  Ratpertus  monachus, 
Notkeri  quem  in  sequentiis  miramur  condiscipulas ,  fecit  carmen 
barbaricum  populo  in  laudem  sancti  Galli  canendum,  quod  nos 
multo  impares  homini,  ut  tarn  dulcis  melodia  latine  luderet,  quam 
proxime  potuimus  in  latinum  transtulimus  (Handschrift  A,  Denk- 
mäler I  27).  Dagegen  bieten  die  Handschriften  B  und  C  (Denk- 
mäler II  79) :  Ratpertus ,  Notkeri  quem  in  sequentiis  miramur 
condiscipulus,  post  sancti  Gralli  historiam  et  alia  multa  quae  fecit 
insignia,  fecit  et  carmen  barbaricum  de  sancto  Grallo  cantitandum, 
quod  postea  fratrum  quidam,  cum  rarescere  qui  id  saperent  (woJil 
wegen  der  Veränderung  der  deutschen  Sprache,  in  150  Jahren^)  videret, 
ut  tam  dulcis  melodia  latine  luderet  (ne  .  .  memoriae  laberetur  B), 
quam  proxime  potuit  transferens,  talibus  operam  impendit. 

Ekkehart  IV  und  also  schon  Ratpert  wollten  nur  vierhebige 
Kurzzeilen  bilden  mit  der  Eigentümlichkeit  der  deutschen  Vier- 
heber, daß  der  Schluß  abät  (a-ä-bät)  =  märtyris  galt.  Aber  sie 
wollten  eine  von  Ratpert,  dem  Genossen  des  sangeskundigen  Notker, 
erfundene  Melodie  einhalten.  Da  war  es  unmöglich,  daß  sie  sich 
all  die  Spielarten  des  Vierhebers  gestatteten,  in  welchen  er  auf- 
treten konnte;  deren  Zahl  ist  mit  den  oben  (S.  49)  in  der  Beichte 
nachgewiesenen  17  Arten  noch  nicht  erschöpft.  Sie  trafen  also 
eine  Auswahl.  Hierbei  handelte  es  sich  nicht  um  Hebungen,  — 
diese  waren  immer  4  —  sondern  nur  um  Senkungen.  Sie 
schieden  nun  zunächst  die  Vierheber  in  2  Grruppen:  solche,  welche 
mit  einer  Hebung  beginnen,  und  solche,  welche  mit  einer  Senkung 
beginnen.  Daraus  setzten  sie  zweie,rlei  Langzeilen  zusanmien: 
1)  eine  Langzeile,  deren  erste  Halbzeile  mit  der  Hebung  beginnt, 
deren  zweite  Halbzeile  aber  mit  einer  Senkung  beginnt;  2)  eine 
Langzeile,  deren  beide  Halbzeilen  mit  der  Hebung  beginnen.  Die 
Strophe  bildeten  sie  nun  so,  daß  sie  die  Langzeile  der  ersten  Art 
4  Mal  setzten  und  durch  1  Langzeile  der  zweiten  Art  abschließen 
ließen.  Jede  Strophe  enthält  also  10  Vierheber;  von  diesen  be- 
ginnen 6  mit  einer  Hebung  (no  1 — 6),  4  mit  einer  Senkung  ab  cd. 
Es  entsteht  also  folgende  Strophe: 

1  +  a  Nunc  incipiendüm         est  mihi  mägnum  gaüdiimi. 

2  +  b  Sanctiorem  nüllüm         quam  sänctum  misit  Gdllüm 

3  -t-  c  filiüm  Hiberniä,         recepit  pätrem  Sueviä. 

4  +  dExultemus  omnes,         latidemus Christum  päriles 

5  +  6      sanctos  advocantem         et  glorificantem. 

Eine  so  lange  Strophe  muß  durch  die  Melodie  noch  weiter  ge- 
gliedert   werden.     So    lange    wir    die   in   der  Handschrift  hier 


54  Wilhelm  Meyer, 

vorhandenen  Neumen  nicht  deutlich  verstehen ,  müssen  wir  uns 
an  die  Sinnespansen  halten.  In  mehreren  Strophen  fällt  nach 
jeder  Langzeile  eine  Sinnespanse ,  wie  in  dem  Wunderkatalog, 
Str.  13: 

1  +  a  Votum  mox  inhibitüm        post  patris  litat  öbitum. 

2  +  b  Gaüdet  pisce  magno         Petrös^  capto  stagno. 

3  +  c  Träbem  br^viörem        dat  prece  löngiörem. 

4  +  d  Perffit  hinc  ad  cästrum         ob  Michahelis  f^stüm. 

5  +  6         Egit  missas  möre.         spiritus  tönat  ab  öre. 
Aehnlich  steht  es  mit  den  Strophen  5.  9.  11.  14.  15.    Solche 

Strophen  fügen  sich  in  jede  Gliederung.  Die  regelmäßige  Gliede- 
rung der  Strophe  ist  folgende:  die  erste  Langzeile  steht  als  Ein- 
leitung für  sich;  dann  ist  die  zweite  Langzeile  mit  der  dritten 
verbunden  und  wiederum  die  vierte  mit  der  fünften.  Diese  Gliede- 
rung zeigt  sich  klar  in  der  oben  gedruckten  1.  Strophe.  Ebenso 
deutlich  ist  sie  in  der  6.,  10.  und  17.  Strophe;  sie  paßt  durchaus 
auf  die  Strophen  2,  3,  4,  7,  8.  Schwache  Ausnahmen  bilden  nur 
die  1 2.  Strophe,  wo  die  3.  Langzeile  nicht  mit  der  zweiten,  sondern 
mit  der  vierten  und  fünften  verbunden  ist;  dann  die  16.  Strophe, 
wo  die  erste  Zeile  mit  der  zweiten  zusammenhängt.  Also  inter- 
pungire  die  2.  Strophe: 

1  +  a  Cur  SU  pergunt  rectö         cum  agmine  collecto. 

2  -f  b  Tria  tranant  mariä,         celeiimant  'Christo  gloriä' 

3  +  c  Cölumbanus,  Gallüs,         Magnoaldus  et  Theodorus. 

4  +  d  Chiliano  socio,         post  füncto  sacerdotio, 
5-1-6         Gallos  pervagantur,         Francis  immoräntür. 

In  der  12.  Strophe  ist  ja  gegen  die  Regel  die  3.  Zeile  mit  der 
4.  verbunden,  allein  die  beiden  letzten  Zeilen  geben  dennoch  einen 
selbständigen  Sinn: 

1  -f  a  Optant  illum  populüs         pontificem  et  clerüs. 

2  -H  b  Quis  sacrändum  proprium        lohannem  dat  discipulum. 

3  +  c  hinc  superno  numine,         in  montis  stans  cacümine, 

4  +  d  spiritüm  abbätis         locandum  cum  beatis 

5  +  6         ^  consp^ctu  t^rr^        dngelos  videt  förre. 

Was  war  nun  Refrän?  Gewiß  nicht  die  eigenartige  Schluß- 
zeile der  Strophen  (denn  in  den  Strophen  1,  6,  10,  12  und  17  gibt 
sie  keinen  selbständigen  Sinn).  Die  beiden  letzten  Langzeilen  geben 
zwar  stets  einen  abgeschlossenen  Sinn;  allein  nach  meiner  Ueber- 
zeugung  hat  nach  jeder  neuen,  vom  Vorsänger  gesungenen,  Strophe 
das  Volk  den  Schluss  der  ersten  Strophe  wiederholt: 

Exult^mus  ö  m  n  ^  s  !         Laudömus  Christum  p  d  r  i  1  ^  s 
sanctos  advocdnt^m         ^t  glorificdntem. 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.        55 

Ekkehard  und  Ratpert  haben  also  in  den  17  Strophen  102 
Vierheber,  welche  mit  Hebung  beginnen  (die  Kurzzeilen  1,  2,  3,  4, 
5j  6),  und  68  Vierheber,  welche  mit  Senkung  beginnen  (die  Kurz- 
zeilen a  b  c  d),  mit  bestimmter  Absicht  verteilt,  in  Anschmiegung 
an  die  von  Ratpert  geschaffene  Melodie  der  Strophe. 

Sie  haben  aber  den  üppigen  "Wuchs  der  Vierheber,  von  denen 
ich  oben  (S.  50)  allein  in  der  Beichte  17  verschiedene  Formen 
nachgewiesen  habe,  noch  weiter  beschnitten.  An  den  Hebungen 
war  nichts  zu  ändern:  jede  der  170  Kurzzeilen  muß  deren  4  haben. 
Aber  die  Senkungen  sind  es  ja,  welche  die  vielgestaltigen 
Formen  des  Vierhebers  verursachen.  Da  jedes  lateinische  Wort 
mit  einer  unbetonten  Silbe  endet,  wenn  das  folgende  Wort  mit 
einer  betonten  Silbe  beginnt,  so  muß  vor  der  2.  und  vor  der  3. 
Hebung  der  lateinischen  Vierheber  des  Ekkehard  stets  minde- 
stens 1  Senkung  stehen;  vor  der  Schlußsilbe,  die  ja  nach  alt- 
deutschem Muster  stets  eine  Hebung  ist,  kann  die  Senkung  nur 
fehlen  durch  die  aus  der  altdeutschen  Rythmik  entlehnte  An- 
nahme, daß  ein  paroxytoner  Schluß,  wie  ein  proparoxytoner  2 
Hebungen  enthält,  also  probäs  =  pro-ö-bas  =  pröbitäs  sei. 

Also  von  den  einfachen  Senkungen  vor  der  2.  und  der  3.  He- 
bung konnte  Ekkehard  nichts  wegnehmen.  Dagegen  hat  das  Bei- 
spiel der  Beichte  uns  gezeigt,  daß  vor  der  2.  und  vor  der  3.  He- 
bung, vielleicht  auch  vor  der  1.  Hebung  statt  der  einfachen  Senkung 
doppelte,  (ja  vielleicht  sogar  dreifache)  Senkung  gesetzt 
werden  konnte.  Hier  nun  hat  Ekkehard,  und  vielleicht  schon 
Ratpert,  eingegriffen.  Sie  haben  die  doppelten  Senkungen  vor  der 
2.  und  3.  Hebung  und  den  Taktwechsel  im  Anfang  der  Vierheber 
überhaupt  nur  wenig  zugelassen  —  denn  wohin  wäre  die  dulcis 
melodia  gekommen,  wenn  die  Zeilen  'exultemus  omnes'  und  'ka- 
lümnia  siiper  caliimniä'  mit  der  gleichen  Melodie  gesungen  werden 
sollten?  — ,  dann  haben  sie  diese  Freiheiten  nur  an  der  einen 
Stelle  zugelassen,  von  der  andern  Stelle  durchaus  ausgeschlossen. 
Sie  haben  nemlich  die  zweiten  Halbzeilen  der  1.  bis  4.  Langzeile 
ganz  rein  gebildet ;  dagegen  in  den  ersten  Halbzeilen  der  5  Zeilen 
und  in  der  zweiten  Halbzeile  der  5.  Zeile  haben  sie  einige  Frei- 
heiten zugelassen.  Die  von  mir  mit  a  b  c  d  bezeichneten,  stets  mit 
einer  Senkung  beginnenden  zweiten  Vershälften  hatten  also  die 
empfindlichste  Melodie. 

Die  mit  Senkung  beginnenden  Vierheber  (a  b  c  d) 
sind  außerordentlich  regelmäßig.  67  beginnen  mit  der  Senkung; 
der  einzige  Vers 

8,  3  Semper  hie  habitabo,        deum  meum  invocäbö 


56  Wilhelm  Meyer, 

ist  falsch.  Denn  1)  beginnt  er  mit  einer  Hebung,  2)  zählt  er  5 
Hebungen.  Die  Psalmstelle  115,  13  und  17  nomen  domini  invo- 
cabo  hüft  nicht.  Es  ist  wohl  zn  ändern  'et  deum  invocabo'.  Ver- 
doppelte Senkungen  oder  Taktwechsel  gibt  es  in  diesen  68  Vier- 
hebern nicht,  also  bleiben  nur  die  2  Formen: 

1  (14).  ^)  u^u-r-u^u^:  est  mihi  magnum  gaudiiim:         29 

2  (6).        u-t-u^u-t.^:  quam  sanctum  misit  Gallüm:        39 
Von    den  102  Halbzeilen,    welche   mit  der  Hebung  beginnen,    von 
mir  gezählt  mit  1 — 6,   schließen  68  mit  Doppelhebung,    wie  Nunc 
incipiendüm,    34  schließen   mit  einfacher  Hebung,    wie  Filiiim  Hi- 
b^rniä : 

3  (1).     uL.Kj-L.u^j^:  Nunc  incipiendüm:  rein  52  (+  16  mit  Freiheiten) 

4  (10).  -a.w_^u_a.u_l:  Filiiim  Hib^rnia:  rein  30  (+4  mit  Freiheiten) 

Hier  hat  nun  Ekkehard,  und  vielleicht  oft  auch  Ratpert,  in 
beschränktem  Maße  2  Freiheiten  zugelassen,  welche  sie  in  den 
zweiten  Halbzeilen  gar  nicht  zugelassen  haben. 

(Fehlen  der  zweiten  Senkung)        Unter  den  102  Halb- 
zeilen fangen  8  mit  eiQer  Senkung  an.     Von   diesen  sind  2  Zeilen 
ohne  weiteren  Anstoß: 
{=  no  2)    4,  1  Tuccönio  ingrdto         hinc  excommiinicatö. 

17,  1  Johannes  noli  fl^re,         magistrum  cr^de  vivere. 
Dagegen  die  6  andern  Zeilen  bieten  doppelten  Anstoß: 

4,  4  Arbönam  per  lacüm        advolitant  Potamicüm. 

5,  4  Latrönes  et  düos        occidunt  fratres  süos. 
14,  1  Egrotat  in  Castro         electus  deo  nostro. 

14,  2  Post  fletum,  post  g^mitüm         defüngens  efflat  spiritum. 

14,  4  Accürrit  episcopüs,         flens  ad  magistri  corpus. 

15,  4  Cruöre  perfüsum        horr^bant  6t  cyliciüm. 

Die  letzten  6  Verse  beginnen  nicht  nur,  wie  die  2  voran- 
gehenden ,  die  vordere  Halbzeile  mit  einer  Senkung ,  sondern  sie 
haben  auch  nur  3  Hebungen,  statt  4.  Es  ist  diese  Zeilenart  schon 
oben  S.  51  als  no  17  besprochen.  Beiden  Mängeln  wäre  abge- 
holfen, wenn  man  die  germanistische  Lehre  von  der  schwebenden 
Betonung  hier  anwendete,  also  Lätrone^s,  Crüore  usw.  betonte. 
Doch  das  ist  keine  rythmische,  keine  Accentdichtung.  Den  rich- 
tigen Weg  zeigt  auch  hier  die  Zeile  'Post  fletum,  post  gemitum': 
diese  Worte  wird  Jeder  sprechen  mit  einer  Caesur  nach  Post  fletum. 
Auf  diese  Nebencaesur  ist  die  Betonung  der  paroxy tonen  Zeilen- 
schlüsse übertragen.     Also  ist  betont: 


1)  In  Klammern  setze  ich  die  Zahl  der  Versart  der  Beichte  (s.  oben  S.  49). 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.        57 

5:  u_z.A,  u^^:  Latrönes*  et  düos :  4,4;  5,4;  14,1;  15,4:     4 

6  (17):  U-Z.JL,  u_^u:.:  Post  fletüm"  post  gemitum:  14,2;  14,4:  2 
Außer  dieser  Weglassung  der  Senkung  zwischen  der  ersten  und 
zweiten  Hebung  bleibt  also  als  andere,  in  allen  8  Kurzzeilen  zu- 
gelassene Freiheit,  daß  dieselben  mit  einer  Senkung  beginnen. 

(Zweisilbige  Senkung)  Die  weitere  Freiheit ,  welche 
Ekkehard  in  diesen  lyrischen  Vierhebern  in  beschränktem  Maße 
zugelassen  hat,  aber  auch  hier  nur  in  den  mit  der  Hebung  be- 
ginnenden Halbzeilen  1 — 6,  ist  die  Zulassung  einer  zweisilbigen 
Senkung.  Oben  (S.  51)  ist  gezeigt,  wie  außerordentlich  oft  zwei- 
silbige Senkung  in  der  Beichte  vorkommt.  In  diesen  sorgfältig 
gezähmten  Vierhebern  des  Ekkehard  finden  sich  nur  folgende  Arten : 

7  (2).     -^uw_z-u^^:  ängelös  videt  ferre:    4,  5;  6,  6;  7,  l ; 

8,2.3;  12,6;  14,5:  7 

8  (3).     -iLu^uu^^:  Jövem  linquünt  ärdentem:  3,  6;  9,  6  2 

9  (4).     -i-uu_2_uu-z._L:  Spiritus  tönät  ab  öre:  13,6  1 

10  (11).  ^uuo-u^u^:  glöriä  tibi  domine:  17,  5  1 

11  (12).  _ü_u_/_uu^u:l:  in  tremendo  exämine :  17,6  1 

Also  in  den  88  Vierhebern  der  Beichte  steht  52  Mal  zwei- 
silbige Senkung,  in  den  102  oder  eigentlich  170  Vierhebern  des 
Ekkehard  nur  12  Mal.  Diese  durch  eine  eigenartige  Strophen- 
melodie wohl  gezähmten  Vierheber  des  Ekkehard  geben  also  kein 
vollständiges  Bild  der  wirklichen  Vierheber  ^) ;  diese  können  wir 
in  ihrer  natürlichen  mannigfaltigen  Ausgestaltung  nur  in  der 
Beichte  kennen  lernen. 


1)  Die  Sanctgallener  Handschriften  168  (B)  und  174  (C)  enthalten  Ekke- 
hard's  eigenhändige  Aenderungen  des  Textes.  Ich  gebe  daraus  die  rythmisch 
wichtigen :  zu  2,  6  ist  notirt :  nimis  honorantur  (honori  habentur  C)  BC.  Hat 
nun  C  'nimis  hönöri  habe'ntür,  so  ist  das  =  no  9  (13,  6);  hat  C  nur  'honöri 
habentur',  so  findet  Taktwechsel  statt  (no  5)  3,  5  C  imbüünt  fide  gentem : 
no  7  4,  6  C  presbiter  Christo  cärüs :  no  7  5,  4  B  und  C  haben  ohne  Takt- 
wechsel: Lätro  Sigebdrtüm  6,  3  ümquam  missäs  ne  celebret:  no  11  8,  c  statt 
des  unrichtigen  'deum  meum  invocabo  (AB)  hat  0  'elegi  hünc  löcum  döminö', 
ebenfalls  unrichtig  wegen  der  zweisilbigen  Senkung  9,  6  C  advexerät  minister, 
falsch  wegen  der  anfangenden  Senkung  13,  3  B  fecit  tabulam  minorem  orando 
longiorem :  falsch,  wenn  nicht  tabulam  zu  trabem  geändert  wird  (no  8),  oder  wenn 
man  nicht  3  Senkungen  hinnehmen  will  (täbüläm  minorem),  die  Ekkehard  nie  zu- 
gelassen hat  8,  4  C  Egressüs  Arbönäm :  Taktwechsel  (no  5)  13,  5  C  Prae- 
dicät  verbum  möre  (no  7),  B  Prae'dicat  hi'c  de  möre  (no  7)  13,  6  BC  Spiritus 
tönat  öre:  no  7  statt  no  9  14,  6  B  Conträctus  et  exiliit,  falsch  wegen  der  vor- 
gesetzten Senkung;  C  Debilis  et  exiiiit:  no  10  17,  5  BC  In  tremendo  nümine: 
no  1  statt  no  11. 


58  Wilhelm  Meyer, 

Schon  Grrimm  hat  hervorgehoben  und  Andere  nach  ihm,  wie 
viele  Zeilen  des  Ekkehard  reinen  trochäischen  oder  jambisclien 
Tonfall  haben.  Das  ist  nicht  eine  bewußte,  geheimnisvolle  Mache 
des  Ekkehard,  sondern  das  mußte  bei  der  barytonen  Betonung  der 
lateinischen  Wörter  unvermeidlich  eintreten,  sobald  mehrsilbige 
Senkungen  gemieden  wurden.  Wenn  ich  z.  B.  im  Pater  noster 
alle  zweiten  Senkungen  weglasse  (hier  bezeichne  ich  sie  mit  u), 
so  bleiben  reine  rythmische  Jamben  und  Trochaeen  übrig:  Pdter 
noster,  qui  es  in  coelis:  Sanctificetur  nomen  tiium:  Adv^niät 
regnum  tiium :  Fiat  völüntas  tüa  sicut  in  coölo  ^t  in  t^rra :  Panem 
nöstrum  süpersübstäntialem  da  nöbis  hödie:  Et  dimitte  nöbis  de- 
bitä  nöstra  sicut  et  nös  dimittimüs  debitöribüs  nöstris :  Et  ne  nos 
indücas  in  tentationem:  Sed  liberä  nös  a  malo.  Da  Ekkehard 
von  170  Kurzzeilen  nur  in  12  oder,  die  6  Zeilen  mit  Taktwechsel 
zugerechnet,  in  18  Zeilen  2  Senkungen  zugelassen  hat,  so  müssen 
unvermeidlich  152  Kurzzeilen  reinen  jambischen  oder  trochäischen 
Tonfall  haben. 

Die  deutschen  Wörter  sind  nicht  alle  baryton  und  in  der 
deutschen  Rede  kann  sehr  leicht  zwischen  2  Hebungen  die  Senkung 
fehlen.  In  wie  weit  also  ßatpert's  deutsche  Yierheber  der  Melodie 
halber  den  Ausfall  von  Senkungen  gemieden  haben,  können  wir 
aus  Ekkehard's  Zeilen  nicht  rückwärts  schließend  beurteilen;  wohl 
aber  dürfen  wir  daraus,  daß  Ekkehard  selten  zweisilbige  Senkung 
gesetzt  hat,  rückwärts  schließen,  daß  die  Melodie  dagegen  war 
und  daß  schon  Ratpert,  der  Schöpfer  der  Melodie,  auch  in  seinen 
deutschen  Vierhebern  selten  zweisilbige  Senkungen   gesetzt   hatte. 

(Dhuoda^s  Verse)  Ich  hoffe,  daß  der  rythmische  Bau  der 
Beichte  und  des  Lobgesangs  festgestellt  ist:  die  gezählten  He- 
bungen und  die  freigegebenen  Senkungen  spielen  da  die  Hauptrolle. 
So  will  ich  es  wagen,  einen  verzeifelten  Fall  anzufassen.  Dhuoda, 
welche  mit  Bernhard,  dem  Herzog  von  Septimanien,  in  Achen  824 
vermählt  worden  ist,  hat  für  ihren  826  geborenen  Sohn  Wilhelm, 
als  er  am  fränkischen  Hofe  verweilen  mußte,  843  ein  Buch  mit 
Lebensregeln  verfaßt  (von  Bondurand  in  Paris  1887  edirt  mit  dem 
Titel:  Le  manuel  de  Dhuoda).  Darin  citirt  Dhuoda  kurze  Stücke 
aus  Gedichten  Anderer,  dann  gibt  sie  4  eigene  Gedichte.  Ludwig 
Traube  hat  in  seinen  'Karolingischen  Dichtungen'  (=  Schriften 
zur  germanischen  Philologie  I  1888)  S.  136—148  diese  Citate  und 
die  eigenen  Dichtungen  Dhuoda's  besprochen.  Dann  hat  J.  Huemer 
im  Eranos  Vindobonensis  1893  S.  113,  nur  die  Citate  behandelt. 
Traube    hat  3  Gedichte  Dhuoda's  abgedruckt:    I  S.  141  das  Epi- 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       59 

gramma  operis  subsequentis  (Bondurand  S.  47);  II  S.  145  'Ut  va- 
leas'  (Bond.  S.  228) ;  III  S.  148  das  Epitaphium  (Bond.  S.  240) ; 
no  IV  'de  temporibus  tuis  (Bond.  S.  225)  hat  Traube  weggelassen, 
da  er  damit  nichts  anzufangen  wisse.  Damit  das  Material  voll- 
ständig sei,  gebe  ich  dies  Gedicht  als  Beispiel. 

Dhuoda  zu  lesen,  ist  freilich  unerfreulich.  Ihr  Text  erinnert 
an  den  des  Gregor  von  Tours.  Grammatische  und  syntaktische 
Unmöglichkeiten  sitzen  dicht  beisammen,  und  oft  gelingt  es  nicht, 
einen  Sinn  der  Wörter  zu  finden.  Daran  scheint  die  handschrift- 
liche Ueberlieferung  nur  wenig  Schuld  zu  haben.  Diese  ist  frei- 
lich sonderbar :  Bruchstücke  in  Nimes  (N)  einer  schönen  Hand- 
schrift des  9.  Jahrhunderts,  von  denen  Bondurand  2  Seiten  im 
Facsimile  gibt,  und  eine  im  17.  Jahrhundert  gemachte  vollständige 
Copie  (Paris  12293  =  P)  einer  alten  Handschrift.  Allein  die 
Unterschiede  zwischen  N  und  P  sind  nicht  bedeutend. 

(Dhuoda's  Zeilcnbau)  Bei  Dhuoda  findet  sich  ebenso  wie 
bei  dem  Grammatiker  Virgilius  Maro,  auf  dessen  merkwürdige 
Rythmik  ich  zuerst  hingewiesen  habe  (Ges.  Abhandlungen  I  S.  199), 
durchaus  keine  quantitirend  gebaute  Zeile.  Aber  die  von  Dhuoda 
citirten  kurzen  Dichterstellen  scheinen  anders  gebaut  zu  sein  als 
ihre  eigenen  Gedichte.  Ich  untersuche  hier  nur  diese  4  Gedichte. 
Sie  enthalten  eigentlich  über  380  Kurzzeilen;  doch  wenn  die  ganz 
unsichern  oder  unverständlichen  abgerechnet  werden,  haben  wir 
mit  etwa  350  brauchbaren  zu  rechnen. 

Reim  und  Alliteration  finden  sich  gelegentlich,  aber  nicht 
regelmäßig,  und  Alliteration  seltener  als  der  Reim : 
In  te  suus  semper         vigilet  sensus.  (I  15) 
Diligentius  sacram         disce  doctrinam.  (II  2) 
Erigat  ad  summum        genitorem  prolis 
meque  cum  illis         iungat  in  regnum.  (I  38) 

Hiatus  ist  durchaus  zugelassen. 

(Silbenzahl)  Bei  lateinischen  Rythmen  erwartet  man  in 
den  entsprechenden  Zeilen  gleiche  Silbenzahl.  Damit  steht  es 
hier  schlecht.  Zunächst  hat  Dhuoda  offenbar  gemieden  Zeilen 
von  4  und  Zeilen  von  8  und  mehr  Silben,  dann  Zeilen  von  5  Silben 
mit  steigendem  Schlüsse.  Viersilber  finden  sich  in  der  Refränzeile 
des  III.  Gedichtes:  von  den  8  Strophen  beginnen  5  oder  6  diese 
Zeile  mit  dem  Anruf  an  Gott  'rex  immense',  'deus  clemens'  (sigyos 
magne  ?) ;  hier  stehen  die  Viersilber  offenbar  legitim,  dagegen  sonst 
sind  sie  so  selten,  daß  die  wenigen  überlieferten  ziemlich  gewiß 
zu  bessern  sind:   III  4  omnis  aetas,    IV  44  cuncta  tibi.        Zeilen 


60  Wilhelm  Meyer, 

zu  5  u_  stehen  3  im  III.  Gedicht:  1,  2  hoc  in  tiimulo;  2,  2  tellus 
lindique ;  5,  1  diri  viilneris.  Von  den  übrigen  sind  unsicher :  I  26 
mismi  similen ;  I  34  vivant  obsecro  (obs^cro  ?) ;  I  39  moida  hactenus 
(ac  tenus  Traube);  demnach  bHebe  nur  IV  7  illi  alium.  Zeilen 
von  mehr  als  7  Silben  bilden  nur  folgende  Zeilen  zu  acht  Silben: 
II  7  coaequa  te  humiKbus;  II  15  at  tarnen  ad  haec  merita;  III 
7,4  ut  orent  ita  dicentes  (6,4  orantes  ita  dicite?);  IV  9  et  si 
tantum  et  aliud. 

Es  bleiben  etwa  138  Fünf silber  mit  sinkendem  Schluß  (5~u); 
etwa  153  Sechssilber,  davon  119  mit  sinkendem  Schluß  (6  —J),  34 
mit  steigendem  Schluß  (6  u  _) ;  etwa  60  Siebensilber,  davon  40  zu 
7  _w,  20  zu  7u_.  Bei  diesen  Berechnungen  sehe  ich  durchaus 
ab  von  Synizese  oder  Syncope,  mit  deren  Hilfe  Traube  S.  149 
viele  ihn  störenden  Ausnahmen  beseitigt:  Andree,  prosapie,  sin- 
g(u)la.  Von  Gleichheit  der  Silbenzahl  ist  offenbar  in  Dhuoda's 
Rythmen  keine  Rede. 

(T  r  a  u  b  e's  A  d  o  n  i  e  r)  ^)  In  seinen  Karolingischen  Dich- 
tungen S.  137  sagt  Traube:  Bei  Dhuoda  lernen  wir  die  vielleicht 
frühesten  rythmischen  Adonier  kennen,  soweit  sie  vollständig  er- 
halten sind.  Da  Dhuoda  Silbenzusatz  zugelassen  hat,  so  daß  wir 
1)  u  _  u  _  u  oder  —  u  u  _  u  und  2)  _  u  _  u  _  u  oder  u  _  u  u  _  u  zu  unter- 
scheiden haben,  femer  der  Schluß  nicht  selten  unrein  gebildet  ist, 
und  eine  Reihe  Siebensilber  untergelaufen  sind,  die  nur  zum  Teil 
die  schlechte  Ueberlieferung  verschuldet,  hat  sich  die  Erklärung 
dieser  Verse,  die  sich  jeder  Metrik  zu  entziehen  schienen^  bis  jetzt 
verzögert.  Der  Silbenzuschlag  aber,  der  überhaupt  von  jeder 
Volksdichtung  fast  unzertrennlich  und  hier  außerdem  durch  Ein- 
wirkung der  sapphischen  Zeile  besonders  erklärlich  ist,  .  .  .  fand 
sich  zusammen  mit  unreinem  Schlüsse  in  den  Vorbildern  der 
Dhuoda'.        Traube  druckt  dann  die  Gedichte  I,  II  und  III.    Hierzu 


1)  Ph.  Aug.  Becker  hat  in  der  Zeitschrift  für  romanische  Philologie  XXI 
(1897)  S.  73-101  gehandelt  über  'Duoda's  Handbuch'.  Dabei  sagt  er  S.  94: 
'Was  Duoda's  eigene  Verse  betrifft,  so  scheint  sie  zwei  verschiedene  Prinzipien 
befolgt  zu  haben.  In  den  drei  letzten  Gedichten  (bei  mir  no  IV,  II  und  III) 
schwebt  ihr  offenbar  der  eigenartige  Prosarythmus  der  Psalmen  vor,  und  wahr- 
scheinlich sind  die  unter  ihrer  Grabschrift  stehenden  Worte:  Qualiter  ordinem 
psalmi  ex  parte  componens,  in  diesem  Sinn  zu  deuten  und  mithin  nicht  als  neue 
Kapitelüberschrift,  sondern  als  erläuternde  Anmerkung  zur  Grabschrift  aufzufassen 
(Manuel  p,  242).  Die  Verse  des  Epigramms  (no  I)  hingegen  zeigen  ausge- 
sprochen rythmischen  Charakter :  sie  erinnern  entfernt  an  französische  Zehnsilber, 
und  man  könnte  sie,  meine  ich,  als  beleg  für  die  Ansicht  anführen,  daß  dieser 
Vers  aus  dem  rythmischen  Hexameter  hervorgegangen  ist  (vgl.  Thurneysen,  Zft. 
f.  rom.  Phil.  XII)'. 


r^  ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       ßl 

bemerkt  er  S.  149:  'Verschiedene  Gesetze  walten  in  diesen  3 
Rythmen.  I  bestellt  aus  4  Zeilen  Fünfsilber;  Silbenvorschlag 
ist  in  allen  Zeilen  gestattet,  in  der  4.  Zeile  selten  Siebensilber. 
H  besteht  aus  Strophen  zu  7  Zeilen,  von  denen  die  erste  gesetz- 
mäßig sechssilbig,  die  2.  (bis  auf  8)  und  3.  (bis  auf  2  3  18)  und  7. 
gesetzmäßig    fünf  silbig    sind.  III  besteht   aus    Strophen   zu   6 

Zeilen ;  die  5. ,  welche  den  Schluß  einleitet ,  muß  viersilbig  sein, 
in  den  andern  ist  Silbenzusatz  beliebig'.  Dann  zählt  Traube  die 
zahlreichen  Fälle  auf,  in  welchen  er  Synizese  wie  pigeat,  oder 
Syncope,  wie  sing(u)la,  annimmt.  Da  ich  ihm  hierin  nicht  zu- 
stimme, kann  ich  auch  die  obigen  Silbenzahlen  für  bestimmte  Zeilen 
nicht  annehmen. 

Traube  nimmt  also  an  die  Formen:  1.  _wu__u,  u_u  — u, 
_^u_u^u,  u_wu_u;  2)  im  Schluß  _u_  statt  w_u,  3)  Siebensilber. 

1)  Wie  will  Traube  Zeilen,  wie  'rex  immensus  et  fortis',  ^huc 
et  illuc  compensor'  erklären?  Zahlreiche  ähnliche  wie  'singulorum 
prae  factis',  'non  accipias  unquam'  kann  er  nur  durch  Syncope 
oder  Synizese  erklären.  In  Wahrheit  scheinen  hier  2  Silben  vor- 
gesetzt zu  sein. 

2)  Traube  spricht  von  'unreinem  Schluß' :  allein  darunter  ist 
zunächst  zu  verstehen,  daß  statt  _ w  gesetzt  wird  u_.  Wenn 
statt  'iustus  et  pius'  gesetzt  würde  'iustus  impius',  das  wäre  un- 
reiner Schluß:  aber  gerade  diese  Zeile  meidet  Dhuoda.  Dhuoda 
erlaubt  sich  vielmehr  nach  dem  gewöhnlichen  Schlüsse  _  u  noch 
eine  Silbe  zuzusetzen:  also  statt  'iustus  et  pius'  zu  setzen  'iustus 
et  impius'.  Das  ist  ein  Vorgehen,  das  in  der  Geschichte  der  la- 
teinischen Hythmik  noch  nicht  belegt  ist. 

3)  Die  zahlreichen  Verse  'placita  perquiram,  fragilis  et  exul' 
quiesci  sine  fine'  muß  Traube  mit  Nebenaccent  auf  der  viertletzten 
Silbe  lesen.  Dann  aber  ergeben  sich  Zeilen  mit  3  Hebungen,  welche 
aus  dem  Gerüste  des  Adoniers  herausgehen. 

Also  die  Freiheiten,  von  denen  die  bisherige  Erforschung  der 
mittellateischen  Rythmen  uns  Nachricht  gegeben  hat,    reichen  bei 
weitem  nicht  aus,  die  Verse  der  Dhuoda  uns  begreiflich  zu  machen. 
Nach  meiner  Ansicht   lassen   die  Verse  der  Dhuoda  sich 
begreifen,    wenn   man   annimmt,    daß   sie   die  Freiheiten   der  ger- 
manischen Rythmik  ihrer  Zeit  (842)  gekannt  und  in  ihren  Versen 
angewendet  hat.       Zunächst  ist  es  natürlich  gewesen,  daß  Traube, 
als  er  die  abgesetzten  Langzeilen  von  no  I  (bei  Bondurand  S.  47) 
las,  auf  den  Gedanken  kam,  daß  hier  Adonier  vorlägen: 
Centrum  qui  pöli         cöntines  giro, 
pöntum  et  ärva        concliidis  pälmo. 


ß2  Wilh  elm  Meyer, 

Von  den  etwa  350  Zeilen  haben  111  den  Tonfall  _uu_u  disce 
doctrinam ;  105  Zeilen  enthalten  diesen  Tonfall  mit  ein-  oder  zwei- 
silbigem Vorsatz  oder  mit  einsilbigem  Zusatz :  dignetuv  per  ciincta, 
diligenims  sacram;  mdgnis  et  minimis]  «/mificum  g^mtum.  Die 
andere  rytbmisclie  Form  des  Adoniers  u_^^_u  j&ndet  sieb  rein  in 
27  Zeilen  'ex  toto  cörde,  coelörum  sidns';  mit  Vor-  oder  Znsatz- 
silben in  35  Zeilen:  ««deriimqne  diictor;  eiüsdem  si\laJ)am.  Also 
138  Zeilen  enthalten  die  reinen  Formen  des  rytbmischen  Adoniers, 
140  dieselben  mit  Vor-  oder  Zusatzsilben. 

Die  Dhuoda  hat  also  als  Gerüst  ihrer  Verse  die  5  Silben  des 
Adoniers,  deren  vorletzte  betont  ist  oder  die  2  Hebungen  des 
Adoniers  gewählt.  Diese  2  Hebungen  sind  bei  ihr  solide  Pfeiler; 
sie  sollen  nicht  durch  Nebenaccent  gebildet  werden,  wie  das 
in  imperatörem,  resolutionis  geschehen  würde ;  ja  Dhuoda  meidet 
sogar,  die  eine  Hebung  durch  ein  nur  Einsilbiges  Wort  gegenüber 
einem  vier-  oder  mehrsilbigen  Wort  in  der  andern  Hebung  zu 
bilden,  wie  dies  in  'ad  genitörem,  tünc  voluisti'  geschehen  würde  ^). 


1)  (Bau  der  Adonier)  Im  Anfang  des  Ladus  Danielis  von  Beauvais 
(c.  1140,  bei  Coussemaker,  Drames  liturgiques)  finden  sich  45  quantitirend  gebaute 
Adonier:  von  diesen  sind  7  durch  ein  einziges  Wort,  wie  enucleäntes,  gebildet, 
10  durch  ein  einsilbiges  und  ein  viersilbiges  Wort,  wie  tünc  voluisti.  Das  1. 
Gedicht  der  Cambridger  Lieder,  66  rythmische  Adonier,  enthält  die  eine 
Zeile  'Maguntiacensis'  und  4  wie  höc  manducävi.  Godschalk's  Gedicht 
(Poetae  Karol  III  724)  'Christe  mearum',  72  Adonier,  enthält  9  Zeilen,  wie  rex 
benedicte'.  Alcuin  (P.  Kar.  I  266)  hat  in  60  Adoniern  (10  Str.  zu  6!)  2  Mal 
'nunc  bipedali',  2  Mal  'Omnipotenti'.  Aber  bei  Columban  (Mon.  Epist.  III  186) 
stehen  in  159  Zeilen  25  Ausnahmen.  In  den  350  Zeilen  der  Dhuoda  kommen 
viersilbige  und  fünfsilbige  Wörter  ziemlich  oft  vor;  allein  sie  sind  stets  mit  einem 
mindestens  zweisilbigen  Worte  gebunden,  so  daß  jede  Hebung  durch  wirklieben 
Wortaccent,  nicht  etwa  durch  ein  unbedeutendes  Wort,  wie  'et',  oder  durch  Hilfs- 
accent  wie  'ömnipotenti'  gebildet  wird.  Ausnahmen  finden  sich  nur  in  no  IV:  V.  18 
resolutionis;  V.  20  und  21  et  aegritudo  angustiarum;  endlich  V.  34  ad  genitörem 
(unsicher).  Der  Grund  kann  aber  aus  einer  Regel  der  lateinischen  Metrik 
stammen  (s.  F.  Plessis,  Trait^  §  244).  Den  lateinischen  Metrikern  war  der 
Adonier  gleich  dem  Schluß  des  Hexameters.  Dieser  sollte  weder  durch 
ein  viersilbiges  noch  durch  ein  fünf-  oder  mehrsilbiges  Wort  gebildet  werden.  Diese 
Regel  wurde  im  Adonier  nicht  so  streng  beachtet  wie  im  Hexameter,  aber  be- 
achtet wurde  sie.  Horaz  hat  in  205  sapphischen  Strophen  nur:  (4,  11,  4  est 
hederae  vis),  II  6,  8  militiaeque;  Saec.  16  seu  Genitalis;  dann  Eigennamen: 
I  12,  40  Fabriciumque ;  I  30,  8  Mercuriusque ;  4,  11,  28  Bellerophontem:  also 
unter  205  Fällen  5  Ausnahmen,  von  denen  3 — 4  Eigennamen  sind.  Beachtet 
ist  diese  lateinische  Regel  noch  bei  Terentianus  (V.  2161,  16  reine)  und  bei 
Boetius,  der  in  81  Zeilen  der  Consolatio  Philosophiae  (ed.  Peiper  Seite  220) 
nur   *mox   resoluto'    zugelassen   hat;    bei  Prüde ntius,    der    von   20  Strophen 


ein  Merowinger  Rythmiis  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.        63 

Dhuoda  hat  nun  dem  Adoniergerüste  sehr  oft  eine  schwach 
betonte  Silbe  vorgesetzt,  wie  in  digneiuT  per  cuncta,  ^enitorem 
tüum' :  das  konnte  sie  der  Freiheit  der  alten  lateinischen  Rythmen 
entlehnen,  von  der  ich  oben  gehandelt  habe  (S.  37).  Aber  sie  hat 
auch  oft  hinten  eine  schwach  betonte  Silbe  zugesetzt,  wie  'magnis 
et  mmimis,  eiüsdem  sillsihain' :  dafür  weiß  ich  in  der  lateinischen 
Rythmik  keine  Parallele.  Ja,  Dhuoda  hat  sogar  in  der  Mitte  eine 
solche  schwach  betonte  Silbe  zugesetzt:  prötegat  defendat,  limo 
revoMta. 

Ehe  ich  weiter  gehe,  sind  einige  Punkte  zu  erörtern,  welche 
von  der  gewöhnlichen  lateinischen  Rythmik  abweichen.  Zunächst 
handelt  es  sich  um  Häufung  der  Senkungen.  In  der  la- 
teinischen Rythmik  sind  wir  gewohnt  von  3  Senkungen  die  mittlere 
mit  einem  Nehenaccent  zu  belegen:  homines  prudentes,  viri  sapi^ntes; 
von  4  Senkungen  die  2.  oder  die  3.:  'homines  säpientes,  viri  prii- 
dentiores'.  Doch  im  Sprechen  können  wenigstens  die  Grermanen 
leicht  3,  ja  4  Senkungen  überspringen :  mächtige  Grewalten,  mäch- 
tigere Gewalten:  ebenso  im  Lateinischen,  wenn  die  Hebungen 
kräftig  betont  werden:  corporis  et  mentis,  pläcita  perquiram;  ja 
auch:  dilige  optimates,  viduis  et  pupillis,  pigeat  tenebrarum.  Kräf- 
tige Betonung  der  Hebungen  müssen  wir  vor  Allem  für  den  Vor- 
trag der  alten  germanischen  Verse  annehmen,  und  bei  ihnen  ist 
die  Häufung  von  Senkungen  gewöhnlich.  Also  gegen  eine  Zahl 
von  Senkungen,  welche  über  2  hinausgeht,  braucht  man  sich  nicht 
zu  sträuben,  wenn  es  sich  um  lateinische  Nachahmung  germanischer 
Rythmik  um  840  handelt.  Bei  Dhuoda  gibt  es  dann  keine 
Nebenaccente^). 

Zweitens  handelt  es  sich  darum,  ob  selbständige  Wörter 
als  halbbetont,  als  Senkungen  behandelt  werden  können.  Ein- 
silbige Wörter  sind  fast  in  jeder  Rythmik  vogelfrei;  in  der  so 
ängstlichen    lateinischen   Rythmik    des    12.    Jahrhunderts    können 

nur  1  schließt  mit  'Christicolarum' ;  bei  Paul  in  Nol.,  der  von  85  Strophen  nur 

3  schließt  mit  'aedificare'.  Dagegen  wenig  kümmern  sich  um  die  Regel  Auson 
(in  16  Schlüssen  4  Mal  5  —  w);  das  Gedicht  'Rauca  sonorem'  (Bährens  P.  Min. 
IV,  438;  in  27  Adoniern  1  Mal  4  —u,    1  Mal  5  —w);    Sidon  (in  21  Str.  1  Mal 

4  —  u,  5  Mal  5  —  u);  Ennodius  (in  23  Zeilen  2  Mal  5  —  ^)'  Marcianus  (in  27 
Adoniern  3  Mal  4  —  ^  und  3  Mal  5  —  u). 

Sicher  ist  es,  daß  Dhuoda  es  gemieden  hat,  ihre  Zeile  durch  ein  einziges 
vielsilbiges  Wort  zu  bilden  oder  durch  ein  einsilbiges  und  ein  vielsilbiges ;  un- 
sicher ist  es ,  ob  sie  das  gethan  hat  der  quantitirenden  Metrik  halber  oder  aus 
besonderen,  vielleicht  germanischen,  rythmischen  Rücksichten, 

1)  Der  oben  (S.  51)  besprochene  2.  Vers  der  Beichte  'impie  viv^ndo  peccävi' 
wäre  ein  vereinzelter  Rest  der  früheren  größeren  Freiheit. 


64  Wilhelm  Meyer, 

selbst  Nomina  und  Verba,  wie  lux  und  flet,  als  Senkungen  be- 
bandelt werden.  Aber  die  zweisilbigen  Wörter  stehen  sebr 
in  Frage.  In  der  mittellateiniscben  Rythmik  können  selbst  Hilfs- 
wörter, wie  huius  super  ubi,  nicht  als  unbetont  bebandelt  werden. 
Auch  die  neudeutsche  Rythmik  erlaubt  nicht  leicht,  über  zweisilbige 
Wörter  wie  'dieser,  über'  wie  über  2  Kürzen  hinweg  zu  springen. 
Diese  Schranke  ist  gegen  die  Natur  des  Sprechens.    Wenn  die  Zeile : 

Te  super  omnes         diligat  factorem 

Dich  über  alle  soll  er  lieben,  o  Schöpfer 
sinngemäß  betont  wird,  so  springt  die  Zunge  über  'super'  oder 
'über'  hinweg.  Die  Daktylen  des  Mittelalters  sind  noch  recht 
dunkel;  doch  z.  B.  die  Uzreise  des  Ulrich  von  Lichtenstein  (K. 
Bartsch,  deutsche  Liederdichter  S.  184)  enthält  in  ihrer  Daktylen- 
kette ohne  Ende  sogar  solche  Zeilen:  Gein  ir  längen  kriege  sötz 
ich  min  gedulde:  also  dieser  formkundige  Dichter  hat  sogar  ein 
zweisilbiges  Wort  wie  'langen'  als  2  Senkungen  behandelt. 
Bei  Dhuoda  finden  sich  Verse  wie: 

in  te  suus  semper        vigilet  sensus. 

qui  das  sine  fastu         dona  illi  sensum. 

tu  tamen  manes  solus  immutabilis. 
Hier  verlangt  der  Sinn,  daß  te,  tu  und  das  betont,  also  suus  sine 
tamen  als  2  Senkungen  von  der  Zunge  übersprungen  werden.  Des- 
halb halte  ich  es  für  möglich,  daß  Dhuoda,  wo  solche  zweisilbigen 
Hilf s Wörter  der  Sprache  (Pronomina,  Präpositionen,  Conjunktionen) 
neben  kräftige  Hebungen  zu  stehen  kamen,  sie  als  2  Senkungen 
behandelt  hat.  Es  bleibt  die  Frage,  ob  in  den  wenigen  Aus- 
nahmeversen, wie  deus  summe  lucis,  digna  dignis  semper,  Dhuoda 
wie  Ulrich  von  Lichtenstein  sich  erlaubt  hat,  auch  ein  zweisilbiges 
Nomen  als  2  Senkungen  zu  verwenden  (vgl.  Gres.  Abb.  Jl  55). 

Mit  diesen  Voraussetzungen  kann  ich  seltsame,  aber  zahlreiche 
Zeilenformen  der  Dhuoda  als  zweihebige  verstehen. 

Zwei  Senkungen  im  Zeilenanfang :  admonere  non  c^sso,  me  ad 
t^mpus  praedictum,  a  te  äpta  pötat;  I  21,  3  ita  tönens  ista;  III 
4,  6  eins  dilue  vincla ;  IV  23  istum  tibi  et  frdtri,  42  huius  v^rsu 
lib^lli.  Die  Frage  entsteht,  ob  im  Zeilenanfang  auch  3  Senkungen 
gesetzt  sind:  I  2,  4  a  te  perquiro  sensum;  II  3,  4  tuam  nutriri 
sensum;  II  8,  3  et  peregrinis  victnm;  16,  1  utinam  illi  vfvas. 

Drei    Senkungen    zwischen    den    beiden   Hebungen.      Hierbei 
kommt  es  an  auf  die  Vertheilung  der  Senkungen:  a)  prötegat  de- 
f^ndat,    ^rigat   ad   siimmum;    m^ritis  ad  singula,    finiunt  versiculi, 
lagere  ne  pigeat.         b)  tibi  famuldntes,    praesens  et  futurum, 
c)  quiösci  sine  ffne,  lärga  tua  gratia,  dona  illi  sensum,  lärgus  atque 


ein  Merowinger  Bythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       65 

prüdens,  illic  namque  credo;  dann  die  bedenkliclien  Achtsilber:  II 
7,  4  coaequa  te  humilibus;  II  15,  6  at  tarnen  ad  haec  merita. 

Vier  Senkungen?  II  7,  1  dilige  optimätes;  9,  1  viduis 
et  pupillis ;  9,  6  nüdis  namque  vestitum ;  (13,  4  pigeat  tenebrarum) ; 
15,  1  miiltum  a  me  videris :  diese  Zeilen  sprechen  dafür ,  daß 
Dhuoda  sich  sogar  erlaubt  hat,  4  Senkungen  zwischen  die  beiden 
Hebungen  zu  setzen. 

Dieser  Auffassung,  die  Verse  Dhuoda's  seien  zweihebige 
Adonier,  variirt  durch  mehr  Senkungen,  als  das  rythmische  Vor- 
bild sie  bietet,  widersprechen  etliche  dreihebigen  Zeilen:  I  1,  1 
deus  summe  lucis;  3,  4  tempus  curram  aptum;  5,  1  digna  dignis 
semper;  16,  1  lesus  nunquam  ille;  II  2,  1  est  vivus  sermo  dei;  5,  1 
in  primis  dominum  deum ;  10,  1  iustus  in  causas  iudex ;  (11,  1  ist 
sömper,  14, 1  ist  tüa,  17,  1  ist  möa  in  die  nächste  Zeile  zu  nehmen). 
Das  sind  etwa  7  sichere  Ausnahmen.  Entweder  hat  Dhuoda  hier 
zweisilbige  Nomina  als  Senkungen  gebraucht,  oder  sie  hat  hier 
ihre  sonstige  Regel  verletzt.  So  haben  wir  gesehen,  daß  sie  einige 
Male  sich  Zeilen  von  4  Silben  erlaubt,  einige  Mal  solche  zu  5  u—, 
einige  Male  Zeilen  baut,  wie  ad  genitorem,  resolutionis,  und  end- 
lich einige  Achtsilber:  alles  Dinge,  welche  sie  meidet.  Hätte 
Dhuoda  dreihebige  Zeilen,  wie  est  vivus  sermo  dei,  für  regelrecht 
gehalten,  so  hätten  ihr  dieselben  sich  in  solcher  Menge  geboten, 
daß  schon  ihre  wirkliche  Seltenheit  die  Unregelmäßigkeit  beweist. 

Darnach  hat  Dhuoda  das  Grerüste  des  rythmischen  Adoniers 
durch  die  freien  Senkungen  der  germanischen  Rythmik  erweitert. 
Man  könnte  fragen,  ob  nicht  der  germanische  Zeilenbau  durchaus 
herrsche,  also  2  Hebungen  mit  vielen  Senkungen.  Aber  dann  wäre 
kein  Grrund  vorhanden,  weshalb  die  Zeile  zu  4  Silben  oder  die  zu 
5  Silben  mit  steigendem  Schlüsse,  clemens  deus  oder  diri  vulneris, 
so  sehr  gemieden  wurden.  Die  gewöhnlichen  Vierheber 
könnte  man  dadurch  herstellen,  daß  deren  Schlußbetonung  -i-  jl  = 
^ujL  (S.  45  u.  46)  meistens  auf  die  Mitte  übertragen  würde :  centrüm 
qui  pöli,  contines  giro,  pöntüm  et  arvä,  conclüdis  palmo.  Aber 
sehr  oft  müßte  das  unterbleiben :  conditöri  largas,  ad  te  largitörem, 
digna  dignis  semper,  solüs  immutabilis,  largä  tüa  gratiä. 

Anderseits  hat  Dhuoda  der  Wucherung  der  Senkungen 
Schranken  gesetzt.  Nach  den  obigen  Erörterungen  wären  zwei- 
hebige Zeilen  mit  bis  10  Silben  möglich,  z.  B.  genitöribus  famu- 
lantium,  genitöribus  famulantum,  genitöri  famulantum  etc.  Allein 
Dhuoda  gebraucht  nur  Zeilen  zu  5_vj,  zu  6  und  zu  7  Silben; 
dazu  nur  als  Ausnahmen  ganz  wenige  zu  4  _  u ,  5  u  —  oder  zu  8 
Silben.     Wenn  Dhuoda  vom  Adonier  ausging  und  nur  diesen  ver- 

K?l.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Philolog.-histor.  Klasse  1908.     Heft  1.  5 


66  Wilhelm  Meyer, 

zieren  wollte,  so  ist  eine  solche  Beschränknng  in  der  SilbenzaKl 
verständlich.  Hätte  sie  einfach  germanische  Hebungsverse  nach- 
ahmen wollen,  so  wäre,  da  ihre  Zeilen  nicht  zum  Gresang  be- 
stimmt waren,  eine  solche  Beschränkung  der  Silbenzahl  nicht  ver- 
ständlich^). 

Aber  Dhuoda  und  germanische  Rythmik  scheinen  unvereinbar. 
Ihr  Greschlecht  kennen  wir  nicht.  Sie  hat  824  in  Aachen  gehei- 
rathet,  ist  Herzogin  von  Septimanien  gewesen  und  hat  in  Uzes  nahe 
der  untern  Rhone  diese  Gedichte  gemacht.  Mit  deutschen  Verse- 
machern kann  sie  kaum  etwas  zu  thun  gehabt  haben ;  allein  wahr- 
scheinlich war  sie  aus  einem  fränkischen  Geschlecht  und  kann  im 
Elternhaus  oder  in  ihrem  eigenen  Hause  an  Liedern  diese  herz- 
erfreuende, lebensfrische  und  abwechselungsreiche  fränkisch-ger- 
manische Volksrythmik  kennen  gelernt  und  in  diesen  4  Gedichten 
sie  benützt  haben  zur  Belebung  der  einförmigen  lateinischen  ryth- 
mischen  Form,  welche  nur  von  disce  doctrinam  schwanken  konnte 
zu  doctrinam  disce.  Fragt  Jemand,  weshalb  denn  Dhuoda  nicht 
die  einheimische  volksthümliche  gallische  Rythmik  nachgeahmt 
habe ,  so  soll  er  zuerst  nachweisen ,  daß  damals  schon  in  alt- 
französischer oder  altprovenzalischer  Sprache  Gedichte  angefertigt 
wurden  (s.  S.  40). 

Ich  gebe  nun  eine  Uebcrsicht  der  Zeilenarten  Bhuoda's. 
Dabei  setze  ich  voran  die  Ausnahmen;  dann  führe  ich  auf  die 
Zeilen  mit  2  Senkungen  zwischen  den  beiden  Hebungen,  dann 
die  Zeilen  mit  1  Senkung  zwischen  beiden  Hebungen,  dann  die 
Zeilen  mit  3  Senkungen  und  endlich  die  Zeilen  mit  4  Senkungen 
zwischen  den  beiden  Hebungen.  Jede  der  4  Klassen  gliedere  ich 
in  Arten,  je  nachdem  die  Form  rein  vorliegt,  oder  eine  oder  2 
Silben  der  1.  Hebung  vorgesetzt  sind,  oder  eine  Silbe  hinten  zu- 
gesetzt ist. 

Ausnahmen 

4_u:  >_u_u:  r^x  immense;  cl^mens  d^us;  vgl.  S.  59. 
5u-.:  _w_uu:  diri  viilneris;  vgl.  S.  60. 
_,  uu_u:  dd  genitorem;  vgl.  S.  62,  Note. 

1  Wort  füllt  die  Zeile:  resolutiönis ;   vgl.  S.  62,  Note. 

Dreihebige  Verse:  t^mjpus  cürram  äptum;  est  vivus  s^rmo 
d^i;    iüstus  in  caüsas  iudex;    inprimis  dominum  döum:    vgl.  S.  65. 


1)  Die  ziemlich  einfache  Rythinik  dieser  freien  Adonier  hat  der  Dhuoda 
sich  vielleicht  auch  an  pathetischen  Stellen  ihrer  Prosa  aufgedrängt;  vgl  S.  232; 
Et  ut  ego  ad  hoc  pervaleam  tempus,  ut  c^rnere  väleam,  inc(?rta  consfsto,  inc^rta 
ex  m^ritis,  inc^rta  vigöre,  fragiUque  laböre  per  ündas  conquässor. 


ein  Merowinger  Kythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       67 

Zwei  Senkungen  zwischen  den  zwei  Hebungen 

5  -^u:  _uu^u:  cönditor  poli  111 
6_u:  vj,  _uu_u:  obtemperet  s^nsu;  dign^tur  per  ciincta; 

qui  das  sine  fastu  41 

6u_:  _uu  — u,  __:  grätias  r^fero;  pax  et  seciiritas  30 

7vj_:  u,_uu_u,_:  ut  valeas  vigeas;   relaxant  discrimina  12 

7-^u:  vju,_uu_u:  diligentius  sacram;  eins  dilue  vincla  24 

8  u__:  uu,  _uu— u,  _:  IV  9  et  si  täntum  et  aliud  1 

1  Senkung  zwischen  den  beiden  Hebungen 
5  _u;  vj_u_u:  conclüdis  palmo  27 

6_c:  u,  u^u_u:  iuvenilis  püer  22 

6u_:  u— u->u,  _:  IV  44  eiüsdem  sillabam;  124,1;  112,6; 

III  2,  1  4 

7  u_:  u,  u  —  u—u,  _:  I  34,  4  teque  semper  diligat;  II  16,  6 
post  (=  postea)  expletis  cursibus;  II 
13,  1  en  ut  cüras  häbeas  3 

7  — u:  uu,  u_u  — u:  I  2,  4  a  te  perquiro  sensum:  II 3,  4  tuam 
nutriri  sensum ;  II  9,  3  et  peregrinis 
victum  (s.  S.  68) ;  11  16,  1  utinam  illi 
vivas  4 

3  Senkungen  zwischen  den  beiden  Hebungen 

6-^u:  -»uu,vj^u:  protegat  defendat  33 

— u,  uu_u:  limo  revoluta  9 

_u,  vjw,  _u:  tüis  sine  fine  8 

7  ^kj:  u,  -:_uuu  — u:  transcriberem  libeUum;  iam  süpra  exa- 

rätas;  quiesci  sine  fine  7 

7  u^:  — uuu— u,  -^:  I  5,  2  m^ritis  ad  singula  =  II  1,  5;  II 

18, 1;  I  30,  4  solus  immutäbilis ;  I  20,  2 
larga  tua  gratia  5 

8  u-^:  u,  _-.uuu_-w,  _:  n  7,  4  coaequa  te  humilibus;  II 15,  6 

at   tarnen   ad   haec   m^rita;     (III  6,  4 
orantes  ita  dicite?)  3 

4  Senkungen  zwischen  den  beiden  Hebungen 

7_u:  ^uuuu«_u:  117,  1  dilige  optimates;  (II  13,4  pigeat 
tenebrärum  ?) ;  II  9, 1  viduis  et  pupiUis ; 
II  9,  6  nüdis  namque  vestitum  (s.  S. 
68);  II  15,  1  mültum  a  me  vidöris  5 

8--u:  u,  _uuwu-_u:  in  7,  4  ut  örent  ita  dic^ntes  1 

5* 


68  Wilhelm  Meyer, 

(Dhuoda's  Strophen)  In  Dhuoda's  Zeiten  und  nachher 
wurden  solche  Kurzzeilen  fast  immer  zu  Langzeilen  verbunden, 
wenigstens  beim  Schreiben.  Diese  Langzeilen  wurden  dann  zu 
Gruppen  oder  Strophen  gefügt.  So  besteht  das  I.  Gedicht  (in  P ; 
Bondurand  S.  47,  Traube  S.  141)  aus  je  2  Langzeilen,  ähnlich  wie 
Otfrid's  Gedicht: 

Jübilet  iocündus         ciirsu  felici, 
pergat  cum  virtüte        fülgens  ad  siipera. 
(supra  P:   ich  schrieb  'supera';    vgl.  p.  133  und  235  ad  superos  as- 
cendere  oder  erigere). 

Das  IL  Gedicht  (in  N  und  P;  Bondurand  S.  228,  Traube  S. 
145)  besteht  aus  Strophen  zu  7  Kurzzeilen.  Diese  waren  ursprüng- 
lich wie  sapphische  Strophen  in  3  Langzeilen  und  1  Kurzzeüe  ab- 
gesetzt geschrieben;  in  der  4.  Zeile  blieb  also  meistens  ^/2  Zeile 
leer.  Um  diese  halbe  Zeile  auszunützen,  schrieb  ein  Schreiber  oft 
die  letzte  Kurzzeile  der  nächsten  Strophe  in  diesen  leeren  Raum 
oben,  so  daß  also  die  7.  Zeile  der  Strophe  vor  der  ersten  stand. 
Daher  die  vielen  seltsamen  Textumstellungen,  welche  Bondurand 
aus  P  angibt.  Ich  gebe  als  Beispiel  II  9  nach  der  Handschrift 
(Traube  hat  hier  stark  geändert): 

Viduis  et  pupillis         sübleva  fr^quens, 
et  peregrinis  victum        potümque  largire, 
para  hospitia.         niidis  nämque  vestitum 
pörrige  manu. 
(Vgl.  Dhuoda  p.  153 :    et  peregrinis  hospitium   ut  tribuas  libenter  admoneo, 
atque  etiam  viduis  .  .  et  pupillis  .  .  manum  ad  opus  sublevare  frequens.       p.  164: 
admoneo  te,   ut  victum  potümque,   etiam   et  nudis  vestimentum  indigentibus  mini- 
streris  ipse  =  manu). 

no  in,  Dhuoda's  ^)  Grabschrift  (in  N  —  bei  Bondurand  photo- 
graphirt  —  und  in  P ;  Bondurand  S.  240 ,  Traube  S.  148) ,  be- 
steht aus  8  Strophen.  Zunächst  je  2  Langzeilen,  welche  mit  starker 
Sinnespause  schließen.  Dann  folgt  als  ßefrän  eiu  Anruf  an  Gott : 
eine  Langzeile,  deren  erste  Kurzzeile,  wenn  der  Angerufene  durch 
Adjektiva  bezeichnet  wird,  als  ob  6  zu  ergänzen  sei,  nur  4  Süben 
zählt,  wie  'rex  immense'  'deus  clemens'  (auch  in  'agyos  magne' 
ist   das  griechische  Wort  wohl  zweisilbig  zu  sprechen). 

no  IV  (in  P  und  die  zweite  Hälfte  in  N;  Bondurand  S.  225) 
entbehrt  leider,  wie  es  scheint,  des  sonst  sicher  führenden  Akro- 
stichons. Ich  habe  auch  keine  bestimmte  Gruppierung  der  Kurz- 
zeilen durch  Sinnespausen  finden  können. 

1)  Sollte  nicht,  wie  Dudo  Dudonis  deklinirt  wurde,  etwas  neuartig  deklinirt 
worden  sein:  Dhuoda,  Dhuodanae,  Dhuodanam,  Dhuodana?  Vgl.  Bondurand  p.  251. 


ein  Merowinger  Kythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       69 

Während  sonst  solche  Gruppen  von  Kurzzeilen  ziemlich  sorg- 
fältig durch  Sinnespausen  in  Absätze  gegliedert  wurden,  kann 
ich  weder  innerhalb  der  4  Kurzzeilen  von  no  I  u.  III,  noch  inner- 
halb der  7  Kurzzeilen  von  no  II  regelmäßig  wiederkehrende  Sinnes- 
pausen erkennen.  Ist  das  Regellosigkeit  der  Dhuoda  oder  der 
Rythmik,  welche  sie  nachgeahmt  hat? 

Als  Beispiel  und  zur  Vervollständigung  setze  ich  das  Ge- 
dicht (no  IV)  'De  temporibus  tuis'  hierher,  welches  Traube  weg- 
gelassen hat.  Es  steht  in  P  ganz;  das  Fragment  in  Nimes  (N) 
beginnt  mit  V.  28.  Leider  sind  auch  in  diesem  Stück  mehrere 
Verse  mir  unverständlich  geblieben. 

IV.  De  temporibus  tuis  (Bondurand  p.  225) 

Quadrans  in  quatuor  19  non  tärdat  me  meum 
iam  habes  annos  et  angüstiarum 

3  lisque  perdiictos.  aegritüdo  corpus 

si  pröles  secundas  22  undique  conterit: 
tot  tempus  haberet,  istum  tibi  et  fratri, 

6  in  siii  personam  ut  prosit,  coUegi. 

illi  alium  Festinans,  sciens 

transcriberem  libellum.  me  ad  tempus  praedictum 

Et  si  täntum  et  aliud  27  pervenire  non  posse. 
tantum  et  medium  velut  melliiluum 

11  dimidii  tantum  pötum  favumqae 

in  ännis  volventem  30  per  mixtum  in  cibum 
speciem  cerner em  oris  ut  degustes, 

14  tüam,  fortiöra  semper  adörtor. 

tibi  in  verbis  Tempus  namque  ex  quo 

prolixis  copularem.  ad  genitorem 

Sed  quia  tömpus  35  tüum  perveni 
resolutionis  vel  tüus  ex  nöbis 

1  pour  quadrantes  Bond. ;  vgl.  p.  230  (II  14)  quadrans  quaternis  computaris 
in  annis,  dann  (II  18)  annis  praeteritis  octo  binis  (bis  Traube)  7  älium  illi? 
9  d.  Ä.  16  +  16  -f  4  =  36  12  volventem  Meyer,  volvens  ut  P  16  copularem 
Bond.,  copulare  P  20  ang.  aegr.  Meyer,  aegr.  ang.  P  24  quod  coUegi  P, 
quod  del.  Meyer  26  vgl.  p.  231  cum  .  .  ad  perfectum  perveneris  tempus  mit 
V.  28  beginnt  das  Fragment  in  Nimes  (N);  während  in  P  Alles  als  Prosa  ge- 
schrieben ist,  sind  in  N  abgesetzte  Zeilen;  hier  bei:  Velut  und  In  cibum  29  fa- 
visque  N  31  ore?  31  utile  gustes  P  33  N  hat  abgesetzt  bei:  Tempus, 
Vel  und  Kalendis  33  s.  Bondurand  p.  52:  (24  Juni  824)  in  Aquisgrani  palatio 
ad  .  .  tuum  genitorem  .  .  accessi  uxor ;  et .  .  (29.  Nov.  826)  .  .  tua  ex  me  .  .  in  sae- 
culo  processit  nativitas;    p.  86  ex  illo  (patre)  tuus  in  saeculo  processit  Status 


70  Wilhelm  Meyer, 

in  sa^culo  proc^ssit  ad  p^nsum  salutis 

38  Status  kal^ndis  47  scripta  cognosce. 

mensärum  ciincta  *    * 

feriintur  in  nöbis.  48       Et  quid  ibidem 
Ex  primo  namque  gerätur,  l^ge 

42  huius  versu  lib^lli  50  capita  versuum, 

lisque  ad  ültimam  ut  ad  ^a,  quae  sübtus 

44  eiüsdem  sillabam  secuntur,  facilius 

cuncta*  tibi  53  valeas  ingredi. 

Z.  39/40  verstehe  ich  nicht.  Zu  mensärum  bemerkt  Bondurand:  Mabillon 
lit  decembrium.  II  faut  entendre:  tertio  kalendas  mensis  decembris.  40  zu  in 
nöbis  notirt  Bondurand  'pour  in  isto  libellö.  N  hat  abgesetzt  bei:  Ex,  üsque, 
Cuncta  44  syllabam  P  45  cuncta  tibi  <ä  me>?  N  hat  abgesetzt  bei:  Et 
und  Ut       49  gerantur  N       50  versorum  P        52  sequuntur  P 

Item  eiusdem. 
Hos  versiculos  siipra,  cum*  cunctis. 

infra  et  sübtus,  6  et  ut  legas  öre, 

3  ad  m^ntem  corpüsque  t^neas  corde, 

tuum  ipsa  dictavi  8  admonere  non  c^sso. 

4  tuum:  tibi?  5  cum  ceteris  cunctis?  vgl.  p.  231  finita  sunt  huius  verba 
libelli,  quae  ut  valui,  animo  libenti  dictavi. 

(Lateinische  Gedichte  des  IS.  Jahrhunderts  mit  altdeut- 
schem Zeilenbau).  Die  Beichte  steht  in  einer  Handschrift  des 
10.  Jahrhunderts,  welche  wahrscheinlich  aus  St.  Grallen  stammt; 
Ratpert's  Lied  und  Ekkehard's  IV  Übersetzung  sind  sicher  in  St. 
Grallen  entstanden.  Mit  St.  Gallen,  der  Geburtsstätte  der  mittel- 
alterlichen Gesangslyrik,  ist  also  in  auffallender  Verbindung 
auch  die  merkwürdige  Neuerung,  daß  lateinische  Verse  nach  der 
deutschen  Rythmik  gebaut  wurden. 

Die  Zeile,  in  welcher  die  Beichte  und  Ekkehard's  lateinischer 
Text  gedichtet  sind,  entzieht  sich  durchaus  den  Regeln  und  der 
Terminologie  der  mittellateinischen  Rythmik:  die  Schlußkadenz 
und  die  Silbenzahl  der  Zeile  ist  freigegeben;  exeant  peccata  und 
kalumnia  super  calumnia  gelten  als  gleiche  Zeilen.  Aber  jede 
Zeile  enthält  gleich  viel  Hebungen,  d.  h.  mit  dem  rythmischen 
Wortaccent  belegte  Silben ;  die  Senkungen,  d.  h.  die  wenig  betonten 
Silben,  sind  ganz  freigegeben:  sie  können  ganz  fehlen,  es  kann 
1  stehen  oder  es  können  2  stehen  (vgl.  Seite  49,  no  1 — 17). 

Das  Ergebnis  ist  zunächst  ein  erfreuliches.  In  den  88  Vier- 
hebern der  Beichte  treten  17  verschiedene  Gestaltungen  auf;  mög- 
lich aber  wären  noch  mehr.    In  diesen  vielgestaltigen  Zeilen  hatten 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.        71 

die  altdeutschen  Dichter  ein  prächtiges  Mittel,  die  verschiedensten 
Grefühle  nnd  Leidenschaften  auch  durch  die  wechselnde  Form  ihrer 
Verse  auszumalen. 

Allein  die  Hebungslehre  mit  völliger  Freiheit  der  Senkungen 
schuf  auch  Hindernisse.  Wollte  man  eine  bestimmte  und  charak- 
teristische Melodie  mit  Worten  auskleiden,  so  mußte  man  der 
gleichen  Melodie  halber  auf  viele  Freiheiten  der  Senkung  ver- 
zichten und  konnte  von  den  vielen  Spielarten  des  Hebungsverses 
nur  wenige  auswählen.  Daß  das  möglich  war,  zeigt  das  Beispiel 
Ekkehard's,  dem  in  dieser  Beschränkung  ziemlich  sicher  Ratpert 
vorangegangen  war:  hier  finden  sich  nur  11  Spielarten  des  Vier- 
hebers. 

Ein  Hindernis  für  den  Gresang  war  auch  die  Bildung  des 
Schlusses ;  da  Wörter  wie  pater  =  patria  (_^  i.)  mit  betonter  Silbe 
schlössen,  so  fehlt  dem  Gesang  der  sinkende,  trochäische  Schluß 
(j-  u) ;  das  ist  unnatürlich.  Anderseits  gab  es  nur  so  viel  Haupt- 
arten von  Hebungsversen,  als  Hebungen  in  einer  Kurzzeile  ver- 
einigt werden  konnten:  also  Zweiheber,  Dreiheber,  Vierheber. 
Vereinigungen  von  mehr  als  4  Hebungen  kann  die  menschliche 
Stimme  nicht  mit  einem  Athemzug  sprechen,  sie  wurden  also  in 
2  Halbzeilen  von  2  oder  3  oder  4  Hebungen  zerlegt.  Jene  3 
Hauptformen  der  Hebungsverse  konnten  dann  erst  durch  die 
Senkungen  in  eine  Menge  von  Unterarten  zerlegt  werden. 

Diese  abgeschlossene  Formenwelt  der  Hebungsrythmik  wurde 
dann  sehr  bekämpft  durch  die  aufblühende  mittellateinische  und 
altfranzösische  Rythmik,  besonders  durch  die  herrliche  Gesangs- 
lyrik. Hier  wurden  die  steigende  und  die  sinkende  Schlußkadenz 
genau  unterschieden,  und  die  Zahl  aller  Silben,  also  auch  die  der 
wenig  betonten,  genau  beachtet.  Der  Keim  der  mittelalterlichen 
Gesangslyrik,  die  Sequenzen  dichtung,  war  ein  merkwürdiges  Ge- 
bilde. Sie  war,  wie  ihre  Vorläuferin,  die  byzantinische  Hymnen- 
dichtung, rein  musikalischen  Ursprungs  und  wollte  zunächst  nur 
in  engster  Anschmiegung  eine  Melodie  mit  Silben  auskleiden. 

Die  stärker  betonten  Noten  der  Melodie  wurden  natürlich 
durch  betonte,  stärker  accentuirte  Wortsilben  d.  h.  durch  He- 
bungen gefüllt,  die  schwächer  betonten  Noten  durch  halbbetonte 
Silben  d.  h.  durch  Senkungen:  in  dieser  Hinsicht  entsprachen  also 
die  byzantische  Accentdichtung  und  die  lateinische  Sequenzen- 
dichtung durchaus  der  deutschen  Hebungstheorie.  Anderseits  wurde 
beim  Sequenzenbau  für  jede  Note  eine  Silbe  gestellt,  also  hatten 
die  sich  entsprechenden  Absätze  der  Sequenz  gleich  viel  Silben: 
in  dieser  Hinsicht  entsprach  also  die  Sequenzendichtung  der  mittel- 


72  Wilhelm  Meyer, 

lateiniscilen  und  der  altfranzösischen  Rythmik,  welche  die  Silben 
abzählte.  Wie  bei  aller  Musik,  so  war  es  auch  beim  Sequenzen- 
gesang eine  wichtige  Sache,  ob  der  Absatz  sinkend  oder  steigend 
schloß:  hierin  stimmte  also  die  mittellateinische  und  altfranzösische 
Rythmik  durchaus  mit  der  Sequenzendichtung  überein,  aber  gegen 
die  altdeutsche  Art,  welche  immer  mit  einer  betonten  Silbe  schloß. 

Die  immer  stärkere  Herrschaft  des  kunstreichen  Gesanges 
und  die  Gleichheit  der  Silbenzahl,  welche  die  herrschende  mittel- 
lateinische und  die  einflußreiche  altfranzösische  Rythmik  verlangten, 
geriethen  in  Kampf  mit  der  altdeutschen  R3rthmik,  welche  nur 
die  Hebungen  zählte,  die  Senkungen  aber  völlig  freigab  und  eigent- 
lich eine  sinkende  Schlußkadenz  nicht  kannte. 

Die  deutsche  Rythmik  wich.  Im  Laufe  des  12.  Jahrhunderts 
näherte  der  deutsche  Zeilenbau  sich  dem  lateinischen  und  im  13. 
Jahrhundert  kamen  manche  deutschen  Dichter  so  weit,  daß  sie 
fast  stets  eine  Senkung  setzten,  aber  das  Fehlen  der  Senkung,  so- 
wie eine  zweisilbige  Senkung  vermieden,  und  daß  sie  einen  paroxy- 
tonen  Zeilenschluß,  wie  mundus  nicht  mehr  als  2  Hebungen  (^-^), 
sondern  als  1^/2  Hebungen  (^u)  verrechneten. 

Dennoch  gibt  es  noch  einige  lateinische  Gedichte  des  12.,  ja 
sogar  des  13.  Jahrhunderts,  in  welchen  Freiheiten  des  altdeutschen 
Zeilenbaus  angewendet  sind.  Solche  lateinischen  Gedichte  sind 
natürlich  in  Deutschland  entstanden  und  müssen  durchaus  volks- 
thümlicher  Art  sein. 

Das  ist  zunächst  der  Ursprung  der  Unregelmäßigkeit,  welche 
ich  früher  (Ges.  Abh.  I  249 — 254)  behandelt  habe.  In  vielen  Ge- 
dichten, die  in  Vagantenzeilen  geschrieben  sind,  ist  bald  der  Kurz- 
zeile zu  7u>_,  bald  jener  zu  6—0  eine  Silbe  vorgesetzt.  Zeilen, 
wie  Süscip^  discipulüm,  wechseln  mit  Zeilen,  wie  Quem  post  di^rum 
circulum;  dann  Zeilen,  wie  In  te  peregrinüm,  mit  Zeilen,  wie  Re- 
mittes  Socratinüm. 

Allein  wichtiger  ist  die  Erkenntnis,  daß  noch  im  12.  Jahr- 
hundert ganze  lateinische  Gedichte  nach  deutscher  Rythmik  ge- 
baut wurden.  Mich  erlöste  diese  Erkenntnis  von  langer  Qual. 
Für  mich  waren  die  Dichtungsformen  der  Cariniiia  Buraiia  no  17, 
22,  51,  158,  182,  192  und  195  lange  ein  Räthsel  (vgl.  Ges.  Abh.  I 
249):  jetzt  können  wir  nicht  nur  die  Formen  dieser  Lieder  be- 
greifen, sondern  die  Thatsache,  daß  noch  im  12.  Jahrhundert  viele 
Freiheiten  der  deutschen  Rythmik  in  diese  lateinischen  Verse  her- 
über genommen  sind,  lehrt  uns  die  echt  deutsche  Art  dieser  Lieder 
würdigen.  Ich  will  deshalb  diese  Lieder  kurz  besprechen.  Ich 
hoffe  aber,  daß  wie  aus  den  Zeiten  des  Anfangs  im  zehnten  Jahr- 


ein  Merowinger  Rythmus  ii.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.        73 

hundert,  so  auch  aus  dieser  Zeit  der  Blüthe  noch  manches  Denkmal 
dieser  merkwürdigen  altdeutschen  Rythmik  in  lateinischen  Versen 
nachgewiesen  werden  wird. 

Das  Kreuzlied  von  1146,  Burana  '^2  S.  24  Tides  cum 
Idolatria'  hat  nur  pedantisch  wenig  aus  der  deutschen  Rythmik 
angenommen.  Es  besteht  aus  2  bunt  gemischten  Zeilen:  1)  zu 
acht  Silben  mit  steigendem  Schlüsse:  8  u_  (3,6  ist  zuzusetzen: 
*ad'  feces  usque  sceleris,  nach  Jes.  51,  17  und  Ezech.  23,  24),  und 
aus  Zeilen  zu  7  Silben  mit  sinkendem  Schlüsse:  7  —  u  (7,  3  qui  et 
fibris  non  utuntur:  'qui'  ist  zu  tilgen,  schon  des  Hiatus  wegen, 
der  sonst  in  diesem  Gredicht  nicht  vorkommt).  Also  hier  ist  nach 
deutscher  Art  nur  der  Schluß  -i.A  =  -a.u:l  gesetzt:  Novissimüs 
fit  primüs,  Et  primus  fit  novissimiis.  Die  Taktwechsel  sind  die 
in  den  lateinischen  Rythmen  gewöhnlichen.  Es  finden  sich  fol- 
gende Arten,  welche  alle  auch  4  Hebungen  ergeben: 

1.  u_u_u— u— :  pugnavit  teste  gratiä  52 

2.  _uu  — u  — w— :  princeps  vÖcatur  principiim:  9 

3.  _u  — uu  — u_:  vite  datür  denariüs:  13 

4.  u— u  — u :  in  campo  libertatis  :  18 

5.  — uu—u :  petre  collidit  tüos  4 

Burana  no  17  S.  14  'In  huius  mundi  patria'  ist  ofi'enbar 

entstellt.  Es  hat  schon  zweisilbige  Reime:  allein  es  ist  sicher  in 
Vierhebern  aufgebaut  und  zwar  in  solchen  der  freien  Art  mit 
vielen  zweisilbigen  Senkungen,  wie  Et  infra  cästrä  cremantur,  ob 
inmänitatem  sceleris.  Auch  innerhalb  der  Zeile  scheint  öfter  eine 
Senkung  zu  fehlen,  nicht  nur  in  der  uns  schon  bekannten  Weise, 
wie  sed  ista  •  cum  vönto ,  de  cörde  •  fermentüm,  loricam  •  pro  alba, 
ut  apri-  frendentes;  sondern  auch  in  neuer,  bisher  noch  nicht  ge- 
fundener Weise. 

Zunächst  eine  eigentlich  regelmäßige  Spielart,  indem  in  der 
letztgenannten  Zeilenart  die  anfangende  Senkung  wegbleibt  (7,  5 
und  7):  quidäm*  sunt  cäni;  quidäm*  sunt  fratres,  dazu  2,11  qui 
eum  dedit;  vgl.  unten  (S.  74)  Bur.  no  182:  höspes  laudatür.  Dann 
eine  ganz  neue  Art,  wo  nicht  die  Senkung  vor  der  2.  Hebung 
fehlt ,  sondern  jene  vor  der  3 :  et  ömniä .  vanitäs ,  pro  infula  * 
gäleäm ;  cum  spiritus  •  cadit,  invocä  •  Christum. 

Burana  no  192  S.  73  'Aüdientes  aüdiänt,  Diu  Schände 
vert  al  liber  daz  lant:  Vierheber,  auch  mit  zweisilbigen  Senkungen 
und  meistens  mit  steigendem  Schlüsse.  Zu  notiren  ist  1,  5 :  quod 
velit-  assümere;  bedenklich  1,3:  querens  viles  et  tenaces;  zu 
bessern  1,  8 :  nu  hin,  nu  hin,  nu  hin  {add.  nu  hin). 


74 


Wilhelm  Meyer, 


Burana  no  182  S.  242  'Hospes  laudatur'.  Erfreulich 
ist  es  endlich  zu  erkennen,  daß  dieses  dem  Inhalt  nach  echt 
deutsche  Kiieiplied  nicht  trunkene  Formen  hat,  sondern  regelmäßige 
und  echt  deutsche  (trotz  'Deu  sal').  Es  sind  Yierheber.  Aber, 
wohl  einer  drolligen  Melodie  zu  Liebe,  ist  nur  die  Form  mit 
sinkendem  Schlüsse  gewählt.  Allein  in  Zulassung  von  zweisilbigen 
Senkungen  (no  3—6)  und  in  Weglassung  von  Senkungen  nicht  nur 
vor  der  1.,  sondern  auch  vor  der  2.  und  3.  Hebung  (no  7  und  8) 
sind  die  Freiheiten  der  deutschen  Rythmik  wacker  ausgenützt.  Im 
'Graudeamus'  1877  S.  31  sind  alle  Zeilen  von  Peiper  auf  6  _u  ab- 
corrigirt.     Die  31  Vierheber  bieten  folgende  Arten: 

1.  — u  —  u :  Bächus  ad  amörem: 

2.  yj  —  yj  —  Kj :  de  vino  m^liöri: 

3.  uu—u  —  Kj :  übi  potus  est  venalis  (2,  2) 

4.  _u 


O.    — u  —  u  u 


6. 
7. 

8. 


u :  iocüs  est  generalis  (2,  1) 

:  hie  est  locus  ännalis  (5,  1.  4,  3.  10,  2) 

u  — uu  — vj :  proinde  nön  omittatür  (9,  1) 

u -u :  et  vina*  portamus  (1,  3.  5,  2.  6,  3.  7,  2.  10,  3) 

•  u :  höspes  *  laudatur  (1 ;  vgl.  'quidäm  *  sunt  fratres' 

in  no  17,  7,  5  und  7  und  in  2,  11) 


10 
9 
1 
1 
3 
1 
5 


1  Höspes  laudatur, 
si  abiinde  datür, 
ut  bene"  bibatür 

et  hoc  propere. 
R.  Deü  sat  sit  vobiscüm, 
ö  pechärie! 
Modo  bibite, 
sortes  apponite! 
(habunde  M) 

2  Jöcus  est  generalis, 
ubi  potus  ^st  venalis, 
quem  v^ndit  socialis 

(nobis)  feminä. 
Schmeller  las  Locus  und  än- 
derte genialis        nobis  setzte 
Schm  zu. 

3  Pinc^ma  tiinc  letatür. 
abiinde  pröpinätür 

de  vino  m^liori 
ätque  l^niöri 

^t  hoc  properö. 
M  Mt'.  habunde. 


4  Bachus  ad  amörem 
instigat  iüniörem, 
mente  rigidiörem 

et  hoc  propere. 

5  Hie  est  locus  annälis 
festiimque*  natälis, 
ubi  liberalis 

est  ista  regulä. 

6  Cum  örgo  salutamüs 
vinum,  tünc  cantamüs 
*Te  d^üm*  laudämns', 

^t  hoc  propere. 

7  Nös  qui  pröpinamüs 
et  vinä*  portdmus, 
prius  nön  bibamus, 

dönec  dicamus: 

8  Bdchus  ^st  sudvis, 

fit  tarnen  söpe  gravi» 
bib^ntibus  incaüte 
de  inmöderdte. 
M  liat  hac 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.       75 

9  Proinde  non  öbmittätur,  10  Ergo  nös  ludämüs, 
sed  laüciüs  bibatür!  sortes  proiciamüs, 

dignus  iam  mittatür  letanter*  bibämüs 

et  hoc  propere.  et  hoc  propere! 

pignus?,  Schm.  dignius. 

Diese  volksthümlichen  Freiheiten  der  Vierheber  wurden  auch 
in  andere  Zeilen  übertragen,  welche  der  lateinischen  ryth- 
mischen  Dichtung  eigen  waren. 

Bescheiden  treten  diese  Freiheiten  der  deutschen  Rythmik  auf 
inBuran.  nol58  S.  223  'Dira  vi  amoristeror'.  Die  4 
ersten  Strophen,  dann  die  7.  und  vielleicht  die  8.  Strophe  bestehen 
eigentlich  aus  je  4  Zeilen  zu  8  —  u.    Aber  in  diesen  20  Zeilen  ist 

3  Mal  eine  Senkung  vorgesetzt: 

conclüsi  mentis  te  sigillö. 

4  Mal  steht  eine  zweisilbige  Senkung  nach  der  ersten,  1  Mal  nach 
der  zweiten  Hebung: 

igne  ferventi  suifocätus. 
et  venereo  axe  vehor. 
Ebenso  sind  die  8  Zeilen  der  5.  und  6.  Strophe,  deren  Vorbild  der 
Siebensüber  (7  u  _)  'Virginale  lilium'  ist ,  nur  mit  bescheidenen 
deutschen  Freiheiten  belebt:  1  Mal  ist  eine  Senkung  vorgesetzt; 
dann  ist  zweisilbige  Senkung  gesetzt,  3  Mal  nach  der  ersten  und 
1  Mal  nach  der  zweiten  Hebung: 

amöre  tüi  vehitur. 

telo  necätur  Veneris. 

tiium  presta  subsidiüm. 

Auch  dem  Gedichte  Burana  no  51  S.  145  Anni  novi  re- 
diit  novitas  liegt  offenbar  die  Zeile  8  _u  zu  Grunde: 

1.  — u_.u_u_u:  breves  dies  prolongantür  (3  Zeilen). 
Allein  diese  Grundform  ist  mit  allen  Freiheiten  der  deutschen 
Rythmik  behandelt,  so  daß  sie  mitunter  fast  nicht  mehr  zu  er- 
kennen ist.  Hiat  findet  sich  in  den  28  Zeilen  nicht.  Zunächst  ist  der 
Zeilenschluß  -i._  (antur)  vertauscht  mit  dem  nach  deutscher  Art 
gleichwerthigen   ^  u  jl  (eritäs) ,    aber   nur  in    der    ersten  Strophe : 

2.  — u  — o_u_u_:  subintrante  lanuärio  (5  Mal). 
Dann  ist  der  regelmäßigen  Zeile  eine   Senkung  vorgesetzt, 
vor  der  regelmäßigen  Zeile  2  Mal: 

3.  u  — u_w_u :  Cupido  faces  instülavit, 

vor  unregelmäßigen  Zeilen  4  Mal.      Die  Hauptrolle  spielen  z  w  e  i- 
silb ige  Senkungen;    sie  treten  auf  im  ersten  Fuß  (no  4  und 


76  Wilhelm  Meyer, 

no  5)  6  und  3  Mal ;  im  zweiten  Fuß  (no  6)  1  Mal ;  im  dritten  Fuß 
(no  7.  8.  9)  2.  1.  1  Mal;  endlich  zugleich  im  ersten  und  im  dritten 
Fuß  (no  10)  4  Mal: 
•  4.  — uu_u  —  u :  Venus  me  telo  viUneravit 

5.  u  — uu_u_u :  prestantior  omni  cr^atürä 

6.  _u  — uu  —  u :  nisi  sanet  me  flös  de  spina 

7.  — u — u— wu :  prüdens  (5st  multümque  förmösä 

8.  — u  —  Kj  —  yjyj  —  u  — :  anni  növi  rediit  novitäs 

9.  u_u_u_uu :  et  idem  velle.     Väle  flös  florum. 

10.  — uu  — u_uu :  Licet  äccr^scat  dolor  dölori. 

Im  Verse  4,  4   osculimi  si  sumat   es   ab  ore  scheint   'si'    oder 
*os'  zu  tilgen,  so  daß  die  Zeile  =  no  4  oder  no  7  wird. 

Es  bleiben  4  Zeilen  in  deren  erster  Hälfte  mir  eine  Senkung 
unterdrückt  zu  sein  scheint: 

I5  2  hiemis  *  cedit  asper itäs  (vgl.  no  8) 
1,  6  mens  estu*  languet  vario  (vgl.  no  2) 
1,  7  pröpter  pu-ellam  quam  diligo  (vgl.  no  8) 
3,  6  non  iüngar  •  cariöri  (vgl.  no  1). 
Da  dieses  Gedicht  so  schwierig,  aber  seiner  Formen  halber  wichtig 
ist,  will  ich  es  hierher  setzen: 

Anni  növi  rediit  növitäs, 
hiemis  cedit  asperitäs; 
breves  dies  prölongantür, 
^lemönta  t^mperantür, 
5  siibintrante  Jänuariö. 
mens  ^stu  languet  väriö 
pröpter  puellam  quam  diligo. 

2 

Prüdens  est  multümque  formösä, 
pülchrior  liliö  vel  rösä; 
gräcili  cöartatur  statüra, 
prestantior  omni  cr^atürä; 
5  pläcet  plus  Francie  regina. 
michi  mors  est  iäm  vicfnä, 
nisi  sdnet  me  flös  de  spina. 

3 

V^nus  me  t^lo  vülnerdvit 
aüreo  quöd  cor  p^netrdvit. 
Cupido  fdces  instilldvit, 
Amor  amörem  süperdvit 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythinik  in  lateinischen  Versen.        77 

5  iuvencule,  pro  qua  volo  möri. 
non  iüngar  cäriori, 
licet  accrescat  dolor  dolori. 

4 
Illius  captus  sum  amöre, 
cuius  flos  ädhuc  est  in  flore. 
dulcis  fit  läbor  in  hoc  laböre. 
ösculüm  si  sümat  [os]  ab  öre, 
5  non  tactu  sanabor  labiörüm, 
nisi  cor  ünum  fiat  duöriim 
et  idem  velle.     Yäle,  flos  flörüm! 
In  den  beiden  letzten  Gedichten^)  sind  also  die  berüluntesten 


1)  Burana  no  195  S.  253  'Cum  animadverterem  dicit 
C  a  t  o'  ist  ungemein  schwierig.        Die   sogenannte  4.  Strophe  ist 
ein  selbständiges  Gedicht,  die  vielleicht  oft  gesungene  Formel  eines 
poetischen  Tischdankes,  welchen  man  noch  heutzutage  singen  könnte: 
Conventus  iste  nobilis  summo  patri  et  filio 

letetur  his  conviviis  et  hospiti  largissimo, 

et  mera  mente  gaudeat  tali  dicto  nomine, 

4  et  dignas  laudes  referat  8  ut  longo  vivat  tempore. 

Das  sind  regelmäßige  Achtsilber  mit  steigendem  Schlüsse; 
denn  in  Zeile  5  war  'patri  et'  statt  'patris'  (M  =  Münchner  Hand- 
schrift) zu  schreiben  und  in  Z.  7  ist  'tali'  =  N.  N.  Der  kurze 
Spruch  läuft,  wie  das  bei  solchen  Toasten  gern  geschieht,  in  einem 
Athem  bis  zum  Ende.  Der  Reim  ist  noch  nicht  rein  zweisilbig. 
Was  vorangeht,  scheinen  4  Strophen  zu  sein,  welche  aus  je  8 
altdeutschen  dreihebigen  Kurzzeilen  zusammengesetzt  sind.  Ich 
wage  eine  Wiederherstellung: 

1 
Cum  animadverterem         dicit  Catö. 
Quis  me  redärguit         de  peccato? 
Laudem  et  honorem  canimüs 
nöstro  hospiti,         cui  bönus  est  animus. 
3  Laudem  atque  oder  Laudem  et  honorem  (omnes)  canimüs. 

2 
Ergo,  fratres,         intelligite 
^t  ad  öra        pocula  porrigite! 
6t  si  aliquis        inebrietür 
ex  vobis,  declinet        seörsum  a  nöbis. 
1  fratres  karissimi  int.  M       3/4  das  ßeimwort  'vobis'  scheint 
zum  Scherz  umgestellt  zu  sein. 


78  Wilhelm  Meyer, 

Zeilen  der  mittellateinisclieii  Rythmik,  8  _  u  und  7  u  _ ,  mit  den 
Freiheiten  der  altdeutschen  Rythmik,  besonders  durch  Zusatz  von 
Senkungen,  umgestaltet.  Aehnlich  haben  in  neuerer  Zeit  in  die 
antiken  jambischen  und  trochäischen  Zeilen  patriotische  deutsche 
Dichter  aus  der  altdeutschen  Rjrfchmik  zweisilbige  Senkungen  ein- 
geführt. 

(Deutsch-lateinische  Rythmik  im  Ende  des  Mittelalters). 

"Wie  oben  (S.  72)  gesagt  kamen  im  Laufe  des  13.  Jahrhunderts 
einige  deutsche  Dichter  so  weit,  daß  sie  auch  in  der  deutschen 
Kurzzeile  fast  immer  eine  Senkung  setzten  und  daß  sie  parxytonen 
Zeilenschluß   nicht ,    wie   früher ,    als    2   Hebungen   verrechneten, 


3 

Et  si  aliquis         debibat  tunicam, 

idem  postea        delüdat  camisiäm. 

et  si  aliquid        plus  de  re  sapitis, 

denudetur        —  'a  planta  pedis  usque  —  ad  verticem'  capitis. 

1  Et  om.  M  2  idem  mn.  M  3  plus  däre  sapit  is?  d.  h. 
plus  quam  tunicam  et  camisiäm  4  die  letzte  Kurzzeile  ist  scherz- 
haft verlängert  nach  der  wörtlich  entlehnten  Vulgatastelle  Deut, 
28,  35  =  Job.  2,  7  =  Jes.  1,  6. 

4 
Tunc  eritis  comites         apöstolörüm, 
quia  *in  ömnem        t^rram  exivit         sönus  eörum 
öt  in  fines         orbis  t^rre         vörba  eörum'. 

2  'in  .  .  verba  eorum'  wörtlich  entlehnt  aus  Psalm  18,  5  = 
Rom.  10,  10.  Will  man  4  gleiche  Langzeilen  herstellen,  so  kann 
man  'sönus  eörum  ^t  in  fines'  als  dritte  Zeile  abtheilen;  das 
Reimwort  'eorum'  wäre  dann  ähnlich,  wie  in  der  zweiten  Strophe, 
versteckt.  Doch  zum  Scherz  paßt  auch  ein  solcher  Wechsel  der 
Langzeilen,  bei  gleicher  Zahl  aller  Kurzzeilen. 

Das  sicher  in  Deutschland  verfaßte  Gedicht  Burana  no  29 
S.  34  'Anno  Christi  reparationis  1179'  ist  mir  noch  un- 
verständlich.   Manche  Stücke  sind  rein  rythmisch,   wie  im  Schluß 
der  1.  Strophe  zwei  Vagantenzeilen;  im  Anfang  der  3.  Strophe  = 
dem  Schluß   der    7.  Strophe  vier,  Siebensüber   mit   dem   Einschub 
Wichmannus  =  respirat;    im  Anfang   der  7.  Strophe  sechs  Acht- 
silber.   Aber  Anderes  scheint   deutsche  Rythmik;    so  der  Schluß: 
dnguem  strävit,         qui  disseminävit 
discolum  virus,         quod  infrigiddvit 
igniculum  fidei        quique  cecdvit. 


ein  Merowinger  Rythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.        79 

sondern  nur  als  IV2.  Damit  war  auch  hier  der  natürliche  Wechsel 
von  sinkendem  und  steigendem  Zeilenschluß  ermöglicht.  Ander- 
seits verschoben  sich  die  Verhältnisse;  ein  dreihebiger  Vers  mit 
paroxytonem  Zeilenschluß  (_  ^  —  u  _  u  oder  u  —  u  _  u  —  u)  konnte 
nicht  mehr  als  vierhebig  gelten,  da  ja  die  letzte  Silbe  nicht  mehr 
den  Werth  einer  Hebung  hatte.  Vierhebig  blieben  natürlich  zu- 
nächst die  Zeilen  mit  steigendem  Schlüsse:  _u  — u  — u_  oder 
u  — u  — u_u  — .  Aber  etliche  der  späten  deutschen  Dichter  thaten 
den  fast  logischen  Schritt:  wenn  eine  Senkung  vor  der  ersten 
Hebung  zugesetzt  werden  konnte,  so  konnte  sie  auch  nach  der 
vierten  Hebung  zugesetzt  werden.  Sie  wechselten  also  als  gleich- 
werthig  die  4  Formen 

7u_:      _u  —  u^ujL      mit  ir  libes  kiiischiköit. 

8u_:  u  _u  — u_u^      er  sprach:  wilkömen  reines  väz. 

8_u:      — u_u_ujLu   reien  treten  unde  springen. 

9_u:  u  _u_u_ujLu  da  sach  man  tanzen  ünde  springen. 
Ich   glaube    nun  nachgewiesen  zu  haben  (Ges.  Abh.  I  252  bis 
255),    daß   diese   Gleichstellung   vierhebiger  Zeilen,    die    steigend 
schließen,   mit  solchen,    die   sinkend  schließen,    auch  in   späten  la- 
teinischen Versen  nachgeahmt  worden  ist.     Also: 
7  u  —  Stilo  licet  rüsticö. 

80—    Ad  laüdes  ergo  virginis. 
S  —yj  Simplex  iüstus  atque  sänctus. 

9  _u  Ad  terram  ergo  primo  pöni. 
Diese  völlige  Gleichwerthung  des  steigenden  und  des  sinkenden 
Zeilenschlusses  ist  schon  in  der  deutschen  Rythmik  auffallend: 
Der  lateinischen  Rythmik  aber  widerspricht  sie  durchaus.  Ich 
habe  bis  jetzt  auch  nur  2  Beispiele  nachweisen  können:  sehr  oft 
findet  sie  sich  in  der  viel  gelesenen  Vita  rythmica  Mariae  und 
etliche  Male  in  lateinischen  Dichtungen  des  Hugo  von  Trimberg 
um  1280,  welcher  jene  Vita  Mariae  gern  gelesen  hat.  Aber  auch 
hier  findet  sich  diese  Freiheit  nur  im  Schlüsse  der  ersten  Hälfte 
der  Vagantenzeile,  also  vor  der  Caesur  der  Langzeile.  An  dieser 
Stelle  aber  haben  die  mittellateinischen  Dichter  sich  am  ehesten 
ähnliche  Freiheit  genommen  (vgl.  Ges.  Abh.  I  177,  285,  336). 

(Alliteration  in  lateinischen  Versen  des  späten  Mittelalters 
in  England)  Ob  Engländer  der  angelsächsischen  oder  der  mittel- 
englischen Zeit  in  lateinischen  Rythmen  den  Zeilenbau  ihrer  ein- 
heimischen Dichtungen  nachgeahmt  haben,  weiß  ich  noch  nicht. 
Dagegen  mit  der  Alliteration  hat  sich  dieser  Kreislauf  im 
späten  Mittelalter  vollzogen.  Stabreim  und  Endreim  vereinigt, 
wie  bei  Aldhelm  und  Genossen  (Monum.  Epist.  III  240): 


80  Wilhelm  Meyer, 

Spissa  statim  spiramina        duelli  ducunt  agmina. 

Horum  archon  atrociter         fumum  verrens  ferociter. 

Unde  Titanis  torrida        labuntur  luminaria. 

Neque  guttae  graciliter         manabant  sed  minaciter. 

Turbo  terram  teretibus        grassabatur  grandinibus. 

Donec  nimbo  ac  nubibus         torve  teguntur  trucibus. 

Statura  valde  stabilis,        statu  et  forma  agilis. 

Rite  reddens  refugium  robustum  per  suffragium. 
bringen  des  Guten  zu  viel.  Deshalb  theilen  sich  meistens  die 
Wege.  Die  Deutschen  haben  schon  zu  Otfrid's  Zeit  der  Alliteration 
auf  immer  den  Abschied  gegeben  und  den  Endreim  als  gesetz- 
mäßigen Schmuck  ihrer  Verse  angenommen  und  zu  allen  Zeiten 
festgehalten.  Anders  die  Engländer ;  sie  hielten  die  Alliteration 
fest  und  kümmerten  sich  zunächst  wenig  um  den  Reim.  Da  aber 
in  der  altfranzösischen  Dichtung  der  Endreim  ebenso  feste  und 
nie  fehlende  Eigenschaft  der  Verse  geworden  war  wie  in  der 
deutschen,  und  da  im  Laufe  des  11.  Jahrhunderts  der  Endreim  ein 
nothwendiges  Stück  auch  der  mittellateinischen  Rythmik  geworden 
war,  so  konnte  auch  die  mittelenglische  Rythmik  sich  dem  Reim 
nicht  entziehen;  der  Reim  wurde  also  ein  wichtiges  Stück  auch 
der  mittelenglischen  Rythmik. 

Der  Eifer   für    den  Endreim   drängte   nun   in  England  zuerst 
die  Alliteration  weit  zurück :  allein  patriotische  Engländer  nahmen 
sich  ihrer  an  und  verwendeten  sie  wieder  eifrig  in  englischen  Gre- 
dichten.     Ja,  es   fanden   sich   welche ,    die    sogar   die  Alliteration 
wiederum  in  lateinischen  Versen  anwendeten,  oft  neben  dem  End- 
reim,  in  quantitirend  wie  in  rythmisch  gebauten  Versen;    vgl.  in 
Wright's  Political  Poems  und  Songs  I  219  und  in  Political  Songs  160: 
nie  David  dormit,  Salomon  silet,  ac  obit  Obeth, 
mors  sua  me  flere  iam  memorata  facit. 
Ludert  volentibus        lüdens  paro  liram. 
de  mundi  malitia        rem  demonstro  miram. 
nil,  quod  nocet  referam,         rem  gestam  requiram. 
Scribo  novam  satyram,  sed  sie,  ne  s^minet  iram. 
Diese  um  1300  entstandenen  Verse  sind  mit  Reim  und  Alliteration 
ebenso  überladen  wie  die  Aldhelms. 

Die  Verschiedenheit  der  Silbenzahl  und  die  Alliteration,  welche 
in  der  ältesten  Zeit  aus  der  lateinischen  Rythmik  in  die  nationale 
übergegangen  waren,  waren,  wie  gezeigt,  im  Verlauf  des  Mittel- 
alters aus  der  nationalen  Rythmik,  wo  sie  in  Verbindung  mit  der 
Herrschaft  der  Hebungen  eine  große  Rolle  spielten,  wieder  an 
einigen  Stellen  in  die  mittellateinische  Rythmik  eingebrochen. 


ein  Merowinger  Kythmus  u.  altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen.        öl 

Die  mittellateinische  Rythmik  kam  im  16.  Jahrhundert  außer 
Gebrauch:  allein  ihre  Töchter  bildeten  sich  immer  kunstvoller  aus. 
Die  Rythmik  des  Mittelalters  hatte  eigentlich  keine  bestimmten 
Füße  gebildet.  Doch,  wenn  sie  einmal  in  die  Lage  kam,  Füße  der 
antiken  Dichtung  nachzubilden,  so  hatte  sie  von  jeher  in  die  Stellen 
der  vom  Versaccent  getroffenen  langen  Silben  die  vom  Wortaccent 
belegten  Silben  gerückt.  Das  zeigt  am  besten  die  Art,  wie  der 
Schluß  des  Hexameters  jl  u  u  _^  u ,  f raude  cavere,  rjrthmisch  nach- 
gebildet worden  ist:  Cessent  immensi,  capitulum  tale,  adv^rsis 
nocivos;  Nicht  das  er  from  ist,  slicht  das  do  krom  ist;  Bot  ye 
youre  hedis,  bare  in  thies  stedis. 

Als  nun  im  16.  Jahrhundert  die  antiken  Metra  genauer  studirt 
wurden  und  die  Lust  sich  regte,  sie  genau  nachzubilden,  war  es 
für  die  Deutschen  und  für  die  Engländer  kein  großer  Schritt,  daß 
sie  sich  entschlossen,  überall  mit  dem  Unterschied  ihrer  betonten 
und  unbetonten  Silben  die  antiken  Füße  von  langen  und  kurzen 
Silben  nachzumachen.  Das  Wesen  ihrer  Sprachen  ermöglicht  es 
ihnen,  auch  betonte  Silben  in  Senkungen  zu  stellen  und  so  z.  B. 
drei  lange  Silben  neben  einander  zu  bringen,  so  daß  sie  die  sonst 
einförmigen  Jamben  und  Trochäen,  Anapäste  und  Daktylen  eben- 
falls, wie  die  Alten,  durch  Spondeen  unterbrechen  können,  was 
z.  B.  die  romanischen  Sprachen  nicht  können,  in  denen  deshalb, 
eine  genaue  Nachahmung   der  antiken  Versfüße  nicht  möglich  ist. 


TJebersicht  I  Merowinger  Rythmus  über  Fortunat:  Text  S.  32 
Inhalt  S.   34,    Form    S.   35—39    (Zeilengruppen    S.   36,    Zeilenbau  S.   37). 

II  Die  alten  lateinischen  Rythmen  und  ihr  Einfluß  auf  die  alten  ger- 
manischen und  romanischen  Zeilen  S.  39 — 45  (Reim,  AlUteration,  schwan- 
kende Silbenzahl;  S.  44  Hebungen). 

III  Altdeutsche  Rythmik  in  lateinischen  Versen  S.  45 — 81 :  Die 
Beichte  'Audi  me  deus  piissime'  S.  47  —  51.  Ratpert's  Lobgesang  von 
Ekkehard  IV  übersetzt  S.  51  —  58.  Dhuoda's  Verse  S.  58—70. 
Gedichte  des  12.  Jahrhunderts  S.  70 — 72:  Burana  no  22,  17  und  192 
(S.  73),  no  182  (S.  74),  no.  158  u.  51  (S.  75),  no  195  u.  29  (S.  77 
Note).  Deutsch-lateinische  Rythmik  im  13.  u.  14.  Jahrhundert  S.  79. 
Alliteration  in  lateinischen  Versen  später  Engländer  S.   80. 


Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Philolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft. 


Ueber  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's. 

Von 

Wilhelm  Meyer  ans  Speyer, 
Professor  in  Göttingen. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  8.  Februar  1908. 

Diese  Untersuchungen  beschäftigen  sich  mit  einigen  Hand- 
schriften der  Gedichte  des  Venantius  Fortunatus  und  mit  ihrem 
Verhältnis  zu  jenen  Handschriften,  welche  Leo  in  seiner  Ausgabe 
benützt  hat  (in  den  Monumenta  Germ.  Hist.,  Auetores  antiquissimi 
tom.  IV  pars  I  1881). 

Ich  bin  ausgegangen  von  der  londoner  Handschrift  (Ad  =  Brit. 
Mus.  Additional  24193)  und  von  der  pariser  Handschrift  14144, 
die  von  Leo  mit  Ä  bezeichnet  ist.  Leo  hat  A  für  eine  der  besten 
Handschriften  des  Fortunat  erklärt,  Ad  aber  zählt  er  S.  XIV 
tinter  den  Handschriften  auf,  von  denen  er  sagt  'hos  cum  ipse 
inspexerim  aut  ab  aliis  descriptos  atque  excerptos  habuerim,  recen- 
sioni  non  adhibendos  esse  iudicavi'.  Als  ich  fand,  daß  beide  Hand- 
schriften allein  den  vorhin  (S.  32)  veröffentlichten  Rythmus  enthalten, 
begann  ich  an  Leo's  Urtheil  über  Ad  zu  zweifeln  und  ließ  mich 
auf  Untersuchungen'  ein,  deren  Resultat  ist,  daß  beide  Handschriften 
Zwillingsschwestern  sind,  und  daß  von  künftigen  Bearbeitern  des 
Fortunat  beide  Handschriften  in  gleichem  Maße  berücksichtigt 
werden  müssen.  Ich  habe  hierbei  über  die  londoner  Handschrift 
benützt  Mittheilungen  des  Herrn  J.  A.  Herbert,  Bibliothekar  des 
Brit.  Museums,  und  des  Herrn  Dr.  Walter  Dolch  über  einzelne 
Stellen;  dann  habe  ich  die  photographische  Copie  benützt  von 
Carmen  III  13,  7  —  30,  4;  von  V  1  §  4  (S.  102  Z.  14)  —  5,  4; 
endlich  des  Schlusses  von  XI  26,  2  ab. 

Um  diese  spröden  Untersuchungen  für  künftige  Forscher  etwas 


Wilhelm  Meyer,  über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's.  83 

nützliclier  zu  machen,  habe  ich  noch  einige  anderen  Handschriften 
hinzugenommen. 

S,  die  aus  Siegburg  stammende,  schon  von  Brower  genannte 
und  benützte  Handschrift  in  Brüssel.  Van  den  Gheyn,  Catalogue 
des  Manuscrits  de  la  Bibliotbeque  Royale  de  Belgique,  II  1902 
S.  292,  sagt  über  sie:  no  13  52  (5354  —  5361),  parchemin;  90 
foL;  27  :  20  cm.  X  Jh.;  f.  1  —  67  Liber  Fortunati  =  Migne  88 
col.  59 — 362.  Ich  habe  gefunden,  daß  diese  Handschrift  wenig 
interpolirt  ist  und  zu  den  bessern  Textesquellen  gehört.  Ich 
konnte  die  nach  Gröttingen  gesendete  Hft  an  vielen  Stellen  ein- 
sehen. Es  fehlt  I  2,  10  *dam  qui  bis  13,  17  simulando' ;  dann  ist 
für  das  Carmen  quadratum  II  5  der  Raum  leer  gelassen  und  statt 
dessen  der  Brief  des  Alcuin  ^Elegio  episcopo'  eingeschrieben. 
Ebenso  fehlt  in  S  (f.  28  a)  S.  112,  2  dis  otii  bis  S.  115,  16  pro  me. 

H  =  Vatican  Palatinus  1718,  von  Leo  S.  XIII  beschrieben: 
Vatic.  Palatin.  1718.  membr.  fol.  s.  XI  continet  carminum  libros  XI. 
Leo  zählt  auch  diese  Handschrift  zu  jenen,  quos  recensioni  non  adhi- 
bendos  esse  iudicavit.  Ich  habe  gefunden,  daß  diese  Handschrift  aller- 
dings schon  oft  interpolirt  ist,  daß  sie  aber  der  von  Leo  benützten 
Handschrift  R  =  Vatican.  Regin.  329  nahe  steht  und  oft  besser 
ist  als  diese.  Ich  erhielt  von  Herrn  Dr.  Jacob  Schwalm  gütige 
Nachricht  über  einzelne  Stellen;  dann  benützte  ich  die  Photo- 
graphie von  III  13,  17—111  29,  2  und  von  V  1  §  10  (S.  103,  20) 
bis  5,  20. 

0  ==  Oxford  Bodleianns:  Summary  20620  =  Auct.  T.  2.  25 
(Meerman.  554),  in  4^  166  fol.  s.  X/XI:  'probably  once  in  the 
possession  of  St.  Vincent's  monastery  at  Metz'  fol.  1—146  For- 
tunat's 11  Bücher  mit  Lücken,  die  im  17.  Jahrh.  ausgefüllt  worden 
sind.  Diese  Handschrift  ist  von  einem  klugen  Kopfe  oft  inter- 
polirt. Ich  erhielt  von  Herrn  Bibliothekar  F.  Madan  gütige  Nach- 
richt über  viele  einzelnen  Stellen  und  benützte  die  Photographie 
von  m  13,  39—27,  8  und  von  V  3,  1—5  §  2  (S.  108,  11). 

2J  =  Paris  13048,  f.  39^— 58^  Da  diese  Handschrift  weit- 
aus die  wichtigste  ist,  so  habe  ich  nach  einer  1902  von  mir  ge- 
machten Vergleichung  all  das  hier  nachgetragen,  was  in  Leo's 
Ausgabe  nicht  notirt  ist.  Leo  selbst  sagt  S.  VIII:  meum  in  usam 
accurate  contulit  et  descripsit  Rudolfus  Peiper.  ipse  librum  non 
vidi.     Des  wichtigen  Neuen  bringe  ich  natürlich  nur  wenig. 

Dann  habe  ich  Fortunat  II  16  de  s.  Medardo  verglichen 
mit  zwei  sehr  alten  Legendarien :  mit  Ä  =  Cod.  latin.  Monacensis 

6* 


g4  Wilhelm  Meyer, 

3514  saec.  YII  und  mit  K  =  Karlsruhe  136   aus   dem    1.  Drittel 
des  9.  Jahrhunderts. 

(Die  Unterschrift  des  XI.  Buches)  Am  verstümmelten 
Schlüsse  des  11.  Buchs  der  G-edichte  steht  in  manchen  Handschriften 
eine  seltsame  Unterschrift  in  verschiedenen  Fassungen  (s.  Leo  S. 
XV  u.  270).  Es  liegt  nahe,  daß  die  Handschriften,  welche  diese 
Unterschrift  in  ähnlicher  Fassung  enthalten,  sich  nahe  verwandt  sind. 

Diese  Unterschrift  lautet  in  der  londoner  Handschrift  {Ad) 
fol.  158^  med. :  explit  |  inquantu  auctor  habuit  scriptu;  Incüp.  prologus. 
In  der  pariser  Handschrift  {A)  füllen  die  Worte :  nat  aqua,  expliö 
LiB.  IN  QUANTÜ  AUCTOR  HABUIT  gerade  die  Zeile,  dann  folgt  über  das 
durch  Linien  begrenzte  Zeilenende  hinausstehend,  ein  gekrümmter 
Strich,  durch  dessen  Kopf  ein  Querstrich  gezogen  ist.  Da  statt 
dieses  Zeichens  in  der  londoner  Schwesterhandschrift  scriptum  steht, 
so  ist  klar,  daß  das  pariser  Zeichen  dasselbe  Wort  sein  soll.  Es 
soll  also  ein  kursives  s  mit  Abkürzungsstrich  sein;  schon  in  den 
Urkunden  des  6.  Jahrhunderts  findet  sich  ff  für  suprascript  .  .. 
In  der  pariser  Handschrift  folgt  in  neuer  Zeile  incpt  prolog.  de 
PRiviLEGio  (s.  oben  S.  32).  In  der  eigentlichen  Unterschrift  hat 
also  die  pariser  Handschrift  nur  das  Wort  lib  mehr.  Daß  dies 
hier  fälschlich  zugesetzt  ist,  beweist  die  folgende,  zweite  Fassung 
dieser  Unterschrift,  wo,  wie  in  der  londoner  Handschrift,  das  Wort 
liber  nicht  vorkommt. 

Diese  andere  Fassung  der  Unterschrift  lautete  ursprünglich: 
EXPUCiT  m  QUA^TTUM  HABUIT  AUCTOR  usQUE  FiNEM.  So  lautct  dieselbe 
in  H  (Palat.  1718  f.  213»»)  und  in  M  (Ambros.  74);  in  i^  (Vatic- 
Regin.  329  f.  123)  ist  geändert :  actor  und  fine  ;  in  D  (Paris.  9347) 
ist  HABUIT  weggelassen.  In  der  Oxforder  Handschrift  steht  nur 
eine  andere,  neu  fabricirte  Unterschrift: 

fortu  versifici  nati  thomus  explicit  istic. 

Also  stehen  die  Handschriften  A  und  Ad  zusammen  gegen 
HMDR: 

EXPLIC.    IN    QUANTUM    AUCTOR    HABUIT    SCRIPTUM. 
EXPLIC.    IN    QUANTUM    HABUIT    AUCTOR    USQUE    FINEM. 

Leo  hat  die  Unterschrift  der  londoner  {Ad)  und  der  pfiälzer 
(H)  Handschrift  nicht  gekannt  und  von  der  Abkürzung  von  scriptum 
in  der  pariser  Handschrift  {A)  nichts  gewußt.  Nach  diesem  un- 
vollständigen Material  hat  er  (S.  XV)  geurtheilt :  Fortunati  Codices 
praeter  E  ad  unum  exemplar  redeunt  mutilum  et  corruptum  sae- 
culo  ut  videtur  octavo  medio  .  .  i.  e.  primis  Carolingorum  tempo- 
ribus    ab   interitu    servatum.    quod   qui   primus    transcripsit    cum 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunats.  85 

novissimum  libri  Carmen  fine  carere  sentiret  compertumque  haberet, 
plura  quam  sibi  praesto  essent  poetae  carmina  extare,  subscrip- 
tionem  subiecit  in  AMDR  servatam  (in  BL  consulto  inmutatam, 
in  GGF  sine  consilio  omissam):  explicit  in  qvantvm  habvit  avctor 
vsQYE  FiNEM.  Bei  dieser  Auffassung  ist  'usque  finem'  überflüssig 
und  'auctor'  =  exemplar,  meum  exemplar  auctoris  ist  mindestens 
seltsam.  Diesen  Sinn  hätte  der  Schreiber  einfach  geben  können 
durch  'explicit  in  quantum  habui  scriptum'  oder  'explicit  in  quan- 
tum  habuit  scriptor  usque  finem  oder  absque  fine'. 

Die  beiden  Handschriften  A  und  Ad  sind  durchschnittlich 
besser  als  die  Handschriften  HMDR:  deshalb  hat  die  Unter- 
suchung auszugehen  von  der  Fassung  der  Handschriften  A  und  Ad. 

Die  Unterschrift  explicit  in  quantvm  auctor  habuit  scriptum 
steht  ganz  einzeln;  ich  kenne  keine  ähnliche.  In  quantum  statt 
quantum,  ähnlich  unserm  'insoweit'  statt  'soweit',  wird  schon  der 
guten  Zeit  der  lateinischen  Sprache  zugeschrieben,  ist  aber  in  der 
spätem  Zeit  eine  gewöhnliche  Ausdrucksweise  (vgl.  Handü  Tur- 
selKnus  'in'  Kap.  IV  §  53  =  vol.  III  1836  p.  332).  'Habuit 
scriptum'  ist  ein  schwieriger  Ausdruck.  Ich  finde  keine  andere 
Erklärung  als  'scripsit,  scripserat,  scriptum  reliquit'.  Diese  Unter- 
schrift ist  ja  sicher  nach  590  und,  da  sie  in  der  Urhandschrift 
aller  uns  erhaltenen  verkürzten  Fortunathandschriften  gestanden 
hat,  vor  750,  also  in  der  Zeit  der  merowingischen  Sprachbarbarei 
verfaßt  worden. 

Wenn  die  Unterschrift  bedeutet  'Hier  endet  das ,  was  der 
Dichter  geschrieben  hat,  oder,  was  er  schriftlich  hinterlassen  hat' 
—  eine  Erklärung,  welche  der  Leo's  fast  entgegengesetzt  ist  — , 
so  fragt  sich,  was  diese  Constatirung  hier  besagen  will. 

Es  müssen  in  der  Geschichte  der  Fortunathandschriften  be- 
sonders 2  wichtige  Handschriften  angesetzt  werden:  1)  jene 
Handschrift,  in  welche  bald  nach  dem  Tode  des  Dichters  in  Poitiers 
sämtliche  Gredichte  in  11  Büchern  zusammengeschrieben  wurden. 
Diese  ursprüngliche  und  vollständige  Sammlung  der  Gedichte  ent- 
hielt also  auch  alle  diejenigen,  welche  jetzt  in  den  Hften  der  11 
Bücher  fehlen,  aber  in  der  Handschrift  Z"  stehen.  2.  Jene  Hft, 
in  welche  zuerst  die  gekürzte  Sammlung  geschrieben  worden  ist, 
wo  also  von  der  ursprüngKchen  vollständigen  Sammlung  viele 
Stücke  weggelassen  wurden,  darunter  auch  all  die  Stücke,  welche 
jetzt  die  Handschrift  E  allein  bietet.  Diese  Verstümmelung  kann 
in  Poitiers  geschehen  sein,    aber  ebenso  leicht  auch   an  eiaem  an- 


86  Wilhelm  Meyer, 

dem  Ort.  Auf  diese  erste  Handschrift  der  gekürzten  Sammlung 
gehen  alle  erhaltenen  Handschriften  der  11  Bücher  zurück. 

In  dieser  ersten  Abschrift  der  gekürzten  Sammlung  stand 
gewiß  schon  die  Unterschrift,  vielleicht  auch  der  Rythmus.  Der- 
jenige nun,  welcher  die  ursprüngliche  und  vollständige  Sammlung 
gekürzt,  d.  h.  die  sämtlichen  jetzt  nur  in  2J  erhaltenen  und  gewiß 
noch  andere  uns  jetzt  verlorenen  Stücke  mit  voller  Absicht  weg- 
gelassen hat,  derselbe  Mann  hat  nicht  am  Ende  eine  Unterschrift 
zusetzen  können  'Das  ist  Alles,  was  der  Dichter  hinterlassen  hat*. 

Es  bleibt  also  wahrscheinlich,  daß  diese  Unterschrift  aus  der 
ursprünglichen  und  vollständigen  Sammlung  in  die  gekürzte  mit 
herüber  geschrieben  worden  ist.  Aber  können  denn  diese  Worte 
am  Ende  der  ursprünglichen  und  vollständigen  Sammlung  der  Ge- 
dichte Fortunat's  einen  vernünftigen  Sinn  gehabt  haben?  Ich 
glaube,  dies  durchaus  bejahen  zu  dürfen.  Aber,  wie  der  Wortlaut 
dieser  Subscriptio  singulär  steht,  so  ist  auch  ihre  Ursache  eine 
singulare. 

In  der  Abhandlung  'Der  Gelegenheitsdichter  Venantius  For- 
tunatus'  (1901,  von  unsern  Abhandlungen  Neue  Folge  Band  IV 
no  5)  habe  ich  S.  27  und  besonders   S.  69  nachgewiesen,    daß  das 

10.  und  11.  Buch  der  Gedichte  erst  nach  dem  Tode  des  Fortunat 
aus  seinen  Papieren  zusammengestellt  worden  ist.  Dabei  hat  man 
die  intimsten  Erinnerungen  seines  Lebens,  die  zärtlichen  Billets 
an  Radegunde  und  an  Agnes,  der  Oeffentlichkeit  übergeben.  Man 
hat  aber  auch  sonst  ja  Nichts  umkommen  lassen  wollen;  so  hat 
man  eine  prosaische  Expositio  orationis  dominicae  (unvollständig!) 
und  eine  prosaische  Expositio  symboli  aufgenommen;  ja,  man  hat 
die  vorgefundenen  verschiedenen  Entwürfe  ein  und  desselben  Ge- 
dichtes (in  no  X  6  ad  ecclesiam  Toronicam)  zusammengepappt. 
Als  diese  Leute  mit  dem  Zusammensuchen  und  Zusammenschreiben 
fertig  waren,  konnten  sie  ihrer  Arbeit,  d.  h.  dem  jetzigen  10.  und 

11.  Buch  der  Sammlung  mit  Recht  die  Unterschrift  geben:  'Das 
ist  Alles,  was  Fortunat  schriftlich  hinterlassen  hat'. 

Darnach  stand  diese  Unterschrift  schon  unter  der  ersten,  in 
Poitiers  hergestellten  vollständigen  Handschrift  der  Gedichte  des 
Fortunat.  Dann  wurde  diese  Sammlung  in  der  seltsamen  Weise 
gekürzt,  welche  wir  mit  Hilfe  der  Handschrift  2J  nachweisen 
können.  In  der  ersten  castrirten  Handschrift  war  die  Unterschrift 
beibehalten.  In  den  Abschriften,  welche  aus  jener  ersten  Hand- 
schrift der  gekürzten  Sammlung  stammen,  hatte  die  Unterschrift 
verschiedenes  Schicksal:  in  die  londoner  und  in  die  pariser  Hand- 
schrift ist  sie  ziemlich  getreu  übe .  .i^egangen ;    in  einer  andern  Ab- 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's.  87 

Schrift,  aus  welcher  die  Handschriften  HMDR  stammen,  waren 
die  Worte  'auctor  habuit  scriptum'  verändert  zu  'habuit  auctor 
usque  finem' ;  in  den  meisten  Abschriften  wurde  die  fast  unver- 
ständlich gewordene  Unterschrift  ganz  weggelassen. 

Die  Geschichte  des  Rythmus  (oben  S.  32)  ist  nicht  sicher.  Er  ist 
wahrscheinlich  schon  in  der  ersten  vollständigen  Handschrift  hinter 
der  Unterschrift  eingeschrieben  worden,  hat  sich  dann  mit  der  Unter- 
schrift in  die  erste  Handschrift  der  gekürzten  Sammlung  und  von 
deren  Nachkommen  in  die  londoner  und  pariser  Abschrift  gerettet, 
während  er  in  allen  andern  weggelassen  worden  ist.  Er  könnte 
freilich  auch  erst  in  den  Ableger  der  gekürzten  Sammlung  einge- 
setzt worden  sein,  aus  welchem  die  londoner  und  die  pariser 
Handschriften  zunächst  stammen;  allein  wahrscheinlich  ist  das 
nicht,  da  dieser  Ableger  ebenfalls  noch  in  Poitiers  gelegen  haben 
müßte.  Wahrscheinlicher  ist  es,  daß  dieser  Hymnus  bald  nach 
der  Unterschrift  in  das  erste  vollständige  Exemplar  der  Gedichte 
des  Fortunat  in  Poitiers  eingeschrieben  worden  ist,  d.  h.  wahr- 
scheinlich ist  dies  Lobgedicht  auf  Poitiers  und  auf  Fortunat  kurz 
nach  seinem  Tode  gedichtet  worden. 

Für  die  Genealogie  der  Fortunathandschriften  lernen  wir  also : 
die  londoner  und  pariser  Handschrift  (Äd  und  Ä)  sind  ganz  nahe 
verwandt  und  gehen  auf  eine  Stammhandschrift  zurück,  deren  Text 
gut  war ;  anderseits  gehen  die  Hften  HMDR  auf  eine  Stammhand- 
schrift zurück,  deren  Text  schon  umgearbeitet  war. 

Probestellen  aus  den  11  Büchern. 

In  der  Subscriptio  am  Ende  des  11.  Buches  ist  die  londoner 
Handschrift  (Äd)  der  pariser  (Ä)  am  engsten  verwandt  und  ist 
etwas  besser ;  allein  bei  der  seltsamen  Ueber lieferung  des  Fortunat 
beweist  eine  Stelle  nicht  viel.  Leo  führt  in  der  Einleitung  (S. 
XVIII  und  XIX)  eine  Anzahl  Stellen  auf,  mit  denen  er  seine 
Lehre  über  das  Verhältnis  der  von  ihm  benützten  Handschriften 
belegt.  Diese  habe  ich  ausgelesen  und  aus  den  Handschriften  Äd, 
H  und  0  (s.  S.  83)  mir  die  Vergleichung  dieser  Stellen  erbeten; 
dazu  habe  ich  die  Lesarten  von  S  gefügt. 

Nur  die  beiden  Handschriften  Ä  und  Äd  geht  Folgendes  an. 
Zum  Schluß  des  8.  Buches  notirt  Leo  über  Ä:  explicit  L.  VIII, 
deinde  hymnus  Prudentii  cathemer.  12,  49 — 156,  deinde  incipit  L.  IX. 
Ueber  die  londoner  Handschrift  Äd  erhielt  ich  von  Herrn  Biblio- 
thekar Herbert  folgende  freundliche  Nachricht:  fol.  116^  .  .  unde 
feratis  opes  .  uer.   xni  explicit  liber  octavvs.  |  Jam  flos  subit  daui- 


88  Wilhelm  Meyer, 

ticus  (Prudent.  i\  49),  Ende  f.  118  iam  nemo  posthac  mortuus 
(Prudent.  v.  208.).  explicit.  incipit  liber  nonus.  Ad  chilpericum 
regem  qnando  synotus  brinna  cohabita  est.  Ordo  sacerdotum  ue- 
nerandeqne  culmine  christi.  Ein  Fehler  beider  Handschriften 
ist  es  ja,  daß  die  Verse  des  Prudentius  hier  eingeschoben  sind; 
allein  Ad  mit  dem  vollständigen  Schlüsse  ist  doch  besser  als  A, 
in  welchem  die  letzten  52  Verse  fehlen. 

II  16,  43  incepit  SH(CMDGLR):  incipit  Ad{FB<')'.  incipit  hinc 
A,  Also  hatte  wirklich  die  Stammhandschrift  von  A  und  Ad  den 
groben  metrischen  Fehler  'incipit'.  Er  ist  in  Ad  treu  abgeschrieben, 
in  A  durch  Interpolation  verdeckt.  Da  die  Handschriften  A  und 
Ad  mit  den  Hften  F  und  jß"  sonst  nichts  zu  thun  haben,  so  scheint 
das  falsche  'incipit'  Lesart  der  verkürzten  Sammlung  gewesen  zu 
sein.  Ist  nun  das  richtige  'incepit'  in  SHCMDGLR  alte  TJeber- 
lieferung  oder  richtige  Correctur? 

III  2  §  3  (Z.  19)  notirt  Leo:  placidus  es  C:  placidus  est  BL, 
placidus  DGRM^,  placidu  A,  placid*  M^;  Ad  hat  ebenfalls  nur 
placidu,  S  und  H  nur  placidus. 

III  4  §  7  (Z.  8)  animi  Ad{AC):  amici  S^H  (reliqui  Leo's,  nostre 
amicicie  S^). 

III 4  §  12  (Z.  1)  conlegistis:  collegistis  AC,  collegatis  MDBLG^, 
coUigatis  B,  conligatis  G^.  Ad  hat  coUigistis,  H  und  S^  colle- 
gatis, S^  coUigatis. 

III  6,47  clericus  AdO{AC):  clerus  SH  (relL).  Also  gibt  Ad 
alte  Ueberlieferung,  0  richtige  Interpolation. 

IV  1,  9  memorabile  donum:  ^A  ante  oculos  habuisse  videtur 
memorale  (atque  in  P  legitur  memoliale);  scripsit  autem  A  niemo- 
raleque' :  so  sagt  Leo  S.  XIX  und  er  hat  Recht ;  denn  Ad  ist  hier 
nicht  interpolirt  und  bietet:  memorale.  Seltsamer  Weise  haben 
auch  IX  12,  1  die  Hften  (ACPM^)  memorale  statt  memorabile. 

IV  25,  21   aeterna  (CT):   AdSH  mit  AMDGBLRF  'terrena'. 

IV  26,  54  ecce  (CP):  esse  AdSH  {rell.) 

V  1  §  7  (Z.  25)  notirt  Leo:  post  stoicam  vulg.:  post  sthoi- 
cam  C,  potesthoicam  A3IRD^,  potest  hoc  iam  D^BL.  Ad  und  S 
bieten  potest  hoicam,  H  post  (te  über  o)  hoc  iam. 

VI  §  10  (Z.  15)  uestris  litteris  fiduciae  pignus  accepi  Ad{AC)', 
'litteris'  fehlt  in  den  übrigen  Handschriften,  auch  in  SH.  Doch 
haben  S{MB)  wenigstens  'uestris' bewahrt;  in  H{BLR)  ist  'uestrae' 
interpolirt. 

V  6  §  1  (Z.  3)  indulti  (AdAC):  indulgenti  H{MDGBLR\  in- 
dulgentis  0;  in  /S  fehlt  S.  112,  2-115,  16. 

V6  §  8  (Z.3)  difficulter  Ad{AC):  difficultate  HO(MDGBLR). 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's.  89 

V  6  §  8  (Z.  4)  quo  prodirem  Äd(ÄC):  quo  proditorem  H(MDGB\ 
quo  proditore  {LR);  quod  proditor  e  (nova)  0;  S  fehlt. 

V  6  §  11  (Z.  20)  uiscatura  tendebar:  uescatur  tendebar  C; 
die  übrigen  Varianten  s.  bei  Leo;  Ad  und  H  haben  uescata  ten- 
debar =  BM]   uiscata  tendebar  ABL;   0  hat  uersando  tendebam. 

V  6  §  16  (Z.  12)  singuliue  Ad{AC):  singuli  uel  HiMDGBLR). 
In  VI  1  haben  statt  der  Namen  Sigibercthns  und  Brunichildis 

die  Handschriften  C  und  P  gesetzt  Chlothacharius  und  Bilichildis ; 
AdSHO  gehen  mit  allen  andern. 

VI  1,  138  seruans  (CP):  seruiant  Ad(A),  seruat  SH{MI)GR), 
sernet  0(BL). 

VI  1*,  4  ingenium  Brower:  iterum  AdSH  (rell.),  itnrum  0, 
hinc  iterum  (A). 

VI  10,  67  sede  Sapaudo:  sedes  apaudo  (AC),  sedes  apaulo  Ad, 
sedes  aplaudo  SH(MG^R),  sedis  aplaudo  (Ven),  sed  esse  plaudo 
(BL),  s  esse  plaudo  (D^)  sede  plaudo  (D^). 

VII  17, 3  pectore  claudo :  pectore  laudo  (C),  pectore  AdS(A3PV), 
pectore  gesto  HO{BGBLRF). 

VIII  1,  17  nomine  Ad{E,AGM):  lumine  SHO(DGBLR). 
Vin  1,  64    glorificanda   Ad(AC):    glorificante   2J ,    glorificata 

SHO  {rell). 

VIII  3,  345  fructu  meruit  nee  Ad{AG):  meruit  nee  (fructu 
om.)  S^H{3IBLRF),  meruit  modo  haec  nee  S\D),  meruit  iam  nee 
modo  {G),  meruit  demum  nee  0.  (V.  347  lautet  in  0:  Omnis  non 
validi  est  spes  prorsns  rapta  doloris). 

VIII  7,  4  aperta  suis  Ad{AC):  perfecta  suis  {D) ,  *perfecta 
suis  (üf),  aperfecta  suis  S^,  aper***ta  suis  /S^,  perfecta  (suis  om.) 
E{GBLRF),  perfectis  0  {Par.  vulg.). 

IX  2,  19  iustissima  denique  proles  {ß  und  y  =  Paris,  lat. 
4887  und  Bern.  455):  iustima  denique  proles  ((7),  iustissima  {om. 
denique)  proles  {d  und  rell.)  SH  und  {mit  prolis)  Ad,  hi  iustissima 
proles  {R);  Sicque  dehinc  iafeth  iusti  iustissima  proles  0. 

X7,  44  amor  {C),  amor*  {A):  om.  AdS{P),  opis  H{MGBLRF), 
opus  0. 

X  15,  7  solo:  loco  (C),  iUo  Ad{A),  caelo  SHO  {rell.). 

X  15,  8  ecce  tuus:  hoc  tuus  Ad(CM),  hocque  tuus  {A),  hicce 
tuus  {Ven.),  hoc  tuus  est  HO{DGBLRF),  hac  tuus  est  S. 

XI  8,  3  profecit  S{DGL):  proficit  AdH{CPMBR),  proficiat  {A). 
XI  25,  13    quo  AdHO   {rell):    quod   S\MDBL)        aquilo   Ad 

{EA^E  =  Laur.  45,26):  aliquo  SHO  {rell). 

XI  25,  20  horrificis  AdO{UAE):  horrendis  S{MDGBL),  horri- 
feris  {R),  horrisonis  {F),  horrus  //. 


90  Wilhelm  Meyer, 

Vollständige  Vergleichung  der  Handschriften  AdSHO  zu  den 
Gedichten  III  no  13— no  30  und  V  no  1  §  5— no  5.        Die  zu 

einzelnen  Stellen  gegebenen  Lesarten  beweisen  vollständig,  daß 
die  londoner  Handschrift  {Ad)  der  pariser  14144  {A)  gleichsteht 
und  bei  der  kritischen  Bearbeitung  der  11  Bücher  des  Fortunat 
in  Zukunft  berücksichtigt  werden  muß.  Auch  die  andern  Hand- 
schriften S'  H  und  0  sind  hierbei  gelegentlich  beleuchtet  worden. 
Doch  solche  Blendlichter  geben  nicht  immer  ein  richtiges  Bild; 
man  muß  auch  die  Handschriften  in  ihrer  Häuslichkeit  beobachten, 
wenn  man  sie  allseitig  richtig  beurtheilen  will.  Deshalb  habe  ich 
zu  etlichen  Gedichten  alle  Lesarten  der  4  von  mir  neu  benützten 
Handschriften  gegeben.  Diesen  habe  ich  stets  die  Lesarten  bei- 
gesellt, welche  zu  der  betreflPenden  Stelle  etwa  Leo  notirt  hat; 
die  übrigen  kritischen  Noten  Leo's  habe  ich  hier  nicht  angeführt. 
Um  den  Fortunatforschern  schon  jetzt  etwas  zu  nützen,  habe  ich 
die  2  großen  Lücken  der  Handschrift  A  ausgewählt:  III  13,  39 — 
26,  18  und  V  1,  11—5  §  1  extr.  (s.  Leo  S.  V).  Hierbei  ergeben 
sich  auch  kleine  Stellen  (III  13,  5—39;  in  26,  18-30,  4;  V  1 
§  5 — §  11 ,  endlich  V  5  §  2) ,  an  welchen  man  auch  die  Hand- 
schriften A  und  Ad  noch  vergleichen  kann.  Diese  2  großen  Partien 
sollen  hauptsächlich  die  genauere  Prüfung  der  4  Handschriften 
ermöglichen. 

in  13  S  fol.  16\  2.  Spalte  mettinsem  SiADGBO')  1 
ceruleo  S  1  mosella  (AJDG^BL):  museUa  S{CMRFG^)  5  in 
Ad  {London  BriL  Mus.  Addit.  24193)  beginnt  fol.  39^  5  Hinc 
S{etc.):  hie  Ad  6  Inpauperiore  S  7  mosellam  Ad{ADG^BL): 
musellam  S{CMRFG^)  9  frondata  Ad  allein  9  loco  Ad{etc?j: 
locus  S{MDG^f  locos  R)  11  deliciosus  Ad(etc.):  diliciosus  S{C, 
dilitiosus  B)  12  culpa  S^  12  ui  discernis  Ad^  (des  Ad^) 
12  at  AdS\MDBLFG^):  ad  S\C,  et  AG^Ven,  atque  R)  13  ue- 
stitus  Ad  15  amnes  Ad(AC3P,  omnes  6r*):  vielleicht  echte 
Lesart  trotz  der  harten  Construction.  Um  Metz  strömt  die  Mosel 
'seu  qui  Mettis  adit  de  sale  nomen  habens'  (VII  4,  16).  16  ponti- 
fices  Ad        17  aetheriis  S{APMDGLB'):  aethereis  Ad{CB'RF) 

18  mit  Stratus  beginnt  H  (Palatinus  1718)  pag.  37  18  leuat 
Ad{ACPG'):  lauat  SH(MDBLRF'G')  20  dulcis  S'  28  blande 
S^  29  opes  H{R,  om.  F)  31  sacias  S  31  quQrulum  AdH 
31  obliuiscetur  Ad{F)  32  atriis,  p  über  a,  Ad  32  exsul  S 
34  tristitia  Ad{P^3P)  35  illic,  n  über  ic,  Ad;  iUic  H  36  nihü 
Ä^  36  inobs  S{C)  37  melius:  incelis  H  37  quam:  tua  Ad  HS 
(alle  Leo's)  (38  diffundis  Ad:  defundis  A)  38  paradisus  SH{AL): 
paradysus  Ad(CPGBR,  paradyssus  M)        39  mit  Culmina  beginnt 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's.  91 

in  0  (Oxford,  Bodlejana  Auct.   T,  2.  25)  foL  37'' ;  nach  Culmina  fehlen 

in  A  zwei  Blätter        39   uillice  OH        42   aptatum  (C) :    optatnm 

AdHO  {Leo:  rell),  obtatum  S        extensos  HO{etc.):  extensus  AdS- 

(MBL)        u.  XLim  AdS(MD):  om.  HO{etc.). 

III  13a         XIV   (DG):    keine    Nummer    AdSHO    (rell.    Leo)         item 

AdHO{etc.):  om.  S{DBLF)      de  coNvmo  0(F)      1  prosunt  0(BG''): 

presunt  Ad,  praesunt  SH{GPMBG^RF,  christns  L)        2  sacias  S', 

menbra    0        3    conuiuos  S^        4  cleare ,    co  über  c.   Ad        tj.  im 

AdSiGMB):  om.  HO(etc.). 

III  13  b       XY  (G):    keine  Nummer  AdSHO  (rell.  Leo)        ad  evndem 

BL:   EniSDEM  AdH(CMDR),   ad  eiusdem  S,   eivsdem  ad  evndem  (G); 

dann  ohne  Item:    ad  epsvm  episcopv  de  eadem  re    0,    peticio  eivsdem 

PANis  IN  MENSA  F        1  ouis  HO(etc.)  i   oues  AdS\MBF)        2  panes 

Ad        u.  II  AdS(CMD):  om.  HO(etc.). 

III  13  c      XVI  {G):  keine  Nummer  in  AdSHO  (rell.  Leo)      in  mens a: 

NM  H      ETvs  DicTVM  om.  0{F,  DicTVM  om,  L)      3  apelas  Ad^,  aepvlas 

Ad^        u.  mi  AdSiMDG^):  om.  HO(etc.). 

UI  13d         XVII  ((r);    keine  Nummer   AdSHO   (rell.   Leo)  Titel 

in   0:   DE   copiA  piscivjh   svper  mensam         2   Petri  SHO(BDLG^F^): 

et  petri   Ad(CMRF'Ven,   *petri  G')         u.  n  AdBS(CMDG'):    om. 

HO(etc.). 

III  14         xim  AdS   (etc. ,    xv  D ,    xvm   G^) :    viii  H,    om.    0 

GARENTINO    S  COLONIAE    Om.    H(B)  AD   CARENTINV    EPISCOPV    COLONIE 

0(L  und  ohne  coloniae  F)  3  prefert  Ad  5  creatus  Ad,  Cre- 
ator H  6  ignotus  Ad(M^)  7  aiFectu  AdSHO  7  astringis  0 
8  nunquam  0  8  desociare  H(C)  11  conplens  AdH(CPM):  com- 
plens  S      13  sectator  SHO.  rell.:  &^Qi^,t\xT  Ad(FM'C\  sectetur  C^) 

15  mitis  S\GVen):  mihi  AdH  (rell.  Leo)]  placidusque  mihi  0(L) 

16  rapies  Ad  18  letificas  H  18  tristitia  Ad(P^)  18  corde, 
e  ^w  a  corr.,  Ad  18  tuo,  o  ex  a  corr.,  0  19  cibus  esse  det 
esu.  Ad]  des,  darüber  et,  S]  es  dasque  esurientibus  escam  0  19 
Qsca  H  21  innouas  H  21  praecioso  Ad,  pcioso  SO,  petioso  H 
23  muneri  S  23  capatia  Ad  27  longeuo  AdSHO  28  uer.  xxyiii 
AdS{BM.\  xxiii  M^):  om.  HO(etc.). 

III  15  XV  AdSH(etc. :  xvi  B,  xvm  G^) :  om.  0  egidio  S  remrum 
H  AD  iGiDiVM  remorvm  episcopvm  0  (und  so,  doch  ohne  remorvm, 
LF)  egidi  S^  (P^M^)  4  Licudibus  H,  also  war  seine  Vorlage  in 
der  Schrift  von  Corbie  geschrieben,  in  der  a  tvie  ic  aussieht  5  exsi- 
stere  S(MB)  6  quidquid  (PMR):  quiequid  AdSHO(CGBL) 
10  properis  0  10  urbe  Ad  11  effulges  SO(CBGLM^) :  effulgis 
AdH(PM^BRF)  15  fundes,  e  aus  i  corr.,  Ad  17  haberis :  alumn^ 
H      18  adest  0      20  satias  HO:  sacias  AdS       20  greges,  es  aws 


92  Wilhelm  Meyer, 

is  corr.,  S{gregis  F^C)  21  inplentnr  H{CPMR):  impl.  ÄdSO 
22  Delicias,  el  aus  il,  S  (Dilicias  B)  25  Heresis  AdSH]  Ira 
cadit  heresis  0  25  fosti  te  H,  in  welcher  Hft  die  alten  Ligaturen 
für  st  und  vi  sehr  oft  nur  mit  st  wiedergegeben  sind;  auch  Ad  ver- 
bindet hier  fortite  26  atquiris  H[C)  27  agros,  os  aus  is,  S; 
agros  spinis  0  27  solente  H  28  reges  Ad  29  exsul  S  30 
recepit,  ce  ^u  ci  corr.,  Ad  (recepit  P)  30  tereuouente  Ad,  tere 
foTiente  H  (32  remouens  neue  Hand  in  0)  32  amore  dapes  H 
36  ritergis,  e  über  rg,  1?;  geris  0{P)  37  super  om.  H  38  uer. 
xxxvin  ^c?«S:  om.  HO{etc.  bei  Leo:  'subscr.  v.  xxvm  CDGM^,  xxiir 
il/^'  ist  wohl  xxvin  Druckfehler  für  xxxvm. 

III  16       XVI  AdH{etc.):   xv  S  (xvn  D,  xx  G^):  om.  0        nilarivm 
H;    AD  SANCTVM  HYLARivM   0       2   absente  Ad       4   nunquam  0 
6  sintibi,    noch  ein  t  über  n,    ^fZ         6  cara  S^O{G^F*):  care  AdH- 
{CMDBLRF^G')     6  praecor  J.(^      üer.  vi  AdS(MDG):  om.  HO{etc.). 
III  17      XVII  AdSH{etc. :    xviii   D^ ,    xxi  G^) :    om.    0  de  berte- 

CHRAMNO  EPISCOPO  S{eiC.) :  DE  BERTECRHÄNU  EPM  Ad,  DE  BEATE  CHARÄNÜ 
EPM  H;  AD  BERTIGRÄNV  EPM  0,  AD  BEREHTRAMNVM  (G ,  BERTRAMXVM  L, 
BERTHERAMNVM     F)     EPISCOPVM     GLF  CVM     ELEVARETVR     S{CGB):      Cü 

ELEUARBT    AdII{M,     ELAVARET    R),     CVM    EVM  LEVARET    D  CVRRV    S{GB) 

CVM  &?5  curru  om.  LF,  qvod  ev  levasset  in  cvrrv  0  1  galia  ^rZ 
1  reddam  (M^R) :  redam  AdSHO  (rell.  Leo)  3  duplicib :  ingo  Ad 
5  Iloc,  v  über  o,  Ad  6  menbra  0  7  bertechramni,  i  aus  e,  S; 
bastechramni  H;  bertegräni  0  8  conpraehente,  den  über  nt,  Ad 
9  inplmnes  H,  implumes  0,  inplumis  AdS(MG,  implumis  C)  9 
f^tus  0  10  pinnula  S(CMI)):  pennula  AdHO(GBLF,  penna  ila 
R)  10  teget  Ad  11  opima  H  12  in  (G^Ven):  hin  ((7),  hinc 
AdSH{MDBLRFG'G^)'.  hie  0  14  Inde  H  uer.  xmi  AdS{CMD)'. 
om.  HO{etc.). 

III  18  xvui  AdSH{etc.:  xiii  M,  xvn  ^,  xix  D,  xxn  G^*):  ow;. 
0(RF)  Item  om.  0.;  ad  evnde  epm  de  opvscvlis  svis  0  1  sns- 
cepimi*s  sisepi  gramm.  Ad  1  cartis  0{CGBL)  2  coturnato 
AdSHO{alle  Leo's)  2   sopho   AdSHO{alle  Leo's)         5  plena   5 

(pl*na  D^)  6  ociana  sponte  ^ci  7  Nam  ^dS  tarn  ^d''  8  tro- 
iano  II{D) ;  traino,  a  über  in,  ^c?  9  Qd,  mit  Strich  durch  d  (quod), 
0  9  recitassis  S{MFD,  recitasse  R)  9  in  om.  0  11  compita 
AdHO{etc.):  cöpeta  S{BDLG^)  15  in  wier  cZ^r  ZeiZe  Ä^  15  sillaba 
0(C)  16  clada  H,  clauda  0  (doda  D^jR)  17  uenerandae  Ad^ 
17  praece  Ad  17  Noto  i?  18  meo  Ad  20  u.  xx  AdS{CDMG) : 
om.  ITO. 

III  19         xvim  AdSHietc,    xx  D,    xxin   G^):    om.   0(F)         aobi- 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's.  93 

coLAM  0{CBLF):    agrecolam  AdS{MD,    egrecvlam  G):  agregola  H 

(grecola  B)       episcopv  cavillonense  0       5  dulcis  Ad  6  i^e  H 
fouet  Äd{C)      7  partu  Ad      7  bones  S^      7  höre  H      9  s^nit  S 

10  effundit  H{BL)      u.  x  AdS(CMDG):  om.  HO(etc.). 

in  20      XX  AdSH(etc.:  xv  L,  xxiiD):  om.  0{F)      bitvrigvm  (BL): 

BITURICÜ  S,    BITURIIJÜ  Ad(CMD)  ,    BITURIUM  H{GR) ,    bitvricensiv  0, 

tvrrem  SH(CMD):   turre  Ad{GB)       script.   in  tu.  eins  om.  0{L) 
2  auarea  dona  offerant  H        3  crysolitis  AdH{CB) ,    chrisolitis  5, 
crisolitis  0{L)       3  salomonia  AdHO^GBL)'.  salamonia  S{CMBRF) 

5  sunt  Ad  7  et :  vt  JB"  7  tu  ist  nach  corda  getilgt  und  vor  corda 
iihergescliriehen  Ad  7  coeques  AdO^  coques  H  8  siraptae  S(etc.): 
syrapte  AdH{M,  seraptae  BL)\  Par  vidu^  merito  qu^  0;  in  0 
steht  oft  ivncta,  ivngor,  volat  etc.  u.  vm  S(GMDG):  uer.  viiii  Ad, 
om.  HO. 

III  31      XXI  AdS(etc.:  xxii  D,  xxv  G^):  om.  HO        atque:  et  0 
APOSThOLicis  AdH{GD,  apostholecis  M)        domno  Ad0{CDF),  dom  H: 

DOMTN'O    S(MG)  PECULIATER   Ad  y     PECVLIARI    0  dulci   Om.    0  FAT 

RIA  viTO  H       PAPE  AdH       HUM  H       domino  bis  patri  ausradirt  in 
B\   kurze  Titel:    ad  avitvm  episcopvm  L,   ad  a.  e.  arvernensem  B 
1  urbis  Ad:  orbis  ^ifO  (a?Ze  coc?c?.  Leo^s)      3  saluntur  If      4  quis- 
que  H(BLRFJyPG^):  quaeque  AdSO(CPM^DG^)      5  inmeritis  0^ 

6  Nemine  nänpascens  Ad  6  immemores  sis  Ad ;  essis  5  7  gregis 
Ad{M'^)  8  bic  0  8  quoque  cura  0{BLGF^):  cura  quoque  Ad- 
SH(CPMDBF^)       8  tibi  0{G):    tui  AdSH  (alle  Leo's   außer  G) 

11  agnes  aut  AdSH{CMDB):  agnes  simul  aut  0  (aut  agnes  aut 
GVeti,  laudem  agnes  aut  BL^  agnes  valet  aut  in  ras,  F)  rade- 
gundis  S{GLF):  radegundes  AdHO(CMDBB)  11  multiplici 
0{GBLF);  multipHcis  SH{CMR),  multiplices  Ad{D)  13  feras  0 
15  praecor  AdSH      uer.  xvi  AdS{OMDG,  x  i?);  om.  HO{etc.). 

III  33  xxn  AdSH(etc.:  xxiii  D,  xxvi  ö^^);  om.  0  ad  evndem 
(GBL):  ITEM  eiusdem  AdSH{CMDB);  item  ad  a.vitvm  episcopvm  i^, 
ad  ipsv  avitv  arvernense  episcopv  0  1  uenerand^  H  4  camona  5 
5  inueniam,  ut  über  in,  H  6  trutinato  SHO{etc.j  strutinato  D) : 
trociNato  Ad  (trotinato  CPM})  7  solua,  a  -s^w  o  corr.^  H  uer. 
vm  AdS{MDG):  om.  HO{etc.). 

III  33*  xxm  H  (xxvn  G^)\  om.  AdSO{etc.)  item  ad  eundem  epi- 
scopv 0  1  bonores  0  2  summa  H  6  promptus  AdS{etc.: 
prnmptus  M):  proptus  H,  promtus  0{RC^,  prumtus  P)  6  postio 
H  7  patri  euigoraltere  gentum  H  8  quQ  H  9  iugere  sonaret 
^/^iT,  (iuge  res.  LR)  13  amore  0{R^F^)  14  agnas  ^(^^  ujr. 
XVI  SH{DGR):  om.  Ad0(etc.). 
III  38      xxm  S(etc.:  xxiv  D):  xxii  Ad,  om.  HO      uereduno  Ad(etc.): 


94  Wilhelm  Meyer, 

YEREDVNV   H,    VEREDVNV  S         EPISCOPO    VEREDVNENENSE   F,    VIRDVNENSI   EPO 

0  (ad  agericvm  episcopvm  Z  ,    AD  A.  E.  VEREDENSEM  G)      1   uGredona 
AdS(DGBLF)'.   ueriduna  HO{CFMR)        1   clauderis  H       1  urbe 
Ad,  erbe  H      3  giro  0      4  iusit  Ä^  aiisit  S"^      6  festilitate  H 
6  metes  H{BLRF):  metis  AdSO{CPMDG)      8  contupHcabit  IT 
9   archani   0(GBL)        9   referas  ZT       9  penetrabat  S       10  pacis 
^(^^(C'Jf'ö^^)         10  pascis  at  ore  0        gregis  Ad{B^)       11    prae- 
tiosius  J.C?,  preciosius  SO        13   egregius   S{M^DG)        13   babtis- 
matis  0      16  fugiet  0      16  arte  /SO(eJ^c.) :  arta  Ad{BLR^ :  alma  F), 
asta  iJ      17  auidQ  0      20  soHs  ^(i      20  potTi*s  H      ^sca  HO 
V.  xxn  (CD):  ü.  xi  AdS{MGB;    H  hat  ver  Zin/rs   ?;or  item   und  xx 
recÄ^s  am  Band  als  Nummer  von  23  a):  om.  0{etc,). 
III  23*      XXIV  {GL):  om.  AdSHO{etc.)      agerico  AdS\etc.):  agyeico 

H(MB),     AGIRICO    S\D),     ACERICO   (C^)  EPM   H        VEREDUNUM   S         ITEM 

DE  AGERICO  EODEM  B;  ITE  AD  AQERICV  VIRDVNENSE  EPM  0,  I.  AD  AG.  EPI- 
SCOPVM (Z),  I.  AD  EVNDEM  (6r)  1  currum  AdHO{etc.):  cursum  S{DBL) 
3  uendicat  0  5  cbomsas  0  7  colent§  H  8  segites  HS^- 
(CPMR)  8  festüitateiT  9  sterüis  0{etc.):  sterelis  AdSH{CPM) 
9  freunde  0  10  iturae  Ad  11  iUecebris  0  11  larciua  Ad 
12  bil  jET  12  amor:  amator  H  14  menbra  0  17  seua  sere- 
condi  Ad,  seua  fere  condi  H  19  s  (sww^)  ^iZ>er  (?er  Zeile  Ad^ 
20  sie  Qris  Ad  21  doctilocum  ^d\  doctelocum  Ad^ ;  Doctilum  JT; 
Doct*loquum  0,  e<;o  o  ^w  e  corrigirt  zu  sein  scheint  (doctiloquum 
BL)  21  fonde  0^  22  et:  Tt  JE?  sterüis  jy(jP^)  23  misteria 
SO(CGB)  24  plebs :  plus  AdSHO  {alle  Leo's)  25  triumphans  Ad 
26  monitis  AdSHO{etc.):  monitus  (CJf^)  26  praemat  AdS  27 
diliciis  6'  (diUtiis  B)  28  saciat  ^(?fi',  sciat  H  populus  H  29 
opem,  0  zu  &  corr.^  Ad  30  quidquid  {PM^R):  quicquid  AdSHO- 
{etc.)  32  uota  H  uer.  xxxn  AdSH{CMJDR):  om.  0{etc.). 
III  34  xxim  AdS{etc.:  xxv  DZ):  om.  jffO  ad  uiro  uenerabile 
Ad,  ad  venerabilem  vmv  0  (uir.  uen.  om.  LF)  anfionem  H{CG): 
ANEIGNE  AdS{MDR) :  amfione  0{BLF)  prbm  SO,  presbiterum  U(etc) : 
PRBO  Ad,  PRESBYTERO  {MD)  2  praetiosa  Ad,  pciosa  SO  Die  Verse 
3  quem,  4  conspexi,  5  Anfion,  6  atque  folgen  sich  so  in  AdHO{CPF)] 
dagegen  5  6  3  4  in  S{DGBL);  3  und  4  fehlen  nach  Leo's  Angabe 
in  {MB);  dagegen  theilt  auf  meine  Anfrage  Dr.  Schwalm  mir  mit, 
daß  R  {Vatic.  Regin.  329)  die  Verse  3  4  5  6  in  dieser  Reihenfolge 
enthält.  4  lumine  esse  H  5  amphion  0  (amfion  L)  7  quem- 
cuque  H,  quecunque  0  7  uideNS  Ad  9  alloquio:  sie  Hn  uno 
cod.  Vaticano*  teste  Luchio,  alloquium  Codices  quos  vidi:  so  Leo;  allo- 
quium  AdSO :  aUoquio  H,  also  ist  dies  LuchVs  Vnticanus  9  iocunda 
AdSHO  und  alle  Leo'a       9  uoluptas  0       10  unianimes  Ad{CPM^- 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's.  95 

DB):  unanimes  SEO(GBLM^)  12  manes  Äd{GP):  manens  SEO- 
(MDGBLRF)  13  seneote  ÄdH  14  Qui  H  14  prestat  H 
15  promptus  ÄdS(etc.):  prumptus  II{PMR,  prump  D),  Promtus  0 
15  redundas  ÄdSHO  16  urbe  (BL):  orbe  AdSHO(etc.)  17  hu- 
man?  ÄdH  17  effers  S  18  nnda  Äd  19  effert  0{PMGBLC^- 
Yen) :  offert  AdSH{DF,  effer  C^  effere  J?)  20  iuditio  i?  ü.  xx 
AdH{CMGR):  u.  xxi  S:  om.  0(etc.). 

III  35      XXV  AdS{etc.:  xxvi  L):  xv  H:  om.  0      abb  ^6?,  abbt  H 
2  iurae  paternae  Ad        2  reges  AdS{CPM^I)B^):  regis  H{GLEF' 
M'^B^Ven):   geris  0       3  quid  5^       4  praece  ^c?       7  optineat  0 
8  relegis   AdSO{PGF) :    religis   H{GMDBLR)      8  me  Ä0(e2Jc.,   mis 
i^):   ow.   AdH(DR)       memorale  H       uellis  J.rf^        u.  viii   AdSH- 
{CMR):  om.  0{etc.). 
III  36        XXVI  AdSH{etc.,  xxvii  X):  ow.  0        ruccone  Ad,   rucone 

S{R)  DIACONÜ   S{etC.)',    DIACONE   0{LF),         DIACON  //,    DIAO"   Ad         MODO: 

POSTEA    0  PRBM   SO     (PRESBYTERVM     BG^):      PRBO     AdH      (PRESBYTERO 

MG^R,   PRBO  RC)        5  Sequa  nate  AdH       5  brittanica  Ad(B^) 
7  subtrait  H       9  sepe  0      15  estotemei  >S''      15  repraehende  Ad 
17  humana  S      17  NÜet  ^c? 

18  mit  ac.  dorn,  beginnt  die  Hft  A  wieder  18  nfo  SO{ACMDGBL): 
Non  ^c^(P),  SCO  i/{i?i^)  üER.  xvm  AdSH(AMR,  xxvm  D):  om.  Oetc. 
III  37  XXVII  AdSH(etc.,  xxviii  DZ);  owi.  0  ARchmiACONU  Ad(C- 
DLVen,    archidiacvm  G):    arcidiaconv  ÄS(^ilf 7?) :   archidiacone  0{F) 

DE  MELDVS  H(CM^)  :  DE  MELDIS  AdSO{ABM\  MELLIS  2>,  MEL  i?)  :  MELDEN- 
SEM FVen,  MELDiNSEM  L,  MiLDiHSiM  G^,  MiLDiHENSiM  G'^)  1  uestris  Ad 
4  dulcis  an.  Ad{C)  5  prumptus  (PM^R),  promtus  0  5  saciare 
Ad  u.  viii  AdSH{ACMDGR):  om.  0(etc.)  8  mit  habes  ew<?e^  <Zt> 
a7^e  Hand  in  0. 

ni  28  xxvm  AdS(etc.,  xxix  D):  om.  E{RF)  diaconvm  Ad"^- 

{etc.):  DiACON  H:  diaconem  Ad'\F)  2  inexiguis  S^  2  coare  S^ 
2  ioliannis  AdS\etc.):  iohannes  HS\BLG^)  2  haue  .S^  10  relegis 
AdS{ADGL):  reHgis  H{PMBF,  regis  i2)  me  AdSH{etc.'.  om.  R, 
add.  B'D\  mis  F)  u.  x  AdHS{AMGR):  om.  (etc.). 
111  39  xxvmi  AdSH{etc:  xxx  DZ)  anthimium  J.(?Zr(e^c.) :  antimivm 
>S(i4^),  anthemivm  {GVen)  epm  J.d^,  (?aww  getilgt  diaconv  Ad^S- 
(MJDGB):  diacone  Ad^H{ALRF)      2  amor:  c?atwi^  endet  p.  46  H 

7  disce  tota  citus  Ad      13  presens  J.ci      15  praestis  Ad{PM}) 
u.  xvm  AdS{ACMDG). 

111  30  Dies  Gedicht  stellt  auch  in  der  Pariser  Handschrift 
13048  (2;)  fol.  52  nach  Appendix  no  9  und  vor  XI  20,  V.  6—8. 
Das  notirt  Leo  S.  VIII;  da  er  aber  S.  77  nicht  die  Varianten 
gibt ,    so  notire  ich  sie.     xxx  AdS{etc. ,    xxxi  DL) ;    in  Z  steht  nur 


96  Wilhelm  Meyer, 

die  gewöhnliche  Formel:  eiplicit  item  ALroo  2  amorae  2  3  Cö- 
arpe  Ad  3  iter,  i  in  corr.^  Ad  3  quo  S  4  carpae  H  mit 
4  iter  endet  föl.  46*  in  Ad 

5  honus  S(DG^)       5  nequQ  2J       6  patientur  opes  Z      7  sub- 
der^  2J     8  mereantur  S(DBL)      9  Quo  sua  .  .  colet  seiet .  .  tener^ 

27  10  ieiunas    erit  quia  2J       12  mar§  2J       13  rabi^  27,    rabiem 
SiBGLF)       turbantQ  Z       14  ill§  Z       15  qu§r§ns  2;      17  prelia 
.  .  quoqu^  car^  27       18  proelia  sum^  27       19  amor§  u.  ferr^  27 
20  abore  S        21  u.  22   fehlen   in  27;    auf  20  folgt  unmittelbar  XI 
20,  6       UER.  xxn  S{ACMDG):  om.  (cett.)       habet  versvs  dcclxxxh 

EXPLICIT  LIBER  TERTIVS  INCIPIT  LIBER  QÜARTVS  S{ADG):  EXPLICIT  LIBER  IH 
HABENS    VERSVS   DCCLXXXH    INCIPIT    LIBER   IV    B 

VI  §  5  =  Leo  p.  102  Z.  15  =  Ad  f.  6P  S  f.  25^  16  fructi- 
bus Ad  17  colloquii  Ad  17  conmercium  Ad{C),  comnertium 
S{MR,  commercium  DB,  commertium  AL)  18  discrepanti  Ad 
18  praetium  Ad  ineptum  AdS(ACMD ,  inemptum  BLB)  19 
restringitur  S  19  infecit  Ad  19  periodis  Ad(LR)j  perhiodis 
S{Ad)  20  epicherematibus  Ad^(L)  enthymemis  Ad  (en  aus  in 
corr.):  inthymemis  Ad\ACD)j  inthimemis  S{MR),  intimemis  (BL) 
20  syUogismisque  Ad%AB,  sill.  L):  fiUog.  Ad\GMDR),  filog.  S 
20  quo  laborat  quadrus  Maro,  quo  rotundus  Cicero :  daß  diese  Worte 
trotz  des  Spondeus  im  3.  Fuß  ein  trochaeischer  Septenar  sein 
können ,  habe  ich  nachgewiesen  in  Ges.  Abhandlungen  II  344  ffl. ; 
daß  sie  ein  Septenar,  also  ein  Dichter-Citat  sein  müssen,  beweist 
der  Schluß  'rotiindus  Cicero'.  Das  ist  kein  rythmischer  Schluß: 
aber  Fortunat  schreibt  rythmische  Prosa  21  aput  S  21  illic 
(R) :  illinc  Ad{Aetc.),  hinc  S  21  deficillimum  S  22  promptu 
AdS{ALM^)  22  compori  S  22  quoniam:  quo  Ad,  qm  S  22 
cole  Ad  23  difundis  Ad  23  propaginis  AdS{DLR)  falces  S 
succidis,  ci  aus  ce  corr.,  Ad  23  uinitores  Ad  24  modorante  S 
24  germinat -4c?  25  post  sthoicam  (C):  potesthoicam -4<?/S(^Mi^D*, 
potest  hoc  iam  B^BL)  26  peripatheticamque  AdS(efc.)  tirocinio 
Ad{eic.):  tyr.  {AL)]  tirocinium  ancipatum  S{C)      27  exomet  S\BL) 

28  reflectis  Ad(etc.):  flectis  (A)  29  nobis  S  29  aristothelis 
S{AD):  fristhothelis  Ad  29  chrysippus  (R):  crysippus  S{CDB), 
chryssippus  (M),  crisippus  {AL),  crisipphus  Ad  30  opinioni  AdS- 
{ACMDR)  30  Leo  *nec  legenti,  dazu  die  Noten  nee  legen ti  vulg. 
nee  ligenti  CM^D ,  negligenti  ABLRW.  nee  legenti  Ad',  negle- 
genti  S  30  agustinus  quo  Ad  (ag.  AL,  quo  alle  Leo's)  p.  103, 
1  uisione  Ad(CM'^,  uissione  M^)'.  uisioni  S{ADBLR)  2  tenatius 
Ad      4t  cleantarum  (0),  cleentarum  Ad{R),  clientarum  S{ADBLM}j 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's.  97 

clentarum  M^)  5  autumo:  autem  o  {alle  Leo^s),  aur  o  5,  ante  6 
Äd  qui  ad  S{etG.) :  quid  inquid  Äd  6  egroto  ÄdS  6  decubante 
Äd  7  aere  S(D)  7  debiti  repromisit  (MBLA^) :  deb&ire  prom. 
AdS  (debet  ire  prom.  GBR,  deb**reprom.  J.^)  9  sacratissime  Ad 
10  adque  S  clementissimae  (ACBL):  clamantissim^  AdS(DB), 
amantissimae  (M)  13  et  redemptorem  S(etc.):  om.  Ad{A)  14  di- 
lecto  Ad\      delicto  Ad^  (**lecto  A^),  delecto  S\M')      14  probo  S 

15  uestris  litteris  Ad{A(J):  uestris  {ohne  litteris)  S{MB),  uestrae 
{ohne  litteris)  BLR  15  accepi  pietati  {AGB):  accipi  pietati  Ad{B), 
acc*pi  pietati  5,  accipipiaettati  {M) ,  ac  pietati  (L),  ac  pieti  {B) 
17  domnum  AdS{etc.):  dominum  {AB)  18  aput  ;S  19  dimis- 
sisset  S. 

S.  103   Z.  20  mij5  prodiit  Je^mn^  S,  71  in  H       20  pras  S 
20  patronicorum  jET  (patrociniorum  L)      21  &  1?^,  ut  JBT^      21  aput 
fl"      22  commendati  AdSH  {alle  Leo^s)       sententiam  H       genitori 
Ad       23  tutore  moniri  Ad,   tuta  rem  uniri  H  (ductore  muniri  L) 

24  nach  accedens  fehlt  1  Blatt  in  A  25  praece  Ad  26  sospes 
{BL):  sospis  AdSE(CMDB)  26  absentis  SH:  absentes  Ad  26 
uoto  H  27  me  celebris  Ad :  mecebris  S,  melecebris  H  27  uestiua 
H  29  w.  30  sm(Z  in  Ad  und  H  wie  Prosa  weiter  geschrieben  29 
nomine  om.  S\R)  29  nobis  H{V)  30  praecare  AdH"^  30  ^((7Jf) 
haben  u.  ii :  om.  AdH{etc.). 

V  2      Die  Nummer  II  /e/iZ^  iw  AdSH]   Leo  notirt  nichts      item 

AD   EUNDEM   AdS{etC.,   ITEM   Om.    -B,   EPISCOPVM   odd,    B\   ITEM  EIUSDEM    (r): 

om.  H  2  exciperitque  ^(?,  exciperit  quQ  ^  3  senotiua,  am  Band 
serotina  H  4  auriret  Ad{CDV)  7  iUyricos  Ad{CP):  illiricos 
E(MGVBLB),  hüiricos  S  (dyllyricos  B)  7  scythicas  Ad{CPLM^): 
scbyticas  H  (sthyticas  B,  schithicas  G  V,  sebiticas  B) :  scbitcas  S 
9  matbeus  SH{MDVBL)  9  aetbiopos  S{GPDBLM'):  aetbiopas 
H]  aetbyopus  Ad{M^)  9  adtemporat  H  10  exbusto  Ad{G^P, 
exbausto  G^)  10  fundit:  fudit  AdSH  {alle  Leo's)  10  Bellica 
furor  persidis  H  in  der  Zeile ;  sonst  sind  oft  in  H  erklärende  Wörter 
übergeschrieben  persydis  Ad  12  uictati  ara  Ad,  uicta  ara  H 
(uictara  B)  13  perspicu  H  13  bartbolomeo  AdSH  14  exstat 
S       15  accelerans  Ad{GB):   adlecebrans  H      15  prisci:  sei  H 

16  excelente  AdH{M)      die  Verse  17  u.  18  fehlen  in  H  und  B 

17  plaudi  Ad  (laude  M^G^V)  19  uirtutum  S^  21  queritis  Ad, 
quirites  H  22  gallisue  basalus  Ad{MG^):  gallisuae  basulus  /S^ 
Salus  /S^  (gallisu^ba  salus  D,  galisueba  s.  P,  gallisuerba  s.  0), 
gallis  uera  salus  H{BG^,  gaUica  uera  s.  BL)  23  Insul  cum  Ad 
23  seuit  Ad  24  qua  H  24  festüitate  H  25  Heli^  .4(^,  hae- 
liae  SH       25  arestis  ^eZ       27  nemacent  H  (neu  iacent  P)       27 

Kgl.  Ges.  d.  Wisfl.    Nachrichten.  Philolog.-hiBtor,  Elasae  1908.    Heft  1.  7 


98  Wilhelm  Meyer, 

tupidis  Äd  28  font^  H  30  holeaster  S  34  praeporat  H 
34  sinu  S  36  huc  S"^  36  bona  H  36  perit  una  HS{CMB\ 
perat  una  i^):  peritnra  {GVBL):  poterit  tina  Ad  37  direxit  om.  S{V) 
37  antes:  escas  H  38  praemens  ÄdS^H  39  labrascam  J.(il?- 
(GBLM^):  lambruscam  S{M^DRG^,  lambrus  G^^F)  39  inestem  H 
41  zezania  AdH{CMDV^)'.  zyzania  5,  zizania  (G^^Zi?)  43  und^ 
fehlen  nur  in  H(und  R)  45  septa  SH  46  seru&  S  47  subpor- 
tante  ff(CFGR):  supportante  S(ML);  subportanti  Äd  47  trah& 
Ad  47  ipsae  H  54  ut  H^,  et  77^  54  seriiile  H  54  bonae 
^(i  55  fideli  semen  Ad  59  Audituris  H  59  uoce  5  60  for- 
tnnata  H  61  praecare  AdH  61  uidea  IZ^  63  radegund^  AdSH 
64  ut  AdH:  &  5(D)  64  scae  Ad,  sc§  If  66  conplaceant  SH, 
coplaceant  Ad  67  Adq:  Ad  68  caesarii  55":  cesarii  Ad  68 
arma  J.c^  69  antistes  (GBL),  antistis  (SB),  antestis  AdHiCMRV) 
69  lerini  SH{etc.) :  liriNi  Ad  71  tuearis  SH{etc.) :  tueris  J-df  (tuaris 
D,  tudearis  C)  72  hae  wwc?  darüber  sanctae  uirgines  H,  hQ  Ad 
(hae  C) :  haec  S  (und  alle  Leo^s  außer  G)  73  iNlustre  Ad{etc,) : 
ülarum  H       73  pulcro  5^       ü.  Lxxmi  AdSH(CMBV):  om.  (reliqui), 

V  3      III  AdS(etc.) :  om.  HO      in  0  beginnt  fol.  5^*  mit  ad  cives  etc. 

TVEONICOS    0{etC.,    TVEONICYS   M):    TOEONICOS   AdS,   TORONICVS    H{R)  DE 

GE.    EP.    AdSH:    DE   ADVENTV   GREGORII  EPISCOPI  DIGNISSDII   0         2   presulis 

0  5  ubis  Ad,  orbis  H  7  solliciti*s  Ad,  sollicitus  H  9  sacer- 
doti  (BL):  sacerdotii  AdSHO{etc.)  9  reuerienter  H  12  prebet 
0  13  egidii  AdSHO  (alle  Leo's)  14  radegundis  AdO(M^):  rade- 
gundes  >S'5  (Leo's  codd.  außer  M^)  15  sigibercthus  S^H(V):  sigi- 
berctus  S\M),  sigiberthus  Ad(BGB,  sigibercbus  R),  sigibertus  (OL), 
sigebertus  0  15  brunicMldis  AdO(MGVR,  brunchildis  B,  brun- 
cbildes  C):  brunidis,  hil  ilber  id,  H;  brunechildis  S  (brunehildis 
DL),  15  honore  Ad(D^B^)  16  iuditio  S  18  paradysiaco  AdS- 
(CPGB),  paradyssiaco  H  20  rapidis  Ad8H0(GVR)  20  dilace- 
randa  O(G'BL):  delaceranda  AdSH(CPMDVRG^)  21  gubernat 
S^  23  muneat  Ad(]üP)  23  praetiosi  ^(?,  pr^tiosi  H,  preciosi  0 
24  adque  Ad  26  spetiosa  ^c?^  26  botro  SO(etc.):  butro  ^d- 
(CPM"),  bruto  fl  29  excruciet  SHO(GBLR):  excru&  Ad(CPMDV) 
29  quam:  quo  0  30  liniret  ^c7(ilfS  lenieret  P)  30  Leniat  ut 
flammam  ferre  petatur  opem  0  31  uernante  AdHO(CPBLR): 
uenerante  S(MDV,  ueniante  G)  31  locandus  0^  32  placito  Ad 
36  sidirios  0  36  chorus  ^ci  37  astant  0(BR,  asstant  G) 
39  agustinus  Ad(CPLR)  40  Blasius  If  42  uitale  H  u.  xliui 
AdSH(CMD,  Liv  GF):  om.  0(e^c.). 

V  4       im  AdSH:   om.  0       ad  gregorivm  episcopvm  (omissis  reliquis 
L);  0  hat  nur  se^vvntve  veesvs  in  lavde  gregoru  episcopi       Item 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's.  99 

versus  {om.  B)  natalicio  S:  natalicivm  H{CM);  nataliu,  darüber  ci, 
Ad\  (per  compendium  reliqui:  Leo)  gregori  H(CM):  gregorh  ÄdS- 
(DGBR)  cum  bis  dictum  om.  Ad{LO)  antifona  S{B\  antefana 
H{CME)  MENSA  S(CMDBG),  mesa  H  (messa  R,  missa  V)  1  gre- 
gorii  Ad  2  Turonicum  0(Z):  Toronicum  AdSH\CPMDBG^,  tor- 
nicum  G^V)  3  priorum  AdSHO  (und  alle  Leos)  5  apostholicum 
H(CP)  6  domum  H  uer.  vi  AdSH(CMDG) :  om.  0(etc.). 
V  5  V  SH\  om.  AdO  eundem:  ipsv  gregoriv  0  iudeis  AdO 
aruerxum  AdS(CMDR):  arvern  (B),  arumnum  H  (v  =  vm  oder  uer), 
arvernicv  0,  arvernis  (GV),  om.  (L)  1  apostholicis  E(C),  apostoK 
0(R)  1  domno  AdSHO(etc.):  domino  (GV)  2  pape  jEf  2  optima 
^(Z  3  adque  Ad  p.  108  Z.  1  occaNsionis  Ad  1  inlate  S,  illate 
0  compte  ^cZlT,  comte  0  2  saltim  AdJSS\CBLR):  psaltim  (il/), 
saltem  0(G^),  om.  S\DG^)  2  comiter  IT,  comites  ^c?,  comiter  ist 
in  S  starJc  corrigirt,  wohl  aus  communiter,  was  0  hat  3  loculentia 
H  3  diligeres  0(BLM^G^):  diligeris  AdSH(CM^DG^B)  deleres 
AdHO(BLRM^):  deleris  S(M^DG)  3  et  ut:  ut  &  0  3  ipsi 
S(D)      4  quam  reprobes  fehlt  nur  in  II(R)      5  faude  H. 

5  tor  non:  damit  beginnt  wieder  A  nom&ä  H  5  me  AdSH- 
0(ACMBG^)\  inme  (DG^BL)  5  f^nora  ^(Z,  foenora  HO  6  pen- 
sare  0:  pensaret  AdSE(ACMBLRG^,  inpensaret  DF,  impensaret 
G^) ;  pensare  bezeichnet  vielleicht  dsiS  Abwägen  der  langen  und  kurzen 
Silben  beim  Bau  der  Distichen  6  illi  preceps  0  6  ingrueret  0 
7  Interim  anhelanti  0;  anelanti /S'(Z)F)  7  impliciter  AdSH(CLG^), 
simpliciter  O(G^)  7  expediti  0  8  deuotum  H  8  reputaturi 
nescio  Ad(etc.,  reputatur*  M^,  reputeturi  B,  reputetur  G^):  repu- 
tatur  inertio  S,  reputatur  (ur  mit  Abkürzung)  urinesio  S",  reputetur 
nescio  0  8  tempore  Ad  9  inungitur  H  9  habet*  0  9  spa- 
cium  HO  9  obsequüla  Ad^SH(ACMDG'B) :  obsequela  Ad\BLG^), 
obsequi  ita  0  10  morigera  0  10  deuote  H^  10  seruitute 
opto  ut  quod  0  10  in  laude  in  laude  H  11  canetur  HO^  ca- 
natur  0^. 

Die  neu  benützten  Handschriften  Ad^  S,  H  und  0 
an  und  für  sich  und  im  Verhältnis  zu  den  übrigen. 
Ad  steht  auch  in  den  oben  collationirten  Partien  eng  zu  A  oder, 
wo  dies  fehlt,  zu  dessen  nächsten  Verwandten.  Allein  Ad  ist 
offenbar  sehr  leichtsinnig  geschrieben.  Auf  Dictat  zeigen  viel- 
leicht die  zahlreichen  falschen  Worttrennungen,  wie  23  a,  17  seua 
serecondi  (se  vase  rec);  29,  7  disce  tota  citus  (discedo  tacitus). 
Der  Schreiber  hat  den  Sinn  nicht  beachtet  oder  nicht  erfaßt; 
daher  die  zahlreichen  Schreibfehler,  welche  diese  Hft  allein  bietet; 

7* 


100  Wilhelm  Meyer, 

z.  B.  in  m  13 : 9  frondata  statt  fundata,  13  vestitus  statt  vestitos, 
16  pontifices  statt  pontificis;  dann  z.  B.  V  2,  55  fideli  semen  statt 
fidelis  enim;  V  4,  wo  im  Titel  eine  Zeile  (cum  ant.  die.  rog.  in 
m.  dictum)  weggelassen  ist. 

S,  die  brüsseler  Handschrift  aus  Siegburg,  schwankt  an  der 
Grrenze  der  nicht  interpolirten  und  der  interpolirten  Handschriften, 
ähnlich  wie  bei  Leo  die  Handschriften  M  und  D.  Da,  ich  die 
Handschrift  S  selbst  habe  einsehen  können,  will  ich  hier  Stellen 
citiren,  welche  außerhalb  der  oben  verglichenen  Partien  liegen. 
Dabei  berücksichtige  ich  nur  das,  was  die  1.  Hand  geschrieben  hat. 

An  vielen  Stellen  stimmt  S  überein  mit  den  Vorzügen  oder 
mit  den  Fehlern  der  ältesten,  noch  nicht  durchcorrigirten Hand- 
schriften. 3,  2  §  3  hat  S  mit  allen  Handschriften  —  außer  C 
eregit  —  den  rythmisch  und  inhaltlich  richtigen  Schluß  'vos  .  . 
humilitas  quod  er^xit' ;  vgl.  S.  49,  13  sie  humilis  es ,  ut  habites 
erectus  in  caelis)  3,  6,  15  neu  morbus  inulceret  ÄCP,  nee  m. 
inulceret  S  =  M;  nee  m.  inulneret  R,  nee  m.  uulneret  DGBL,  ne 
moribus  uulneret  F  8,  9,  9  /S  hat  mit  ÄCMD  das  unverständ- 
liche 'latear'  8,  20,  9  reposcetur:  das  falsche  'reposcitur'  steht 
in  S'ÄCD  8,  21,  2  statt  Sophocleo  haben  sopocleo  D,  sophoclepeo 
ACM^:  sophoclypeo  S  In  dem  Panegyricus  IX  1  hat  S  V.  67 
mundo  =  ACM  (mundos  P)  statt  mundus;  110  proelii  S  =  M^j 
proeli  ÄCP  statt  proelia;  142  arma  und  147  autem  S  mit  Ä] 
143  edomites  tuearis  S  lückenhaft  mit  C  (ed.  tuaearis),  P  (eto- 
mites  t.)  und  Ä  (edomiit  estuaeris),  während  DGBL  'saevos'  und 
BF  'omnes'  ergänzen.  IX  7  steht  am  Schlüsse  in  S  dieselbe 
Unterschrift  ^Domine  his  annos',  wie  in  AMD,  und  zwar  in  S 
wie  in  MD  mit  rothen  Uncialen  geschrieben.  10,  7,  12  hat  S 
mit  ACM}P  praestit  statt  praestet;  16  S  mit  ACM^G^  parum 
staM  patrum;  21  locat  S,  ebenso  unverständlich  locar  ACM,  loquar 
P,  statt  loca.  10,  12  d,  9  hunc  vocem  S  mit  ACMD.  10,  16,  7 
haben  S  und  CMG  'die  mens'  mit  einer  Lücke,  welche  in  A  wie 
kurz  vorher  in  10,  8  durch  'que',  aber  in  BDLRF  durch  'd.  m. 
unde'  gefüllt  ist.  10, 19,  1  hat  S  wie  AC3IG  ad,  was  in  DBLBF 
fehlt.  11,  9,  11  hat  S  mit  ACDG  cinctus.  10,  5,  7  redemptorem 
e  caelo  CFG;  S  hat  im  Text  'redemptorem'  wie  DBLBF,  aber  die- 
selbe Hand  hat  unten  an  die  Seite  geschrieben  *uel  redemptore  e', 
was  AM  bieten. 

An  manchen  Stellen  stimmt  S  überein  mit  den  Correcturen 
oder  Conjecturen  oder  Schreibfehlern  der  jungem  Handschriften. 
So  hat  1,  16,  32  auch  S  das  richtige  'sed  dante'.  7,  6,  5  fehlt 
Talatina'  in  S  wie  in  MDGBLRF.      in  8,  U,  15  fehlt  allerdings 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's.  101 

'ergo'  (ÄC),  aber  sonst  ist  richtig  wie  in  DG^  'redditus  isti'  er- 
halten, während  B  hat  redditur  i.,  MBL  redditus  iste,  G^  redditns 
exsistens.  9,  1,  75  Lücke  in  ÄCPM,  die  mit  'et'  gefüllt  ist  in 
S  wie  in  DGBLEF]  dann  suebis  ACPMR,  dagegen  sueuis  S  = 
BGBLF]  ebenso  120  munera  (falsch  statt  'munere')  S  =  BGBL. 
9,  16  Die  Unterschrift  von  C  habet  epistola  versvs  xx  bietet  nur 
S:  habet  epistola  ista  uersus  XX.  10,  2  §  12,  S.  231,  3  hat  Ä  = 
BGBLF  fauorabilior ;  die  alte  UejDerlieferung  war :  fauora  debilior 
CÄMR  10,  6,  9  hat  /S  =  BG  almam  .  .  aram.  10,  8,  29  /Sf  = 
B^F  prosperas  integrum  statt  prospera  sint  regum.  10,  11,  34 
hat  S  allein  das  richtige  'populus',  während  Leo  notirt:  populis 
codd.  11,  14,  3  haben  ACM  ungues,  dagegen  S  =  BGBLR  das 
falsche  utens.  Hieraus  erhellt,  daß  derjenige,  welcher  die  Les- 
arten von  MBG  berücksichtigt,  auch  die  von  S  berücksichtigen  soll. 

H  In  der  pfälzer  Handschrift  sind  viele  Glossen  übergeschrieben. 
Die  Handschrift  muß  mit  B  nahe  verwandt  sein;  denn  z.  B.  läßt 
sie  mit  B  allein  Wörter  oder  Verse  weg:  so  im  Titel  von  3,  14 
das  Wort  'Coloniae';  in  V  2  die  Verse  17  und  18,  43  und  44;  in 
V  5  §  1  (S.  108,  4)  die  Wörter  'quam  reprobes'.  Manchmal 
stimmt  sie  mit  der  alten  Ueberlieferung,  wie  sie  V  2,  72  mit  Ad 
und  C  'hae'  bietet;  von  3,  23  ab  schreibt  sie  auch  unter  jedes 
Gedicht  die  betreffenden  Verszahlen.  Seltsam  ist,  daß  3,  24,  9 
U  allein  das  richtige  'alloquio'  bietet;  denn  sonst  verrathen  die 
eigenen  Conjekturen  nicht  viel  Scharfsinn.  Neben  vielen  falschen 
Worttrennungen,  wie  3,  22  a,  7  patri  euigora  Itere  gentum  statt 
patriae  vigor  altor  egentum  oder  V  1  §  10  (S.  103,  23)  tuta  rem 
uniri  statt  tutore  muniri,  finden  sich  nicht  wenige  Interpolationen, 
wie  3,  13,  37  in  celis  statt  melius;  3,  15,  17  alumn^  statt  haberis; 
3,  15,  32  dapes  statt  lares;  3,  23  a,  28  sciat  statt  saciat;  V  2,  3 
statt  'sementiva'  im  Text  'senotina'  und  von  derselben  Hand  am 
Rande  'serotina' ;  V  2,  73  illarum  statt  inlustre ;  V  3,  40  Blasius 
statt  Basilius.  Seltsame  Unbeholfenheit  verräth  es,  daß  die  beiden 
alten  Ligaturen  für  rt  und  für  st  vermischt  sind  und  sehr  oft  st 
statt  rt  sich  geschrieben  findet. 

0  Die  Oxforder  Handschrift  ist  ein  Muster  der  durchcorri- 
girten  Erlasse.  Die  Handschrift  bietet  viele  der  richtigen  Cor- 
recturen,  welche  sich  in  den  späteren  Handschriften  finden;  so  3, 
13a,  1  prosunt  {BG"")]  3,  16,  6  cara  (G^F^)\  3,  21,  8  quoque  cura 
{BLF^GVen)]  beachtenswerth  ist  auch  in  demselben  Verse  tibi 
{G)  statt  tui.  Wie  gewandt  und  keck  der  letzte  Ueberarbeiter 
war,  zeigen  manche  Stellen;  so  3,  14,  15  placidusque  mihi;  3,  14, 
19  cibus  es  dasque  esurientibus  escam ;  3,  15,  25  Ira  cadit  heresis ; 


102  Wilhelm  Meyer, 

3,  15,  36  geris  (P);  3,  20,  8  par  viduae  merito  statt  siraptae  me- 
rito;  die  manclierlei  Conjecturen  gegen  Ende  von  V  1  (S.  103); 
V  3,  30  Leniat  ut  flammam,  ferre  petatur  opem  statt  Ignem  ut 
leniret,  tunc  petebatur  opem. 

Die  obigen  Zusammenstellungen  sind  auch  lehrreich  für  die 
TextgescMchte  der  Gredichte  des  Fortunat.  Es  ist  ein  mehr 
äußeres  und  besonderes  Mißgeschick  gewesen,  daß  die  ursprüng- 
liche vollständige  Sammlung,  welche  nach  Fortunat' s  Tod  in  Poitiers 
zusammengestellt  worden  ist,  verloren  ging  und  daß  uns  nur  2 
Auszüge  aus  ihr  erhalten  wurden.  Den  einen,  ziemlich  willkür- 
lichen, kurzen  und  wiederum  (nach  Bl.  46)  verstümmelten  Auszug 
enthält  die  um  800  geschriebene  Handschrift  in  Paris  latin.  13048, 
Z.  Aber  immerhin  enthält  diese  Sammlung  fast  ebenso  viele  sonst 
unbekannte  als  sonst  bekannte  Verse.  Den  andern  Auszug  aus 
der  ursprünglichen  vollständigen  Sammlung  enthalten  die  übrigen 
uns  erhaltenen  Handschriften.  Diese  Sammlung  gibt  im  Grerüste 
der  11  Bücher  und  im  Inhalt  derselben  gewiß  weitaus  den  größten 
Theil  der  ursprünglichen  vollständigen  Sammlung  wieder. 

Aber  unklar  sind  die  Grrundsätze,  nach  welchen  innerhalb  der 
11  Bücher  Gredichte  weggelassen  worden  sind.  Unklar  ist  be- 
sonders das,  was  am  Schlüsse  geschehen  ist.  Das  26.  Gedicht  des  11. 
Buches  bricht  in  dieser  Sammlung  mit  dem  12.  Verse  ab;  dann 
folgt  in  MDG  {nicht  in  ÄdSHO  *  Ä  rell)  die  Verszahl  uer  xn,  end- 
lich die  oben  (S.  84 — 87)  besprochene  Unterschrift  und  in  A  und 
Ad  der  Rythmus  (oben  S.  32).  Dagegen  in  der  Hft  Z  folgen  auf  den 
12.  Vers  des  26.  Gredichtes  noch  6  durchaus  dazu  passende  und 
dazu  gehörige  Verse ;  dann  folgen  unmittelbar  noch  die  als  Appendix 
no  10 — 31  bei  Leo  gedruckten  22  Gedichte,  welche  offenbar  durch- 
aus zum  11.  Buche  passen  und  einst  an  dessen  Schluß  standen. 
Freilich,  auch  wenn  die  Sammlung  Z,  ganz  gegen  ihre  sonstige 
Art,  zwischen  diesen  22  Gedichten  kein  einziges  übersprungen  hat, 
würde  doch  dieses  11.  Buch  die  ganz  ungewöhnliche  Zahl  von 
mindestens  48  Gedichten  erreichen.  Hat  nun  derjenige,  welcher 
die  ursprüngliche  Sammlung  gekürzt  hat,  mit  Absicht  nach  dem 
12.  Vers  des  26.  Gedichtes  abgeschnitten?  Allein,  so  viel  wir 
nach  der  Sammlung  2  urtheilen  können,  sind  in  der  gekürzten 
Sammlung  stets  ganze  Gedichte,  nicht  Theile  von  Gedichten,  weg- 
gelassen worden.  Müssen  wir  deshalb  annehmen,  daß  in  dem  Exem- 
plar der  gekürzten  Sammlung,  auf  welches  all  unsere  Abschriften 
zurückgehn,  oder  in  der  vom  Kürzer  benützten  Abschrift  der  ur- 
sprünglichen vollständigen   Sammlung   die   letzten   Blätter   abge- 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's.  103 

rissen  waren?  Allein  woher  stammen  dann  die  Unterschriften 
und  der  angesetzte  Rythmus,  welche  in  den  besten  der  erhaltenen 
Abschriften  am  Schlüsse  des  11.  Buches  sich  finden? 

Die  innere  Textgeseliiclite  der  G-edichte  des  Fortunat  ist 
ziemlich  einfach.  Entstanden  und  zuerst  verbreitet  sind  ja  diese 
Gedichte  in  dem  Lande  und  zu  den  Zeiten,  wo  die  größte  Barbarei 
in  Sprache  und  in  Schrift  herrschte.  Wie  eigentlich  die  mero- 
wingischen  Schreiber  ihren  Handschriften  gegenüber  standen,  ist 
mir  noch  nicht  klar  geworden.  Sie  haben  selbst  wohl  wenig  stu- 
dirt;  sonst  hätten  sie  sich  dies  Studium  durch  einige  Sorgfalt 
beim  Schreiben  erleichtert.  Schon  die  merowinger  Schrift  ist  be- 
sonders häßlich.  Dann  scheint  vielfach  nach  Dictat  geschrieben 
worden  zu  sein  von  Leuten,  welche  weder  Grammatik  noch  den 
Sinn  des  Diktirten  verstanden  und  welche  deshalb  die  Vokale  und 
Konsonanten  hinschrieben,  die  sie  eben  gehört  zu  haben  glaubten. 
Dann  scheinen  die  Handschriften  selten  von  Gelehrten  revidirt 
worden  zu  sein  ^).  Karl  d.  Gr.  ergrimmte  bei  dieser  Lesearbeit  und 
gebot  den  Schreibern  durch  besondere  Verordnung  mehr  Sorgfalt. 
Doch  schon  die  Fortunathandscbriften  zeigen,  daß  die  alte  Sorg- 
losigkeit bis  weit  ins  9.  Jahrhundert  hinein  fortdauerte.  Auch 
die  Worttrennung,  welche  zum  bequemeren  Lesen  eingeführt  wurde, 
brachte  in  der  Uebergangszeit  manche  Verwirrung;  denn  sie  war, 
was  wir  aus  den  kritischen  Apparaten  nicht  sehen,  sehr  oft  falsch. 
Aber  man  kann  aus  discetotacitus  eher  als  aus  disce  tota  citus  das 
zu  Grunde  liegende  discedo  tacitus  enträthseln.  Dieses  Enträthseln 
der  schwer  verständlichen  Handschriften  muß  damals  in  den 
lernenden  und  gelehrten  Kreisen  eine  große  Rolle  gespielt  haben. 
Fortunat's  Gedichte  wurden  zur  Zeit  Karl's  d.  Gr.  viel  gelesen: 
aber  wie  lange  mag  ein  Einzelner  nachgedacht  haben  oder  wie  viel 
mag  eine  Gruppe  von  Studenten  disputirt  haben,  was  hinter  einem 
Verse  wie  Nemine  na  pascens  immemores  sis  ouem  stecken  möge, 
bis  endlich  Einem  der  Gedanke  aufblitzte,  daß  es  heißen  solle: 
Ne  minimam  pascens  immemor  esses  ovem.  Nahe  lag  es,  daß 
man  eine  andere  Abschrift  zu  bekommen  suchte  (die  Noten  q.  oder 
r. ,  d.  h.  quaere  oder  require  aliud  exemplar  stehen  am  Rand 
vieler  Handschriften),  um  die  vielen  Schreibfehler  mit  geringerer 
Mühe  verbessern  zu  können. 


1)  Als  Beispiel,  wie  man  in  diesen  Zeiten  mit  Texten  umging,  gebe  ich  im 
letzten  Abschnitt  die  Aenderungen ,  welche  das  Gedicht  de  s.  Medardo  (II  16)  in 
Legendenhandschriften  erlitten  hat.  Und  dabei  gebe  ich  mir  die  zwei  Hand- 
schriften gemeinsamen  Aenderungen,  nicht  die  zahlreichen  Fehler  jeder  einzelnen. 


104  Wilhelm  Meyer, 

So  entwickelte  sich  die  philologische  Thätigkeit  der  mittel- 
alterlichen Gelehrten.  Wenn  Einer  durch  Nachdenken  oder  durch 
Einsicht  einer  andern  Abschrift  die  Fehler  der  ihm  vorliegenden 
Handschrift  erkannt  hatte  oder  erkannt  zu  haben  meinte,  so  war 
es  natürlich,  daß  er  das  Gefundene  in  seinem  Exemplar  notirte, 
indem  er  entweder  das  Alte  ausradirte  und  das  Neue  hineincorri- 
girte  oder  indem  er  das  Neue  an  den  Rand  oder  über  das  Alte 
schrieb.  Mit  der  fortschreitenden  Gelehrsamkeit  und  mit  der 
Uebung  im  Versemachen  stieg  nicht  nur  die  Gewandtheit,  sondern 
auch  die  Lust  zum  Bessern.  Die  alte  Orthographie  wurde  mo- 
dernisirt,  so  wurde  antestis  zu  antistis  und  zuletzt  zu  antistes; 
Lücken  wurden  ausgefüllt;  metrische  Fehler  beseitigt,  oft  durch 
Umarbeitung  des  Verses,  und  nicht  verstandene  Wörter  wurden 
durch  frei  erfundene  ersetzt. 

Diese  2  Entwicklungsstufen  der  mittelalterlichen  Textesgeschichte 
treten  auch  in  den  Handschriften  der  Gedichte  des  Fortunat  zu 
Tage.  Von  diesen  ist  nur  P,  wie  U,  mit  der  Schrift  von  Corbie, 
also  um  800,  geschrieben.  Diese  Petersburger  Handschrift  ist 
auch  die  einzige,  welche  eine  stark  umgeordnete  Auslese  von  Ge- 
dichten enthält.  Alle  andern  Handschriften  sind  bereits  in  der 
Karolinger-Minuskel  geschrieben.  In  der  gemeinsamen  Mutter- 
handschrift muß  die  Stichometrie  eine  große  EoUe  gespielt 
haben.  Unter  jedem  einzelnen  Gedicht  war  die  Zahl  der  Verse 
notirt,  und  am  Schluß  des  ganzen  Buches  die  Gesamtzahl  aller 
Verse.  Zum  Ersten  notirt  Leo  bei  I  1  ^suhscribunt  vers.  xxviii 
ÄCMDGR;  versus  nusquam  computant  BL\  Diese  Vers  zahlen  sind 
auch  notirt  in  Äd  und  S  immer  und  in  H  von  3,  23  ab,  nirgends 
in  0.  Die  Gesamtzahl  der  Verse  des  Buches  findet  sich  jetzt 
noch  notirt  nur  am  Schlüsse  von  Buch  I  {CMDGV,  om.  relL),  von 
Buch  III  (ÄDGB,  om.  rell.)  und  von  Buch  IV  {ÄMDB,  om.  reih) : 
ebenso  steht  es  in  5;  von  ÄdHO  habe  ich  keinen  Bericht. 

Die  frühere  Stufe  der  Textgeschichte  zeigt  sich  in  den  Hand- 
schriften CPÄ  und  Äd.  Die  Orthographie  ist  hier  oft  verwildert, 
die  Worttrennung  schlecht,  plumpe  Schreibfehler  häufig.  Die  2. 
Entwicklungsstufe,  die  kritische  oder  verschönernde  Behandlung 
des  Textes,  tritt  hervor  in  den  Handschriften  Leo's  M'DGBLRF, 
und  in  SHO  von  den  meinen.  Natürlich  sind  viele  dieser  Besse- 
rungsversuche nicht  gelungen  oder  unsicher,  also  Interpolationen 
zu  nennen ;  aber  der  gelungenen  Correcturen  finden  sich  doch  ziem- 
lich viele.  Alle  aber,  die  gelungenen  wie  die  nicht  gelungenen 
Aenderungen  in  den  Handschriften  des  Fortunat  sind  offenbar  nur 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's.  105 

ex  ingenio   gemacht   und   ohne  Benützung   sonst  nicht   gekannter 
werthvoller  Handschriften. 

Leo  hat  über  seine  Handschriften  also  geurtheilt:  (S.  XVII) 
Inquirendum  est,  quibus  codicibus  maior  debeatur  jBdes.  Atque 
omnium  primum  constat  Codices  quibus  utimur  ad  quattuor  exem- 
plaria  redire,  quorum  primo  (a)  orti  sunt  AC  (=  Paris  14144  und 
8312),  quibus  proxime  accedit  P  (Petropolitänus  F.  XIV.  1),  prope 
accedit  31  (Ambrosianus  C.  74.  sup.) ;  altero  (ß)  DG  (Paris.  9347 
und  Sangallensis  196),  quibus  accedit  V  (Vaticanus  lat.  552); 
tertio  (y)  BL  (Paris.  8090  und  Laudunensis  469);  quarto  (d) 
RF  (Vatic.  Regin.  329  und  Barberin.  XIV.  94).  Idem  quem  in 
enumeratione  tenuimus  ordo  est  integritatis  et  fidei.  multo  minus 
reliquis  corruptus  et  unus  non  interpolatus  a  fuit,  non  paucis  locis 
interpolatus  /3,  data  opera  pertractatus  y,  mixtae  lectionis  omnique 
fide  carentis  d.  medium  quendam  inter  a  et  /3  locum  M  tenet. 
S.  XXI  in  aller  Kurse:  tantum  AGF  exemplari  pristinae  integri- 
tatis oriundos,  deteriore  sed  non  interpolato  M^  magis  magisque 
degeneratos  tenemus  DG,  BL,  BF.  atqui  cunctis  inter  se  compa- 
ratis  archetypus  restituitur  mutilus  et  corruptus;  de  integro  car- 
minum  corpore  unus  ad  aetatem  nostram  deductus  est  27. 

Ich  will  nur  aus  der  voranstehenden  Collation  zu  III  no  13 — 
no  30  und  zu  V  no  1 — no  5  etliche  Stellen  herausheben,  welche 
die  Textesgeschichte  illustriren  können.  Leo  hat  versucht,  die 
späteren  Handschriften  in  Gruppen  zu  gliedern,  hat  aber  oft  diese 
Gruppen  wieder  auflösen  müssen.  Ich  begnüge  mich  hier  die 
Stellen  in  2  Abtheilungen  zu  sondern,  je  nachdem  mir  die  späteren 
Aenderungen  irrig  oder  richtig  zu  sein  scheinen. 

I  Stellen,  wo  die  alte  Ueberlieförung  richtig,  die  spätere 
unrichtig  ist. 

III  13,  9  loco  Ad-  rell:  locos  B,  locus  S'MBG^ 

III  13,  15  quam  cingit  murus  et  amnes  Ad'ACM^j  omnes  G^: 
amnis  rell.  und  Leo  im  Text.  Der  Plural  ist  wenigstens  sachlich 
richtig, 

III  13,  18  leuat  Ad'ACPG'Ven.Fcorr:  Isiusii  SH' MDB LBF^G^. 

III  18,  11  compita  AdHO'rell:  competa  DG^BL, 

III  21,  1  urbis  Ad:  orbis  SHO  und  alle  Handschriften  Leo's, 

III  21,  11  Agnes  aut,  wobei  1  lange  Silbe  fehlt  oder  2  Imrze^ 
AdSH'CMDR:  es  ergänzen:  aut  GVen ,  laudem  BL,  ualet  F, 
simul  0. 

III  21,  12  multiplices  Ad'D,  multiplicis  SHCMBj  multiplici 
O'GBLF. 

in  23,  16  arte  SOrell:  arta  Ad{HyBLR\  alma  F, 


106  Wilhelm  Meyer, 

ni  23  a,  1  currum  ÄdRO'rell.:  cursom  SDBL, 

m  24  in  ÄdHO'GPF  und  in  B  folgen    sich   die  Verse  2.  3. 

4.  5.  6;    dagegen   in  SDGBL:    2.  5.  6.  3.  4;    in  31  (nicht   in  B) 

fehlen  die  V.  3  und  4. 

in  24,  10  unianimes  AdCFW-DB:  unanimes  SHOGBLMK 
III  24,  12  manes  ÄdCP:  manens  SHO'IIDGBLBF. 
III  24,  19  effert  0'PMGBLCVen{B):  offert  AdSH'DF, 
III  25,  2  regens:  reges  AdS'CPM'DB':  regis  HGLBFISPB^- 

Yen.,  geris  0. 

III  25,  8  me  SO'rell :  om,  AdHBB. 
UI  26,  18  nostro  SOrell.:  non  Ad-P,  sco  HBF, 
in  30,  8  mereamur  2JreU. :  mereantur  SDBL. 
III  30,  13  rabie  reJl,  rabi§  2;:  rabiem  SGBLF. 

V  1  §  7;  S.  103,  4  Cleantharum :  cleantarum  C,  cleentarum 
Ad'B,  clentarum  M\  clientarum  S'ADBLM^. 

V  1  §  10;  S.  103,  15  uestris  litteris  fiduciae  Ad' AG;  ohne 
litteris  haben:  uestris  fiduciae  S'MD,  uestrae  fiduciae  H'B{L)B. 

V  2,  22  ^um  Text  Gallisueba  salus  gibt  Leo  die  Note:  galli- 
sueba  MG^]  gallisugba  D,  galisueba  P,  gallisuerba  G,  gallisuera 
BG^,  gallicauera  BL.  Ad  bietet  gallisue  basalus;  S^  gaUisuae  ba- 
sulus  {S^  basalus);  H  geht  mit  BG^  gallis  uera  salus. 

V  2,  36  perit  una  SH'G3ID,  perat  una  B,  poterit  una  Ad: 
peritura  GVBL. 

V  2,  39  labruscam  AdHGBLM':  lambr.  SM'DBGV. 

V  2,  69  antestis  AdH'CMBV:  antistis  SB,  antistes  GBL. 
vgl,  z.  B.  11,  25,  9   antestis  ZA,   antistis  SMB,   antistes   GBLB, 

V  2,  72  hae  AdH'C:  haec  S  und  alle  andern. 

V  3,  31  uernante  AdHOGPBLB:  uenerante  S'MDV,  ueni- 
ante  G. 

n.  Stellen,  wo  die  spätere  Ueberlieferung  richtig  oder  mög- 
lich ist,  also  Correcturen. 

m  13,  43  extensos  HO'rell.:  extensus  AdUMBL. 

III  13a,  1  prosunt  OBG^:  presunt  Ad,  praesunt  SHCPM- 
DG^BF,  Christus  L. 

m  13d,  2  apparet  SHOBDLG'F':  apparet  et  AdCMBF'- 
Ven{G% 

ni  14,  13  sectator  SHO'rell. :  sectatur  Ad'PM\C). 

III  14,  15  mitis  S'^'GVen:  mihi  AdH'rell.,  que  mihi  0. 

m  16,  6  cara  S*0'G'F^:  care  AdS'HCMBBLBF'GK 

III  17,  9  implumes  0,  inplumes  H'rell,'.  inplumis  AdSMG, 
implomis  C. 

III  17,  11  in  G'Ven:  hin  C,  hinc  AdSH-rell.,  hie  0. 


über  Handscliriften  der  Gedichte  Fortunat's.  107 

III  18,  9  recitasses:  recitassis  SMFB, 

in  21,  4  quisque   H'BLRFM'G^:    quaeque  AdSOCFM^DGK 

III  21,  6  esses  HO'rell:  essis  ÄdS'CM^D. 

m  21,  8  quoque  cura  0-BLF^G{Ven):  cura  quoque  AdSE'- 
CPMDEFK 

III  22,  6  trutinato  SHOrell:   trotinato  CPM\   trocinato  Ad. 

III  23,  6  metes  H'BLRF:  metis  AdSOCPMBG. 

III  23,  10  pascis  Ad^S HO'rell.:  pacis  Ad^CM'G': 

III  23a,  8  segetes  AdO'rell:  segites  S^HGPMB. 

III  23a,  9  sterüis  O'rell:  stereHs  AdSHCPM. 

III  24,  9  alloquio  i7:    alloquium  AdSO'  'Codices  quos  vidi'  Leo. 

III  24,  16  urbe  BL:  orhe AdSHO'reU. 

III  24,  19  effert  O'rell:  offert  AdSH'BF. 

III  30,  20  labore  Z  und  AGBF:  ab  ore  SCPM'B,  algore  Z, 
ab  algore  B.  'ab  ore'  scheint  die  alte  Lesart  der  verkürzten 
Sammlung  zu  sein,  und  Labore'  in  AGBF  glückliche  Conjektur, 
die  allerdings  nahe  gelegt  war  durch  den  vorangehenden  Vers- 
schluß  'nescit  se  ferre  laborem'. 

V  1  §  5;    S.  102,  18  inemptum  BLB:   ineptum  AdS'ACMD. 

V  1  §  6;  S.  102,  20  syllogismisque  ABAd"^,  (siU.)  L:  fillogis- 
misque  AdWMBB,  filog.  S. 

V  1  §  8;  S.  103,  7  debiti  repromisit  MBLA^:  debetire  pro- 
misit  AdS'CBB, 

V  1  §  11;  S.  103,  26  sospes  BL:  sospis  AdSHCMBB, 

V  3,  29  excruciet  SHOGBLR:  excruet  Ad'CPMBV. 

II  14  De  sanctis  Agaunensibus  Alte  Lesarten  und 
neue  Conjecturen  mischen  sich  oft  seltsam.  Ich  gebe  als  Beispiel 
zu  II  14  die  hauptsächlichen  Noten  Leo's  und  die  Varianten  von 
S  (Brüssel)  und  von  Be  =  Berlin  MS  lat.  theol.  78  fol.  67*  saec. 
XII.  Titel:  acaunensibus  ä;  Be:  ymnus  Fortunati  de  eisdem 
martiribus  1  persequerentur  Be'L  (Conjecttir)  5  ductor  Be'L 
(Correctur):  doctor  SrelL  6  fortes  PG^'BeS^:  fortis  S'rell.  7 
armasti  BeG^  (wohl  Correctur):  arma  et  SrelL,  armasset  Ven. 
7  dogmate  AGMGBFVen{P).Be:  dogmata  SBBL  9  pectora  Be 
10  iugalis  AG  12  heros  APGBLFVen'Be:  herus  S'B,  erus  OMR 
17  uirtus  trabeata  CPBL'Be{S) :  u.  ira  beata  A ;  uirtus  astra  beata 
BMRF]  auch  S^,  doch  ist  hier  as  ausradirt]  super  astra  beata  GVen] 
pius  astra  beata  citirt  Luchi  19  tecum  Srell:  ducum  P,  ducum 
mit  der  Variante  tecum  BL-^  regum  Be  (22  harena  SBe,  23  pa- 
radysi  S^Be^  24  perhenne  Be)  cruciter  /S^  am  Ende  uiR.  xxx 
AMBG'S, 


108  Wilhelm  Meyer, 

Zur  Pariser  Handschrift  13048  =  27. 

Die  Pariser  Handschrift  2J,  latin.  13048,  ist  die  wichtigste 
Handschrift  der  G-edichte  des  Fortunat.  Sie  ist  mit  der  Schrift 
von  Corbie,  also  um  800,  geschrieben ;  die  Worttrennong  ist  schon 
gut;  Interpunktion  findet  sich  nur  in  der  Mitte  des  Pentameters. 
Was  wir  noch  davon  haben,  besteht  aus  Anfang  und  Ende.  Der 
Anfang  ist  enthalten  in  dem  Quaternio  f.  39 — 46 ;  dieser  Quaternio 
ist  von  einer  2.  Hand  durchcorrigirt ,  welche  z.  B.  in  den  vielen 
von  1.  Hand  geschriebenen  Endungen  auf  ae  das  a  expungirt  hat. 
Diese  Lage  bricht  fol.  46^  unten  ab  mit  4,  24,  2  'redit'.  Un- 
sicher ist,  wie  viel  dann  fehlt,  ob  ein,  ob  mehrere  Quaternionen. 
Mit  Bl.  47  beginnt  eine  neue  Lage,  welche  nicht  mehr  auscorrigirt 
ist.  Auf  Bl.  47  beginnt  der  Phoenix  des  Lactanz ;  auf  der  Rück- 
seite des  48.  Blattes  beginnen  mit  Appendix  no  5  wieder  Gedichte 
des  Fortunat,  welche  offenbar  den  Schluß  der  Sammlung  bilden. 
Während  sonst  die  in  2  enthaltenen  Gedichte  bunt  aus  allen 
Büchern  stammen,  .aber  aus  dem  11.  Buch  bis  dahin  keine  aufge- 
nommen sind,  folgt  fol.  52^  auf  III  30  V.  20  plötzlich  unmittelbar 
der  6.  Vers  des  20.  Gedichtes  des  11.  Buches,  und  darnach  folgen  in 
fast  ununterbrochener  Kette  die  übrigen  7  Gedichte  dieses  11.  Buches. 
Das  ist  merkwürdig,  zumal  2J  noch  weitere  22  Gedichte  bringt, 
welche  sonst  unbekannt  sind,  aber  ebenfalls  alle  an  Radegunde 
und  an  Agnes  gerichtet  sind,  also  in  dies  11.  Buch  gehören.  Zu- 
nächst ist  es  wahrscheinlich,  daß,  wie  jene  7  (no  20—26),  so  auch 
diese  22  in  einer  Reihe  abgeschrieben  sind,  ohne  daß  dazwischen 
stehende  weggelassen  wurden.  Aber  weshalb  sind  aus  der  Ur- 
sammlung  von  XI  no  20  ab  diese  29  Gedichte  so  sorgsam  herüber 
genommen,  weshalb  dagegen  findet  von  den  völlig  gleichartigen 
Gedichten  XI  no  2 — 19  kein  einziges  sich  in  diesem  Auszuge? 
Sollte  schon  die  Vorlage  der  Handschrift  U  lückenhaft  gewesen 
sein,  so  daß  schon  dort  vor  XI  20,  6  eine  oder  mehrere  Lagen 
fehlten  ? 

Ich  gebe  hier  nur  Nachträge  zu  Leo's  Noten.  Die  wenigen 
wichtigeren  lasse  ich  gesperrt  drucken.  Die  übergroße  Masse  von 
orthographischen  Varianten  theile  ich  mit,  weil  sie  viel- 
leicht beiträgt  zur  Aufklärung  der  schwierigen  Frage,  wie  die 
merowinger  Schreiber  sich  zur  Orthographie  stellten.  Hier  zeigt 
sich  eine  interessante  Spezialität.  Die  Vokale  o  und  u,  e  und  i 
werden  hier  nicht  so  oft  vertauscht,  wie  sonst ;  aber  geradezu  un- 
geheuerlich ist  die  Verwechselung  von  e,  q  und  ae.  Doch  zeigt 
sich  auch  hier  ein  Weg.  Verhältnismäßig  selten  steht  e  statt  ae. 
Dagegen  außerordentlich  oft  steht  ae  oder  §  statt  e,  aber  wiederum 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunat's.  109 

mit  der  Beschränkung,    daß  dies   fast  nur  dann  geschieht,    wenn 
das  Wort  mit  diesem  e  endigt. 

Also  verhältnismäßig  selten  sind  Schreibungen  wie  presens; 
ebenso  sind  auf  einzelne  Wörter  beschränkt  Schreibungen,  wie 
praecor,  quaerella,  aesca;  dagegen  massenhaft  finden  sich  Schrei- 
bungen, wie  pedae,  quoquae,  nequae  uellae,  ferrae.  An  die  Metrik 
wird  hier  nie  gedacht.  Diese  Erscheinungen  scheinen  mir  dafür 
zu  sprechen,  daß  hier  diktirt  wurde,  daß  der  Diktirende  gerade 
die  schließenden  e  eigentümlich  aussprach  und  daß  der  Nach- 
schreibende von  der  richtigen  Orthographie  keine  Kenntnis  hatte. 

Appendix  1  f.  39*  incip  opus  fortun  presbite.  6  m^sta  20 
2  hat  thoringa  24  orare  ferrae  Z^  26  quae  Z^  32  fol  39'^] 
quae  Z^-,  mesta  Z^  34  illae  Z^  36  supersti  sagor  Z^  (-stes  agor 
Z^)  47  tui  Z  55  27  hat  getrennt  üix  erat  mit  V.  65  beginnt  fol.  40'' 
90  praed^  Z^  95  nur  requiro  (nicht  require  Z^)  97  bizanthion 
Z  mit  V.  98  beginnt  fol.  40^  107  transsissem  Z  117  quaerulam 
Z^  123  quur  (cur!)  differe,  re  zu  ro  cor/*.,  Z  124  germanu 
Z^  124  alt a  27  128  atquae  Z^  mit  V.  130  beginnt  fol.  4P 
132  ledere  2;^  UO  fehlt  das  Wort  corpus  148  atquae2;^  149 
atquQ  Z^  150  istae  Z^  155  nequae  Z^  159  Dequae  Z^  159 
tuis  2:  mit  V.  164  beginnt  fol.  41^  165  Z  hat  deutlich  fran- 
corum      168  honorae  Z^. 

VII  11  im  Titel  statt  provinciae  hat  pro  Z^j  pro™  Z!^  8  27 
hai  deutlich  negata      9  Z  hat  qui  sibi. 

Vn  13      4  adfectu  Z\  affectu  Z\ 

VIII  4  2  proemia  Z^,  pr^mia  27^  3  lumina  Z  mit  V.  6 
beginnt  fol.  42""        17  ubi  Z       18  atquae  Z^       19  luminae  Z^ 

21  fulget  Z^      23  amorae  Z^      29  xpf  27,  wie  dies  Wort  stets  mit 
lateinischen  Buchstaben  abgehürzt  ist      35  quae  Z\ 

VIII  1  1  ore  2;2  mit  V.  2  beginnt  fol.  42''  2  Castiliusque 
Z  4  irriguis  2:^  5  uterquae  Z^  10  clauae  Z^  12  gallica 
terra  tenet  Z:  diese  Lesart  ist  mindestens  so  gut  wie  *rura  te- 
nent',  also  in  den  Text  zu  nehmen  14  urbae  Z^  16  quae  Z^ 
20  figida  Z  mit  V  35  beginnt  fol.  43'-  41  auch  Z  hat  eusthochiam 
(s.  Leo  S.  XVII)  45  quae  Z^  46  auch  Z  hat  teclä  49  cor- 
porae  Z^  53  und  54  quicquid  Z^  54  quae  Z^  56  causs§  Z 
61  aliter  hat  auch  Z  64  quae  Z^  65  quisquae  Z^  67  dota 
remanentia  Z      mit  V.  68  beginnt  fol.  43^      69  quoquae  ZK 

Appendix  2        1  quae  Z^       4  atquae  Z^       4  coeaeua  Z 
7persona2:      11  atquae  Z^       15  quae  Z^       20  quae  Z^      21 
satur  Z^      26  consilium  Z^       mit  V.  30  beginnt  fol.  44'-       31  ex- 
traemas  Z^       46  quod:  quoq  Z       50  orbae  Z^      60  atquae  Z^ 


110  Wilhelm  Meyer, 

mit  V.  63  beginnt  fol.  44^       63  usquae  Z       65  parit  U      66  illae 
U^      69  ubiquae  2;^      75  fidutia  2J^      mit   V.  96  beginnt  fol.  45'' 
96  n^c  2J      100  U  hat  merllia,  nicht  merlliic ;  das  a  von  Corbie  wird 
leicht  als  ic  verlesen,   wie  man  z.  B.  den  Anfang  des  13.   Verses  des 
nächsten  Gedichtes  Sic  oder  Sa  lesen  kann. 

ippendix  3  2  hat  im  Titel  adapraxh  8  uterquae  Z^  16 
milici^que  Z  22  dulcis  amara  Z  mit  F.  28  beginnt  fol.  45^ 
28  atquae  Z^  28  adderae  U^  36  amorae  und  illae  Z^  37 
mequae  2J^. 

II  12  VII  9  2  prompte  Z^  Smiseratur^;^  miserator 
U^  mit  V,  7  beginnt  fol.  46''  14  nectarii  2^  20  nach  suum 
hat  H:  Expl. 

VII  18  1  totiens  hat  H  7  amiciciae  H  17  achemeniis  2 
mit  V.  19  beginnt  fol.  46^. 

Appendix  4  im  Titel  nach  dem  rothen  sigimuxdo  (v"'^)  steht 
schwarz:  meautemmi  3  ego  peliqnis  U;  ~  vielleicht  von  2.  Hand; 
p  statt  prae  findet  sich  hier  kaum      4  prumpta  2J^, 

VII  30  im  Titel  sigimundo,  v  über  o,  27;  vgl.  App.  4  7  co- 
hercent  Z^      12  meae.  expl.  U. 

IV  34,  V.  1.  2  Titel  wie  sonst  in  rothen  Uncialen,  dann  das 
N  bunt  1  dines  fugienti  ü  2  que  27  mit  V.  2  'redit'  endet 
BL  46  und  eine  Lage  der  Blätter;  Bl.  47  beginnt  mit  'Est  locus' 
(Phoenix  des  Lactanz).  Die  folgenden  Blätter  sind  nicht  mehr 
von  einer  2.  Hand  durchcorrigirt. 

Appendix  5       fol.  48^       6  ipsQ  U       8  bonitat^  boans  2? 

9  dignQ  2J      11  amor^  U      12  pauper^  2J      12  ipsQ  27. 

Appendix  6  3  f^tus  27;  ebenso  4  musculus  Z  und  12  hie  27 
mit  V.  7  beginnt  fol.  49"      8  ist^  27      13  utrasquQ  2;. 

Appendix  7      3  27  hat  amantes,  nicht  amanter      5  benign§  27 

10  quQ  und  d^cus  27      16  detquae  27. 

VIII  5      mit  V.  5  beginnt  fol.  49^       10  amor^  27. 

VIII  8  6  retinebas  27  14  mequae  27  15  t^  27  16  re- 
niderQ  27. 

VIII  9  3  hodiQ  27  4  2]  hat  nur  errabant  6  nub§  prementQ 
27      mit  V.  8  beginnt  fol.  50\ 

rV  11  3  dot§  27  7  laborQ  27  8  orb^  27  16  moderamin^ 
27      16  Ritae  beneplacitas  27      17  callae  27      18  uultu  27. 

n  10  1  salamoniaci  memoraetur  27  mit  V.  3  beginnt  fol. 
50^  3  quaecumquae  27  14  arcQ  27  15  complet  27  16  atquQ 
27  16  sin^  27  19  adherens  27  20  ecclesie  27  22  compleuit 
27  22  relegionis  27  22  opus:  opes  27  25  honor^  27  26  quo- 
quae  27. 


über  Handschriften  der  Gedichte  Fortunafs.  111 

IV  5  (dönoeum  ZI  im  Titel)  2  tener^  2J  mit  V.  8  beginnt 
fol.  Öl*-  nach  V.  8  steht  das  in  den  Noten  gedruckte  Distichon 
(sapor^  Z!)  =  Appendix  32  9  mentae  und  nomin^  Z  11  quis- 
quae  Z      12  ill§  Z      19  nobilitat^  Z. 

IV  6  1  praemeret  Z  7  pudorQ  Z  8  sin^  fin§  Z  12 
referr^  Z  13  auch  Z  hat  recreans  17  qu^rellis  Z  mit  V.  18 
beginnt  fol.  51^      18  auch  Z  hat  Postenebras. 

Nach  V.  18  folgt  der  in  den  Noten  gedruckte  Vers  =  Appen- 
dix 33  (miliciam  und  premia  Z).  Dann  folgt  unmittelbar  IV  27, 
21  und  22.       22  merear  {nicht  mereas)  clausi  quandoquQ  Z. 

Appendix  8  3  superessQ  Z  4  fugient^  di^  ^  8  gene- 
rassQ  Z. 

Appendix  9  im  Titel  hat  Z  dieectis  ;  es  ist  das  seltsame  üncial- 
D  der  Schrift  von  Corbie  3  que  Z  4  ferrae  Z  5  arborQ  Z 
7  namqu^  Z  9  criminQ  Z  10  u^tus  Z  13  depraecor  Z  mit 
V.  14:  beginnt  fol.  5J2^  16  fae  cela  cunari  Z  20  Z  hat  bibat 
21  Z  hat  regat  o.  benignae  23  praeces  Z  25  orbQ  Z  27  an- 
tae  Z  31  perficQ  Z  33  ten^  Z  34  capae  Z  35  utraequae 
und  utrumquQ  Z. 

III  30  s.  die  Collation  von  Z  s.  oben  S.  96.  mit  F.  8 
beginnt  fol  62^        auf  V.  20  folgt  unmittelbar  XI  20,  V.  6. 

XI  30,  6—8      7  atqu^  Z  XI  31  33,  2  ipsae  Z      3 

Qscam  und  quodcüqu§  Z  auch  22*  hat  die  Ueberschrift  item  aijud 
1  uentrQ  Z  4  Qsca  Z  33  mit  no  23  beginnt  fol.  53f  5  cre- 
dit^ Z  6  facilae  und  dar^  Z  7  digitos  Z  14  hec  und  scri- 
berQ  Z  no  34       2  hec  Z       3  statt  requiras  hat  Z  spernas 

4  amplos  Z. 

XI  35  7  caria  cede  uehor  auch  Z  mit  V.  11  beginnt  fol, 
53^  14  unde  Z  19  hunc  Z  21  quae  Z  26  assiduae  Z  31 
praecipuae  Z      32  reuiderae  quaeam  Z. 

17    2  flumiuQ  fixe  Z    9  martin§  Z    mit  V,  11  beginnt  fol.  54\ 
XI  36       ich  gebe  zu   no  26   die   bei  Leo  nicht  notirten  Les- 
arten von  Z,  dann  die  Lesarten  von  S  (s.  S.  83)  fol.  67*  und  mit 
V.  2  beginnend  die  von  Äd  (fol.  68*  s.  S.  82)  fol.  158»»      1  pruinis 

5  2  comes  S^  3  gele  S^  4  arboraeas  Z  4  tetigit  Äd^  (9  crist. 
auch  ÄdS)      mit  V.  12  aqua  enden  Ad  und  S. 

V.  13  illae  Z      15  praecibus  tind  flectibus  Z. 

Appendix  10  3  redeunt^  notat^  Z  5  materquQ  sororquae 
und   6  concaelebratae  Z.  App.  11      1   Hodi§,    3  ubiquae,    6 

orae,  8  t^  et  t^  9  di^  noctuquae  Z.  5  fol.  54^  App.  13  2  irae 
pedae ;  3  n§c,  harundin^ ;  4  panderae ;  6  amor^ ;  11  trepidantae ;  14 
orb^:  Z  App.  13      2  atquae;    6  d^cus;   7  piae,  uiuerae;    10 


112  Wilhelm  Meyer, 

uicae;  11  dulcedinQ ;  13  m§cum:  U       mit  V.  13  beginnt  fol.  65* 
13  obteneat  2J  App.  14      4  iurae  senilae;  5  dulcae;  8  mnlti- 

plicar^;  10  regionae:  2J  App.  15      1  materquae  sororquae  U 

App.  16      7  principe;  8  amor^;  9  qnoqu^  H     10  rapiar  2 
App.  17      mit  no  17  beginnt  fol.  55^      5  Hec  longeua  Z 
App.  18       1  orb^;    3  fort^,    region^;    4  irae;    7  pector^  presens; 

8  qae;    10  que;    12   quoqu^  E  App.  19       3  und  4   prestet; 

9  aesca:  2  6  dui  2:  13  fol.  56»  14  animas  Z  App.  20 
6  noct^,  diae :  Z  App.  21  3  uber^ ;  9  qu^  ;  10  opae ;  13  pr^cor : 
Z  App.  22  1  presens ;  3  qu^ ;  12  dulcQ ;  14  lauar^ ;  19  longeua, 
mess^ ;  20  quQ :  Z  mit  V.  9  beginnt  fol.  b6^  App.  23  2  pre- 
sente;  8  quQ;  9  fort^;  10  calent§;  11  qnoqu^;  16  fig^;  17  uolu^; 
29  hec;  30  quoquae:  Z  13  qm  =  quoniam  mit  V,  19  beginnt 
fol,  67*  22  corde  Z  25  adta  ala  mos;  ta  ist  ausradirt,  doch 
stand  es  sicher  da  Z        30  me  fehlt ,  doch  hat  Z  memorare 

App.  24      2  pector§;   3  murmor§;   4  ment^;    5  andir§;  7  sumerQ; 

10  tacÜQ;  11  reddit^,  dfie;  14  nequae  uellae;  15  remear^;  16  uer- 
berQ  uocq:  Z      2  uerba  dare  Z. 

App.  25  3  quae,  redderg;  6  presentes,  amorae:  Z  mit  V. 
4  beginnt  fol.  57^         App.  26      5  dat^;  6  que:  Z  App.  27 

9  pietat§ ;  12  que :  Z  App.  28      3  que ;  10  iuuar^ ;  12  leuae ; 

13  utrisqu^;  14  atqu^:  Z      mit  V.  10  beginnt  fol.  58*. 

App.  29  1  gurgitae;  10  celo;  13  caernerae,  materquae;  16 
fertae;  17  commendatae;  18  amorae:  Z  App.  30  3  que;  6 
uentrae:  Z       mit  V.  6  beginnt  fol.  58^  App.  31      2  que,   red- 

derae  Z. 

Fortunat  II  16  de  S.  Medardo,  umgearbeitet  in  den 
Legendarien  Wie   die  Grelehrten   der  Merowingerzeit  mit 

den  Texten  umgingen,  will  icb  mit  den  Veränderungen  illustriren, 
welche  das  große  Gredicht  des  Fortunat  über  Medard  (II  16)  unter 
ihren  Händen  erlitten  hat.  Diese  166  Verse  wurden  auch  in  eine 
Sammlung  von  Legenden  aufgenommen.  So  stehen  sie  in  der  mit 
Uncialbuchstaben  geschriebenen  und  in's  7.  Jahrhundert  gesetzten 
Handschrift  in  München  no  3514  (August,  civitatis  14  =  Ä)  p.  239 
'Item  vita  sancti  Medardi  episcopi',  deren  Collation  Bruno  Krusch 
mir  überlassen  hat.  Dann  steht  dies  Gedicht  in  der  im  ersten 
Viertel  des  9.  Jahrhunderts  in  Reichenau  geschriebenen  Hand- 
•chrift,  Karlsruhe  no  136  f.  26^  'Fortunatus  presbyter  conposuit 
äc  (hanc)  uita  uel  actus  sancti  medardi  episcopi',  =  Ä";  die  ein- 
zelnen Distichen  füllen  je  eine  Langzeile;  eine  Vergleichung  ver- 
danke  ich   Alfred   Holder.     Eine   andere    Abschrift    nannte   mir 


'  über  Handschriften  der  Gedichte  Fortimafs.  113 

Krasch:  in  Paris  Fonds  Cluni  no  III,  saec.  XI.  Endlich  Ist  die 
Abschrift,  welche  Leo  mit  Ba  bezeichnet  (S.  44:  iternm  legitnr 
in  i^  =  Parisinus  lat.  8090,  post  carmen  de  laudibus  Mariae  f. 
185^),  auf  diese  Fassung  zurückzuführen.  Diese  Abschrift  scheint 
widerum  nach  dem  echten  Text  des  Fortunat  etwas  gereinigt  zu 
sein;  wenigstens  notirt  Leo  aus  Ba  viel  weniger  Varianten,  als 
A  und  K  bieten. 

Ich  notire  nur,  was  A  und  B  gemeinsam  haben  oder  was  Ba 
(nach  Leo's  Noten)  mit  einer  dieser  beiden  Handschriften  gemeinsam 
hat;  nicht  notire  ich  die  zablreichen  Lesarten,  welche  nur  1  Hand- 
schrift bietet.  Auch  so  bleibt  eine  Menge  starker  Varianten. 
Dennoch,  so  alt  auch  diese  Ueb  erlief  er  ung  ist,  mir  wenigstens 
scheint  keine  einzige  dieser  Varianten  richtig  zu  sein;  alle  also 
scheinen  nur  durch  die  Gedankenlosigkeit  oder  die  Keckheit  der 
merowingischen  Schreiber  herein  gekommen  zu  sein. 

3  oris:  uris  K,  ures  A,  aruis  Ba  9  tellore  Z,  tollore  A 
10  tenens  KA  11  triumphis  AK  12  dans  AK  16  replet 
AKBa  20  carne  salens  AK  22  tuos:  tibi  AKBa  23  ducet 
AKBa  24  quod  AK  27  cum  ABBa]  uitam  AK  31  'causas 
p.  latenter  co(fd'  Leo-,  causas  p.  latentes  AK  32  sedet  oder  sedit 
coäd.:  redit  AKBa  33  perfecto  AK]  uoto  om.  AK,  furto  Ba] 
quodam  über  der  Zeile  A  35  simel  AK  36  foras  etliche  Hften 
und  AK  43  incepit  viele  Hften,  in*epit  A^,  incipit  einige  Hften 
und  KA^  44  cupit:  uenit  AKBa  45  sanctae  AK  46  ductus 
AK  50  teneri  AK  51  hyatum  AKBa  53  apertas  AKBa 
55  Nihil  ualet  AK  58  sonum  AK  59  Aedificat  ade.  AKBa 
damnat  om,  AKBa  61  absoluisse  AKBa  61  amorem  AK  62 
ut:  ne  KBa,  se(?)  A^  63  Incipiens  AKBa]  quaerolam  Z",  quae- 
solam  A  67  composito:  contemplatü  /f,  contemplatu  A,  prelato 
Ba  71  redire  K,  redi  A^  Et  sopor:  Stupor  AKBa  72  tuos 
AK  75  stupere  KA^  81  elefantum  und  possunt  AKBa  82 
rigidus  AK  84  libicis  AK  87  tot:  ut  AKBa  87  legatus  AK 
88  quo :  que  KA^,  que  A^  89  Cu  sole  darentur  K,  Consolaretur 
A  89  stupuere  AK  90  tinnierunt  AK,  tinnierant  Ba]  cum 
crep. :  concrepuere  AK  90  for^  K,  fore  A^,  fores  A^Ba  91 
nimium  AKBa  97  diues  K,  diuis  A^  101  crededit  AK  107 
Inclusus  AK]  digitus  K  109  Secum  nata:  Seducta  nam  AK,  Et 
ueterana  Ba  112  tumolus  A]  tuü  tumulü  K  114  Disperata 
AK  115  umor:  usus  AKBa  119  incipit  KBa  120  fuit: 
fascis  AK,  facis  Ba  121  profugus  K,  profutus  A^,  profugis  A^ 
121  reddidit  artus  om.  A  122  reddedit  AK  123  puella  AK 
124   animum  tribues  AK]    animo  Ba        125  Disponsata   AKBa 

Kgl.  Ges.  a.  Wiss.  Nachricliton.  Philolog.-histor.  Klasso  1908.    Heft.  1.  8 


114         Wilhelm  Meyer,  über  Handschriffen  der  Gedichte  Fortunat's. 

126  talamus  AK  128  frneris  AK  uota  tenenda  AK,  uota  te- 
nendo  JBa  129  honestum  AKBa  131  Adquiret  cunctus  AK 
138  perit:  tulit  KBa,  tullit  A  141  quanto  AK  143  hunc:  ut 
AKBa  146  tnnsus  AK  147  Abstulit  liinc  criminis  nitidus  KBa 
und  (crimenis  nitedus)  A  148  amat  AKBa  151  solneret  AK, 
solnerit  Ba  152  caecus  AK  reuocata:  rediuiua  KABa  153 
Tandem  limate  AKBa  155  flagrante:  manente  AK,  manante  Ba 
157  uerbo  qui  AKBa  160  uide:  fuit  AKBa  161  In  tua  templa 
leuaait  nimium  AKj  Haec  tua  templa  leuat  nimium  Ba  162  In- 
sistens  fuit  operi  prumptus  AK  163  Culmina  custodi:  Requiem 
praestare  AKBa      164  tibi:  tua  AKBa      165  parua  AK. 


Aporien  im  vierten  Evangelium 

n 

Von 
E.  Sehwartz 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  21.  December  1907 

Nach  der  synoptischen  Tradition  ist  lesus  nur  einmal  nach 
Jerusalem  gegangen;  sein  erster  Aufenthalt  dort  war  auch  sein 
letzter,  und  es  will  nichts  besagen  daß  die  Kindheitsgeschichte 
Luc.  2,  41  ff.  ihn  als  Kind  mit  seinen  Eltern  zur  Paschafeier  in  die 
heilige  Stadt  pilgern  läßt.  Dagegen  baut  das  vierte  Evangelium 
lesu  Wirken  und  Leiden  ganz  anders  auf.  Grieich  zu  Anfang  er- 
scheint er  zum  Pascha  in  Jerusalem  [2, 13.  23],  hält  sich  eine  Zeit 
lang  in  Tudaea  auf  [3,  22]  und  kehrt  über  Samarien,  Vier  Monate 
vor  der  Ernte'  [4,  35],  nach  Galilaea  zurück  [4,  3.  43.  45].  Dann 
reist  er  zu  einem  nicht  näher  bestimmten  Feste  zum  zweiten  Male 
in  die  Hauptstadt  [5, 1] ,  setzt  darauf  —  ich  referiere  nach  dem 
Text  —  über  den  See  von  Tiberias,  kurz  vor  dem  Pascha  [6, 1.  4], 
und  kehrt,  auf  wanderbare  Weise,  nach  Kapernaum  zurück  [6, 
24.  59].  Er  'wandelt  danach  in  Galilaea',  um  vor  den  Juden  sicher 
zu  sein  [7, 1.  9],  geht  aber  doch  zum  Laubhüttenfest  zum  dritten 
Male  'hinauf  [7,2.  10].  Während  der  Enkaenien  (am  25.  Kislev), 
im  Winter,  ist  er  noch  da  [10,  22] ,  zieht  sich  dann  aber  vor  den 
Nachstellungen  der  Juden  in  die  Peraea  zurück,  an  den  Ort  Vo 
Johannes  taufte'  [10,  40].  Auf  die  Nachricht  von  Lazarus  Krank- 
heit reist  er  mit  den  Jüngern  nach  Bethanien  [11,1.  18],  wandelt 
jedoch  nach  dessen  Erweckung  nicht  öffentlich  in  ludaea,  sondern 
geht   mit   den  Jüngern   nach  Ephraim    [11,54].     Sechs  Tage   vor 

8* 


116  E.  Schwarte 

dem  Pascha  [12, 1]  kommt  er  nach  Bethanien,  am  Tage  danach 
zieht  er  in  Jerusalem  ein  [12, 12].  Die  Tage  bis  zur  Passion 
werden  nicht  gezählt;  diese  selbst  wird  auf  den  Tag  des  Pascha 
gelegt. 

Schon  eine  oberflächliche  Betrachtung  lehrt  daß  in  diesem 
Aufbau  allerlei  sich  nicht  recht  zusammenfügt.  Der  Anschluß 
von  Cap.  6  an  5  ist  so  schlecht,  daß  immer  wieder  der  Gedanke 
auftaucht  durch  Umstellung  einen  besseren  Zusammenhang  zu 
schaiFen;  7, 1  paßt  sehr  viel  besser  hinter  Cap.  5  als  hinter  Cap.  6. 
Aber  die  Umstellungen  bringen  doch  keine  Heilung  für  all  die 
Schäden,  die  ein  aufmerksames  Auge  in  immer  größerer  Anzahl 
entdeckt,  je  schärfer  es  hinsieht.  In  merkwürdiger  Weise  nimmt 
die  Empfindlichkeit  der  Juden  gegenüber  Jesus  zu,  ohne  daß  das 
Evangelium  ein  Wort  darüber  verliert.  Er  provociert  sie  bei 
seinem  ersten  Auftreten  durch  die  Tempelreinigung  und  den  be- 
rühmten Spruch  2, 19  so  stark  wie  es  überhaupt  nur  möglich  ist  *) : 
sie  antworten  im  friedlichen  Disputierton,  ohne  irgend  etwas  gegen 
ihn  zu  unternehmen;  nicht  einmal  das  wird  ausdrücklich  gesagt, 
was  alle  Interpreten  xatä  t6  ötco7t6^svov  ergänzen,  daß  aus  Furcht 
vor  den  Juden  Nikodemus  Nachts  zu  lesus  kommt.  G-anz  anders 
schätzen  die  Synoptiker  jenen  Spruch  ein :  Marcus  [14, 58]  und 
Matthaeus  [26,  61]  berichten  daß  er  lesus  beim  Verhör  vor  dem 
Hohenpriester  als  ein  Hauptpunkt  der  Anklage  vorgehalten  wurde, 
und  suchen  ihn  als  falsch  zu  erweisen ;  Lucas  [22,  66  ff.]  läßt  ihn 
fort,  aus  demselben  G-runde,  weil  er  lesus  von  dieser  Blasphemie 
rein  halten  wollte.  Dagegen  ist  im  weiteren  Verlauf  des  vierten 
Evangeliums  für  lesus  schon  das  ein  Grund  ludaea,  nicht  nur  Je- 
rusalem, zu  verlassen,  daß  die  Pharisaeer  gehört  haben,  er  habe 
mehr  Jünger  und  taufe  mehr  als  lohannes  [4, 1].  Auf  der  zweiten 
Reise  wird  er  wegen  einer  Heilung  am  Sabbat  'verfolgt'  [5, 16] ; 
ja  die  Juden  wollen  ihn  tödten  [5, 18].  Doch  wird  diese  Gefahr 
zunächst  nicht  ernsthaft  genommen,  taucht  aber  bei  der  dritten 
E-eise  wieder  auf  [7, 13. 19],  unvermittelt,  als  wäre  im  7.  Capitel 
von  V8.  19  an  die  Situation  die  gleiche  wie  im  5.  Die  galilaeischen 
Wunder  werden  gezählt  [1, 11.  4,  54],  als  wenn  die  'vielen  Zeichen', 
die  er  gleich  am  Anfang  in  Jerusalem  tat  [2,  23.  3,  2],  für  nichts 
zu  rechnen  seien;  noch  dazu  ist  der  Ausdruck  4,54  tovto  tcocXlv 
dsiksQOv  6ri(i£tov  ixoCriöev  6  *Iri6ovQ  iXd-osv  ix  tfjg  ^lovdaiag  stg  xiiv 


1)  Das  ist,  wie  manches  andere  auch,  mit  Recht  von  K.  Schulz  Zeitschr.  f. 
ncut.  Wiss.  8,  243  ff.  hervorgehoben.  Ich  lege  um  so  größeren  Wert  darauf  mit 
ihm  in  Anstößen  übereinzustimmen ,  als  die  liösung  des  johanneisrhcn  Problems, 
die  ihm  vorschwebt,  meinen  Anschauungen  dircct  entgegengesetzt  ist. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  117 

raXdaiav  ungeschickt,  denn  er  heißt  wörtlich,  daß  dies  das  zweite 
Zeichen  war,  das  lesus  nach  seiner  Eückkehr  von  Grälilaea  in 
ludaea  tat:  so  kanns  aber  nicht  gemeint  sein. 

Das  alles  macht  stutzig  und  regt  zu  Zweifeln  an,  ob  dieser 
Aufbau  eine  in  sich  geschlossene  Conception  ist.  Eine  Stelle  des 
7.  Capitels  [3]  bringt  m.  E.  die  Entscheidung.  Die  'Brüder'  sagen 
zu  lesus :  \iisxdßri%^i  ivvsvd'ev  xal  vTtays  eig  v^v  lovSatav,  iva  xal  ot  ^a- 
d'tjtac  60V  d-£C0Q7](3(o6Lv  TU  EQyu  6ov  ä  jcoistg '  ovdelg  ydg  n  iv  TCQVTCtmc 
TCoist  Kai  ^rjtet  avtb^)  iv  7caQQr]6LccL  slvai.  'Ziehe  von  hier  fort 
nach  ludaea':  es  ist  nicht,  wie  es  nach  dem  Folgenden  scheint, 
von  einer  Reise  zum  Laubhüttenfest  die  Rede,  sondern  davon  daß 
lesus  den  Schauplatz  seines  Wirkens  oder  um  es  grade  heraus  zu 
sagen,  seiner  Wunder  nach  ludaea  verlegen  soll.  'Die  Jünger' 
sind  ein  falsches  Explicitum.  Es  können  nur  die  Jünger  gemeint 
sein,  die  lesas  in  ludaea  schon  hat,  und  das  giebt  keinen  Sinn. 
Denn  wollte  man  sich  auch  auf  2,  23  berufen,  so  würde  das  nichts 
nutzen.  Diese  Gläubigen  sind  ja  durch  die  vielen  Zeichen  bekehrt, 
haben  also  die  Taten  lesu  gesehen.  Man  muß  das  verkehrte 
Subjekt  fortdenken,  dann  treten  die  Juden,  die  aus  triv  'lovöaiav 
ohne  Weiteres  ergänzt  werden,  an  Stelle  der  Jünger,  und  der 
Sinn  kommt  heraus,  den  das  Folgende  verlangt:  lesus  soll  sich 
öffentlich  als  Wundertäter  zeigen  um  seine  Gegner  zu  widerlegen. 
Im  vorliegenden  Text  sind  die  leiblichen  Brüder  lesu^)  diejenigen 
welche  den  Rat  geben;  nur  auf  sie  paßt  der  erklärende  Zusatz 
[7,5]:  ov8\  yccQ  ot  ddElcpol  avtov  iitC^xevov  sig  avtov.  Der  Rat 
steht  allerdings  Ungläubigen  schlecht  an^);  er  kann  ursprünglich 
nicht  von  Ungläubigen  mit  der  Beziehung  auf  Gläubige,  sondern 
nur  von  den  Jüngern  mit  der  Beziehung  auf  die  welche  noch 
nicht  glauben,  gegeben  sein,  und  die  ungläubigen  Brüder  s'ind  nur 
hineingebracht  um  lesu  Predigt  gegen  die  Welt  einen  Anlaß  zu 
schaffen :  was  sie  am  Schluß  sagen  [7,  4] :  et  xavra  Ttotstg,  cpaviQG)6ov 
ösavtbv  xcbL  7cö6^(dl,  ist  eine  schlechte  Doublette  dessen  was  vorher 
präciser  gesagt  ist.  Jene  Predigt  aber  sprengt  den  ursprünglichen 
Zusammenhang,  der  in  7, 3  noch  deutlich  hervortritt.  Denn  in 
ihr   schiebt   sich  an   Stelle  des  ^sxaßrjvccc    die   Reise   zum  Laub- 


1)  So  ist  mit  BD  für  aMs  zu  lesen. 

2)  Sie  kommen  im  vierten  Evangelium  nur  noch  einmal  vor,  in  dem  Flicken 
2, 12,  der  für  den  Zusammenhang  der  Erzählung  nichts  bedeutet  und  wohl  nur 
den  Anschluß  an  Mt.  4, 13  herstellen  soll. 

3)  Chrys.  t.  VIII  p.  284c  xat  noicc,  cprioiv,  iimatCa  IvxavQ'a]  7taQUY.aXov6i 
yag  avxbv  ^ccviLaxovqyfiGai  ,  ,  .  yial  do-KSi:  [ilv  'fj  oc^LaOLS  Sfjd'SV  cpiXcov  slvau 


118  E.  Schwartz 

hüttenfest;  lesus  will  sie  nicht  antreten,  weil  seine  Zeit  noch 
nicht  erfüllt  sei,  d.  h.  weil  das  Pascha  noch  nicht  gekommen  ist, 
an  dem  er  sterben  wird  ^).  Man  wnndert  sich  darüber  daß  bei 
den  beiden  früheren  Festreisen  solche  Erwägungen  völlig  aus  dem 
Spiel  bleiben ;  noch  seltsamer  ist  aber,  daß  lesus  seine  Weigerung 
gar  nicht  durchhält^),  sondern  doch  zum  Fest  reist,  und  zwar 
heimlich  [7, 10].  Auch  darin  ist  er  nicht  consequent ;  in  der  Mitte 
des  Festes  geht  er  in  den  Tempel  und  lehrt  dort  so  öffentlich, 
wie  nur  möglich:  das  Motiv  der  heimlichen  Reise  ist  zu  nichts 
anderem  da  als  den  Widerspruch  oberflächlich  zu  vertuschen,  der 
zwischen  der  scharfen  Abweisung  der  Brüder  und  der  Festreise  klafft. 

Der  Eat  nach  ludaea  zu  ziehen  und  dort  öffentlich  für  seine 
Sache  zu  wirken,  hat  nur  dann  Sinn,  wenn  lesus  bislang  nicht 
dort  gewesen  ist.  Das  widerspricht  aber  der  vorausgegangenen 
Erzählung,  und  der  Widerspruch  ist  um  so  schwerer,  als  weder 
die  wiederholten  Festreisen  lesu  noch  der  Rat  den  ihm  die  'Brüder' 
erteilen,  irgendwie  aus  der  synoptischen  Tradition  stammen,  son- 
dern beides  freie  Erfindungen  sind,  bei  denen  am  ersten  einheit- 
liche und  consequent e  Durchführung  zu  erwarten  ist.  An  einem 
wichtigen  Punkte,  da  wo  eine  der  schwersten  Differenzen  zwischen 
dem  vierten  Evangelium  und  der  Überlieferung  liegt,  bricht  das 
Gefüge  seiner  Handlung  auseinander:  um  seine  Einheit  ist  es 
geschehen. 

Es  ist  nicht  schwer  zu  sehen  daß  die  wiederholten  Festreisen 
das  secundäre  Motiv  sind,  das  den  ursprünglichen  Aufbau  zer- 
sprengt hat.  Nur  das  erste  der  im  Evangelium  erwähnten  Pascha- 
feste hängt  mit  der  Erzählung  selbst  zusammen,  und  da  ist  der 
Zusammenhang  mitsammt  der  Erzählung  übernommen.  2, 13 — 23 
sind  wirklich  nur  ein  schlechter  Abklatsch  der  Synoptiker.  Die 
scheinbar  imposante  Provocation  der  Juden,  um  so  imposanter  als 
lesus  erst  ein  Zeichen  in  einem  abgelegenen  galilaeischen  Dorf 
vollbracht  hat,  ist  ein  Stoß  ins  Leere,  und  die  Erzählung  so  un- 
geschickt geführt,  daß  mit  2,23  ag  ds  riv  iv  totg  'hQoöolv^oig  iv 
xm  na6xa  (oder  iv  tfjt  ioQrfjv)^)  neu  eingesetzt  werden  muß. 


1)  Der  Ausdruck  6  ifibg  ytccigbg  oihto)  nsnl-^gcavai  noch  Mo.  1, 15.  Mt.  26, 18. 
Im  vierten  Evangelium  steht  für  xaigdg  gewöhnlich  mgcc:  2,4.  17,1.  12,23.  27. 
13,1.  7,30.  8,20.  Die  Stellen  sind  wohl  durchweg  secundär;  2,4  ist  der  vorlie- 
genden darin  verwandt  daß  lesus  nur  pro  forma  ahlehnt. 

2)  Chrys.  t.  VIII  p.  280»  sC  yap  iituör]  b  v-aiQbs  o^co  nagfjv ,  dicc  tovxo 
oi}%  &vißr],  i%Qi)v  ftTjdi  oXog  &vaßi]vai. 

3)  Die  Doppellesung  ist  in  der  Ueherliefenmg  zusammengelaufen;  ähnlich 
6, 1  ntQCCv  xfii  d-aXdoarig  tijg  FaXilaiag  rf]g  TißsQiddog. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  119 

Das  Gespräch  mit  Nikodemus  wird  so  eingeleitet,  als  sollte 
es  besondere  Folgen  haben;  der  vornehme  Pharisaeer,  der  nächt- 
licher Weile  zu  dem  G-alilaeer  kommt,  ist  ja  ein  Bild  das  Prediger 
und  Maler  begeistert.  Es  bleibt  nur  bei  dem  poetischen  Anlauf; 
lesus  vergißt  von  3, 13  an  völlig  den  Besucher  und  redet  ohne 
Rücksicht  auf  den  oder  die  welche  er  vor  sich  hat ;  wo  Nikodemus 
bleibt  und  wie  die  Rede  auf  ihn  wirkt,  wird  nicht  gesagt. 

lesus  hält  sich  3,  22  mit  seinen  Jüngern  im  iudaeischen  Lande 
auf  und  tauft  dort,  d.  h.  er  stiftet  eine  Gemeinde :  nach  7,  3  soll 
er  das  erst  vollbringen.  Er  rivalisiert  mit  Johannes,  der  in  Ainon 
bei  Salem  ebenfalls  tauft,  und  man  muß  nach  3,  26  annehmen  daß 
beide  nicht  weit  auseinander  sind.  Nach  der  Tradition  aber  liegen 
Ainon  und  Salem  8  Millien  s.  von  Skythopolis,  an  der  Grenze  von 
Samarien  und  Galilaea,  weit  von  ludaea  fort  [Eus.  onom.  p.  40, 1] ; 
der  geographische  Fehler  ist  mindestens  ebenso  stark  wie  die  be- 
rüchtigte Verlegung  von  Bethanien  in  die  Peraea  [1, 28].  Aber 
auch  einmal  zugegeben  daß  der  vierte  Evangelist  von  Geographie 
nichts  verstand,  wozu  freilich  die  raren  Ortsnamen  schlecht  passen 
wollen,  der  Uebergang  4, 1  if.  ist,  rein  sprachlich  betrachtet,  eine 
Ungeheuerlichkeit:  cbg  ovv  syvco  6  ycvQiog  on  iJKovöav  ot  (^agiöatoi 
Ott,  ^Irj6ovg  TtXsLOvag  ^ad-riräg  itoiei  xal  ßctntClsi  -Jj  Icjccvvrjg^  Tcaitotys 
*Ir}6ovg  avrbg  ovk  ißccTttL^sv  aAA'  ol  ^ad-r^tal  ccvtov,  äg)7jxsv  rriv  'Tov- 
daiav  xal  ocTCfjXd'sv  TtdUv  stg  rriv  rahXaCav.  So  ist  überliefert ;  die 
Varianten  sind  nichts  als  mehr  oder  weniger  ungeschickte  Ver- 
suche den  Text  von  seinen  Anstößen  zu  befreien.  Zunächst  hebt 
sich  in  dem  Concessivsatz  deutlich  das  Bestreben  ab  den  Wider- 
spruch gegen  die  Synoptiker  zu  beseitigen,  daß  Jesus  tauft.  Frei- 
lich ist  die  Correctur  lahm  und  müßte  schon  zu  3,  22  gesetzt  sein ; 
das  ist  aber  unterblieben  um  Johannes  Rede  für  Jesus  nicht  un- 
möglich zu  machen.  Derartige  Berichtigungen,  die  immer  leicht 
auszuscheiden  sind,  kommen  mehrfach  vor  ^).  Aber  die  Entfernung 
dieses  Zusatzes  hilft  der  Stelle  nicht  auf.  Woher  plötzlich  die 
Pharisaeer  auftreten,  weiß  niemand  zu  sagen,  und  vor  allem,  was 
ist  das  für  eine  Rede  die  zunächst  syvco  6  xvQcog  setzt  und  in  dem 
zweiten  davon  abhängigen  Satz  Iriöovg  wiederholt?  Das  vierte 
Evangelium  pflegt  außerdem  Jesus  nicht  6  zvQLog  zu  nennen ;  diese 


1)  7, 22  wird  der  Satz  Moovafjg  diScoKSv  v^lv  tr]v  nsgito^riv  corrigiert :  ov;^ 
oti  Ix  Tov  MavGEoi?  iariv,  ccXX'  fx  räv  TtcctSQcov.  Dieselben  Partikeln  leitBn  6,  46 
das  Citat  von  1,  18  ein,  durch  das  6, 45  näg  6  Scnovaag  nccQcc  tov  nargög  yiccl 
(lad-mv  eQxsTcct  ngbg  ifis  berichtigt  werden  soll:  ovx  ort  xhv  TtccveQa  soqcchev  rig, 
bI  ^i]  6  (ov  naqu  tov  -O-fo-D,  ovtog  eoqcchsv  tov  Ttarsga. 


120  E.  Schwartz 

Bezeichnung  ist  dem  Verfasser  des  21.  Capitels  [12]  eigen,  und  er 
hat  sie  an  den  wenigen  Stellen  wo  sie  vorkommt^),  eingeschmug- 
gelt. Streicht  man  syvG)  6  xvgiog  ort,  so  wird  der  Temporalsatz 
in  sich  verständlich,  aber  zugleich  ein  Rest,  der  zum  Folgenden 
nicht  paßt.  Der  Uebergang  ist  also  nur  durch  eine  ungeschickte 
Erweiterung  eines  älteren  Textes  bewerkstelligt,  der  für  einen 
anderen  Zusammenhang  geschrieben  war. 

Ungeschickt  wie  die  samaritanische  Reise  eingeleitet  wird, 
wird  sie  auch  beschlossen:  'die  Galilaeer  nehmen  lesus  an,  weil 
sie  alles  gesehen  haben,  was  er  zu  Jerusalem  am  Feste  tat:  denn 
sie  waren  auch  zum  Fest  gegangen  [4, 45]'.  Darüber  muß  sich  ein 
Leser  geärgert  und  an  den  Rand  geschrieben  haben:  ambg'lriaovg 
i^aQtvQTjaev  [Mc.  6, 4.  Mt.  13, 57.  Lc.  4, 24J  ort  TtQocpTJtrjg  iv  trjL 
idiai  jcavQLdi  ti^riv  ovx  aiei^  wobei  er  freilich  TtaxQig  als  'Vater- 
land', nicht,  wie  es  sich  gehört,  als  'Vaterstadt'  nahm.  Diese 
Randbemerkung  ist,  mit  einem  sinnlosen  yaQ  versehen,  in  den 
Text  geraten^).  Wem  das  zu  gewaltsam  dünkt,  der  muß  an- 
nehmen daß  vor  4,  44  mehreres  gestrichen  und  4, 45  ein  falscher 
Zusatz  ist.  Jung  ist  diese  Erfindung  auf  jeden  Fall.  Sie  bleibt 
ohne  alle  Folgen ;  nirgendwo  ist  davon  die  Rede  daß  ganz  Galilaea 
lesu  wegen  der  Wunder  die  er  tat,  zugefallen  sei,  dagegen  war 
3,  22  erzählt  daß  er  durch  Taufen  Anhänger  gewinnt.  Verdächtig- 
ist  außerdem  die  allgemeine  Erwähnung  all  der  Wunder  die  Jesus 
am  Fest  getan  haben  soll.  Das  vierte  Evangelium  legt  frei- 
lich großes  Gewicht  auf  die  Wunder;  wie  längst  beobachtet,  sind 
sie  erheblich  massiver   als   die  der   synoptischen  Ueberlieferung  ^). 


1)  20,  18  ^QXBxai  MaQiafi  7]  MaydaXrivr}  Scy/eXlovacc  totg  (icxd'rjTaLg  ort  £6qcc-kcc 
zov  %vQiov  xat  xavxa  unsv  avzrji:  die  erste  Hälfte  in  directer,  die  zweite  in  in 
directer  Rede  schließen  sich  aus.  11,2  nimmt  in  unerhörter  Weise  12, 1  ff.  vor- 
weg, vgl.  Wellhausen  35.  6, 23  steht  an  einer  Stelle  die  von  Schwierigkeiten 
wimmelt:  die  Speisung  der  5000  wird  hier  als  Eucharistie  hezeichnet,  aber  der 
dafür  charakteristische  Singular  scpayov  xov  agxov  stimmt  nicht  zu  der  aus 
den  Synoptikern  abgeschriebenen  Erzählung.  —  Ucbrigens  wirft  Irenaeus  den 
Valentinianern  vor  daß  sie  lesus  nicht  yivQiog  nennen  wollten,  1, 1,  3  =  Epiphan- 
31, 10  p.  176^ :  nach  ihnen  kam  der  Name  der  Achamoth  als  der  eigentlichen 
Herrin  der  Welt  zu  [Iren.  1, 5, 3  =  Epiph.  31, 18  p.  186^].  Sie  sagten  statt 
wQiog  oaxTJQ:  auch  dieser  Name  steht  nur  4,42  und  1  lo.  4,  14;  letztere  Stelle 
ist  sicher  interpoliert  [vgl.  Nachr.  1907,  366J. 

2)  Man  kann  die  Einschaltung  von  21,23  vergleichen. 

8)  Allerdings  fehlen  die  Teufelaustreibungen  [Bretschneider,  Probabilia  119], 
aber  nicht  weil  der  vierte  Evangelist  dafür  zu  aufgeklärt  war,  sondern  weil  ihm 
diese  Wunder  zu  leicht  für  lesus  vorkommen.  Teufel  austreiben  konnten  die 
Jünger  auch,  wenns  auch  gelegentlich  schwierig  wurde,  Mc.  9, 28  f. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  121 

Aber  die  Wundertätigkeit  lesu  wird  zu  einzelnen  scharf  heraus- 
hobenen  ccQsral  ^eov,  'Heldentaten  des  Gottes',  um  antik  zu  reden, 
condensirt:  sie  werden  gezählt,  wenigstens  am  Anfang  [2, 11.  4,  54], 
und  dazu  paßt  das  unbestimmte  Gerede  von  den  'vielen  Zeichen* 
nicht ;  wo  es  vorkommt,  bleibt  es  immer  schattenhaft  und  ist  ver- 
dächtig ^). 

5, 1  wird  das  Fest  nur  allgemein  bezeichnet ;  von  der  Sorge, 
die  4, 1  Jesus  aus  ludaea,  geschweige  denn  aus  Jerusalem  vertreibt, 
ist  nicht  mehr  die  Rede.  Ich  habe  schon  darauf  aufmerksam  ge- 
macht daß  die  Gefahr  in  die  Jesus  durch  die  Juden  gerät,  sich 
verflüchtigt,  ohne  daß  ein  Wort  darüber  verloren  wird,  und  dann 
im  Cap.  7  wieder  auftaucht,  ebenso  unvermittelt,  wie  sie  vorhin 
verschwunden  ist :  dazu  tritt  der  gewaltsame  Anschluß  von  6, 1, 
der  fast  so  klingt  als  läge  der  See  von  Tiberias  in  Judaea.  Die 
Motivirung  die  7, 1  steht,  gehört  eigentlich  an  den  Anfang  des 
Capitels,  das  vorausgeht.  Auf  die  merkwürdigste  Weise  ist  in 
6, 4  eine  Zeitbestimmung  eingeschaltet :  rjv  öe  iyyvs  tb  nddxa  ri 
ioQzri  tav  'lovdaicov:  es  scheint  als  sollte  sie  ebenso  wie  der  ver- 
dächtige Vers  6,  23  die  Speisung  der  Fünftausend  als  Eucharistie 
charakterisieren. 

Durchweg  erweisen  sich  die  Uebergänge  und  Zeitbestimmungen 
die  das  Gerüst  der  Erzählung  vom  ersten  Wunder  in  Kana  bis 
zur  dritten  Reise  nach  Jerusalem  zusammenhalten  sollen,  als 
schlechte  und  ungeschickte  Flicken,  die  darum  doch  nicht  beseitigt 
werden  können :  denn  ohne  sie  stürzt  die  ganze  Handlung  zu- 
sammen. Daß  die  Reise  zum  Laubhüttenfest  im  7.  Capitel  den 
Zusammenhang  stört,  ist  oben  schon  nachgewiesen,  und  ebenso 
wenig  tragen  die  Erwähnungen  des  Festes  die  in  die  Erzählung 
von  dem  Auftreten  Jesu  in  Jerusalem  eingestreut  sind,  dazu  bei 
die  Situation  anschaulicher  zu  machen;  im  Gegenteil,  auch  sie  ver- 
wirren nur.    'Jn  der  Mitte  des  Festes  gieng  Jesus  in  den  Tempel 


1)  2,23;  im  Folgenden  taucht  mit  'dem  Menschen'  ein  anderer  nicht  mehr 
aufzuklärender  Zusammenhang  auf.  —  3,2.-6,2  ist  nach  den  Synoptikern  ge- 
macht, vgl.  Mt.  15,  29  ff.  Lc.  9,11.  —  7,31.  —  10,32  in  scharfem  Widerspruch 
zu  7,21.  —  11,47.  —  12,37.  —  Es  ist  zu  beachten  daß  die  'vielen  Zeichen'  nur 
in  Reden  und  Motivierungen  oder  in  dem  eingelegten  Raisonnement  12, 37  vor- 
kommen, niemals  in  der  Erzählung  selbst,  wie  oft  bei  den  Synoptikern ;  sie  werden 
eben  nach  diesen  vorausgesetzt  und  gehören  in  die  festgeschlossene,  sich  bis  zur 
Todtenerweckung  steigernde  Mirakelreihe  des  vierten  Evangeliums  nicht  hinein. 
Chrysost.  t.  YIII  p.  295  e  bemerkt  zu  7,31:  Ttoaa  arnisicc;  xal  iiriv  xqCo.  iqv  üri 
fjLEia,  tb  Tov  oi'vov  v-cu  xh  tov  TtKQKXvtLV,ov  Y.cc\  xo  xov  vtov  xov  ßaadiyiov  -aal 
ovSsv  diJiyriaaxo  tcXeov  ö  evayysXiati^s. 


122  E.  Schwartz 

und  lehrte'  [7, 14];  man  kann  Mc.  11,  27  fF.  Mt.  21,  23  ff.  Lc.  19,  47. 
20, 1.  21,  37  als  Parallele  ansehn.  Aber  es  ist  doch  seltsam,  daß 
7, 19.  25  das  Motiv  des  5.  Capitels  wieder  auftaucht,  während  man 
zunächst  annimmt,  daß  Jesus  ruhig  im  Tempel  lehrt.  Nach  7,  32 
schicken  die  Pharisaeer  und  Hohenpriester  Büttel  aus  ihn  zu  ver- 
haften ;  sie  kehren  7,  45  ohne  ihn  zurück.  Das  muß  an  einem  und 
demselben  Tage  gewesen  sein,  und  doch  steht  7,  37,  also  zwischen 
der  Aussendung  und  der  Rückkehr  der  Büttel,  eine  Tagesangabe, 
gleich  als  ob  eine  neue  Erzählung  einsetzte :  iv  8s  tfJL  iöidtrii 
rjfiegai  tr}L  fisyciXriL  rijs  ioQtfjg  eLötr]xei  6  'lr](30vg  xal  exQu^sv  Xsycov. 
10,  22  rückt  die  Zeit  plötzlich  kräftig  vor,  von  Laubhütten  zu  den 
Enkaenien;  aus  dem  Herbst  ist  Winter  geworden.  Aber  lesu 
Rede  biegt  nach  den  ersten  Worten  10,  26  in  den  Zusammenhang  ein, 
in  denen  sich  die  Ausführungen  über  den  Hirten  und  seine  Schafe 
10, 1  ff*,  bewegen :  wieder  reißt  eine  Zeitangabe  mit  dem  Wenigen, 
was  an  sie  angeschlossen  ist.  Zusammengehöriges  auseinander^). 

Die  Feste  hängen  nicht  mit  der  Erzählung  zusammen,  sie  siad 
ihr  vielmehr  aufgedrängt,  und  mit  ihnen  auch  die  von  den  Festen 
abhängige  und  durch  sie  angedeutete  Chronologie,  die  die  Wirk- 
samkeit lesu  auf  mindestens  zwei  Jahre  ausdehnt.  Mit  dieser  ein- 
gefügten Zeitrechnung  verknüpft  sich  ein  zweites,  ebenfalls  chro- 
nologisches Problem.  Nach  8, 57  ist  lesus,  als  er  zum  dritten 
Male  nach  Jerusalem  kommt,  nahezu  50  Jahre  alt;  anders  kann 
7Csvt7}xovta  hl]  ovjtG)  BxBig  nicht  verstanden  werden.  Bei  dem 
seltsamen  ersten  Auftreten  lesu  in  Jerusalem  scheint  ein  gleiches 
oder,  wie  ja  auch  billich,  etwas  geringeres  Alter  vorausgesetzt  zu 
werden.  Wenigstens  liegt  es  sehr  nahe  die  nicht  ohne  Weiteres 
plausible^)  Bauzeit  von  46  Jahren  die  die  Juden  dem  Tempel  zu- 
schreiben, als  eine  ungewollte,  aber  bedeutsame  Anspielung  auf 
lesu  Alter  zu  verstehen;    denn  'er  redete  von  dem  Tempel  seines 


1)  Die  Halle  Salomos  10,23  ist  aus  der  Apostelgeschichte  bekannt;  das 
'Schatzhaus'  8, 20  dürfte  eine  schemenhafte  Reminiscenz  an  Mc.  12, 41  =  Lc. 
21,  1  sein.  Ungehörig  ist  auch  G,  59  rctvxa  slnEv  iv  GvvaymyfiL  diSdoyuov  iv  Ka- 
(paQvciov(i.  Wann  ist  er  denn  hineingegangen  ?  6,  25  findet  ihn  'die  Menge'  negav 
TTig  ^aXdaaris ;  6,  41  tauchen  plötzlich  die  Juden  auf.  Auch  hier  hat  wohl  Mc. 
1,21.  6,  2  ff.    Lc.  4, 16  ff.  31  ff.  Mt.  13, 54  ff.  eingewirkt;  vgl.  6,42. 

2)  Origenes  hat  Recht,  wenn  er  sagt  [comm.  in  lo.  10,254]  n&g  tsaasgd- 
%ovxa  xal  V|  hsaiv  ML-noSofiijad-ai  cpaoi  thv  vccbv  ot  ^IovScclol,  Xiysiv  ovn  i%o^BVy 
bI  Tfji  taroQi'ai  ^ara-noXovd'i^aoiisv.  Der  von  mir  unternommene  Versuch  die  Bau- 
zeit historisch  zu  erklären  [Abhdlg.  VII  5,8],  ist  gescheitert;  die  Sache  liegt 
einfach  so,  dafi  sie  nach  dem  angenommenen  Alter  Jesu  fingiert  ist. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IT  123 

Leibes.'  Wie  dem  aber  auch  sein  mag,  daß  8,  57  im  Widerspruch 
zu  der  berühmten  Stelle  Lc.  3, 23  lesu  Alter  nicht  auf  dreißig 
sondern  fast  fünfzig  Jahre  angegeben  wird,  das  steht  trotz  allen 
harmonistischen  Künsteleien  fest.  Das  Gleiche  berichteten  die 
^Presbyter'  auf  die  sich  Papias  berief  [Iren.  2, 22,  5].  Daß  diese 
dafür  wirklich  den  Apostel  Johannes  als  Gewährsmann  anführten, 
braucht  man  Irenaeus  nicht  zu  glauben,  und  ich  möchte  auch  nicht 
mehr  so  bestimmt  wie  vor  Jahren  behaupten  daß  diese  Presbyter- 
überlieferung einfach  auf  die  Stelle  des  vierten  Evangeliums  zu- 
rückläuft; es  kann  jedenfalls  nicht  bezweifelt  werden  daß  die 
Meinung,  lesus  sei  ungefähr  50  Jahre  alt  geworden,  in  Asien  ver- 
breitet war.  Sie  hatte  dogmatische  Gründe,  die  nicht  erraten  zu 
werden  brauchen:  sie  stehen  bei  Irenaeus  [2,22].  Dieser  gibt  sich 
große  Mühe  die  Angabe  des  Lucas  mit  dem  vierten  Evangelium 
zusammenzubringen;  denn  er  kämpft  gegen  die  Typologie  der 
Valentinianer,  nach  der  die  30  Lebensjahre  lesu  ein  Symbol  der 
30  Aeonen  waren  ^).  Das  wirft  ein  Schlaglicht  auch  auf  die  Pres- 
byter des  Papias,  der  in  der  Vorrede  seines  Werkes  gegen  die 
Gnosis  polemisirt  [Abhdlg.  YII  5,11]:  auch  jene  werden  mit  der 
'Ueberlieferung'  von  den  50  Jahren  gegen  das  valentinianische 
System  haben  kämpfen  wollen.  Wie  die  30  Lebensjahre  auf  die 
Gesammtzahl  der  Aeonen,  so  wurde  die  Passion  lesu  im  zwölften 
Monat  seiner  Wirksamkeit  von  den  Valentinianern  auf  die  Leiden 
des  zwölften  Aeon,  der  Sophia,  bezogen  ^).  Augenscheinlich  ist 
daraus  daß  bei  den  Synoptikern  nur  das  eine  Pascha  der  Passion 
vorkommt,  abstrahirt  daß  lesu  Predigt  kein  volles  Jahr  umfaßte; 
der  Ansatz  des  Epiphanienfestes  auf  den  11.  Tybi  [6.  Januar],  der 
zu  dieser  Rechnung  nicht  stimmt,  stand  Yalentinus  und  seiner 
Secte  noch  nicht  im  Wege,  andererseits  stützten  sie  ihre  Berech- 
nung durch  die  Weissagung  les.  61,  2  [Iren.  2,  22, 1].  Auch  gegen 
diese  Typologie  führt  Irenaeus  [2,  22,  5]  das  vierte  Evangelium  ins 
Feld,  den  Widerspruch  gegen  die  Synoptiker  verschweigend. 

Nach  der  allgemein   herrschenden  Anschauung   setzt   die  va- 


1)  Iren.  1,1,3  =  Epiphan.  31,10  p.  176i>  dia  tovto  rbv  UatfJQa  Xsyovaiv 
{ov8s  yag  hvqlov  a'bxov  6vo(id^siv  ^iXovGiv)  tQidv.ovxa  hs6i  v,ata  xo  cpccvsgbv 
[iridev  cnpfjrotTjxfWt,  iTtidsLHvvvxa  x6  [ivöx'^qlov  xovxav  xcbv  Alcavayv.  Ebenso  1, 
3,  1  =  Epiphan.  31,  14  p.  179d.  2,  22, 1. 

2)  Iren.  1,  3,  3  =  Epiphan.  31,  14  p.  180c  xb  ds  Ttsgl  xbv  dmdhaxov  Almva 
ysyovbg  Ttccd-og  vno6ri^aCvEü%-ai  Xsyova  ...  ort  rwt  dadsndxcoi.  firivl  'mtc^Bv. 
iviavxm  yccQ  svl  ßovXovxcci.  ccbxbv  fisxcc  xb  ßccnxiGfta  avxov  y,syir}Qvx^vai,. 


124  E.  Schwartz 

lentinianiscbe  Gnosis  das  vierte  Evangelium  voraus*).  Für  die 
Schüler  und  Nachfolger  des  Meisters  trifft  das  in  der  Tat  zu: 
keine  Spur  deutet  darauf  hin  daß  die  Valentinianer  sich  der  ße- 
ception  des  Evangeliums  widersetzten,  im  Gregenteil  läßt  sich  trotz 
der  dürftigen  Ueberlieferung  noch  jetzt  erkennen  daß  sie  es  rasch 
aufnahmen  und  für  ihre  Lehren  verwerteten.  Herakleon  würdigte 
es  eines  ausführlichen  Commentars,  Ptolemaeos  interpretierte  den 
Prolog^),  die  Valentinianer  der  Excerpte  des  Clemens^)  und  Hip- 
polyts^)  berufen  sich  wiederholt  auf  Stellen  aus  dem  Evangelium. 
Dem  ist  aber  nicht  immer  so  gewesen. 

Nach  der  ur christlichen  Anschauung  giebt  es  nur  ein  Evan- 
gelium von  lesus  Christus ;  ob  es  mündlich  oder  schriftlich  über- 
liefert wird,  darauf  kommt  nichts  an.  Wird  es  in  einem  Buch 
zusammengefaßt,  so  erhebt  dies  regelmäßig  den  Anspruch  ein  in 
sich  geschlossenes  Ganze  zu  bieten:  es  will  immer  autonom  sein, 
verweist  nicht  auf  andere  Darstellungen  des  Evangeliums  und 
setzt  sie  nicht  als  bekannt  voraus.  Matthaeus  schreibt  nicht  etwa 
ein  Supplement  zu  Marcus,  sondern  ein  neues  und  reicheres  Evan- 
gelium in  das  er  Marcus  aufnimmt,  um  ihn  überflüssig  zu  machen. 
Die  Theorie  die  am  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  aufkommt, 
daß  das  vierte  Evangelium  die  drei  anderen  ergänzen  wolle  und 


1)  So  schon  Iren.  3,  11,7:  hi  autem  qui  a  Valentino  sunt,  eo  quod  est  se- 
cundum  loannem,  plenissime  utentes  ad  ostensionem  coniugationum  suarum\  er 
verweist  auf  1,  8,  5. 

2)  Iren.  1,  8,  5.  Der  Satz  des  Briefes  an  die  Flora,  in  dem  lo.  1, 1  citiert 
wird,  ist  schwer  verdorben  [Epiphan.  33,3  p.  217»]:  m  ys  [ts?]  xriv  xov  >i6a(iov 
öri^LiovQyiav  IdCav  [wessen?]  Xiyu  bIvui  ats  [td  ts  Petavius]  Ttccvra  Si  wbrov 
ysyovivai  xal  Jjwpls  avrov  ysyovsv  [so  überliefert]  ovSsv  6  ccnoaroXog  Ttgoccnoats- 
Qi^oag  X7}v  ta)v  tpsvdriyoQOvvTcov  &vvn6atatov  aotpCav  xal  ov  (fQ-OQonoiov  Q-iov, 
äXXa.  Slhulov  xal  iiiao7tovi]Qov.  Das  letzte  Kolon  das  mit  xat  eingeleitet  wird, 
steht  in  der  Luft ,  6  ScnoaroXos  ist  nach  constantem  Sprachgebrauch  Paulus,  nicht 
lohannes. 

3)  6,  7  wird  die  valentinianische  Erklärung  des  Prologs  entwickelt;  sie 
stimmt  im  Wesentlichen  mit  Iren.  1,  8,  5  überein.  Auf  den  Prolog  beziehen  sich 
auch  41  [lo.  1,9]  und  45  [lo.  1,1:  das  doppelte  yiyovBv  statt  iyevsro  ist  wegen 
der  in  der  vorigen  Anmerkung  behandelten  Stelle  des  Ptolemaeos  zu  beachten]; 
in  der  Parallelausführung  Iren.  1,  4,  5  =  Epiphan.  31, 17  p.  185«  fehlt  das  Citat. 
—  3  wird  lo.  20,22  citiert;  nebenbei  gesagt  ist  27  für  ^(itpvxov  fitvrii  nach  dieser 
Stelle  ificpvaafiivri'  zu  schreiben.  —  23.  32  erscheint  der  Paraklet,  vgl.  Iren.  1,  4, 
5  =  Epiphan.  31,  17  p.  184c  und  die  Aeonentafel  1,  1,  2  =  Epiphan.  31, 10  p. 
176».  —  26  wird  lo.  10,  7  erklärt,  Gl  lo.  14,  6,  10,  30.  19,  34,  62  19,  37.  36,  65 
2,28.  3,29,  73  10,  11. 

4)  6,  35  wird  10,  8  citiert.   Die  Aeonentafel  6,  30  ist  dieselbe  wie  bei  Irenaeus. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  125 

mit  Absicht  vieles  auslasse  was  in  diesen  schon  stehe,  ist  eine  un- 
historische Erfindung :  sie  widerspricht  der  alten  Weise  von  Grrund 
aus  und  wird  durch  das  Evangelium  selbst  widerlegt;  wenn  jetzt 
in  ihm  die  synoptische  Ueberlieferung  oft  vorausgesetzt  wird,  so 
liegt  regelmäßig  secundäre  Ausgleichung  mit  den  Synoptikern  vor, 
die  nicht  täuschen  darf.  Damit  daß  jedes  geschriebene  Evangelium 
die  Einheit  des  in  der  Gemeinde  lebendigen  Evangeliums  darstellen 
will,  ist  nicht  gesagt  daß  jeder  Evangelist  den  Anspruch  erhob 
daß  seine  Darstellung  die  allein  richtige  und  allein  vollständige 
sei:  wenn  sie  in  der  Form  die  Einheit  des  Evangeliums  festhielten, 
so  waren  sie  sich  wohl  bewußt  daß  ihre  Bücher  nichts  als  ein 
unvollkommenes  Mittel  waren  das  eine,  unteilbare,  lebendige  Evan- 
gelium zu  übermitteln:  nur  weil  jede  schriftliche  Darstellung  für 
unvollkommen  galt,  weil  das  junge  Christentum  keinen  Qoran  hatte 
wie  der  Islam,  entstanden  fortwährend  neue  Evangelien  und  wurden 
die  vorhandenen  neu  bearbeitet.  Die  'Schrift',  die  feststand,  war 
das  A.  T. :  Evangelien,  Briefe,  Apokalypsen  waren  ein  Neuland, 
über  das  jeder  der  das  Charisma  spürte,  seinen  Pflug  gehen  lassen 
konnte.  Andererseits  zwang  der  Grebrauch  in  der  Gremeinde  immer 
wieder  dazu  das  eine  Evangelium  in  einem  Buche  zu  suchen:  die 
Gemeinde  von  Rhossos,  die  nur  das  Petrusevangelium  benutzt,  ist 
ein  ebenso  lehrreiches  Beispiel  wie  die  altsyrische  Kirche,  die  an 
Stelle  der  vier  Evangelien  sofort  eine  Evangelienharmonie  setzt 
und  zäh  an  dieser  festhält.  Wenn  Basilides  seine  ^E^rjyrjtixci  zu 
'dem  Evangelium  '[Eus.  KG  4,  7,  7]  schrieb,  so  war  das  urchristlich 
gedacht  und  der  Singular  berechtigt  nicht  dazu  von  einem  Evan- 
gelium des  Basilides  in  einem  anderen  Sinne  zu  reden  als  wie  man 
von  dem  Evangelium  lustins  sprechen  kann :  er  erklärte  den  evan- 
geKschen  StoiF  aus  einer  ihm  speciell  zugänglichen  Tradition  wie 
Papias  die  Aoyia  xvQiaxd  aus  der  Ueberlieferung  der  Presbyter, 
und  nur  die  Willkür  mit  der  er  den  Stoff  ausgewählt  haben  mag 
und  apokryphe  Berichte  verwertete,  veranlaßte  Origenes  [hom.  in 
Luc.  1]  die  Existenz  eines  svayyeXcov  xatä  Ba^iXsidriv  zu  behaupten : 
das  ist  schwerlich  etwas  anderes  gewesen  als  die  Textabschnitte 
die  Basilides  seinem  Commentar  zu  Grunde  legte. 

Wie  in  allem,  so  nimmt  auch  in  der  Frage  des  Evangeliums 
Markion  eine  von  der  kirchlichen  Entwicklung  radikal  verschiedene 
Stellung  ein:  er  hat  in  der  Tat  aus  dem  Christentum  eine  Buch- 
religion machen  wollen.  Weil  er  das  A.  T.,  das  den  christlichen 
Gemeinden  seiner  Zeit  als  die  Schrift  galt,  rücksichtslos  jeden 
Compromiß  ablehnend,  verwarf,  mußte  er  für  die  'Schrift'  einen 
vollwichtigen  Ersatz  schaffen  und  führte  die  Aufgabe  mit  der  für 


126  E.  Schwarte 

ihn  charakteristischen  Consequenz  durch:  die  markionitischen  Ge- 
meinden haben  zuerst  einen  festgeschlossenen  Kanon  gehabt;  er 
bestand  aus  einem  Evangelium  und  den  Briefen  des  Paulus,  des 
einzigen  Apostels  der  lesus  verstanden  hatte.  Hier  ist  die  Ein- 
heit des  Evangeliums  sehr  viel  mehr  als  ein  formales  Prinzip :  das 
Evangelium  der  markionitischen  Gemeinde  beansprucht  ausschließ- 
liche Geltung  und  erkennt  kein  anderes  neben  sich  an. 

Die  Kirche  hat  es  an  litterarischer  Polemik  gegen  die  reli- 
giösen Neubildungen  die  sich  aus  ihr  und  neben  ihr  erhoben  und 
sie  zu  zersetzen  drohten,  nicht  fehlen  lassen:  aber  diese  Polemik 
ist  es  nicht  gewesen  was  ihr  den  Sieg  brachte,  sie  setzt  sogar, 
wenn  die  spärliche  und  chronologisch  unsichere  Ueberlieferung 
nicht  täuscht,  mit  voller  Kraft  erst  ein,  nachdem  der  Kampf  ent- 
schieden ist.  Ihre  Waffe  war  dieselbe  zu  der  sie  in  den  späteren 
Jahrhunderten  ihre  Zuflucht  genommen  hat  bis  auf  den  heutigen 
Tag,  die  Organisation :  durch  die  straffe  Ausbildung  des  Episkopats, 
der  durch  die  ßechtsfiction  der  apostolischen  Succession  legitimiert 
wird,  hat  sie  ihre  ins  Wanken  geratenen  Glieder  zusammengehalten, 
nicht  durch  dogmatische  Argumente.  Mit  dem  Instinct  der  Herr- 
schaft hütete  sie  sich  davor  sich  von  den  Neuerern  in  neue,  den 
Gemeinden  ungewohnte  Positionen  drängen  zu  lassen,  und  so  fiel 
es  ihr  nicht  ein  gegen  den  geschlossenen  Kanon  Markions  einen 
neuen  und  rechtgläubigen  aufzustellen.  Sie  wahrte  der  Tradition 
sehr  entschieden  ihr  Recht  neben  dem  Buch  und  hielt  zäh  an  der 
Vielfältigkeit  der  schriftlichen  Aufzeichnungen  des  einen  Evange- 
liums fest:  es  wäre  ja  auch  eine  Torheit  gewesen  hier  unificieren 
zu  wollen  und  den  Gemeinden  die  man  zu  halten  sich  bemühte, 
liebgewordene  Bücher  zu  entziehen  nur  um  dem  einen  Evangelium 
Markions  ein  kirchliches  entgegenstellen  zu  können.  Dagegen  war 
es  allerdings  nicht  mehr  möglich  der  Vermehrung  der  schriftlichen 
Evangelien  ruhig  zuzusehen,  seitdem  die  Gnosis  ihre  Geheim- 
traditionen auf  mannigfaltige  Weise  in  die  evangelische  Ueber- 
lieferung hineindestillierte.  Dem  gegenüber  galt  es  Neues  abzu- 
wehren und  von  dem  schon  Vorhandenen  nach  Möglichkeit  das 
auszuscheiden,  was  den  Haeretikern  am  ersten  und  leichtesten  Vor- 
schub leistete.  Das  Kriterium  des  'Apostolischen',  das  von  der 
Gemeindevertretung  erst  auf  die  Gemeindelitteratur  übertragen 
ist,  wirkte  bei  dieser  Auswahl  als,  ich  möchte  sagen,  juristisches, 
keineswegs  als  historisches  Prinzip :  man  stellte  nicht  kritisch  den 
apostolischen  Ursprung  eines  Evangeliums  fest  um  es  für  den  Ge- 
meindegebrauch zu  sanctioniren,  sondern  man  schrieb  denen  die 
längst  recipiert  waren  und  die  man  beibehalten  wollte,  apostolische 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  127 

Authentie  zu,  wenn  es  auch  nur  mit  so  gewaltsamen  Fictionen 
möglich  war,  wie  es  für  den  der  genau  zusieht,  bei  allen  drei 
Synoptikern  der  Fall  ist. 

Die  Gnosis  ist  älter  als  das  Christentum  und  mehr  in  es  ein- 
gedrungen als  aus  ihm  hervorgegangen,  schließlich  mit  dem  Erfolg 
daß  sie  in  der  Kirche  aufgegangen  ist.  Dazu  hat  es  einer  all- 
mählichen Entwicklung  bedurft,  und  der  christliche  yvcoötixög  des 
Clemens  hat  eine  Ahnenreihe  gehabt,  die  immer  mehr  mit  der 
nichtgnostischen  Kirche  convergierte.  Es  ist  der  Verlogenheit  der 
Ketzerbestreiter  zu  verdanken,  daß  dieser  Verkirchlichungsproceß 
der  Gnosis  sich  in  seinen  einzelnen  Stadien  nicht  mehr  verfolgen 
läßt;  selbst  die  Lehre  die  noch  am  besten  bekannt  ist,  die  valen- 
tinianische,  ist  ein  wüster  Trümmerhaufen  der  sich  zu  einem  ver- 
ständlichen Bau  nicht  mehr  zusammenfügen  wül.  Was  Clemens 
und  Origenes,  die  ihr  nahe  standen  und  sie  wirklich  kannten,  an 
einzelnen,  kostbaren  Resten  bieten,  reicht  grade  aus  um  zu  zeigen 
daß  die  s.  g.  valentinianischen  Systeme  bei  Irenaeus  und  Hippolyt 
unlebendige  Zerrbilder  sind,  die  einzelne  Speculationen  in  den 
Vordergrund  schieben  um  den  frommen  Leser  grauslich  zu  machen 
und  das  worauf  es  Valentinus  und  seinen  Jüngern  ankam,  unter- 
drücken^). Die  Ketzerbestreiter  benutzen  außerdem  die  reiche 
und  mannigfaltige  Entwicklung  der  Schule  dazu  um  die  verschie- 
denen Stadien  perfide  durcheinander  zu  werfen  und  von  vornherein 


1)  Man  vgl.  z.  B.  die  Kolle  die  das  ovo^ia  =  vtog  bei  Valentinus  selbst 
[Clem.  Strom.  4,  90,  1]  und  in  den  Excerpten  [82.  43.  26.  31  (leider  arg  zerstört, 
auch  Iren.  1,  2,  5  =  Epiphan.  31,  13  p.  178^  klärt  nicht  alles  auf)]  spielt:  von 
diesem  mystischen  Aberglauben  lassen  die  'Mythologien'  bei  Irenaeus  und  Hippolyt 
nichts  ahnen.  Ebenso  wenig  von  den  'Geheimnissen'  der  Taufe  die  von  der 
Macht  der  Gestirne  befreit  [Exe.  78]  und  die  Pneumatiker  mit  ihren  Engeln  [vgl. 
Herakleon  bei  Orig.  in  loann.  13,  324]  zur  Einheit  bindet,  wobei  wieder  der  'Name' 
eine  Kolle  spielt  [Exe.  22.  36]:  man  muß  hinzunehmen  daß  das  aniq^Lu  Siacpegov 
von  der  Achamoth  als  Abbild  der  Engel  =  cp&ta  mit  denen  der  Soter  herab- 
kommt, concipiert  wird  [Iren.  1,  4,  5  =  Epiphan.  31,  17  p.  185^] ;  das  Taufen 
ist  aber  tpcoriad-fivcct,  und  wie  der  Soter  die  Ttdd-ri  der  Achamoth  für  sich  setzt, 
so  befreit  die  Erleuchtung  der  Taufe  den  Menschen  von  den  Leidenschaften  [Exe. 
41].  Auf  die  Aeonengenealogie  mit  der  die  kirchliche  Polemik  hausieren  geht, 
kommt  wenig  an;  viel  wichtiger  ist  die  —  ganz  unphilosophische  —  Psychologie 
im  Zusammenhang  mit  dem  Engels-  und  Teufelsspuk :  der  Inhalt  der  yv&aig  ist 
nicht  die  Metaphysik  an  und  für  sich,  sondern  die  mystisch  fundierte  Erlösung 
[Exe.  78]  :  S6TLV  de  ov  rö  Xovtqov  ^lovov  t6  iXsvdsQOvv,  ccXXä  xat  17  yv&aig  xCvsg 
^iisv,  XL  ysyovttfisv  •  nov  ^(isv,  [T)]3rov  ivsßX^&ri^Bv  •  nov  ansvöo^isv^  nodsv  Xvxqov' 
fif-O-cu  •  t£  yivvriGig.  xC  avayivvTicig, 


128  E.  Schwartz 

den  Eindruck  der  Confasion  zu  erzielen  ^),  während  umgekehrt  die 
Polemik  Plotins  [30  =  Ennead.  2,  9]  den  Beweis  liefert  daß  sehr 
wesentliche  Lehrstücke  noch  um  260  aufrecht  erhalten  wurden^). 


1)  Weil  sich  Irenaeus  und  Hippolyts  Berichte  nicht  oder  doch  nur  unbequem 
zu  einer  Paraphrase  vereinigen  lassen,  gilt  die  Meinung,  sie  seien  von  einander 
'unabhängig'.  Das  ist  falsch:  es  sind  nicht  nur  Coincidenzen  da,  sondern  manches 
bei  Irenaeus  wird  erst  verständlich,  wenn  es  in  die  Zusammenhänge  des  hippo- 
lyteischen  Berichts  eingeordnet  wird.  Bei  Irenaeus  ist  das  Ttdd-og  der  oberen 
Sophia,  aus  der  die  ^Ev&vfiriaLg  resultiert,  das  'Suchen  des  Vaters':  rjdsXE  ydg, 
CO?  XiyovGL,  rö  iiiysd^og  avtov  yiutaXccßsLV  [1,  2, 2  =  Epiph.  31, 11  p.  177^];  nach 
Hippolyt  [6, 30]  will  sie  wie  der  'Vater'  ohne  Syzygle  zeugen,  obgleich  sie  als  weib- 
licher Aeon  keine  'gestaltende  Kraft'  hat :  ngoEßaXsv  ovv  rj  SocpCa  rovto  fiovov  oTtsg 
riSvvato^  ovaiav  &iioQ(pov  yiccl  a%ata6v.sva6tov.  Das  ist  genau  die  Variante  die 
Irenaeus  1,2,3  [=  Epiphan.  31,12  p.  177^]  berichtet:  ccSvvdraL  xal  ayiarccXrJTt- 
xai  [nach  1,2,5  =  Epiph.  31,13  pag.  178  ^  ist  die  av^vyiag  cpvGig  =  ccysvv^tov 
y.ardXriipigl  nqdyiiaxL  ccvriiv  knLXBiQr\acc6av  rfxftv  ovaiav  diiOQcpov,  oiav  cpvGiv 
ißxsv  %-riXsia  t£y.Biv.  —  Bei  Hippolyt  entsteht  durch  die  Fehlgeburt  der  Sophia 
Unruhe  unter  den  Aeonen  [p.  276, 20] :  nach  Irenaeus  ist  die  Sehnsucht  der  Aeonen 
nach  Erkenntniß  harmlos  im  Gegensatz  zur  Kühnheit  der  Sophia  [1,2, 1  =  Epiph. 
31,11  p.  177»],  trotzdem  werden  Christus  und  der  h.  Geist  emaniert  Tva  [li] 
ofiOLoag  ravtrii  Tcd^m  xig  r&v  Alcovav,  .  .  üg  nf}^iv  xorl  6t7iQiy[ibv  tov  ÜXrigmiiatog, 
vip'  a)v  KataQtia&iivav  rovg  Alävag  [1, 2, 5  =  Epiph.  31, 13  p.  178c].  Um  das 
zu  verstehen  muß  der  Parallelbericht  bei  Hippolyt  suppliert  werden.  —  Durch 
Vergleichung  mit  Clemens  Excerpten  läßt  sich  aus  Irenaeus  ein  zusammenhängen- 
des Stück  ausscheiden,  das  durch  Einlagen,  die  nicht  kenntlich  gemacht  sind 
unterbrochen  wird:  43—46  =  Iren.  1,4,5  [=  Epiph.  31,17  p.  184c— 185»];  47  = 
1,5,2  [=  Epiph.  31,18  p.  186»];  48  =  1,5,4  [=  Epiphan.  31,19  p.  187»  und 
^-  c],  hier  ist  durch  Irenaeus  manches  hineingebracht,  was  nicht  hinpaßt;  50  =  1, 
5,  5  [Epiph.  31, 19  p.  187c,  d]  ;  54  =  1,  7,  5  [Epiphan.  31,  23  p.  192c]  ;  55  =  1,  5,  5 
[=  Epiph.  31,19  p.  187d];  59  =  1,6,1  [=  Epiphan.  31,20  p.  188«]. 

2)  Ich  sehe  nicht,  wie  man  bestreiten  will  daß  die  von  Plotin  bekämpfte 
Lehre  in  allen  Hauptsachen  valentinianisch  ist.  Aus  der  valentinianischen  Gnosis 
stammen  die  Hypostasen  des  Novg  und  Aoyog  [Plot.  30, 1],  von  denen  der  De- 
miurg  und  'die  Seele'  d.  h.  die  Achamoth  verschieden  sind  [30,  6] ;  die  inivoicc 
[30, 1]  ist  wohl  die  "Evvoia  =  Ziyri  bei  Iren.  1, 1, 1  [=  Epiphan.  31, 10  p.  175b], 
vgl.  auch  die  Weiterbildung  bei  Ptolcmaeos  1, 12, 1  [=  Epiphan.  33, 1]  und  die 
'Ev'O-vfirjdtg  der  Excerpte  [7].  Die  Vermengung  des  planenden  Nus  und  der  welt- 
schafifenden  Seele  [30, 6. 10],  d.  h.  die  Identität  der  von  der  Sophia  gezeugten 
'JEv'O'v/ürjfftff  =  gleich  Achamoth  [vgl.  30,  11  ivvotiyLo]  mit  der  'äußeren',  welt- 
schaffenden Sophia  [vgl.  z.  B.  Clem.  exe.  47.  Iren.  1, 5, 2],  das  atpdXina  der  Sophia, 
die  Weltschöpfung  in  Folge  der  Erinnerung  an  das  Pleroma  [30, 4]  sind  specifisch 
valentinianisch  [vgl.  Iren.  1,5,1  =  Epiphan.  31,18  p.  185«.  Clem.  exe.  33];  ja 
die  bissige  Frage  des  Philosophen  xC  ydq  uv  iavxi)i  v.aX  iXoyC^Bzo  ysvia&ai  in  tov 
xoaiiOTtoifjaai',  ysXorov  yuQ  xh  '■Tva  ri/ncotTo'  xal  [iBxacpBQOVxaiV  dnb  x&v  &yaXfiaxo7toi&v 
x&v  ivxavd-a  [30,4  vgl.  11]  findet  ihre  Erklärung  in  dem  Fragment  Valentins  bei 
Clem.  4, 90, 1,  wo  die  Sophia  mit  einem  Maler  verglichen,  der  Kosmos  als  das 
Abbild  des  Aeon  (d.  1.  nach  der   besseren,   auch  bei  Ilerakleon   noch   befolgten 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  1^9 

So  schwer  es  also  ist  Valentinus  und  seiner  Schule  ihre  Stelle  in 
der    Entwicklung    anzuweisen,    so    dürfte    doch    die   Behauptung 


Terminologie  das  was  Irenaeus  das  Pleroma  nennt)  gefaßt  wird:  die  Erhabenheit 
des  Originals  ist  für  den  Maler  der  Grund  es  abzubilden,  iva  nfirid'fit  dt  övofiatog 
avTov.  Die  Pneumatiker,  die  Glieder  der  Sophia  [30, 10],  stehen  höher  als  die 
vom  Deniiurgen  geschaffenen  Gestirne  [30,  5]  vgl.  9],  sie  sind  allein  der  Vorsehung 
unterworfen  [30,  16  vgl.  Exe.  74].  Die  Unterschiede  der  Seelen  [30,6]  werden 
sorgfältig  untersucht.  Gemeint  ist  die  bekannte  Teilung  in  die  'drei  Naturen', 
über  die  Valentinus  ein  eigenes  Buch  geschrieben  hatte  [Mercati  rendiconti  ser.  II 
vol.  31, 1034].  Daß  der  Demiurg  mit  der  Seele  identificiert  wird  und  ihre  Leiden- 
schaften erhält  [30,  6],  zielt  darauf  daß  der  Demiurg,  der  30,  10.  12  ausdrücklich 
erwähnt  wird,  psychischen  Wesens  und  aus  den  Tua-ö-rj  der  Achamoth  hervorge- 
gangen ist.  Es  finden  sich  ja  kleine  Differenzen  mit  den  Berichten  die  über  die 
valentinianische  Gnosis  erhalten  sind,  z.  B.  die  zweite  'Seele',  die  aus  den 
Elementen  besteht  [30,  5],  die  wohl  auf  den  KoöfioyiQcctoaQ  zu  beziehen  ist  [vgl. 
Iren.  1,5,4  =  Epiph.  31,19  p.  187»  und  Valentinus  selbst  bei  Iren.  1,11,1  = 
Epiphan.  31, 32  p.  204^]  und  die  TtuQOL'U'^GELg  xal  ävxCtvnoi  yial  ^istdvoiai 
[31,6]:  diese  kehren  in  einem  gnostischen  Tractat  des  Codex  Brucianus  wieder 
[C.  Schmidt,  TU  N.  F.  5,  61],  brauchen  aber  darum  der  valentinianischen  Gnosis 
nicht  fremd  zu  sein,  vgl.  Iren.  1,5,6  =  Epiphan.  31,19  p.  188»  avxCxvnov  rijg 
avoa  'E-uyilriaLug  und  Hippolyt.  6, 32  avodov  xojI  ^etccvoluv  v.al  dvva^Lv  i/>v%tx^S 
ovaiag.  Die  schaffende  Tätigkeit  der  Sophia  ist  ein  'Erleuchten  der  Finsternis'  : 
in  den  Berichten  wird  sie  aus  der  Lichterscbeinung  des  Soter  abgeleitet  [Iren.  1, 
4,  5  =  Epiphan.  31, 17  p.  184^  ff.  Clem.  exe.  40.41],  und  dieser  selbst  steckt  deut- 
lich in  6  XoyLGfibg  6  tov  tioGfiov,  17  yfj  ccvtoig  r]  ^ivri  Xsyo^evri,  ysvofisvri  VTtb  x&v 
liSL^ovcov,  ojg  XsyovöLv  avxoi'  [30,  11],  vgl.  30, 5  xi^vds  xtiv  yfjv  kcciv^v  .  .  .  slg 
rjv  di]  ivxev&£v  cctcbXsvgovxcil-  xovxo  Ss  Xoyov  slvai  noßfiov.  Die  durch  das 
vierte  Evangelium  veranlaßte  Identificierung  des  Aoyog  mit  dem  Scüxriq  liegt  be 
Herakleon  [Origen.  in  loann.  6,108]  klar  vor;  in  den  Excerpten  des  Clemens  [26] 
steht  eine  Theorie,  nach  der  das  'Sichtbare'  lesu  die  Sophia  ist,  und  die  Ogdoas, 
in  welche  die  Pneumatiker  schließlich  eingehen,  ist  die  Syzygia  der  Sophia  mit 
dem  Soter  [Iren.  1,  7,  1  =  Epiphan.  31,21.  Clem.  exe.  64].  Mit  der  vXt]  ri  vXoxrig 
[30,  10]  ist  die  ccamfiaxog  vXr}  Iren.  1,  4,  5  =  Epiphan.  31, 17  p.  185a  zu  vergleichen; 
wenn  bei  Plotin  [30,  11.  12]  der  Demiurg  zuerst  das  Feuer  schafft,  so  läßt  sich 
das  mit  der  Lehre  bei  Hippolyt  6,  32  Clem.  exe.  38  zusammenbringen,  daß  er 
eine  nvQw8r\g  ovaCa  ist.  Die  Lehre  Valentins  selbst  und  die  einzelnen  Stadien 
in  der  Entwicklui.g  der  Schule  sind  viel  zu  wenig  bekannt,  als  daß  um  dieser 
kleinen  Discrepanzen  geleugnet  werden  dürfte,  daß  die  von  Porphyrius  Vit.  Plot.  16 
genannten  'Haeretiker',  gegen  die  nach  C.  Schmidt's  richtiger  Combination  [TU 
N.F.  5,  31  ff.]  Plotin  seinen  Tractat  ÜQog  xovg  FvaöXLyiovg  geschrieben  hat,  Va- 
lentinianer  waren:  darauf  daß  die  von  ihnen  benutzten  Apokalypsen  auch  bei 
anderen  gnostischen  Secten  auftauchen,  kommt  nichts  an;  die  Magie  und  die 
Exorcismen,  die  Plotin  ihnen  vorwirft  [30,  14],  sind  allen  Gnostikern  gemeinsam, 
und  auch  die  Valentinianer  rühmten  sich,  daß  ihr  Tcvsvfia  die  'Elemente  und  die 
Kräfte  und  die  bösen  Mächte'  besiege  [Clem.  exe,  81].  Umgekehrt  lassen  sich 
aus  Plotin  wichtige  Schlüsse  für  die  Valentinianer  seiner  Zeit  ziehen:  sie  polemi- 
siren  gegen  die  heidnische  Philosophie  [30,  6]  und  hören  doch  bei  den  Piatonikern 

Kgl.  Ges.  d.  WisB.  Nachrichten.  Philolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft.  1.  9 


130  E.  Schwartz 

schwerlich  auf  Widerspruch  stoßen,  daß  die  metaphysische  Specu- 
lation  und  das  'Mythologische'  nicht  das  speciell  für  sie  charakte- 
ristische ist.  Man  braucht  nur  Irenaeus  Berichte  über  die  Bar- 
belognostiker  und  die  Ophiten  zu  durchblättern  um  zu  sehen  daß 
alles  was  dahin  gehört,  überkommenes  Grut  ist :  Ogdoas,  Aion,  Ple- 
roma,  die  Syzygien,  der  Fall  der  Sophia,  das  Licht  mit  allem  was 
daran  hängt,  der  Demiurg  u.  s.  w.  u.  s.  w.  sind  Begriffscomplexe, 
die  nur  verständlich  werden,  wenn  sie  aus  dem  Rahmen  der  christ- 
lichen Ketzergeschichte  herausgenommen  und  auf  die  weite  Fläche, 
der  orientalischen  Mystik  und  Superstition  projicirt  werden,  auf 
denselben  Boden  auf  dem  auch  Mandaeer,  Manichaeer,  Sabaeer 
gewachsen  sind.  Der  valentinianischen  Gnosis  eigentümlich  ist 
daß  sie  dem  Christentum  selbst  von  allen  gnostischen  Secten  am 
nächsten  steht  und  alles  daran  gesetzt  hat  die  Kirche  zu  erobern 
oder  doch  wenigstens  darin  zu  bleiben  ^).  Sie  hat,  in  scharfem 
Gegensatz  zu  Markion,  das  Gesetz  nicht  verworfen  ^) ;  ihr  Demiurg 
ist  nicht  der  Gegensatz  zum  'guten  Grott',  sondern  erlösungs- 
fällig ^);    sie   differenziert    zwar    zwischen    den  Pneumatikern    und 


[30, 10],  wie  Origenes,  sie  predigen  die  Askese,  wie  Origenes,  kurz  und  gut,  die 
Schule  hat  sich  auf  gleicher  Linie  mit  der  Großkirche  entwickelt.  Origenes 
Gönner  Ambrosius  war  ja  ursprünglich  Valentinianer. 

1)  Iren.  3, 15,  2  hoc  enim  fictorum  et  praue  seducentium  et  hypoeritarutn  est 
molimen,  quemadmodum  faciunt  hi  qui  a  Valentino  sunt,  hi  enim  ad  multitudinem 
propter  eos  qui  sunt  ab  ecclesia,  quos  communes  ecclesiasticos  ipsi  dicunt,  inferunt 
sennones,  per  quos  capiunt  simpUciores  et  illiciunt  eos  simulantes  nostrum  tracta- 
tum,  ut  saepius  audiant;  qui  etiam  queruntur  de  nohis,  quod  cum  similia  nobiscum 
sentianty  sine  causa  abstineamus  nos  a  communicatimie  eorum  et  cum  eadem  dicant 
et  eandem  habeant  doctrinam,  uocemus  illos  haereticos,  et  cum  deiecerint  aliquos  a 
fide  per  quaestiones  quae  fiunt  ab  eis,  et  non  contradicentes  auditores  suos  fecerint^ 
his  separatim  inenarrdbile  Plenitudinis  suae  enarrant  mysterium.  Den  besten 
Commentar   dazu  liefert  der  Brief  des  Ptolemaeos  an  Flora  [Epiphan.  33,  3 — 7]. 

2)  Iren.  1,3,6  =  Epiphan.  31,15  p.  181  d  ov  ^6vov  Iv,  x&v  svayysXi-n&v  xa 
Tä>v  ScnoatoltHöav  nsigöavtai,  rag  änoSsC^Bis  icouCaav  .  .  .,  &XXä  xal  ^x  v6(iov  xali 
nQO(pritä>v. 

3)  Das  tritt  im  Brief  des  Ptolemaeos  an  Flora  besonders  scharf  hervor;  er 
stellt  gleich  im  Anfang  die  kirchliche  und  die  markionitische  Ansicht  über  das 
Gesetz  als  entgegengesetzte  Verkehrtheiten  einander  gegenüber:  der  valentinia- 
nische  Begriff  des  'mittleren'  Demiurgen  hält  die  richtige  Mitte  [Epiphan.  33,  7]. 
Vgl.  ferner  Iren.  1,7,4  =  Epiphan.  31,22  p.  192b.c^  Herakleon  bei  Origen.  in 
loann.  13,422.  Nach  diesem  ist  lohannes  der  Täufer  der  Typus  des  Demiurgen, 
Origen.  in  loann.  6,199.200;  demnach  ist  der  Ausspruch  Herakleons  6,108  zu 
verstehen  und  zu  emendieren:  6  Adyog  (isv  6  ZattriQ  iotiv,  qxovi]  $\  ij  iv  r7> 
igrifiai,  i]  diä  'Icaccvvov  <l>dCa<i>  voovfiivri,  nämlich  der  Demiurg,  vgl.  6, 199 
ToO  HQoaimov  toö  dta  xov     'Imdvvov    voovfiivov ,    otexcci  yccQ  xbv   äri(ii.ovQybv  xoü 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  131 

Psychikem,  läßt  aber  durch  die  Pneumatiker  auch  die  Psychiker 
zur  Vollendung  gelangen  ^),  was  doch  nur  heißen  kann  daß  sie 
nicht  ein  Conventikel  der  Auserwählten,  sondern  die  Kirche  aller 
Gläubigen  sein  will,  welche,  wie  später  die  des  Clemens  und  Ori- 
genes,  die  Einfältigen  und  die  Erkennenden,  %C6tig  und  yvGi^Lq  in 
sich  schließt  ^).  Vor  allem,  und  das  ist  vielleicht  das  Wichtigste,' 
die  Gnosis  Valentins  ist  alles  andere  als  individualistisch,  sondern 
gipfelt  in  der  Idee  der  Kirche.  Das  önsQ^a  diatpBQov  darf  nicht 
als  die  Summe  der  pneumatischen  Individuen  gefaßt  werden,  sondern 
als  ein  Ganzes,  eine  Einheit  die  nur  in  der  irdischen  Existenz  in 
Einzelseelen  zerfällt,  aber  aus  einer  himmlischen  Einheit  stammt 
imd  bei  der  endlichen  Rückführung  in  das  Pleroma  wieder  zu 
einer  Einheit  wird^):    die  Pneumatiker   sind   die  'EKxXi]0La   außer- 


Tioa^ov  sXdrtovci  bvxa  xov  Xqlüxov  tovto  öfioXoysLV  v,tX.  Von  dieser  (fxavri  = 
JrifiLovQyog  heißt  es  dann  bei  Herakleon  weiter  [Orig.  in  loann.  6, 111]  ti}v  (p(üvr]v 
oIksloteqccv  0V6CCV  t&i  XoycoL  Xoyov  yivsed'ai  (d.  h.  er  wird  zum  teXstog  und  geht 
ins  Pleroma  ein),  mg  kccl  tr]v  yvvaiyia  slg  avdgcc  [istaTL&sad-ca  [Brooke,  Texts  and 
Studies  1,  4,  57  vergleicht  mit  Recht  Exe.  21.  79].  Ebenso  wird  der  'Freund  des 
Bräutigams'  =  lohannes  d.  T.  [lo.  3,  29]  bei  Clem.  Exe.  65  auf  den  Demiurgen 
gedeutet. 

1)  Iren.  1,6,1  =  Epiphan.  31,20  rb  ds  '\pv%iY,6v  ^  o  Y.a.1  Ss^lov  Ttgoaayo- 
Qsvovaiv  [=  Hippolyt.  6,  32 ;  anders  Exe.  34.  40.  43],  ats  fisöov  ov  tov  rs  Ttvsvfia- 
Tinov  %al  tov  vXfKOv,  i-KSLös  %ö)^8rv  OTtov  ccv  nccl  tr}v  TtQOG-AXiGiv  TtoiriGTitai'  xb 
Ö£  TtvsvfiatLKbv  i'ii7ce7t8[iq)d'aL,  OTtag  svd'dds  tai  ibv^iY-cbi  6v^vy\v  iiOQ(pcod"fiL  6vyb- 
ncnÖBvQ'Ev  ccvrööL  iv  tr]L  avaazQoqjfii.  ticcl  tovt'  stvca  Q'eXovgl  rb  aXccg  "nccl  rb  (päg 
TOV  yioG^ov '  k'dsi  yccQ  xGn  i/)V%tHcot  v,a.\  cciöd^rixmv  ■ncceSeviidxcav .  di^  o  kccl  KOöfiov  v.a- 
xs6%svd6d'aL  XsyovGLV  '  xat  xbv  Zcoxfjga  ds  87tl  xovxo  Tfccgaysyovevca  xb  'x\}v%tY.6v, 
snsl  ytccl  avxE^ovGiov  ißXLVj  oitcag  avxb  6co6r\L.  1,  8,  3  =  Epiphan.  31,25  p.  195c  grt  8s 
ovg  i](isXXs  eoDL^SLv  6  EcoxriQ,  xovxcav  xag  d.naQ%ag  ScvsXccßsv,  UccvXov  stgriKSvccL  [Rom. 
11,16]  xojt  SL  7}  anaQxr}  ccyicc,  yi  cclxb  (fuga^i  cc ,  anccQxrjv  fisv  xb  Ttvsv^ta- 
xi'A.bv  stgfjGd'aL  8i8d6v,ovxsg,  q)VQCc(ici  ds  r]^äg,  xovxegxlv  xrjv  ipvjjtTir]!'  ^xx^Tjötav, 
rig  xb  tpvQayLU  dvsiXT]cpsvai  Xsyovßiv  ccvxbv  yiccl  iv  avx&i  6vvavE6xav,svai,  snsidr] 
riv  avxbg  ^v(i7i  [vgl.  Clem.  exe.  58].  Clem.  exe.  56  xb  (isv  ovv  nvsvficcxiyibv  cpvesi 
a(OL^6[isvov ,  xb  ds  tpvxi'if'bv  avxs^ovGLOv  ov  knixridsioxrixa  s%si  ngog  xs  ntaxiv 
■nal  cccpd'aQöiav  xal  ngbg  ccTtLOXLCCv  kccI  q)%'0Qav  ■naxcc  xi]v  ot-KStav  aigsOLV,  xb  Ss 
vXiTibv  (pvöSL  ccnoXXvxai  ...  57  yCvsrca  ovv  .  .  xov  fisv  ^ogcpmöig,  xov  Ttvsvficc- 
Ttxov,  xov  Ss  fisxdd-soLg,  xov  ipvxiyiov,  iyi  dovXsCag  slg  sXsvQ'sqCav. 

2)  Iren.  1,6,2  =  Epiphan.  31,20  p.  189^  snai8sv%'7\6uv  8s  xa  '^vxi'ncc  ot  ipV' 
Xiv-ol  dvd'QcoTCOL  ot  8l^  sgycDV  kuI  TtLGxscog  ipiXfig  ßsßaiov^svoL  v.a.1  ^i}  xrjv  xsXsCav 
yv&aiv  Exovxsg.  slvai  8s  xovxovg  <xovg>  dnb  xf]g  symXriGLag  rjnäg  Xiyovev  8C 
0  Y,al  rjiitv  (isv  Scvayuatov  sIvccl  x7]v  ccya&r}v  ngä^Lv  dnocpaLvovxciV  dXXcag  yccg 
cc8vvcixov  GcoQ'fivai  •  a-bxovg  8s  [ir}  8icc  ngd^scog,  dXXä  Slu  xb  cpvGSL  ■JtvsvficcxLTiohg 
slvai  ndvxriL  xs  v.ul  ndvxcog  6ai^ri6SG%'ai  8oyiiuxC^ovGiv. 

3)  Clem.  exe.  36,  wo  ich  für  slGiovxsg  vorschlage  slg  övxsg,  statt  des  von 
Bernays   vermuteten   sr  övxsg.    Leider   ist   das    Raisonnement   durch    eine  Lücke 

9* 


132  E.  Schwartz 

halb  des  Pleroma,  das  öjtsg^a  diacpsgov  der  Typus  eines  Aeon 
innerhalb  des  Pleroma  ^) ;  um  diese  'ExocXrjßLa  dreht  sich  im  letzten 
Grande  das  ganze  Drama  der  Sophia  und  der  Achamoth,  und  der 
einzelne  Pneumatiker  hat  Wert  und  Bedeutung  nicht  als  die  ewige, 
unzerstörbare  Seele  eines  Individuums,  sondern  als  Griied  der 
'Exxlriöia.  Die  altchristliche  Mystik  die  die  Gemeinde  zum  Leib 
des  Herrn  machte,  ist  in  dieser  Gnosis  bis  auf  das  äußerste  po- 
tenziert^); das  ist  nur  denkbar,  wenn  diese  Gnosis  entweder  eine 
Kirche  gründete  oder  die  vorhandene  anerkannte.  Jenes  ist  aus- 
geschlossen durch  die  Inconsequenz  daß  auch  die  Psychiker  erlöst 
werden  können,  obgleich  sie  der  eigentlichen,  durch  ihr  Wesen 
zur  Erlösung  praedestinirten  'ExxXri6icc  nicht  angehören.  Also 
wollten  Valentin  und  seine  Jünger  ursprünglich  die  'ExxlriöCa  der 
Auserwählten  nicht  absondern,  sondern  als  Licht  und  Salz  der 
Welt  [Iren.  1,  6, 1  =  Epiphan.  31,  20  p.  ISS«']  in  der  Kirche  die 
in  der  Welt  nun  einmal  war,  darin  lassen,  und  dies  Streben  bleibt 
für  die  valentinianische  Gnosis  nicht  minder  charakteristisch,  wenn 
die  erstarkende  Bischofskirche  davon  nichts  wissen  wollte  und  die 
'Auserwählten'  aus  der  Gemeinschaft  ausstieß.  Markion  fand  in 
der  Kirche  nicht  was  er  suchte  und  verlangte,  und  gründete  eine 
Gegenkirche ;  von  valentinianischen  Gemeinden  ist  nie  die  Rede, 
und  wenn  die  Intoleranz  der  Kirche  die  Anhänger  Valentins  viel- 
leicht hier  und  da  dazu  brachte  sich  zu  Sonder  Vereinigungen  zu- 
sammenzutun, so  waren  das  Erzeugnisse  der  Not,  die  das  Urteil 
über  die  von  ihnen  gewollte  religiöse  und  kirchliche  Vermittlung 
zwischen  Gnosis  und  Christentum  nicht  umstoßen  können^). 


zwiscLen  ißanTioato  6  'Iriaovg  und  ro  dcfiigiatov  (iSQLß&fjvaL  zerstört,  aber  der 
Schluß  ist  klar :  i'vcc  rj^isCg  ot  TtoXXol  Iev  ysvöfisvoi,  ot  ndvrsg  tm  sitl  x&i  8i  r}fjL&g 
fiSQLa&^evTL  ccva'KQad'ööiisv.  Herakleon  bei  Orig.  in  lo.  13, 341  mg  noXX&v  övxoav 
i^vxi'K&v  •    rrjv  ds  (iiav  Xiysi   rrjv  äqiQ'aQxov  tfjg  i%Xoyijg  cpvötv  xal  (lovosiStj   xal 

£VL'K1]V. 

1)  Iren.  1,5,6  =  Epiphan.  31,  19  p.  188»  tb  cnegfia  .  .  .  o  Sr]  xal  ccvtö 
'Ev-uXriGCtiv  slvai  Xsyovoiv,  &vtCvvnov  rfjg  ävoo  'En-KXriöCccg. 

2)  Clem.  exe.  26  xh  dgcctbv  xov  'Itjgov  ii  Zocpla  xal  i]  ^ExtiXriaLa  ij  [^v  cod.] 
xmv  ansQfidxoiv  x&v  dLacpsgdvxcov  rjv  iaxoXCaaxo  diä  xov  accg-nLOV^  mg  (prioiv  6  0s6- 
doxog,  vgl.  1  und  Justins  Auslegung  [dialog.  54  p.  273*^.  apol.  1,  32  p.  74»]  von 
Gen.  49, 11.  Darum  muß  lesus  sich  taufen  lassen,  vgl.  Exe.  22  a.  E.,  wo  rjyt 
hvoCai  xoij  voxEQ^fiaxog  die  Achamoth  bedeutet;  vcxegrifia  ist  der  Aeon  Sophia, 
wie  öfter  in  dem  Bericht  des  Irenaeus  über  die  Markosier  [1, 16,  2  =  Epiphan. 
34, 12  p.  247d.  1,  18, 4  =  Epiphan.  34,  17  p.  252»]. 

3)  Damit  soll  nicht  behauptet  werden  daß  nicht  schon  vor  Valentin  andere 
Gnostiker  ähnliches  gewollt  haben,  im  Gegenteü  dürfte  dieser  Gesichtspunkt  auf 
die  gesammte  Gnosis  zutreffen,  die  von  der  Kirche  noch  als  Haeresie  empfunden 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  133 

Deutlich  bildet  sich  dies  Bestreben  ab  in  ihrer  Stellung  zur 
'Schrift',  zur  vorhandenen  sowohl  wie  zu  der  die  im  Werden  war ; 
sie  stehen  auch  hier  in  diametralem  Gegensatz  zu  Markion.  Für 
sie  fällt  die  Notwendigkeit  einen  eigenen  Kanon  zu  bilden  fort,  da 
sie  das  A.  T.  nicht  verwarfen  und  keine  eigene  Kirche  organi- 
sierten; im  Gegenteil  wollten  sie  sich  von  der  Kirche  in  der 
Frage  nach  dem  Fundament  des  Glaubens  nicht  unterscheiden: 
sie  behaupteten ,  wie  die  Kirche ,  im  Besitz  der  apostolischen 
Tradition  zu  sein,  und  nahmen,  wie  die  Kirche,  das  Recht  in 
Anspruch  die  Ueberlieferungen  an  der  Lehre  des  Herrn  zu 
messen^).  Der  Unterschied  von  der  Kirche  lag  darin  daß  die 
Tradition  nur  den  tiXsioi  in  vollem  Umfang  zugänglich  sein  sollte  ^) 
und  behauptet  wurde,  der  Herr  habe  sich  den  Pneumatikern  und 
Psychikern  nicht  in  gleichem  Maße  geoffenbart*):  doch  beweist 
Origenes,    daß   die  kirchliche  Interpretation  wenigstens    von    dem 


wurde  und  über  die  sie  allein  berichtet.  Die  genuin  jüdische  oder  heidnische 
Gnosis  ist  von  ihr  ignoriert,  weil  sie  ganz  draußen  blieb,  und  durch  diesen  histo- 
risch entstandenen  und  begreiflichen  Mangel  der  Ueberlieferung  ist  die  dogmen- 
geschichtliche Forschung  zu  dem  Irrtum  verführt  die  Gnosis  aus  dem  Christentum 
erklären  zu  wollen,  die  religionsgeschichtliche  zu  dem  anderen  aus  dem  Gno- 
stischen  auf  das  Christliche  zu  schließen. 

1)  Ptolemaeus  an  Flora  [Epiphan.  33,  7  p.  222^]  :  ficcd^'^arii  yag  d'sov  didovrog 
«1^5  xal  rrjv  xovxov  aQ^riv  rs  v,a.l  ysvvriGiv  [des  üTtiQ^a  Siatpsgov  oder  der  Pneu- 
matiker], ä^iovfisvri  xfis  ccicoetoXfKfis  TtagaSoascog,  rjv  in  diccdoxvs  «c^i  f}(i£LS 
naQEiXritpaiiBv  (isrä  xal  rov  ■KuvovCaai  ndvTccg  rovg  Xoyovg  xr]L  xov  acotfjQog  rj^imv 
Siöaa-AaXlai  und  3  p.  217^  nsQLlstnsr ai  Ss  riiitv  a^Kod'SLai,  rs  rfjg  ccfKporsQcav  xov- 
Tcov  [des  Demiurgen  und  des  'Vaters  des  Alls']  yvmascog  hcpfjvcci  aoi  -kuI  cc-kql- 
ßcöGccL  avxov  x8  xov  vofiov  .  .  .  «al  xbv  vofiod'sxriv  [d.  h.  den  Demiurgen],  x&v 
qri%"r\6oiisvoiv  rjfitv  xccg  dcnodsL^sig  fx  xwv  xov  öcaxfjQog  rjfi&v  Xoyav  TtuQiöx&vxsg, 
Sl  o)v  (jlÖvov  S6XLV  anxaLGxcag  inl  xrjv  ■KuxdXri'ipiv  xav  ovxcov  bdriyBL6%'ai.  Die 
Tradition  wird  an  der  Lehre  des  Herrn  gemessen,  und  die  Quelle  dieser  Lehre 
ist  die  Schrift:  das  ist,  rein  formal  genommen,  dasselbe  Doppelprincip  das  auch 
die  'Großkirche'  befolgt,  und  von  der  Methode  z.  B.  des  Papias  die  Herrensprüche 
durch  Heranziehung  von  'Ueberlieferungen'  auszulegen,  nicht  verschieden. 

2)  Die  in  der  vorigen  Anmerkung  angeführten  Stellen  zeigen  das  deutlich ; 
die  Tradition  war  eine  Geheimlehre  die  auf  die  Apostel  zurücklaufen  sollte.  Vgl. 
Abhdlg.  VII  5,11  «•'. 

3)  Clem.  exe.  23.  ISCag  %v,u6xog  yviogCtBi  xbv  tivqlov.  Iren.  3,  2,  2.  1,  7,  3  [= 
Epiphan.  31,  22  p.  192»].  1,  3, 1  [=  Epiphan.  31, 14]  ravra  S^  (pavsg&g  (isv  (lii 
elQfiü%'ui  diu  xb  fit}  Ttdvxccg  ^agsiv  xr]v  yv&üiv  avx&v,  (ivöxrigLcodmg  ds  vnb  xov 
ZcoxfjQog  6iä  naQaßoX&v  (is^fivvad'ai  xoig  avvLsCv  dwa^isvotg.  Ptolemaeus  an  Flora 
[Epiphan.  33,  4  p.  218^]  eacp&g  .  .  slg  xgCa  Siatgov^svog  6  evfiTtag  E%BLVog  dsUvvxai 
vöfiog.  Mavöicog  xs  yäg  avxov  nal  xmv  TtQsaßvxsQav  «at  ai)xov  xov  Q'sov  tvpo|Lt«v 
voiio^ieCav  iv  ccvxm  •  ccvxt}  (isv  oiv  rj  SiaigBGig  xov  av^TCavxog  shsivov  vofiov 
ads  T](iLv  SiccLQsd'SiGa  xb  iv  avxöbi  dXrid-sg  &vaitB(payv,Bv. 


134  E.  Schwartz 

zweiten  Grrundsatz  viel  übemelimen  mußte  und  die  Differenz  hier 
eine  fließende  war.  So  haben  die  Yalentinianer  mit  der  Kirche 
gegenüber  den  Markioniten  auch  an  der  Mannigfaltigkeit  der  Evan- 
gelien festgehalten;  die  gelegentlich  auftauchende  Behauptung^) 
daß  sie  ein  eigenes  Evangelium  'der  Wahrheit'  gehabt  hätten,  will 
nur  sagen,  daß  dies  Evangelium  neben  den  kanonischen  gebraucht 
wurde,  trifft  außerdem  höchstens  für  einzelne  valentinianische 
Schulen  zu,  die  wie  die  Marcosier  besondere  Conventikel  bildeten, 
und  wird  durch  den  Bericht  des  Irenaeus  nicht  bestätigt,  der 
über  das  Verhältniß  der  älteren  Yalentinianer  zum  werdenden 
N.  T.  sehr  interessante  Aufschlüsse  giebt. 

Dieser  Bericht  nämlich  enthält  außer  den  Bruchstücken  der 
Lehre,  die  Irenaeus  mitzuteilen  für  gut  befindet,  einen  Schrift- 
beweis, der  zum  größten  Teile  so  geordnet  ist,  daß  zu  einzelnen 
xEcpdXaia  die  loci  angeführt  sind ;  daß  er  in  xä  ivtbg  und  tä  sxtbg 
Toi)  nXr]Qa^atog  zerschnitten  und  an  zwei  verschiedenen  Stellen 
eingelegt  ist  [1,  3, 1—6  =  Epiphan.  31, 14. 15  und  1,  8, 1 — 4  = 
Epiphan.  31, 24 — 26],  bedeutet  für  das  Granze  nichts.  Es  wird 
nützlich  sein  eine  Ilebersicht  über  den  Bestand  zu  geben. 

Iren.  1,  3, 1  [=  Epiphan.  31, 14]  =  1, 1,  3  [=  Epiphan.  31, 10], 
Die  30  Aeonen:  Luc.  3,23.  Mt.  20,1  ff.  —  Paulus:  Eph.3,21.  — 
Die  Formel  bei  der  Eucharistie  eCg  xovg  aicbvag  x&v  atcavcov  [vgl. 
Didache  9. 10]. 

Iren.  1 ,  3,  2  [  =  Epiph.  31, 14].     Die  Dodekas  der  Aeonen :  Lc. 


1]  Iren.  3,  11,9  M  uero  qui  sunt  a  Valentino  .  .  .  suas  conscripHones  pro- 
ferentes  plura  habere  gloriantur  quam  sint  ipsa  euangelia,  siquidem  in  tantum  pro- 
cesserunt  audaciae,  uti  quod  ah  Ms  non  dlim  [=  ov  naXai]  conscriptum  est,  Veri- 
tatis  euangelium  titulent,  in  nihilo  cotiueniens  apostolorum  euangeliis,  ut  nee 
euangelium  quidem  sit  apud  eos  sine  hlasphemia.  [Tertull.]  adv.  omn.  haeres.  4 
p.  221,11  Kroymann:  euangelium  habet  etiam  suum  praeter  haec  nostra.  Das 
wird  auf  die  Offenbarung  der  'AXri&sia  durch  die  ZLyrj  zu  beziehen  sein,  auf 
welche  sich  die  Marcosier  beriefen,  vgl.  Iren.  1, 14, 1  =  Epiphan.  34,  3  p.  236^. 
1,14,3  =  Epiphan.  34,5  p.  238^  avrän  xr]v  tstQWurvv  stnsCv'&Blco  Ss  gol  xal 
aitriv  inidulai  Tr}v  'AXr]d^siccv  .  .  .  .  av  dl  fisrccgüLOv  iyeiQag  rb  fqs  SiavoCag 
vofifia  zbv  avtoysvv7]TOQC(  xai  TtatQodötOQcc  Xoyov  &nb  arouccraiv  'AXrid'siag  axovf.' 
p.  239^  ajg  f-ßxaraqpßovrjrov  rjy^aco  tbv  l6yov  ov  icnb  aroficcTiüv  rijs  * AkriQ-eCag 
nv.ovaa?.  1,  14,  7  =  Epiphan.  34,  7  p.  240^.  241b.  i,  15,  l  =  Epiphan.  34,  8  p.  242». 
1, 15,  5  =  Epiphan.  34, 11  p.  245».  Nach  Iren.  1,  20, 1  [=  Epiph.  34, 18]  führten 
grade  die  Markosier  ihren  Schriftbeweis  zum  guten  Teil  aus  apokryphen  und  un- 
echten Büchern.  Aus  ihren  Taufformeln  und  Taufceremonien,  die  Iren.  1,  21,  3.  4 
=  Epiphan.  34, 20  berichtet,  darf  man  schließen  daß  die  Secte  sich,  im  Gegen- 
satz zu  den  eigentlichen  Valentinianern,  zu  einer  besonderen  Organisation  zu- 
sammengeschlossen hatte. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  135 

2,42.  Mc.  3,14  =  Mt.  10,  1.  Lc.  6,13  [ebenso  die  Markosier  Iren. 
1, 18,  4  =  Epiphan.  34, 17  p.  252*'].  —  Die  übrigen  18  Aeonen  (pavs- 
Qovöd^ai  diä  roi)  ^stä  xriv  ix  vsxgav  ävdataöiv  dsxaoxTCD  ^riölv 
kiyeiv  diaxexQKpBvdi  avtbv  6vv  toig  ^ad^rjtatg.  Hier  tritt  eine  Tra- 
dition an  Stelle  der  Evangelien;  sie  findet  sich  auch  bei  den 
Ophiten  [Iren.  1,  30, 14].  Dann  eine  Bucbstabenspielerei :  trj(6ovg) 
=  18.  —  Die  10  Aeonen :  L(rjöovg)  ==  10.  Mt.  5, 18. 

Iren.  1, 3,  3  [=  Epiphan.  31, 14].  Das  ndd-og  des  zwölften 
Aeon  wird  angedeutet  durch  den  Abfall  des  ludas,  der  der  zwölfte 
Apostel  war,  und  weil  im  zwölften  Monat  die  Passion  stattfand ; 
denn  'sie  wollen'  [das  ist  Ausdruck  des  Irenaeus,  der  die  Chrono- 
logie des  vierten  Evangeliums  für  die  richtige  hält]  'daß  er 
während  eines  Jahres  nach  der  Passion  gepredigt  habe'.  Wie 
schon  oben  gesagt  wurde,  ist  Iren.  2,  22, 1  zur  Ergänzung  hinzu- 
zunehmen: duodecimo  mitem  mense  dicunt  eum  passum,  ui  sit  anno 
nno  post  haptismum  praedicans,  et  ex  propheta  temptant  hoc  ipsum 
eonfirmare;  scriptum  est  enim  tiocare  annum  domini  accep- 
tum  et  diem  retrihutiovis  [les. 61,2],  —  Mc.  5, 25  ff. 

Iren.  1,  3, 4  [=  Epiph.  31, 14].  Der  Soter  [besser  der  Christus] 
gleich  dem  All:  Lc.  2,23.  Paulus:  Kol.  1,17.  Rom.  11,36.  Kol. 
2,  9  [vgl.  Clem.  exe.  31].  Eph.  1, 10. 

Iren.  1,  3,  5  [=  Epiphan.  31, 15].  ZtavQog  undVQog :  Lc.  14,  27. 
Mc.  10,211).     Mt.  10,34.  3,12.     Paulus:    1  Kor.  1,18.    Gal.  6,14. 

Iren.  1, 8, 2  [==  Epiphan.  31, 25]  t6i^  xvqlov  iv  rotg  66xdrotg 
rov  xöö^ov  ;(j^(5i/oig  di,ä  rovto  ikrikv^avai  iitl  tb  Ttdd'og  Xeyovöcv, 
tv'  STtLdsi^fjL  ro  TtSQL  xov  £^;^aTov  T&v  JiG>V(ov  yFyovbg  TcdO'og.  Das 
spielt  auf  die  Formel  iit  iöxdrov  xcbv  xqovcov  I  Petr.  1,  20  (vgl. 
Hebr.  1,  4)  an,  die  Brief  stelle  selbst  ist  nicht  citirt. 

Die  zwölfjährige  Tochter  des  Synagogenvorstehers  Typus  der 
Achamoth :  Lc.  8,  42. 

Die  Erscheinung  des  Soter  bei  der  Achamoth :  Paulus :  1  Kor. 
15,8.  11,10;  zur  Erklärung  dieser  Stelle  wird  noch  Exod.  34,29 
hinzugefügt. 

Die  Leiden  der  Achamoth :  Mc.  15,  34.  —  Mc.  14,  34  =  Mt.  26, 38. 
—  Mt.  26, 39.  —  XL  sI'tcco,  oi>k  olda  wird  gewöhnlich  auf  lo.  12,  27 
zurückgeführt,  wo  aber  nur  xl  etitco  steht,  während  o\)k  olda  we- 
sentlich ist:  denn  das  Wort  deutet  auf  die  aTtOQLa  der  Achamoth. 
Außerdem    wird,    worüber    noch   mehr   zu   sagen    sein    wird,    das 


1)  Mit  dem  Zusatz  agag  xhv  gtuvqov,  der  dadurch  als  sehr  alt  erwiesen 
wird:  er  steht  im  Alexandrinus,  der  Syr.  Sin.  und  Peschittha,  auch  in  einigen 
Lateinern. 


136  E.  Schwartz 

vierte  Evangelium  in  dieser  Sammlung  von  loci  nirgends  mit  den 
anderen  zusammen  angeführt.  So  liegt  hier  wohl  ein  apokryphes 
Evangelium  vor,  auf  das  sowohl  die  Stelle  des  vierten  als  der 
valentinianische  locus  zurückgeht. 

Iren.  1,8,3  [=  Epiphan.  31,25].  Die  drei  Gattungen  von 
Menschen,  Hyliker,  Psychiker,  Pneumatiker:  Lc.  9,  57.58.  61. 
Mt.  19,  20—22.  Lc.  9,  60.  19,  5.  Mt.  13,  33  =  Lc.  13,  21.  Paulus : 
1  Kor.  15, 48.  2, 14. 15  [Hippolyt.  6,  34].  Eom.  11, 16  [Clem.  exe.  58]. 

Iren.  1,8,4  [=^  Epiphan.  31,26].  Das  Irren  der  Achamoth 
außerhalb  des  Pleroma  und  ihre  Auffindung :  Lc.  15,  4.  8  [ähnlich 
die  Markosier  bei  Iren.  1,  16,  1  =  Epiphan.  34,  12].  2, 28.  29. 
36—38. 

Achamoth  =  Eo(pCa :  Lc.  7,  35.     Paulus :  1  Kor.  2, 6. 

Die  Syzygien  im  Pleroma :  Ephes.  5,  32. 

Dieser  Schriftbeweis  ist  zwar  von  Irenaeus  mit  seiner  Dar- 
stellung der  valentinianischen  Lehre  verknüpft,  steht  aber  tat- 
sächlich unabhängig  neben  ihm ;  denn  er  setzt  an  manchen  Stellen 
eine  andere  und  zwar  eine  ältere  Lehrform  voraus.  In  dem  Be- 
richt selbst  [1,2,4  =  Epiphan.  31,12  p.  178*]  kommt,  wie  bei 
Hippolyt  [6, 31]  und  Clemens  an  einer  Stelle  [exe.  42],  nur  ein 
"ÖQog  vor,  der  verschiedene  Namen  hat;  der  Schriftbeweis  unter- 
scheidet "ÖQog  und  Ztavgöq  sehr  bestimmt  von  einander  [1,3,5  =: 
Epiphan.  31, 15] :  xa^o  fisv  idga^si,  not  6x7iQit,si,  Exavgov  elvai,,  xa^b 
ö(  iisgL^SL  xal  dLOQL^et,  '^Ügov.  Das  war  die  ursprüngliche  Lehre 
Valentins  [Iren.  1,11,1  =  Epiphan.  31,32  p.  204^]  oder  kommt 
ihr  wenigstens  näher :  "Ogovg  dvo  vjtsd^sTO,  iva  ^Iv  neta^v  tov 
B\}d^ov  xal  xov  loLTCov  nir]QG)iiatog  dioQ^iowa  tovg  yevvrixovg  Ai&vccg 
äjcb  tov  äysvvi^rov  üatgög,  axegov  81  xov  äcpogit^ovxa  avxav  xi^v 
fitjxdga  [d.  i.  die  Achamoth  oder  die  'äußere'  Sophia]  äitb  xov  nkri- 
ga^iaxog.  Eine  Spur  der  Differenzierung  findet  sich  auch  Clem. 
Exe.  22.  Wenn  in  dem  Schriftbeweis  ferner  [Iren.  1,3,4  s.o.] 
das  alttestamentliche  Citat  Lc.  2,  23  näv  äggev  diavotyov  ^rjxgav 
auf  den  Soter  angewandt  wird,  'der,  indem  er  das  All  ist,  öffnete 
den  Mutterleib  der  Enthymesis  des  gefallenen  Aeon,  die  aus  dem 
Pleroma  ausgeschieden  war  und  auch  die  zweite  Ogdoas  heißt',  so 
kann  das  nichts  anderes  heißen  als  daß  der  Soter  die  Frucht  der 
Achamoth  oder  der  'äußeren'  Sophia  ist.  Auch  diese  Lehre  weicht 
fundamental  von  dem  Bericht  des  Irenaeus  ab,  in  welchem  der 
Soter  eine  Emanation  aller  Aeonen  ist  [1,2,6  =  Epiphan.  31,13], 
wie  er  bei  Hippolyt  [6,  32]  gradezu  6  xoLvbg  xov  nlr^ga^axog  xagitög 
heißt;  dagegen  steht  sie  wiederum  der  des  Valentinus  sehr  nahe 
[1,11,1  =  Epiphan.  31,32  p.  204^]   xal    xbv   Xgiöxbv    dl    ovx    anb 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  137 

t&v  ev  T&L  UkriQGi^axi  Aiavcov  TCgoßsßXflöd-ai,,  ccXlä  vTtb  tTJg  ^rjtQog 
€^C3  ysvo^svrig  y.axa  xriv  \Lvri\i'tiv  [so  ist  nacli  dem  lateinischen  Text 
zu  lesen]  röv  kqslttövcjv  cLTCoxsxvria^aL :  im  folgenden  wird  er  auch 
^männlich'  genant^).  Freilich  hätte  Irenaeus  in  dem  Excerpt  aus 
dem  Schriftbeweis  besser  vom  Christus,  der  ja  auch  in  der  ange- 
führten Stelle  Ephes.  1, 10  genannt  wird,  statt  vom  Soter  ge- 
sprochen, aber  auch  in  dem  Referat  über  Valentin  stellt  er  dessen 
Lehre  unpassend  einer  Theorie  gegenüber,  nach  der  Christus  eine 
Emanation  der  Aeonen  war,  was  nur  vom  Soter  oder  lesus  be- 
hauptet wird,  und  braucht  in  der  Erörterung  von  Lc.  2, 28. 29 
[1, 8, 4]  XQiOzog  statt  des  für  die  Valentinianer  dort  allein  mög- 
lichen SoiXYiQ  oder  Irjöovg.  Die  Verwechselung  lag  für  den  ortho- 
doxen Ketzerbestreiter  nahe,  dem  die  Differenzierung  von  XQL6x6g 
und  'Iriöovg  natürlich  ein  Greuel  war :  außerdem  sollen  die  Valen- 


1)  Am  meisten  berührt  sich  mit  diesem  ursprünglichen  Stück  der  valentinia- 
nischen  Gnosis  das  Excerpt  aus  Theodotos  Exe.  32. 33,  wo  ebenso  wie  bei  Va- 
lentin der  Demiurg  nach  dem  Christus  als  sein  Typus  von  der  Sophia  emaniert 
wird  [vgl.  die  secundäre  Entwicklung  dieses  Theologems  bei  Iren.  1,5, 1  =Epiph, 
31, 18  p.  185^].  Bernays  hat  mit  Recht  angemerkt  daß  der  dort  ausgesprochene 
Satz,  der  bei  Irenaeus  und  Hippolyt  spurlos  verschwunden  ist,  oau  Itl  av^vyiag 
nQOEQXstaL,  nX7iQo}[iatci  sativ,  06a  8s  anb  svog,  Btyiovsg,  der  echten  und  ursprüng- 
lichen Lehre  Valentins  angehört  [Clem.  ström.  4,  90,  2j.  Christus  ist  das  All,  weil 
er  ein  Abbild  des  Pleroma  ist,  das  die  Achamoth  in  Erinnerung  an  dieses  ema- 
niert hat,  und  beim  Eingang  in  das  Pleroma  sich  in  das  All  auflöst.  Mit  den 
Stellen  der  Excerpte  32. 33  ovrog  81  yiccTaXsLipag  rr}v  (iritsga  ccvsXd-oav  eis  rb 
TtX'qQcafia  hQar7]d'ri  [i'HQccd'ri  Bernays]  .  .  toig  oXoig  .  .  .  [der  Paraklet  ist  hier 
secundär  eingetragen]  und  XgLarov  tb  ccvol-kslov  cpvyovTog  avataXivtog  stg  tb  jriif- 
Qoa^a  iyi  vfjg  firjtQcoLug  [ysvoiiivovl  kvvolug  vgl.  Valentin  bei  Irenaeus  1,  11,  1  = 
Epiphan.  31,32  p.  204c  xbv  'Iriaovv  tvots  fisv  ccnb  tov  av  ax aXsvrog  änb 
tfjg  (JLTITQ  bg  avt&v  evvavaxvd' svt  og  voig  oXoig  TcgoßsßXfjad'ab  cpriatv, 
xovtB6ti  xov  ©sXrixov,  nors  8e  anb  tov  ava8 QUfiovxog  sig  xb  UXi^Qajfia  , 
X0VXE6TL  xov  Xqlgxov  '.  Ircuaeus  hat  den  Aeon  Theletos  falsch  aus  seiner  Aeonen- 
tafel  [1, 1,  2  vgl.  1,  2,  2]  eingemischt  und  daher  die  Praedikate  die  nach  Ausweis 
der  Excerpte  alle  dem  Christus  zukommen,  unter  zwei  Subjecte  verteilt.  Daß 
der  von  der  [äußeren]  Sophia  emanierte  Christus  seinerseits  wieder  lesus  ema- 
niert ^1  £v8oyiiag  x&v  almvotv  [vgl.  Exe.  43],  steht  auch  Exe.  23  [wo  der  Paraklet 
ebenfalls  secundär  ist].  41 ;  aus  der  Speculation  daß  der  in  das  Pleroma  auf- 
gelöste Christus  lesus  emaniert,  ist  die  jüngere  Lehre  von  dem  ^oivbg  xov  nX-q- 
gmficcxog  nccgnog  hervorgegangen,  die  bei  Irenaeus  und  Hippolyt  vorliegt.  Bei 
diesen  sind  Christus  und  der  heilige  Geist  eine  nachträglich  von  dem  Nus  oder 
dem  Eingeborenen  emanierte  Syzygie  [Iren.  1, 2,  5  =  Epiphan.  31, 13  p.  178c. 
Hippol.  6,31];  bei  Hippolyt  ist  das  System  insofern  consequent  weiterentwickelt 
als  hier  diese  Syzygie  erst  die  30  Aeonen  vollzählig  macht  [vgl.  6,  30],  während 
sie  bei  Irenaeus  überzählig  ist,  zum  Zeichen  daß  in  seinem  Bericht  Aelteres  und 
Jüngeres  durcheinander  läuft. 


138  E.  Schwartz 

tinianer  selbst  den  Soter  lesus  auch  Christus  genannt  haben  [Iren. 
1,  2,  6  =  Epiphan.  31, 13  p.  179^],  wie  die  'Ev^v^riötg  der  Sophia 
ebenfalls  Sophia  heißt. 

Schon  aus  diesen  Beobachtungen  erhellt  daß  Irenaeus  den 
Schriftbeweis  der  Valentinianer  nicht  selbst  aus  gelegentlich  von 
ihnen  angeführten  loci  prohantes  zusammengestoppelt,  sondern  ihn 
schon  als  eine  geschlossene  Sammlung  vorgefunden  hat :  er  ist  für 
den  Kanon  der  Valentinianer  sehr  lehrreich.  'Der  Herr  und  der 
^  Apostel' :  das  sind  die  Elemente.  Dieser  ist  allein  Paulus ;  die 
s.  g.  katholischen  Briefe  sind  unbekannt.  Jener  wird,  außer  we- 
nigen Agrapha  oder  Apokrypha,  von  den  Synoptikern  vertreten; 
eine  gewisse  Vorliebe  zeigt  sich  für  Lucas,  namentlich  sind  die 
ersten,  noch  von  Markion  verworfenen  Capitel,  stark  benutzt.  Da- 
gegen fehlt  das  's^erte  Evangelium.  Das  will  schon  an  und  für 
sich  etwas  besagen :  wenn  Tertullian  [de  carne  Christi  19.  24]  be- 
hauptet daß  lo.  1,  13  ö  g  ovx.  s^  ai^dtov  ovde  ix  d'sXrj^arog  öagxbg 
ovdh  ix  d^sXri^arog  avögög,  äkX  ix  %'sov  iyevvi]^}]  von  den  Va- 
lentinianern  zu  ot  —  iysvvrjd'riöav  verfälscht  sei  um  einen  Be- 
weis für  das  ensQ^ia  dLa(p8Qov  zu  haben,  so  sollte  man  um  so  eher 
erwarten  daß  diese  Stelle  in  dem  reichen  Apparat  zu  dem  Ke- 
phalaion  der  'drei  Naturen'  angeführt  würde,  als  die  von  Ter- 
tullian für  eine  Fälschung  erklärte  Lesart  die  richtige  ist,  wie 
tixva  d-sov  beweist:  die  Fälscher  sind  diesmal  orthodoxe  Be- 
streiter  der  valentinianischen  Grnosis  gewesen  und  die  von  Ter- 
tullian und  anderen  Occidentalen  vertretene  Aenderung  ^)  verrät 
daß  die  Valentinianer  die  naheliegende  Ausdeutung  der  Stelle 
wirklich  vollzogen  haben.  Trotzdem  stehen  bei  Irenaeus  nur 
Stellen  der  Synoptiker  um  die  Dreiteilung  des  Menschen  als  Lehre 
lesu  zu  erweisen. 

Es  ist  aber  nicht  nöthig  zu  dem  stets  precären  Beweis  px 
silentio  zu  greifen :  am  Schluß  des  Schriftbeweises  wird  bei  Irenaeus 
die  valentinianische  Deutung  des  iohanneischen  Prologs  in  einer 
Weise  angehängt,  die  keinen  Zweifel  darüber  jläßt,  daß  sie  ein 
Nachtrag  ist,   der  nur   dann  Sinn  hat,   wenn  in   dem   älteren   und 


1)  Sie  folgt  einer  Formulierung  die  lustin  aus  Gen.  49, 11  entwickelt  [dialog. 
54  p.  274»]:  x&i  S\  alfia  rr}g  avaq)vXfjg  sCrtsiv  xhv  Xoyov  Slcc  [r^s]  ri%v7\q 
dsSf]X(o-Kev  8tl  alfia  (liv  ^%bl  b  Xg^atd^f  &ll*  o-ßx  i^  äv^-gcoitov  anigfiarogy  ScXl^ 
i-K  tfjg  Tov  &£ov  dvvcH^scag,  ov  yäg  xgonov  t6  tfig  &(i,7tfXov  aly^a  ovtt  avd'gtonog 
iyivvriasvj  ScXXa  d'sog,  ovtcag  %al  xb  xov  Xgiaxov  atfia  ov%  i^  ävO-gcomCov  y^vovg 
iosad^ai,  &XX'  ix  ^eov  dvvd(iso>g  ngoefiijvvasv.  Ebenso  63  p.  286<l.  76  p.  30 1*'. 
apol.  1,  82  p.  74b. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  139 

schon  vorliegenden  Stellenapparat  das  vierte  Evangelium  nicht 
berücksichtigt  war.  Nachdem  der  gesammte  Schriftbeweis  zu  Ende 
geführt,  das  letzte  Kephalaion  über  die  Achamoth  abgehandelt 
ist,  wird  fortgefahren  [1,8,  5  =  Epiphan.  31,  27]:  stt  xs  7(Davvrjv 
.  .  öiddöxovöL  xi]v  TtQcjtrjv  oydodda  ^s^riwKSvai  avtatg  Xs^söl  Is- 
yovTsg  ovvcog  und  die  erste  Ogdoas.  die  den  Anfang  der  Lehre 
bildet,  aus  dem  Prolog  des  Evangeliums  nachgewiesen.  Ich  will 
kein  besonderes  Gewicht  darauf  legen,  daß  die  Art  des  Beweises 
hier  eine  andere  ist :  während  sonst  hinter  der  kurzen  Angabe 
des  Kephalaion  die  loci  prohantes  erst  der  Evangelien,  dann  des 
Paulus  aufmarschieren,  werden  hier  die  Aeonen  der  Ogdoas  in  ein- 
gehender Interpretation  aus  den  Worten  der  Schrift  herausgeholt, 
so  daß  der  Text  das  prius,  die  Lehre  das  posterius  wird;  um  des 
Textes  willen  werden  gegen  die  Ordnung  der  Lehre  zuerst  die 
zweite,  dann  die  erste  Tetras  abgehandelt.  Entscheidend  ist 
erstens,  daß  dieses  Stück  des  Schriftbeweises,  wenn  es  gleichen 
Ursprungs  mit  den  übrigen  wäre,  am  Anfang  und  nicht  am 
Ende  stehen ,  und  zweitens,  daß  das  vierte  Evangelium  den 
anderen  Evangelien  beigesellt  sein  müßte,  da  das  Schema  welches 
den  Herrn,  d.  h.  die  Evangelien,  vor  die  Paulusbriefe  stellt,  ein 
ganz  festes  ist.  Da  bleibt  nur  der  Schluß  übrig,  daß  der  Yalen- 
tinianer  der  die  loci  prohantes  ursprünglich  zusammenordnete,  das 
vierte  Evangelium  nicht  kannte  und  ein  Späterer  diesen  Apparat 
aus  dem  vierten  Evangelium  ergänzte,  nachdem  dieses  hervorge- 
treten und  von  den  Valentinianern  in  Uebereinstimmung  mit  der 
Kirche  recipiert  war.  Der  Name  dieses  Späteren  ist  bekannt ;  Ire- 
naeus  hat  ihn  am  Schluß  [1,  8,  5]  hinzugefügt :  et  Ftolemaeus  quidern 
ita.  Auf  den  ganzen  Bericht  darf  die  Notiz  nicht  bezogen  werden, 
da  er,  wie  wiederholt  gezeigt  wurde,  aus  verschiedenen  Stücken 
verschiedenen  Ursprungs  besteht,  Irenaeus  ja  auch  der  Lehre  des 
Ptolemaeus  noch  einen  besonderen  Abschnitt  widmet  [1, 12, 1] ;  die 
Interpretation  des  iohanneischen  Prologs  hat  er  in  nicht  unpassen- 
der Weise  dem  Schriftbeweis  des  älteren  Valentinianers  angefügt. 
Das  vierte  Evangelium  verlängert  durch  die  drei  Paschafeste, 
die  es  erwähnt,  lesu  Wirken  über  ein  Jahr  hinaus.  Es  erhöht 
sein  Alter  von  30  auf  beinahe  50  Jahre.  Durch  beide  Abände- 
rungen der  synoptischen  Ueberlieferung,  speciell  des  Lucas,  ent- 
steht ein  Widerspruch  gegen  den  Schriftbeweis,  sei  es  des  Valen- 
tinus  selbst,  sei  es  der  älteren  Valentinianer,  und  dieser  Wider- 
spruch ist  denn  auch  von  Irenaeus  benutzt,  der  mit  gutem  Grrund 
das  Tetraevangelium  preist.  Umgekehrt  kennt  der  ältere  valen- 
tinianische    Schriftbeweis    das    ihm    widersprechende    Evangelium 


140  K.  Schwartz 

nicht.  Mit  zwingender  Notwendigkeit  springt  der  Schluß  herans: 
die  Festreisen  und  das  höhere  Alter  lesu  sind  in  das  vierte  Evan- 
gelium interpoliert  um  die  Typologie  des  Valentinus  unmöglich 
zu  machen.  Es  läßt  sich  kaum  bezweifeln,  daß  für  diese  Inter- 
polationen nicht  der  'Presbyter'  verantwortlich  zu  machen  ist,  da 
in  den  Briefen  keine  Spur  von  antignostischer  Polemik  zu  ent- 
decken ist,  sondern  der  spätere  Interpolator,  der  das  21.  Capitel 
schrieb  und  das  Evangelium  auf  den  Apostel  lohannes  stellte. 
Dieser  hat  die  Bezeichnung  6  xvQLog  eingeschwärzt,  vielleicht  mit 
antignostischer  Spitze,  dieser  braucht  8,  58  das  mystische  iyät  elya 
[vgl.  Nachr.  1907,  360],  und  für  diesen  ist  die  mechanische,  gewalt- 
same Art  mit  der  er  den  Text  umgestaltet,  charakteristisch. 

Wäre  das  vierte  Evangelium  Valentinus  schon  bekannt  ge- 
wesen, so  kann  man  zweifeln  ob  er  die  zwölfmonatliche  Predigt 
und  die  dreißig  Lebensjahre  lesu  zu  Typen  gemacht  haben  würde  : 
im  Schriftbeweis  der  Markosier,  der  wenigstens  an  einer  Stelle 
[Iren.  1, 18,  3  =  Epiphan.  34,  16  p.  252'']  das  vierte  Evangelium 
voraussetzt,  fehlen  sie.  Als  es  aber  auftauchte,  haben  die  Valen- 
tinianer  sich  durch  die  latente  Polemik,  die  der  letzte  Bearbeiter 
hineingebracht  hatte,  nicht  abhalten  lassen  es  mit  mindestens  dem 
gleichen  Eifer  aufzunehmen  wie  die  Kirche  selbst,  und  ihre  Specu- 
lationen  in  ihm  nachzuweisen:  Ptolemaeus  und  Herakleon  genügen 
zam  Beweis.  Wenn  die  Ueberlieferung  verstattete  die  Entwick- 
lung der  valentinianischen  Grnosis  zu  verfolgen,  würde  sich  wahr- 
scheinlich herausstellen  daß  das  vierte  Evangelium  die  Lehre  stark 
verändert  und  beeinflußt  hat;  jetzt  läßt  sich  das  nur  an  verein- 
zelten Spuren  noch  erkennen.  So  ist  um  des  vierten  Evangeliums 
willen  der  Paraklet  mit  dem  Soter  identificiert,  aber,  wie  die 
Stellen  [Iren.  1,  4,  5  =  Epiphan.  31, 17  p.  184^  Clem.  exe.  23]  deut- 
lich zeigen,  secundär  und  desultorisch.  Er  ist  in  die  Aeonentafel 
aufgenommen  [Iren.  1, 1, 2.  Hippoljrt.  6, 30] :  aber  wer  will  be- 
haupten daß  diese  schemenhaften  Namen  der  Dekas  und  Dodekas 
ursprünglich  sind  und  schon  Valentin  es  für  nötig  gehalten  hatte, 
die 'Zehn'  und  die 'Zwölf  in  einzelne  Namen  aufzulösen?  Daß  in 
dem  Bericht  des  Irenaeus  der  männliche  Aeon  der  zweiten  Syzygie 
nicht  nur  Novgj  sondern  auch  Movoysvijg  und  apx4  "^^^  ndcvrav 
heißt  [1, 1, 1  =  Epiphan.  31,  10  p.  175»'  und  öfter],  ist  allerdings 
eine  Frucht  der  valentinianischen  Erklärung  des  iohanneischen  Pro- 
logs; ebenso  daß  der  'obere'  Christus  die  Aeonen  lehrt  daß  sie 
den  'Vater'  nicht  sehen  und  hören  können,  es  sei  denn  durch  den 
Movoyev^g  [Iren.  1,  2,  5  =  Epiphan.  31,  13  p.  178^  nach  lo.  1, 18] ; 
in    der   Parallelausführung    Exe.  7    wird    das   Evangelium    direct 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  141 

citiert.  Aber  grade  hier  weicht  die  jüngere  Lehre  von  dem 
Meister  völlig  ab,  der  den  Aeon  welcher  dem  späteren  Movoysvrig 
entsprach,  UaxriQ  nannte  und  Christus  nicht  vom  Novg  =  Movo- 
ysvrjg  und  der  'Akri^sia,  sondern  von  der  Sophia  selbst  emaniert 
werden  ließ  [Iren.  1, 11, 1  =  Epiphan.  31,  32].  Woher  der  Movo- 
ysvrig  der  Aeonentafel  stammt,  mag  auf  sich  beruhen  bleiben. 

Der  Eifer  mit  dem  die  jüngeren  Yalentinianer  das  vierte  Evan- 
gelium in  ihre  Speculationen  hineinzogen,  ist  ein  neues  Anzeichen 
dafür  daß  sie  sich  der  Kirche  accommodiren  wollten:  wie  sie 
früher  mit  der  Kirche  und  gegen  Markion  an  der  Mehrzahl  der 
Synoptiker  festgehalten  hatten,  so  ließen  sie  sichs  jetzt  mit  der 
Kirche  gern  gefallen  daß  diese  Zahl  noch  um  eins  vermehrt  wurde. 
Wenn  in  einem  Schriftbeweis  der  älteren  Yalentinianer  das  vierte 
Evangelium  fehlt,  so  kann  der  Grrund  nicht  der  gewesen  sein,  daß 
der  Meister  es  nicht  anerkannte :  schwerlich  würden  in  diesem 
Falle  seine  Schüler  sich  solche  Mühe  mit  seiner  Deutung  gegeben 
haben.  Valentinus  hat  es  eben  nicht  gekannt,  während  es  selbst 
valentinianische  Typologien  voraussetzt.  Also  ist  die  letzte  Be- 
arbeitung die  das  Evangelium  erst  weiten  Kreisen  der  Christen- 
heit bekannt  machte  und  es  zuerst  zu  einer  apostolischen  Schrift 
erhob,  erst  nach  Valentinus  erschienen,  in  einer  Zeit  in  der  ein 
neues  Evangelium  schon  apostolische  Authentie  sich  zuschreiben 
mußte  um  sich  durchzusetzen.  In  einziger  Weise  verstattet  die 
Ueberlieferung  hier  einmal  das  Auftauchen  einer  kanonischen  Schrift 
zu  verfolgen. 

In  der  Passionsgeschichte  des  vierten  Evangeliums  findet  sich 
eine  Correctur  der  synoptischen  Berichte,  für  die  kein  plausibler 
Grund  vorzuliegen  scheint:  lesus  trägt  sein  Kreuz  selbst  bis  zum 
Hinrichtungsplatz  [19,17],  während  nach  den  Synoptikern  der 
Kyrenaeer  Simon  dazu  gepreßt  wird  [Mc.  15,21.  Mt.  27,  32.  Lc.  23, 
26].  Diese  Tradition  war  von  Basilides  zu  einer  doketischen  Spe- 
culation  benutzt^):  nicht  lesus,  sondern  Simon,  dem  lesus  seine 
Gestalt  gegeben  habe,  sei  in  Wahrheit  gekreuzigt,  während  lesus 
als  Simon  den  Kreuzigern   zum  Hohn   dabei  gestanden  habe.     Es 


1)  Epiphan.  24,  3  p.  70*  ov%l  'Iriaovv  cpccayicav  Ttsnov&ivui,  aXXcc  Zl^covu  rbv 
KvQTivaLOv,  iTtsidi^nsQ  iv  t&t,  anb  'IsQoaoXvfiav  rbv  -kvqlov  s-ußaXXsöd-aL,  mg  %«t 
7}  aKoXov&^a  tov  svayysXCov,  rjyyccQSvadv  tiva  2L(iava  KvQrivaiov  ßccatd^ca  tbv 
cxavQov  .  .  .  TiccL  (priaiv  insivov  iv  t&i  ßaatcc^siv  tbv  otavgbv  (isra(iOQ(paiyi£vca  stg 
xb  Eccvtov  stdog  v.al  eccvrbv  stg  rbv  Zificovcc  xat  Scvrl  savtov  TCccQccdsSca'nsvaL  Si- 
ficovcc  stg  tb  atavQcod"fivaL.  s%sCvov  ds  aravQovfisvov  sütt^tisl  Karavti'HQvg  aoQ<ztG>g 
ö  'Ir}6ovg  KCctaysXmv  rä>v  rbv  Zlificova  aravQovvtcov.  Iren.  1, 24, 4.  [Tert.]  adv. 
omn.  haer.  1  p.  215,11  Kroym.  Philastr.  32,6. 


142  E.  Schwartz 

sieht  zum  mindesten  sehr  so  aus  als  wenn  die  Umgestaltung  der 
Erzählung  im  vierten  Evangelium  diese  Ketzereien  ausdrücklich 
abschneiden  sollte:  sie  kann  ohne  Schwierigkeit  dem  letzten  Be- 
arbeiter zugewiesen  werden.  Die  jüngeren  Valentinianer  haben 
ihrerseits  wiederum  gegen  Basileides  das  vierte  Evangelium  um- 
gedeutet ^). 

lustin  nimmt  dem  vierten  Evangelium  gegenüber  eine  eigen- 
tümliche Stellung  ein.  Daß  die  eine  Stelle  der  Apologie  [1, 61 
p.  94*],  die  immer  als  ein  Citat  daraus  angeführt  wird,  nichts  be- 
weist, ist  schon  oben  [Nachr.  1907,  363]  ausgeführt.  Weil  Johannes 
der  T.  nur  im  vierten  Evangelium  [1,  20.  25]  ausdrücklich  ableugnet 
der  Messias  zu  sein,  liegt  die  Versuchung  nahe  das  Citat  dial.  88 
p.  Slö*'  auf  es  zurückzuführen:  ovx  si^l  6  Xgcötög,  äXXä  (pcovri 
ßocbvtog '  7]^ei  yäg  9  löxvQOxaQog  ^ov,  ov  ovx  slyX  [ycavog  rä  vtco- 
Ö^iiata  ßaötdöat.  Aber  jene  Ableugnung  steht  auch  Act.  13,25; 
der  zweite  Teil  des  Spruches  weicht  von  allen  kanonischen  Evan- 
gelien ab,  und  die  unmittelbar  darauf  folgende  Einleitung  des 
Taufberichts,  die  lesus  als  Zimmermann  vorführt,  enthält  Ueber- 
lieferungen  die  nur  in  apokryphen  Evangelien  sich  erhalten  haben. 
So  wird  man  doch  bedenklich,  nur  um  der  wenigen  Worte  ovx 
SL^l  6  XQLöTÖg  willen  ein  Citat  des  vierten  Evangeliums  anzusetzen. 
Die  Heilung  des  Blindgeborenen  ist  dem  vierten  Evangelium  [9] 
eigentümlich:  im  Plural  wird  sie  von  lustin  zur  Erklärung  von 
les.  35,5   erwähnt^).      Stutzig   macht   nur,   daß   apol.  1,48  p.  84*^ 


1)  Clem.  exe.  42  6  aravQbg  tov  iv  nXriQaiiaxL  "Oqov  arifislov  eanv  [anders 
Valentinus,  s.  o.]  •  xaQi^si  yäg  tovg  aTtCatovg  x&v  marcbv,  mg  iyiSLVog  xhv  tioü^ov 
rov  TtXriQoafiaTog.  Sl^  o  xal  rcc  anigfiata  o'Irißovg  8iä  xov  arifiBLOv  [^8id  ist  doppel- 
sinnig :  mit  dem  sinnlichen  Kreuz  zusammengestellt  bezeichnet  es  das  Werkzeug, 
wenn  es  aber  das  symbolische  Kreuz  z='^OQog  regiert,  so  steht  es  von  dem  Durch- 
gang durch  den  '^Ogog  in  das  Pleroma,  vgl.  26]  inl  x&v  atfucov  ßacxäcag  sladysi, 
sCg  xb  nXr^Qufia  (wftot  yccQ  xov  anegfiaxog  ö  'Iriaovg  XsysxuL.  yisqxxXi]  ds  6  XQiaxog). 
od-sv  el'gi^xaL  og  ov%  ccl'gsi.  xov  cxavgbv  wöxov  Hai  äxoXov  d"  s  C  fioi^, 
ov-K  saxi  fiov  ScdsXffog  [Mt.  10,38;  &d£X(p6g  =  Mitglied  der  Gemeinde]. 
^Q£v  oiv  [nämlich  xbv  axavgdv^  xb  a&(ia  [als  Subject  zu  nehmen,  Bunsen  hat 
den  Satz  mißverstanden]  xov  'Iriaov,  otcsq  o^oovaiov  riv  xf}i,  'ExxZrjfft'at.  Mit 
anderen  Worten :  die  Kirche,  der  Leib  lesu,  ist  die  Trägerin  der  Erlösung ;  hinter 
dem  mystischen  Dampf  steckt   die  Lehre  der  die  Seligkeit  verbürgenden  Kirche. 

2)  Apol.  1,  22  p.  68b  S  [&  cod.]  Sh  Xiyofisv  jjoDlovff  xal  nagaXvxitiovg  xal  in 
yBvBxfjs  nriQOvg  [novrigova  cod.,  schon  von  Stephanus  verbessert]  vyistg  ninoi,ri%ivaL 
aixbv  "Kai  veiiQOvg  &v£y£LQaiy  Siiova  roig  vnb  ^Aa-uXrjTtLOv  yByevijad'aL  Xsyofiivotg 
xal  xavxa  qpaffxftv  dd^OfiBv.  dial.  69  p.  295<1  6  Xgiaxbg  og  .  .  .  xovg  in  yBVBxfjg 
xal  nccxu  xr]v  aägna  nriQOvg  nal  ncacpovg  IdaaxOy^  xbv  filv  aXXso^ai,,  xbv  8\  xal 
ic-KOVBiv,  xbv  d\  xal  bq&v  xuii>  X6yaii  uirtov  noi,rjaag. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  143 

diese  Erklärung  der  Propheten  st  eile  nicht  durch  ein  Citat  der 
'apostolischen  Denkwürdigkeiten',  sondern  der  Acta  Pilati  belegt 
wird.  Auf  den  ersten  Blick  könnte  in  dem  Satz  dial.  123  p.  353^ 
G)g  ovv  ocTtb  tov  ivbg  'laxcjß  ixatvov  xov  aal  ^löQariX  iTCLxXrjd'svtog 
TÖ  Ttäv  yivog  v^av  7CQO07]yÖQSvro  'laxaß  xal  ^lögai^l,  ovTCjg  xal  rj^etg 
ccTcb  tov  ysvvr^Gavxog  rj^iäg  stg  dsbv  Xgiötov,  ag  xal  laxhß  xal  löQaijX 
xal  'iovda  xal  7co6riq)  xal  ^avid  [lauter  Typen  Christi  nach  lustin], 
xal  %'sov  tsxva  ah]d-tvä  xaKov^sd^a  xal  iö^sv  oC  rag  avxoXäg  rof) 
Xqlöxov  (pvkd66ovx6g  ^)  eine  Reminiscenz  an  1  loh.  3, 1  [vgl.  loh.  1,12] 
zu  stecken  scheinen:  l'dsxs  Ttotajcriv  äyditriv  öedcjxev  rj^tv  6  7tax7]Q, 
Lva  xexva  ^£ov  xkrjd^&^sv^  xal  ißfiev:  aber  der  Begriff  der  Grottes- 
kindschaft  beweist  an  und  für  sich  nicht  viel,  um  so  weniger  als 
er  an  beiden  Stellen  verschieden  aufgefaßt  wird,  und  slvat  wird 
bei  lustin  auch  sonst  mit  xaletöd'ai  zusammengestellt;  vgl.  apol. 
1  31  p.  73*  vibv  ^eov  bvxa  xal  xexlruiivov.  Die  Juden  wundern 
sich  bei  ihm  baß  darüber  daß  er  die  Christen  Kinder  Gottes  nennt: 
er  beruft  sich  in  langer  Auseinandersetzung^)  auf  Ps.  81,6.  Den 
citiert  auch  lesus  im  vierten  Evangelium  [10,  34],  erklärt  ihn  aber 
anders  und  giebt  dem  Baisonnement  eine  andere  Spitze.  Der  be- 
rühmte Vergleich  lesu  mit  dem  Weinstock  [loh.  15, 1]  erscheint 
dial.  110  p.  337*'  in  so  abweichender  Form  —  lesus  pflanzt  den 
Bebstock  und  das  Schneiden  der  Beben  ^)  bedeutet  die  Martyrien  — , 
daß  deutlich  wird  wie  lustin  nur  den  unmittelbar  vorher  ange- 
führten Psalmenvers  [127, 3]  zu  Grunde  legte  und  das  Logion 
ignorierte.  Seine  Gedanken  streifen  das  vierte  Evangelium  oft 
genug ;  um  so  mehr  wundert  man  sich  daß  er  es  nie  citiert,  wäh- 


1)  Vgl.  Herakleon  bei  Orig.  in  lo.  20, 215  tQi%a)g  Ssl  ayiovst-v  tfig  y.uTcc 
ti-Ava  övoficiOLCcg,  Ttg&tov  cpvGSL,  Ssvteqov  yvm^riLf  tqlxov  a^Cai .  v.a.i  (pvGsi  fisv  .  . 
yvm^riL  ds  ota  rb  d'sXri^d  tig  itoi&v  xivog  dicc  xriv  icivtov  yvmnr]v  xb'A,vov  £v,bCvov 
ov  TtOLBi  xb  d'eXriuay  ytalsitccL  -nxl. 

2)  Er  berührt  dabei  eine  Differenz  des  jüdischen  Textes  von  der  LXX, 
trotzdem  steht  in  der  üeberlieferung  die  Stelle  beidemal  gleichlautend:  die  Juden 
sollen  lesen  [p.  353^]  vyieig  de  ms  ccvd-QcoTtOL  ccTtoQ^vriiGv.Bxs  yial  mg  stg  x&v  äQ%6v- 
xav  TtLTtxsxSf  die  LXX  dagegen  tdov  dij  mg  avQ-Qmitoi  ccTtod'v^Lö'nsxs  aal  mg  slg 
xmv  ScQxovxmv  niitxExe.  Mit  Maranus  Einfall  an  der  ersteren  Stelle  uv%'Q(onog 
zu  lesen,  wird  nichts  gebessert;  aus  dem  Zusammenhang  des  Folgenden  scheint 
mir  hervorzugehen  daß  in  dem  'jüdischen'  Text  xai  mg  elg  xmv  ccQxovxmv  itCnxsxs 
fehlte.  Es  steht  allerdings  im  masorethischen  Text,  aber  der  'jüdische'  Text 
Justins  ist. eben  nicht  der  hebraeische,  sondern  eine  von  der  LXX  verschiedene 
Version,  keinenfalls  Aquila. 

3)  15,  2  v.al  Ttäv  xb  yiagnbv  cpBQOv,  v.aQ'aCQSi  avxo,  i'vcc  -AccQitbv  TtXsLOva  cpsgriL 
geht  auf  die  Taufe,  der  folgende  Vers  rechtfertigt  daß  die  Apostel  nicht  getauft 
sind,  vgl.  Nachr.  1907,345. 


144  E.  Schwartz 

rend  ihm  doch,  wie  sein  Citat  der  Apokalypse  verräth^),  die  apo- 
stolische Authentie  imponiert  haben  und  eine  willkommene  Stütze 
seiner  Polemik  gegen  die  Juden  gewesen  sein  müßte :  der  Vorwurf  ] 
den  er  den  Juden  macht  [dial.  14  p.  231^]  v^elg  navta  6ttQXLXG>$ 
vEvoYJxate,  kehrt  ja  im  Evangelium  wieder  [8,15];  vgl.  auch  136 
p.  366*'  mit  5,  23.  46.  Er  unternimmt  den  Schriftbeweis  daß  Christus 
der  praehistorische  Logos  ist  [dial.  61  p.  284*] :  ^agtvQiov  .  .  . 
v^iv  .  .  .  anb  tav  ygatpSiv  daöca  ort  ap%i^v  TtQO  Ttdvxtov  xg3V  xttö- 
ftaroi'  6  dsbg  ysyevvTjics  övva^LV  riva  £|  savxov  XoyiXT^v,  führt  ihn 
aber  ausschließlich  aus  Prov.  8  [p.  284<'ff.]  ^j  und  belegt  aus  den 
^apostolischen  Denkwürdigkeiten',  d.  h.  den  Evangelien,  nur  den 
Ausdruck  vibg  d^eov  [100  p.  327^]:  aal  vCbv  d'sov  y ey Quii^isrov 
avxbv  iv  rotg  aTto^vri^ovsv^aöt  xcov  ocjtoexöXcov  avxov  £%ovxsg  xal 
vibv  avxbv  Xeyovxsg,  vsvorjxa ^sv  ovxa  xal  Jtgb  Tcdvxav  TCOLrj^axcsv, 
ditb  xov  TtaxQbg  dvvd^sL  avxov  xal  ßovXr]i  TtgosXd'ovxa.  Der  Beweis 
ist  für  ihn  noch  nicht  durch  ein  kanonisches  Evangelium  fest- 
gelegt, so  daß  er  ihn  als  ein  freies  Lehrstück  ansieht,  das  allen- 
falls entbehrt  werden  kann  [dial.  48  p.  267*^] :  i]dri  ^evxol  .  .  ovx 
djtoXkvxai  xb  xovxov  elvai  Xgiöxbv  xov  ^eov^  sdv  ditodEii^aL  ^ij  dv- 
vcj^aL  ort  xal  TCQovjcfJQXSv  vibg  xov  Jtoirjxov  xcbv  oXov  xtsbg  hv  xal 
yayivvrixai  dvd^QGinog  dtä  xrig  jiagd-svov.  Für  die  Typologie  mit 
der  er  gegen  die  Juden  streitet,  ist  die  eherne  Schlange  am  Kreuz 
ein  sehr  beliebtes  Paradigma  [Apol.  1,  60  p.  93*.  dial.  91  p.  319*. 
94  p.  324^.  112  p.  339*.  131  p.  361*] :  daß  Jesus  im  vierten  Evan- 
gelium diese  Auslegung  sanctionirt  [3, 14],  wird  nie  erwähnt.  Die 
Sabbathfeier  der  Juden  wird  29  p.  246«  [vgl.  23  p.  241*]  mit   dem 


1)  Dial.  81  p.  308»  Mal  Ttag*  rjfiCv  &vriQ  tig,  ai  övofia  'ladvvris,  slg  x&v 
icnoaroXav  xov  Xqlcxov,  iv  ccTto-KaXvipsv  ysvo^ivrii  avx&i  %ilia  ixr\  noiriGELV  iv 
'IsQovaaXi](i  xovg  x&i  rjfisx^QcoL  Xqigx&i  [im  Gegensatz  zum  Messias  der  Juden] 
niaxBvGuvxag  nQoscpritsvGS  [Apoc.  20, 4if.].  Das  mit  Aplomb  eingeführte  Citat 
zielt  gegen  die  nichtgnostischen  Christen  die  den  Chiliasmus  leugnen  [80  p.  306c]. 

2)  Ebenso  dial.  129  p.  359^ ;  vgl.  auch  noch  apol.  2, 6  p.  44^.  Die  Stellen 
sind  darum  so  wichtig,  weil  sie  beweisen  daß  die  Logosspeculation  nicht  durch 
das  vierte  Evangelium  aufgekommen  ist ;  der  Aeon  Logos  bei  Valentinus  braucht 
also  nicht  daher  zu  stammen.  Apol.  1,  46  p.  83«  xbv  Xqlöxöv  .  .  .  nQosiirivvoafisv 
Xoyov  övxa  ov  n&v  ysvog  Scvd'Qdincov  (iBxiaxs  [vgl.  2, 8  p.  46c  Si^  tb  ^fiqyuxov 
Tcavxl  yivBi  &v^Q6)7t(ov  cniQfia  xoü  X6yov.  10.  13  p.  51c]  sichert  die  altkirchliche 
Auffassung  von  lo.  1,9  gegen  die  moderne  sprachwidrige  Interpunction,  aber  die 
Stellen  treffen  nur  danfm  zusammen,  weil  sie  aus  derselben  Anschauung  heraus 
geschrieben  sind.  So  ist  es  auch  aufzufassen,  wenn  dial.  32  p.  249^  und  loh. 
12,34  dieselbe  Aporie  von  den  Juden  aufgeworfen  wird;  12,37—41  sind  im 
Ton  kaum  vom  Dialog  mit  Tryphon  verschieden.  Vgl.  auch  38  p.  256c  mit 
loh.  8, 56  ff: 


Aporien  im  vierten  Evangelium  11  145 

gleichen  Beweis  widerlegt  wie  loh.  5, 17 :  6  d'sbg  x'^v  avxiiv  dioi- 
xfjöLv  Tov  x66^ov  6^0L(og  xal  sv  tavtrii  rtjt  '^^eQav  tcs  itoCvitaL  Tcad'diteQ 
Kai  SV  tatg  alXaig  ccTcdöaLg.  Noch  frappanter  ist  die  Aehnlichkeit 
des  Arguments  von  der  Beschneidung  am  Sabbat  zwischen  dial.  27 
p.  245*  und  loh.  7, 22 :  ist  es  wahrscheinlich  daß  lustin  an  dem 
lesus  des  vierten  Evangeliums  ein  Plagiat  verübte  statt  sich  auf 
seine  Autorität  zu  berufen?  Er  hat  gelesen  daß  lesus  die  Juden 
widerlegt,  die  'nicht  wissen  was  Vater  und  was  Sohn  ist'  [apol.  1, 
63  p.  95^.  96^],  hier  wenigstens  erwartet  man  einen  Hinweis  auf 
die  langen  Eeden  des  vierten  Evangeliums :  aber  es  wird  nur 
Mt.  11,  27  angeführt.  Sollte  ein  christlicher  Lehrer,  der  das  vierte 
Evangelium  für  die  Aufzeichnungen  eines  directen  Jüngers,  ja  des 
Lieblingsjüngers  hält,  haben  schreiben  können  [apol.  1,14  p.  61^]; 
ßQaxetg  ds  xal  övvto^oi,  JtaQ    avtov  koyoi  ysyövaöLV? 

Da  lustin  die  Apokalypse  als  Werk  des  Johannes  kennt,  diese 
aber  das  auf  den  Apostel  gestellte  Evangelium  voraussetzt,  so 
kann  er  nicht  darum  von  ihm  geschwiegen  haben,  weil  es  zu 
seiner  Zeit  noch  nicht  existirte.  Es  ist  auch  schwer  auszudenken 
daß  er  es  nicht  gekannt  hätte,  da  ihm  doch  die  Apokalypse  in 
die  Hände  gefallen  war,  und  so  muß  schon  angenommen  werden, 
daß  er  es  nicht  als  authentisch  anerkannte.  Er  schrieb  und  lehrte 
in  Rom;  der  römische  Presbyter  Graius  bestritt  die  Authentie  so- 
wohl des  Evangeliums  wie  der  Apokalypse;  die  Differenz  mit 
lustin  erklärt  sich  daraus  daß  dieser  dem  Chiliasmus  huldigte, 
Graius  nicht  [Eus.  KGr  3,  28,  2].  In  Rom  ist  das  Conglomerat  von 
Offenbarungen  und  Kirchenordnungen  entstanden,  das  als  Hirte 
des  Hermas  überliefert  ist:  in  ihm  wird  das  vierte  Evangelium 
nie  citiert^).  Erst  in  der  Greneration  unmittelbar  nach  lustin 
drang  das  Evangelium,  das  in  Kleinasien  von  den  Christen  von 
Anfang  an  enthusiastisch  aufgenommen  war,  auch  im  Westen 
durch:    die  Bischofskirche,  die  Valentinianer  und  die  Phryger  be- 


1)  Von  allgemeinen  Anklängen  abgesehen,  die  nichts  beweisen,  kann  höchstens 
Sim.  9, 12,  3  als  Parallele  zu  loh.  10, 9  in  Frage  kommen :  ort  in'  iaxoircov  x&v 
rjfiSQ&v  zfjg  avvtsXsCccg  cpccvSQog  iyivEto,  Slcc  xovxo  v,aivr\  iysvsro  7}  nvlri^  l'va  ot 
(liXXovtsg  ümL^EGd'aL  öl  avxfig  slg  xr}v  ßaGLlsLCcv  stösX&coGv  xov  &sov.  Aber  das  Bild 
von  der  Thür  braucht  nicht  aus  dem  vierten  Evangelium  entlehnt  zu  sein,  be- 
sonders wenn  der  Vergleich  mit  der  Hürde  fehlt.  Der  Spruch  Sim.  9, 12, 4  etg 
triv  ßccöLXstav  xov  d'sov  ovSelg  stösXsvösxcci,,  st  ju-tj  Xccßoi  x6  övo^a  xov  vlov  avxov 
[ähnlich  Sim.  9,  12,  5.  8]  hängt  mit  dem  Taufritual  zusammen,  vgl.  Sim.  9, 16,  2 
&voiyKriv  stxov  dt  vSccxog  avcißfjvaL  l'vcc  ^coo7COLr}d'&6LV'  o-ßx  rjdvvavto  yccQ  aXXcog 
BlasXd'stv  sig  xrjv  ßaeiXs^av  xov  &sov,  st  iii]  xriv  vmQcaaiv  ccnsd'svto  xf]g  ^(ofjs  avx&v 
und  meine  Bemerkungen  [Nachr.  1907,  363]  über  lustin.  Apol.  1, 61  p.  94». 
Egl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.   Philolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft  1.  10 


146  E.  Schwartz 

mühten  sich  nun  um  die  Wette  es  ihren  Zwecken  dienstbar  zu 
machen.  Nur  das  eine  gelang  ihm  nicht,  die  alte  Mannigfaltigkeit 
der  Evangelien  zu  ersetzen  und  die  Synoptiker  zu  verdrängen: 
die  instinctive  Politik  der  zusammenwachsenden  Kirche  vermied 
es  auch  in  diesem  Falle,  wie  in  den  meisten  anderen,  die  Gregen- 
sätze  durch  eine  streng  principielle  Lösung  zu  entfernen,  sondern 
zog  es  vor  das  Alte  zu  schonen  und  das  Neue  nicht  abzuweisen, 
damit  der  Grlaube  im  Ignorieren  des  Widerspruchs  die  complexio 
oppositorum  lerne,  ohne  die  Religionen  die  sich  dogmatisieren,  nie 
fertig  werden. 

Nach  der  Zeit  in  der  lustins  Schriften  abgefaßt  sind,  wurden 
schon  in  der  vorigen  Mittheilung  [Nachr.  1907, 369]  als  der  ter- 
minus  ante  quem  für  das  auf  den  Apostel  Johannes  gestellte  Evan- 
glium  die  fünfziger  Jahre  des  zweiten  Jahrhunderts  bestimmt. 
In  der  Zeit  lustins  war  die  Verfluchung  der  Christen  nach  dem 
Gebet  officieller  Grebrauch  der  Synagoge  geworden  ^) :  darauf  wird 
an  drei  Stellen  des  Evangeliums  ^)  angespielt,  die  jungen  Ursprungs 


1)  Dial.  16  p.  234^  xara^üb/xfvot  iv  rat?  cvvayayaig  vfi&v  rovg  TtLGvsvovtccs 
knl  rbv  Xqi6x6v.  47  p.  266<i  rovs  iv  ratg  Gvvayayccig  Y.axavaQ'syLatCGavxag  xat 
Ticctccvccd'S^atL^ovtag  tovg  in'  avtbv  xovxov  xbv  Xqloxov  moxsvovxag.  93  p.  321c. 
95  p.  323t.  96  p.  323c.  108  p.  335«l.  133  p.  363c.  137  p.  366.^  ^irids  ^ccgiaaCoig  nu- 
&6^svoi  didaö'm.Xoig  xbv  ßaailia  xov  'logariX  iTtLöKmiprixE  Ttoxs,  bnoLcc  didda-KOvöiv 
Ol  aQ%iavvdyo3yoi  vfi&v  (isxä  x7]v  7tQ06Evx7]v.  39  p.  258«.  Aus  dieser  jüdischen 
Ordnung  ist  die  Sage  entwickelt  daß  die  Hohepriester  nach  lesu  Auferstehung 
durch  Boten  die  sie  in  die  Diaspora  sandten,  die  neue  Secte  verleumdet  hätten: 
dial.  17  p.  234e.  108  p.  335c.  117  p.  345a.  Die  wirkliche  Antwort  der  christ- 
lichen Gemeinden  auf  die  Flüche  der  Rahhiner  waren  die  Fastengebete  beim 
christlichen  Pascha  für  die  irrenden  'Brüder  aus  dem  Volke',  vgl.  Abhdlg.  VIII  6, 
109  f.  115. 

2)  Die  Weissagung  16, 2  steht  schon  an  und  für  sich  in  dem  jungen  Teil 
der  Abschiedsreden,  ist  aber  auch  in  ihn  erst  eingeschaltet  nach  Mt.  24, 10.  Denn 
16,  4  schließt  xavxcc  Sl  v^itv  nicht  an,  und  16,  2  setzt  nach  16, 1  neu  ein.  12,  42 
Oficog  fiivxoL  y,al  iv,  xwv  Scqxovxcov  noXXol  inlaxBvaav  dg  avxov,  &XXct.  Slcc  xovg 
^aQLGCcCovg  ov%  djfioXoyovv,  l'va  iii]  6c7C06vvdyoiyoL  yevcavTat.  ijyccnriaccv  yäg  xijv 
do^av  x&v  icvQ'Q&'Jtoiv  (laXXov  r/'-fp  xr}v  do^av  xov  dsov  ist  unmittelbar  nach  dem 
Predigtstück  12,  37 — 41  und  vor  einer  brüsk  einsetzenden  Rede  lesu  eingeschaltet. 
Die  dritte  Stelle  stammt  aus  der  Erzählung  vom  Blindgeborenen  [9,  22,  23] :  xavxa 
sItcov  ot  yovevg  uvxov,  oxv  icpoßovvxo  xovg  ^lovSaCovg'  i]dri  yccg  GvvExiQ-eivxo  ot 
'lovdatoi  Tva  idv  xig  aixbv  öiioXoyrJGrii  Xqigx6v  [d.  h.  sich  zum  Christentum  be- 
kenne], änoGvvdymyog  y^vr\xai'  Siu  xo^xo  ot  yoveig  ccbxov  elnccv  oxi  TjXt'Kiav  ^x^tj 
aixbv  iTCBQcox'^Guxs.  Die  Motivierung  sagt  zu  viel:  es  war  doch  kein  Bekenntnis 
zum  Christentum,  wenn  die  Eltern  sagten  daß  lesus  ihren  Sohn  geheilt  hätte. 
So  wird  sie  ein  Zusatz  sein,  wie  anderes  in  der  Erzählung  auch;  das  doppelte 
Verhör,  die  gelegentliche,  nicht  cousc(iuent  durchgeführte  Erwähnung  des  Sabbats 


Aporien  im  vierten  Evangelium  II  147 

sein  dürften.  Es  läßt  sich  nicht  mit  Bestimmtheit  beweisen,  ist 
aber  nicht  unwahrscheinlich,  daß  der  jüdische  Haß  erst  nach  der 
Katastrophe  des  hadrianischen  Kriegs  sich  zu  einer  rituellen, 
feierlichen  und  allgemeinen  Form  verdichtet  hat:  die  Gründung 
Aelias  und  das  Verbot  die  Stätte,  auf  der  Jerusalem  gestanden 
hatte,  zu  betreten  hat  die  Sonderentwickelung  des  Judentums  er- 
heblich stärker  gefördert  als  die  Zerstörung  des  Tempels,  die  die 
enthusiastischen  Hoffnungen  fast  mehr  steigerte  als  vernichtete : 
im  Jahre  70  trauerten  die  Christen  noch  mit  den  Juden,  den  ha- 
drianischen Vernichtungskrieg  beklagen  sie  nicht  mehr;  ja  die 
Vermutung  Jülichers  [Einleitung  385]  ist  gar  nicht  unwahrschein- 
lich, daß  der  nur  lose  im  Context  hängende  Spruch  loh.  5,  43  syc) 
il7]Xvd'a  iv  tG)L  ovö^atL  toi)  TCatQÖg  ^ov  aal  ov  Xa^ßdvers  ^s '  iäv 
ccXXog  sX&rjL  iv  röt  ovö^art  xcbi  IdCai,  ixeivov  ^iq^^söd'E  auf  Barkochba 
zielt,  der  die  Christen,  deren  er  habhaft  werden  konnte,  hinrichten 
ließi). 

Jedenfalls  wird  die  letzte  Ausgabe  des  Evangeliums  nicht  er- 
heblich vor  140  gesetzt  werden  können,  wenn  die  Spuren  der  Po- 
lemik gegen  Basilides  und  Valentin  richtig  gedeutet  sind.  Die  ein- 
zig brauchbare  Angabe  über  deren  Zeit  steht  bei  Clemens  [ström. 
7, 107  vgl.  Abhdlg.  VII,  5, 21] :  MaQxccov  xarä  x^v  avxriv  avxotg 
[Basilides  und  Valentin]  riXcmav  ysvö^svog  cog  TtQsößvxrjg  vscoxEQocg 
6vvEyivExo :  die  valentinianische  Gnosis  ist  nur  als  Gegensatz  gegen 
Markion  verständlich.  Dieser  war,  als  lustin  die  Apologie  schrieb, 
also  um  150,  noch  am  Leben,  hatte  aber  seine  Kirche  schon  ge- 
gründet  [apol.  1,  26.  58] ;  Valentinianer  und  Basileidianer  werden 
in  dem  nur  wenige  Jahre  späteren  Dialog  [35  p.  253**]  erwähnt, 
in  der  Apologie  übergangen,  weil  dort  [1,  26  p.  70°]  auf  das  Werk 
Kaxä  Tcaö&v  xcbv  aCgEöEav  verwiesen  wird.  Wer  Markions  Haupt- 
wirksamkeit in  den  Anfang  von  Hadrians  Regierung,  Basilides 
und  Valentin  an   das   Ende   dieser   und   in  die   ersten  Jahre  An- 


[9, 14. 16],  der  Wechsel  von  ^aqiGatoi  [9,  14—16]  und  'lovSatoC  [9, 18],  der  das 
Subject  von  9,24  unbestimmt  macht,  all  das  spricht  dafür  daß  9, 13— 17  eingelegt 
sind;  27  bezieht  sich  auf  11.  Uebrigens  stehen  9,22  und  12,42  streng  genommen 
zu  der  Weissagung  im  Widerspruch,  und  wenn  man  darüber  hinwegsehen  kann, 
so  bleibt  doch  zu  beachten  daß  die  beiden  erzählenden  Stellen  das  Judentum  der 
Synagoge  in  die  Zeit  Jesu  und  nach  Jerusalem  verlegen,  wo  doch  der  Tempel 
und   nicht   die   Synagoge   der  Mittelpunkt  war. 

1)  lustin.  apol.  1,  31  p.  72e.  Auf  Barkochba  geht  auch  vielleicht  die  Pro- 
phezeihung  16, 2  ccXX  ^%stcci  mga  l'va  n&g  6  ccTtoY.xsCvas  v[i&g  do^rii  Xatgsiccv 
nqoacpbquv  tön  ^siöL,  die  auf  heidnische  Verfolgungen  nicht  paßt. 


j[48  ^-  Schwartz,  Aporien  im  vierten  Evangelium  11 

tonins  setzt,  wird  nicht  weit  am  Richtigen  vorbeigehn.  Im  letzten 
Grunde  hatten  also  die  Tübinger  gar  nicht  so  Unrecht,  wenn  sie 
das  vierte  Evangelium  bis  in  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts 
hinabrückten ;  erst  damals  hat  es  seine  abschließende  Gestalt  er- 
halten und  erst  nach  160  äußert  es  in  und  außer  der  Kirche  seine 
Wirkungen,  dann  allerdings  kräftig  und  nach  allen  Seiten  hin. 
Nur  darf  der  gesammte  Inhalt  des  Evangeliums  keinenfalls  so 
spät  gesetzt  werden;  es  ist  ein  aus  mannigfaltigen  Bestandteilen 
zusammengefügtes  und  zusammengeklittertes  Buch,  wie  die  er- 
zählenden Bücher  der  altisraelitischen  Litteratur  auch,  eine  Par- 
allele die  alle  beherzigen  sollten,  welche  mit  unlogischen  Argu- 
menten und  schlaffer  Interpretation  die  unrettbar  verlorene  Einheit 
aufrechtzuerhalten  bestrebt  sind  und  bestrebt  zu  sein  nicht  auf- 
hören wollen. 


Aporien  im  vierten  Evang-elium 
III 

Von 
E.  Scliwartz 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  22.  Februar  1908 

Die  Erfindung  der  drei  Festreisen  lesu,  die  das  vierte  Evan- 
gelinm  mit  solcher  Bestimmtheit  von  den  Synoptikern  scheidet, 
daß  jede  Harmonistik  unmöglich  wird,  ist  in  der  früheren  Mit- 
teilung als  ein  secundäres,  dem  ursprünglichen  Evangelium  fremdes 
Product  antignostischer  Polemik  nachgewiesen.  Wenn  der  Rahmen 
unecht  ist,  braucht  das  Bild  noch  nicht  condemniert  zu  werden  j 
die  Erzählungen  können  an  und  für  sich  zum  ursprünglichen  Be- 
stand gehören,  auch  wenn  sie  in  eine  falsche  Chronologie  gestellt 
sind.  Hängen  freilich  eine  Festreise  und  das  was  während  ihr 
geschieht,  so  fest  zusammen  wie  die  erste  mit  der  Tempelreinigung, 
dann  muß  beides,  der  chronologische  Rahmen  und  die  Geschichte, 
fallen,  um  so  mehr  als  die  Tempelreinigung  aus  den  Synoptikern 
auf  mechanische  Weise  transponiert  ist.  Daß  das  Gespräch  mit 
Nikodemus  überarbeitet  ist,  wurde  für  den  ersten  Teil,  in  dem 
wenigstens  die  Gesprächsform  noch  festgehalten  wird,  schon  ge- 
zeigt [Nachr.  1907,  363].  Nach  der  zweiten  verwunderten  Frage 
TCcbg  dvvatai  xavra  yBviöd-ai  [3,  9]  verschwindet  der  nächtliche  Be- 
sucher, als  habe  er  sich  in  Rauch  aufgelöst,  um  7,  50.  19,  39  als 
verschämter  Anhänger  lesu  in  Jerusalem  wieder  aufzutauchen. 
Dies  Versanden  der  Erzählung  macht  es  einerseits  unmöglich  zu 
erschließen  wohin  das  Gespräch  ursprünglich  gehört,  und  würde 
andererseits  zum  Nachweis  genügen,  daß  der  zweite  Teil  des  Ge- 
spräches [3, 10 — 21J  nicht  intakt  geblieben  sein  kann ,  auch  wenn 
dies   nicht   aus    dem  Inhalt  der  Rede  lesu  —  ein  Gespräch  ist  es 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.  Philolog.-hiator.  Klasse  1908.    Heft  2.  H 


150  E.  Schwartz 

nicht  mehr  —  ohne  Weiteres  feststände.  Die  Rede  enthält  vieles 
was  im  Mnnde  lesu  sich  seltsam  ausnimmt,  aber  sofort  verständ- 
lich wird,  wenn  es  in  die  Predigt  eines  christlichen  Lehrers  über 
lesus  eingesetzt  wird.  Gleich  im  Anfang  [3,  11]  («fii^v  a/Ln)i/  Af'yo 
60L  ort)  o  oüda^sv,  XaXovfiev  xcd  o  ioQoixa^sv,  ficcQtvQOviiev  xal  t^v 
liUQXvQCav  ij^G)v  ov  Xa^ßdvets  ist  das  'Wir'  ein  böser  Stein  des 
Anstoßes.  lesus  bezeichnet  sich  selbst  nie  mit  dem  s.  g.  Pluralis 
der  Majestät  oder  gar  des  Schriftstellers  [vgl.  Nachr.  1907,  367], 
und  kann  doch  nur  sich  selbst  meinen  [vgl.  3,  32.  8,  38],  nicht  etwa 
die  Jünger  mit  einschließen.  Denn  wenn  er  behauptet  von  dem 
zu  zeugen,  was  er  weiß  und  gesehen  hat,  so  kann  er  nur  an  das 
denken  was  er  'im  Schoß  des  Vaters'  [1,  18]  erfahren  hat,  und  er 
allein:  nur  er  ist  der  eingeborene  Sohn.  Spricht  aber  ein  christ- 
licher Missionar  oder  ein  Jünger  lesu,  dann  schiebt  sich  alles  zu- 
recht :  man  braucht  nur  den  Anfang  des  ersten  lohannesbriefes  zu 
vergleichen.  Ein  solcher  kann  auch  sagen  [3,  13]  ovdslg  avaßeßrixsv 
eCg  xov  ovgavöv  [vgl.  6,  62],  ei  nij  6  ix  roi)  ovgavov  xarccßdg,  6  vtbg 
tov  dvd^Qajcov:  Jesus  selbst  kann  seine  Himmelfahrt  allenfalls 
prophezeihen,  aber  nicht  im  Perfectum  als  vergangen  behandeln, 
ehe  sie  stattgefunden  hat,  und  den  Spruch  nicht  von  der  Himmel- 
fahrt zu  verstehen  ist  nur  möglich  durch  gewaltsame  Verdrehung 
des  Wortlauts.  Im  Folgenden  ist  der  Text  durch  Parallelfassungen 
erweitert.  V.  14.  15  hat  wörtlich  den  gleichen  Schluß  wie  Vs. 
16  und  ebenso  sind  V.  18  und  19  Formulierungen  desselben  Ge- 
dankens, die  sich  gegenseitig  stören :  denn  einmal  ist  das  Gericht 
durch  den  Unglauben  am  Einzelnen  schon  vollzogen  [vgl.  5,  24  = 
1  loh.  3, 14],  das  andere  Mal  besteht  das  Gericht  darin  daß  lesus, 
als  er  in  die  Welt  kam,  bei  den  Meisten  keinen  Glauben  fand 
[vgl.  1, 11.  16,  8 — 11].  Gemeinsam  aber  ist  dem  gesammten  Rai- 
sonnement,  daß  ebenso  wie  Vs.  13  die  Himmelfahrt,  fast  durchweg 
das  Wirken  und  Leiden  lesu  als  etwas  Vergangenes  hingestellt 
wird,  wie  schon  die  Praeterita  und  Perfecta  [16  idcoxsv,  19  iXi^- 
kv&Ev  . ,  xal  riydiCTjöav,  ^v\  verraten.  Vs.  14  wird  allerdings  von 
diesem  Vorwurf  nicht  getroffen;  immerhin  muß  man  darüber  er- 
staunen daß  Jesus  am  Anfang  seiner  Wirksamkeit  seinen  eigenen 
Tod  am  Kreuz  auf  einen  Typus  des  A.  T.  zurückführt,  beiläufig 
in  so  nachlässiger  Form,  daß  nur  ein  dogmatisch  gebildeter  Christ 
das  simple  v^co^rivai,  verstehen  *)  .  kann :  wie  scharf  und  wuchtig 
heben   sich  bei  den  Synoptikern  [Mc.  8,  31.   Mt.  16,  21.  Lc.  9,  22] 


1)  Das  aramaeische  D'^'^Ä  tödten  (Wellhausen  Ev.  Lc.  46)  kann  nicht  darin 
stecken;  dann  müßte  &Q&^vai  dastehn. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  151 

die  Todesweissagungen  heraus !  Endlich  ist  es  unerhört,  daß  lesus 
sich  selbst  mit  tö  (pcbg  in  periphrastischer  Rede  bezeichnet  ^).  Setzt 
man  aber  das  Granze  um  in  eine  Predigt  die  erweisen  will  daß 
trotz  der  Kreuzigung  lesus .  der  Messias  und  der  vom  Himmel 
herabgestiegene  Sohn  Gottes  ist,  so  erhält  alles  einen  vernünftigen 
Zusammenhang,  ja  es  ist  nicht  einmal  eine  triviale  Predigt  die 
herauskommt;  denn  die  Art  wie  der  jüdische  Einwand  daß  der 
Messias  als  Richter  kommen  müsse  und  lesus  das  nicht  gewesen 
sei,  dadurch  widerlegt  wird,  daß  die  historische  Erscheinung  in 
alttestamentlicher  Manier  als  ein  Grericht  das  die  Greister  scheidet, 
aufgefaßt  wird,   ist   allerdings   sehr   eigentümlich.     So  räthselhaft 


1)  Bei  den  Synoptikern  ist  6  vihs  to-D  av^gconov  eine  zwar  nicht  authen- 
tische, aber  doch  alte  und  häufige  Selbstbezeichnung  lesu;  6  vtdg  ist  selten  [Mt. 
11,27  =  Lc.  10,22.  —  Mc.  13,32].  Jene  findet  sich  im  vierten  Evangelium  oft: 
3, 13.  8,  28  (12,  34  wird  sie  sonderbarer  Weise  von  der  'Menge'  vorausgesetzt,  ob- 
gleich lesus  sie  ihr  gegenüber  vorher  nicht  gebraucht  hat).  6,  27.  53.  62.  12,  23. 
13,31;  außer  6,27  spricht  lesus  stets  von  seinem  Tode.  'O  vtog  bezeichnet  den 
von  sich  redenden  lesus  3,  17.  6,  40.  14,  13 ;  5,  19—23.  26  steht  unmittelbar 
daneben  [5,  24.  30  ff.]  sonderbarer  Weise  die  erste  Person.  8,  36  ist  einge- 
schoben; denn  hier  ist  6  vio?  Selbstbezeichnung,  während  es  8,  35  der  einfache 
Gegensatz  zu  6  dovXog  und  ein  Bild  für  die  Gläubigen  sein  soll.  In  dem  feierlichen 
Gebet  lesu  17, 1  wechseln  6ov  tbv  vtov  und  6  vtog:  da  nennt  er  sich  auch  selbst 
mit  dem  vollen  Namen  des  christlichen  Bekenntnisses  ov  aniatsiXccg  'Irioovv  Xql- 
Gxov  \Xql6x6v  ohne  Artikel!].  Die  Formel  6  vibs  tov  d'sov  brauchen  die  Synop- 
tiker nur  in  Bekenntnissen,  so  in  dem  des  Petrus  Mt.  16,  16  [kürzer  und  ohne 
6  vLog  Mc.  8,  29.  Lc.  9,  20]  oder  nach  dem  Wunder  auf  dem  See  Mt.  14,  33.  Dem 
steht  gleich,  wenn  der  Hohepriester  beim  Verhör  Jesus  fragt  av  sl  6  XQLötbg  6 
vtbg  tov  svXoyritov  [Mc.  14,61.  Mt.  26,63;  vgl.  27,40.43.  Lc.  22,70],  oder  der 
Teufel  bei  der  Versuchung  den  Beweis  dafür  verlangt  [Mt.  4,  3.  6.  Lc.  4,  3.  9]  ; 
die  Daemonen  reden  ihn  widerwillig  so  an  [Mc.  3,11  =  Lc.  4,41.  Mc.  5,  7  = 
Mt.  8,  29  =  Lc.  8,  28].  Es  scheint  beachtenswert  daß  bei  Marcus  dies  Praedikat 
lesus  nur  von  Feinden,  nämlich  vom  Hohenpriester  und  den  Daemonen  gegeben 
wird;  bei  Matthaeus  und  Lucas  ist  es  schon  Bestandteil  einer  Glaubensformel  ge- 
worden, erscheint  aber  nur  an  Stellen  in  denen  das  deutlich  hervortritt.  In  diesem 
Sinne  kommt  es  auch  im  vierten  Evangelium  vor :  1,  34  [mit  der  alten  Variante 
6  itiXE'iitdg'].  49.  11,27  wo  Martha  ein  christliches  Glaubensbekenntnis  ablegt,  20, 
31  [tvcc  7t  LGTEVTiTS  OTL  'lijffo-ög  iüTLV  6  XQißtbg  6  vibg  tov  -O-foü];  ebenso 
1  loh.  4, 15.  5,  5. 10.  20.  loh.  19, 7  ist  nach  den  Synoptikern  gemacht,  vgl.  Nachr. 
1907,  358 ;  10,  36  gehört  in  den  gleichen  Zusammenhang.  Man  sieht  wie  un- 
passend 3, 18  lesus  die  Formel  des  Bekenntnisses  zu  ihm  selbst  in  den  Mund  ge- 
legt wird ;  5, 25  steht  in  unversöhnlichem  Widerspruch  zu  5,  24  und  ist  ebenso 
wie  5,  22.  23.  27—29  [vgl.  Wellhausen  S.  13]  ein  Versuch  die  gewöhnliche  Vor- 
stellung vom  jüngsten  Gericht  dem  Evangelium  anfzuoctroyiren.  Auch  tbv  vCbv 
tbv  ^ovoyEvij  3,  16  [vgl.  3,  18]  und  6  mv  nagä  tov  Q-eov  6,  46  sind  singulare 
Selbstbezeichnungen;  der  zuletzt  angeführte  Vers  ist  eine  Randglosse,  die  den 
Widerspruch  zwischen  6,  45  und  1, 18  hinauscorrigieren  soll. 

11* 


152  E-  Schwartz 

es  etscheinen  mag,  daß  Fetzen  einer  solclien  Predigt  sich  in  das 
Evangelium  verloren  haben,  so  ist  es  doch  nicht  nur  an  dieser 
Stelle  vorgekommen.  12,  37 — 41  ist  ein  ähnliches  Stück  mit  diesmal 
sehr  trivialem  Inhalt  in  die  Erzählung  eingelegt;  daß  in  dieser 
Weise  ein  Evangelist  aus  der  Rolle  des  Erzählers  in  die  des 
Lehrers  fällt,  der  mit  dem  A.  T.  raisonnirend  operiert,  ist  eben- 
falls singulär.  Endlich  hat  man  sich  schon  längst  über  die  Rede 
des  Täufers  gewundert,  der  zuerst  zwar  noch  sich  selbst  mit  lesus 
vergleicht,  dann  aber,  von  3,  31  ab,  genau  so  redet,  als  sei  er  in 
alle  Mysterien  der  Lehre  vom  Vater  und  vom  Sohn  eingeweiht. 
Allen  diesen  Stücken  gemeinsam  ist,  daß  die  Situation  in  die  sie 
hineingestellt  sind,  gänzlich  ignoriert  wird,  auch  12, 37,  wo  ob- 
gleich keine  Wunder  erzählt  sind,  doch  mit  den  Worten  einge- 
setzt wird  roöavta  de  a'bzov  örjfiela  TCSTtocrjxötog. 

Durch  die  predigende  Einlage  ist  das  Nikodemusgespräch  zer- 
stört und  seines  alten  Schlusses  beraubt ;  der  Torso  läßt  sich  nicht 
mehr  einfügen.  Die  zweite  Festreise  ist  an  die  Geschichte  von 
der  Heilung  des  Kranken  am  'Teich  Bethesda'  geknüpft;  sie  ge- 
hört zu  den  Stücken  des  vierten  Evangeliums,  die  immer  schwie- 
riger werden,  je  mehr  man  sich  in  sie  vertieft.  Es  ist  überflüssig 
daß  Jesus  fragt  [5,  6]  d-skscg  vyirjg  yevia&aL ,  wenn  die  Kranken 
darum  in  den  Hallen  liegen,  um  zur  rechten  Zeit  die  Heilkraft 
des  Wassers  zu  benutzen;  und  was  der  Kranke  antwortet,  bedarf 
sehr  der  Erklärung;  Vs.  4,  der  durch  die  lieber  lieferung  als  ein 
Zusatz  erwiesen  wird,  verrät  daß  man  schon  früh  etwas  vermißte. 
Man  soll  aus  Vs.  7  erschließen  daß  immer  nur  einer  in  dem  unruhig 
gewordenen  Wasser  Heilung  findet:  dafür  müßte  ein  Grund  an- 
gegeben werden.  Für  die  Heilung  durch  lesus  bedeutet  die  Wunder- 
kraft des  Teiches  nichts,  und  wenn  der  ganze  Apparat  einmal  auf- 
geboten wurde,  so  sollte  man  wenigstens  erwarten  daß  er  Jesus 
den  Anlaß  zu  einer  Rede  bot:  dieser  aber  verliert  kein  Wort 
darüber.  Es  giebt  eine  intermittirende  Quelle  außerhalb  Jerusalems 
an  der  Ostseite,  die  im  A.  T.  Gi;toii,  jetzt  Marienquelle  heißt  und 
durch  den  berühmten,  auf  König  Hiskia  zurückgeführten  unter- 
irdischen Tunnel  mit  dem  Teich  Siloah  zusammenhängt.  Vs.  7 
läßt  sich  auf  sie  beziehen,  aber  nicht  die  Ortsangabe  in  Vs.  2. 
Der  'hebraeische'  Name  des  Bassins  ist  verschieden  überliefert. 
Für  Bethesda  treten  die  Syrer  ein  mit  l^sxij^  Ä^^a,  von  den  Griechen 
nur  der  Alexandrinus  und  geringere  Hss. ;  der  Verdacht  liegt  nahe, 
daß  das  'Haus  der  Barmherzigkeit'  ein  Versuch  der  Aramaeer  ist 
einen  in  der  griechischen  Transscription  unverständlichen  Namen 
durchsichtig  zu  machen  und  daß  dieser  Versuch  in  die  griechischen 


Aporien  im  vierten  Evangelium  in  153 

Hss.  eindrang.  Der  Sinaiticns  und  Eusebius  [Onom.  58,  21]  lesen 
Brj^^a^a  oder  Brj^ad^a,  was  dasselbe  ist;  aucb  BsXied-a  d.  i.  Bsd^s&a 
in  D  ist  nicht  wesentlich  verschieden,  und  Bij^öaiöa  im  Yaticanus 
und  bei  Hieronymus  in  der  Uebersetzung  des  Eusebius  dürfte  eine 
zweite  aramaeische  Verdeutlichung  neben  Br^d-eöda  sein.  Mit  dem 
Hügel  Bsie^a^)  bei  los.  BI  5,  149. 151.246  kann  der  Name  nichts  zu 
tun  haben;  es  ist  außerdem  sehr  unwahrscheinlich,  daß  man  sich  ge- 
rade den  besonders  hohen  Hügel  zur  Anlage  eines  Schwimmbassins 
aussuchte.  So  wenig  sich  Brid^^ad'a  erklären  läßt ,  im  ersten  Teil 
ist  Vr>2  nicht  zu  verkennen.  Natürlich  kann  mit  dem  bei  den  Se- 
miten ungemein  beliebten  Wort  eine  Eallenanlage  bezeichnet 
werden,  die  ein  Bassin  in  sich  schließt;  wenn  das  aber  umgedreht 
wird  und  der  Teich  'Haus'  heißen  soll,  so  leuchtet  das  weniger 
ein.  Es  ist  auch  gar  nicht  sicher,  ob  der  'hebraeische'  Name 
wirklich  auf  das  Bassin  zu  beziehen  ist.  Im  Sinaiticus  stand  ur- 
sprünglich sott  ÖS  SV  Totg  ^l£Q06oXv^OLg  TCQoßatixrj  xoXv^ßrjd-Qa  rö 
Xsyo^svov  [dafür  gewöhnlich  ri  Xsyoiiavr]  oder  X.syo^svri]  ^Eßgaiötl 
Brid-^ad-a,  nivta  axoäg  £%ov6a.  Im  Wesentlichen  muß  Euseb  das- 
selbe gelesen  haben  ^).  Er  [Onom.  a.  a.  0.]  berichtet  daß  man  zu 
seiner  Zeit  in  Jerusalem  einen  Tümpel  zeigte,  dessen  Wasser  auf- 
fallend rot  aussah;  man  erzählte,  das  käme  von  den  Schafen  die 
früher  dort  geopfert  seien.  Diese  jCQoßartxrj  xolv^ßtjd^Qa  wurde 
mit  Brjd-^ad^a  identificiert;  die  fünf  Hallen  waren  freilich  nicht  mehr 
da:  Brj^ad^a  JcoXv(iß7]d'Qa  iv  'IsQovöaXyj^,  i]tig  söxlv  t]  TtQoßatLKr],  rö 
itaXaiov  8  6Toäg  siovöa.  Es  ist  leicht  zu  sehen  daß  weder  die 
Lesung  noch  die  Localisierung  richtig  sein  kann:  eine  Ansammlung 
von  Eegenwasser  dessen  Farbe  alles  andere  als  einladend  war,  ist 
kein  'Bassin',  in  dem  man  untertauchen  kann,  um  das  'Aufrühren' 
des  Wassers  einmal  ganz  bei  Seite  zu  lassen,  und  der  doppelte 
Name,  der  nicht  auf  Uebersetzung  beruhen  kann,  erregt  von  vorn 
herein  Verdacht.  Der  Vaticanus  schiebt  nach  'IsQoöokvfioLg  ein 
STtl  T^t:  dann  wird  jiQoßatLxrjt  xokv^ßrid-QaL  Dativ.  Das  ist  vor- 
trefflich, wenn  man  ro  Xsyo^svov  aus  dem  Sinaiticus  aufnehmen 
und  das  Feminimum  exovöä  in  sxov  umsetzen  "darf:  dann  kommt 
der  in  sich  richtige  Sinn  heraus,  daß  Brjd-^ad^a  die  Hallenanlage 
neben  'dem  Schafteich'  bedeutet.     Das  falsche  Grenus  des  Particips 


1)  losephus  bezieht  den  Namen  ausdrücklich  auf  den  Hügel  nördlich  der 
Antonia:  5,149  Xocpov  og  ^aXsLtca  Bs^sd'cc ,  246  17  Bs^ad'a  l6(pog.  Zugleich  be- 
zeichnet er  damit  das  auf  dem  Hügel  liegende  Quartier  und  behauptet  [5,  151], 
das  Wort  hieße  ytaivt}  noXtg  (hebraeisch  baji-O-  ;täö'äs,  syrisch  bai^ä  ^a-O-ä). 

2)  Wie  es  scheint,  auch  Kyrill  von  Jerusalem  [homil.  in  paralyt.  2];  doch 
ist  die  Stelle  unsicher  überliefert. 


154  E.  Schwartz 

entstand  dadurch  daß  man  den  Namen  auf  den  Teich  bezog  und 
xoXv^ßTl&Qtt  in  den  Nominativ  setzte.  Dadurch  wurde  snl  rrji, 
TtQoßatLxiji  unverständlich,  denn  icvXrjL  kann  nicht  ergänzt  werden. 
Mit  SV  XYii  TCQoßatLxrjL  in  N*^DA  ist  gar  nichts  anzufangen,  ii  tcqo- 
ßatiXT]  kann  doch  nicht  eine  Oertlichkeit  bezeichnen.  Die  Lesung 
einiger  Lateiner  in  inferiore  parte  (der  Stadt)  ist  wohl  nur  ein 
Gewaltstreich  um  für  das  unverständliche  iv  r^i  jtQoßaxLxrjt  irgend 
etwas  einzusetzen ;  aus  demselben  Grrunde  ließen  die  Syrer  es  ganz 
aus.  Als  richtige  Lesung  kann  nur  stcI  xyil  Ttgoßarixfjt  xoXv^ßrid-Qai, 
angesehen  werden;  will  man  t6  Xsyö^svov  und  sxov  nicht  aufnehmen, 
so  muß  man  vermuthen  daß  ein  Femininum  wie  oixLu  oder  ßwaycDyi] 
[Mc.  3,  Iff.,  s.  u.]  gestrichen  ist,  um  den  Namen  auf  den  Teich 
übertragen  zu  können.  Er  steht  jetzt  freilich  durch  Ys.  7  zu- 
nächst im  Mittelpunkt  der  Handlung;  aber  es  ist  schon  darauf 
hingewiesen,  daß  er  danach  verschwindet,  und  niemand  kann  leugnen 
daß  die  Erzählung  erheblich  besser  wird,  wenn  die  Hallen  nichts 
anderes  sind  als  ein  Zufluchtsort^)  für  die  Kranken  und  Krüppel, 
eine  Art  ospedale  degli  incurahili,  und  der  Schafteich  in  erster 
Linie  die  Oertlichkeit  bezeichnen  soll.  Vs.  7  ist  dann  eine  se- 
cundär  eingejäickte  Erfindung,  die  die  ursprüngliche  Antwort  des 
Kranken  auf  die  nunmehr  passende  Frage  lesu  verdrängt  hat; 
wahrscheinlich  hängt  mit  dieser  TJeberarbeitung  auch  die  Zer- 
störung von  Ys.  2  zusammen. 

lesus  heilt  den  Kranken  am  Sabbat,  zum  Aerger  der  Juden. 
Bei  einer  der  synoptischen  Sabbatheilungen  sagt  lesus  nach 
Matth.  12, 11  tLg  eözai  £|  vyLav  ccvd^gcjTCog  bg  £%eL  Ttgößarov  ev,  xal 
iäv  i^TCeörii  tovro  totg  0ccßßa6Lv  sCg  ßöd-vvov,  ovxl  xqutt^ösl  avtb 
xal  iysQst]  Ttööcoi,  ovv  diacpSQSL  ccvd-QCDTtog  Ttgoßdrov]  Lucas  setzt 
für  die  Grube  den  Brunnen  [14,  5]:  tLVog  vfi&v  mg^)  -i)  ßovg  slg 
(pgiaQ  Ttsösttat  xal  ovx  svd'icog  avaöTtdösv  avtbv  iv  rj^egac  rov  6aß- 
ßdtov;  Sollte  von  diesen  Berührungen  ein  Weg  zum  *Schafteich' 
im  vierten  Evangelium  führen? 

Nach  den  vorangehenden  Untersuchungen  ist  lesus  vor  Cap.  7 
nicht  nach  Jerusalem  gereist.  Also  ist  Cap.  5  von  dem  Inter- 
polator  verstellt,  wenn  die  Geschichte  ursprünglich  in  Jerusalem 
spielte,  oder  die  Erwähnungen  von  Jerusalem  sind  falsch  und  das 
Wunder  gehörte   auch   im  vierten  Evangelium  ursprünglich  nach 


1)  Bri&tcc&a  =  fc<ino  tT^a  'Winterhaus'?  Hebraeisch  ist  ^yrm  rT^S  der 
Winterpalast,  Jer.  36,  22.  

3)  So  ist  mit  Matthaei  und  Lachmann  unweigerlich  für  va  zu  lesen;  vtdg 
ist  sinnlos  und  vg  geht  nicht. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  155 

Galilaea.  Antike  Erklärer  identificierten  es  mit  der  Heilung  des 
Paralytischen  [Mo.  3,  Iff.  Mt.  12,  9  ff.  Lc.  6,  6  ff.]  in  der  Synagoge  i). 
Thatsächlich  schließt  Marcus  jene  Erzählung  mit  den  Worten  [3,  6] 
xal  E^sXd-övtsg  oC  QaQLöatoi,  svd^vg  fisrä  tcbv  'HQcaidiav&v  öv^ßovlLov 
sdcdovv  xar'  avrov  OTCcog  avtbv  ä7toXs6(o6cv,  ähnlich  Mt.  12, 14.  Das 
klingt  lo.  5,  16  wieder :  xal  diä  xovxo  sdtcoKov  ot  'lovdatoi  xhv  ^Itj- 
öovvj  ort  xavxa  STtoCai  sv  öaßßdxcoL.  Die  Fortsetzung  o  ds  aTCsxQL- 
vaxo  avxotg  schließt  nicht  an:  wie  paßt  das  'Antworten'  zum 
*  Verfolgen'  ?  Die  Antwort  selbst  'mein  Vater  arbeitet  noch  immer  ^), 
so  arbeite  auch  ich'  zielt  auf  den  Vorwurf  des  Synagogenvorstehers 
Lc.  13,  14  f|  rjiiSQai  slölv  iv  alg  dev  igyci^eöd'ccL '  sv  avxatg  ovv 
iQI^HEVoi  d'SQaTtsvsöd'S  Kai  n'^  xtjl  ti^EQat  xov  (Saßßdxov  und  spielt  in 
merkwürdiger  Weise  auf  den  Weltsabbat  an,  an  dem  alle  Arbeit 
ein  Ende  hat.  Damit  soll  18  motivirt  werden  diä  xovxo  ovv  nakXov 
e^tjxovv  avxbv  gl  lovdcctoi  ocTtoxxstvai,  oxi  ov  ^6vov  sXvsv  xb  ödßßaxov, 
äXlä  xal  JtaxEQa  Idiov  skEyEv  xbv  %-b6v^  töov  iavxbv  TtoL&v  x&i  d'sm. 
Woher  sind  aber  die  Juden  die  sonst  sich  im  vierten  Evangelium 
recht  dumm  anstellen,  plötzlich  so  gescheit,  daß  sie  das  wahr- 
haftig dunkle  Wort  lesu  gleich  auf  Gott  beziehen?  In  der  Rede 
lesu,  die  19  wiederum  mit  einem  formelhaften  aiCEKQCvaxo  ange- 
schlossen ist,  ist  jede  Beziehung  auf  den  concreten  Anlaß  aufge- 
geben ^).  Den  ursprünglichen  Zusammenhang,  der  von  Vs.  17  an 
zerbröckelt,  zeigt  vielleicht  6, 1  an.  Es  muß  jetzt,  wie  schon 
gesagt  [oben  S.  115],  baß  verwundern  daß  lesus  plötzlich  von 
Jerusalem  nach  Galilaea  verschlagen  wird.  Mt.  12,  15  wird  an 
den  oben  aus  Marcus  mitgeteilten  Schluß  der  Geschichte  vom  Pa- 
ralytischen angehängt:  6  8e  'Iriöovg  yvovg  (daß  die  Pharisaeer  ihm 
nachstellten)  ävEXG)Qr}6£v  ekeI^ev.  Damit  wird  Mc.  3,  7  ausgedeutet, 
wo  'der  See'  ausdrücklich  erwähnt  wird:  koI  6  ^Irjöovg  [tExä  xav 
Had"rixG)v  avtov  äv8X(hQr}6Ev  jcgbg  xr^v  d^ccXuödav,    und   diese  Erwäh- 


1)  Chrys.  t.  VIII  p.  2116  nvlg  filp  avv  otovxai  xovtov  slvai  xov  iv  x&i 
MuxQ-aC(oi  -KS^fievov. 

2)  So  wird  sag  uqxl  auch  1  lo.  2,9  gebraucht:  6  Xsyav  iv  tm  cpcoxl  sivcct 
xal  xbv  &8£X(pbv  avxov  fiiaöäv  iv  xfji  aytoxiau  iaxlv  aag  ccqxl.  Zur  Erklärung  vgl. 
lustin.  dial.  23  p.  241»  ogäxs  oxl  xä  axoLxsCa  [die  Himmelslichter]  ov%  ccQysX 
ovds  aaßßaxL^SL.  29  p.  246«  %al  6  &sbg  xrjv  avxijv  Sioitiriaiv  xov  Koa^iov  6[iot(og 
xal  iv  xavxriL  xiji  r}(iSQUi  tcoiuxui  [cod.  itSTtoirixai]  yiccd'ccTtSQ  -Kai  iv  xccig  ccXXccig 
ccTCccGccig.     Philo  leg.  alleg.  1,  5  itavsxai  ovdsTtoxs  Ttoi&v  6  Q-Bog. 

3)  Man  kann  die  Rede  direkt  an  17  anschließen,  dann  wird  19  einigermaßen 
verständlich.  In  ihr  selbst  finden  sich  Einlagen  Vs.  22.  23.  25.  27 — 29,  vgl.  oben 
S.  151;  Vs.  34,  während  erst  Vs.  35  den  richtigen  Gegensatz  zu  33  bringt;  41  — 
44,  die  den  Zusammenhang  von  40  und  45  unterbrechen,    lieber  43  vgl.  S.  147. 


j^56  ^-  Schwartz 

nung  des  Sees^)  kann  der  Anlaß  gewesen    sein   Cap.  6  an  Cap.  5 
anzuschließen,   jedenfalls   wird  der  jetzt  unverständliche  Anschluß 
verständlich,  wenn  die  Geschichte  von  der  Verletzung  des  Sabbats 
in  Gralilaea  spielt  und  die  Erwähnungen  Jerusalems  und  des  Tempels 
secundär  sind,    wie   es   die  Festreise   sicher   ist.     In  den  Worten 
5, 2  iötLv  iv  xotg  'IsQoöolv^oig  ist   das  Praesens   verdächtig.     Die 
Apologeten  haben  Recht,  wenn  sie  dagegen  protestieren,    daß  das 
Tempus   nicht   scharf  genommen  wird:    in   solchen  Zustandssätzen 
ist   das    nötig.    Aber   sie   müssen  dann  auch  consequent  sein  und 
aus  dem  Praesens  den  Schluß  ziehen  daß  Johannes  sein  Evangelium 
vor  70  geschrieben  hat,  und  die  Erzählung  von  dem  greisen  Apostel 
der  es  in  Kleinasien  zur  Ergänzung  der  Synoptiker  verfaßt,  keine 
'Tradition',    sondern    eine  Legende    ist.     Da   sie    dazu    schwerlich 
Lust   haben,    dürfen   sie  nicht  schelten,    wenn    eben   das  Praesens 
dem  Interpolator  gut  geschrieben  wird,  der  den  Apostel  Johannes 
zum  Autor  machte   und  die  Reisen  nach  Jerusalem  hineinbrachte. 
Er  wird  auch  für  Vs.  7  verantwortlich  zu  machen  sein;  ob  er  an 
die  Gihonquelle   gedacht    oder   irgend    einen  Anlaß   im   ursprüng- 
lichen Evangelium  zu  der  Fiction  benutzt  hat,  muß  unentschieden 
bleiben.    In  Vs.  14   wird   der  Tempel  erwähnt.     Gewiß;   aber  die 
Erzählung  ist  von  Vs.  13  an  mehr  als  sonderbar.     'lesus  bog  aus, 
da  viel  Volks   an  dem  Orte  war'.     Wo  war  viel  Volks?    Bei  den 
Hallen?     Schwerlich;    dann   hätten   viele  das  Wunder  gesehn  nnd 
die  Juden  brauchten  mit  dem  Geheilten  kein  Verhör  anzustellen. 
Da  wo  die  Juden  den  Paralytischen    sein  Bett  tragen  sehen?    Es 
hätte  doch  gesagt  werden  müssen,  daß  lesus  auch  nach  dem  Wunder 
mit  ihm  zusammen  blieb;    gewöhnlich  pflegt   er  in  den  Evangelien 
die  Genesenen   ihres  Weges  ziehen   zu  lassen,     i^evsvöev  verlangt 
eine  Beziehung   die  angiebt  wohin   oder   wovor  ausgebogen  wird: 
es  steht  nichts  da.     Die  alten  Syrer  legen  sichs   so   zurecht,    daß 
lesus  vor  der  Menge  auswich^);  bei  Chrysostomus ^)  taucht  neben 


1)  Ein  sicheres  ürteU  läßt  sich  nicht  abgeben,  weU,  wie  sich  noch  heraus- 
stellen wird,  die  Geschichte  von  der  Speisung  der  Fünftausend  sehr  jung  ist. 

2)  Syr.  Sin.  )p-*  ;p  o>l-,^«.\  Iä^soj  ;d  o^  jooj  wOä.  ^«»j  \s^.  Syr.  Curet. 
\aj\j  )aj3  ^^^^  ojZ.v^*A  ]hs>o^  ;d  o^  )ooj  -*•  n5.qa^  Vs^ oof.  Man  beachte  die  um- 
ständliche Umschreibung  von  i^ivBvasv^  bei  der  iv  t&l  rdnoai,  benutzt  wird:  er 
entfernte  sich  von  einem  Ort  zum  anderen  'vor  dem'  oder  'wegen  des  Gedränges*. 
Das  ist  nicht  Uebersetzung  eines  von  der  griechischen  Ueberlieferung  abweichenden 
Textes,  sondern  das  Targum  einer  unverständlichen  Stelle.  Nebenbei  gesagt, 
haben  die  antiken  Ausleger  und  üebersetzer  nicht  an  die  Möglichkeit  gedacht 
i^ivtvaev  von  iyivetv  abzuleiten.  Das  Bild  kommt  nicht  selten  vor  um  das  Ent- 
rinnen aus  einer  Gefahr  zu  bezeichnen,   aber  so  viel  wie  ich  mich  erinnere,    nie 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  157 

dem  Ausweichen  schon  das  Verstecken  vor  der  Menge  auf,  für 
das  er  und  Theodor  von  Mopsuhestia  [p.  110,  20  if.  Chabot]  nach 
Grründen  suchen.  Die  Peschitha  wendet  denselben  Begriff  anders: 
nach  ihr  versteckte  sich  lesus  nicht  vor,  sondern  unter  der  Menge  ^). 
Die  unklare  Stelle  wird  noch  unklarer  dadurch  daß  sie  den  Satz 
6  dl  iad-elg  ovx  rJLdst  xCg  iöxiv  nicht  motivirt.  Streicht  man  wegen 
des  allerdings  sehr  auffallenden  Praesens  rCg  eöttv  als  Wiederholung 
aus  Vs.  12  und  supplirt  daß  der  Geheilte  den  Namen  Jesu  nicht  wußte 
und  auch  nicht  auf  ihn  zeigen  konnte,  weil  er  verschwunden  war, 
so  stellt  sich  dieser  Lösung  das  was  im  jetzigen  Text  folgt,  ent- 
gegen: nachdem  lesus  mit  ihm  im  Tempel  gesprochen  hat,  zeigt  er 
ihn  an ;  er  weiß  also  seinen  Namen.  Somit  ist  Vs.  13  unverständlich 
und  die  Scene  zwischen  lesus  und  dem  Greheilten  [Vs.  14.  15*]  wird 
überflüssig^):  für  die  allein  ist  aber  der  Tempel  als  Local  bezeugt. 
Nach  7,  19  ff.  soll  allerdings  das  Wunder  in  Jerusalem  geschehen 
sein:  lesus  setzt  es  sowohl  wie  die  daran  anschließende  Verfolgung 
als  bekannt  voraus.  Aber  auch  davon  abgesehen  daß  der  da- 
zwischen liegende  Aufenthalt  in  Gralilaea  ignorirt  wird,  so  sind 
diese  ßückverweisungen  in  Cap.  7  schon  an  und  für  sich  ver- 
dächtig. Zu  der  Frage  lesu  [7,  19]  tl  ^is  ^rjTstrs  änoxrslvai ;  liegt 
in  dem  dortigen  Zusammenhang  kein  Grrund  vor,  so  daß  man  es 
der  Menge   nicht   übel  nehmen  kann,    wenn   sie   darauf  antwortet 


isolirt,  sondern  stets  in  mehr  oder  weniger  ausgeführten  Metaphern.  Menander 
'ETtitQSTtovrss  355  xagiivta?  i-uvsvsviiivcci  fi  .  .  .  tb  ^i]  Sl'  ifiov  tavtl  v.vv.&aQ'ai 
liegt  wohl  i'uvs'VEiv  zu  Grunde.  Bei  lustin  dial.  9  p.  226 e  steht  iuvsvaavtsg  sy- 
nonym mit  vTtoxcogrJGccvvsg:  so  ists  auch  im  Evangelium  gemeint.  ccTtsvsvas  = 
&7ts6tri  Ln'  ccvTov  [Lc.  4,  13]  ebenda  125  p.  355». 

3)  T.  VIII  p.  2136  6  yag  Iriöovg  i^eyiXivEv  öx^ov  övtog  sv  tau.  tOTteoL.  ticcI  tC 
d'qTtots  t'yiQvipBv  sccvTov  6  XQiötog-, 

1)  -oj  JÄ^op  jooj  J^-.jj  jk^  )>n^  o^  jooj  wa^)  Vs5^>i^Q*-.. 

2)  Mit  dem  Spruch  ^rjH^rt  äiiägtccvs  Iva  fii]  xslqov  goC  tl  ysvritat  soll  man 
sich  nicht  zu  eifrig  abmühen.  Er  ist  eine  Reminiscenz  an  die  synoptische  Heilung 
des  Paralytischen,  vgl.  Mc.  2,  5.  Mt.  9,  2.  Lc.  5,  20 ;  die  Heüung  bei  der  dort  die 
Sünden  vergeben  werden,  ist  als  Taufe  aufgefaßt,  mit  der  nach  altkirchlicher 
Praxis  die  Sünde  aufhören  soll,  und  ;tst()ov  braucht  nicht  als  strenger  Comparativ 
genommen  zu  werden.  Die  jüdische  Anschauung  daß  Krankheiten  Strafen  sind, 
die  in  Cap.  9,  der  Geschichte  vom  Blindgeborenen,  von  den  Pharisaeern  vertreten 
wird,  ist  9,  2  unpassend  den  Jüngern  in  den  Mund  gelegt :  gaßßsL,  xig  ^'fta^rsv, 
ovtog  r\  OL  yovstg  avtov,  tvcc  xv(plbg  yBvvri%^fiL]  Die  Alten  heben  mit  Recht  die 
Torheit  der  Frage  hervor.  Chrys.  t.  VIII  p.  326^  E6cpccX[isv7i  rj  hQmt7\6Lg.  nmg  yag 
av  ^fiagts  nglv  ri  ysvvri&TjvaL ;  Tt&g  ds  rmv  yoveav  ay^agtovrcov  ccvzbg  äv  ixo- 
Idad-ri',  n6&sv  ovv  •^Xd-ov  STtl  tr}v  igdotriaLv  rccvtriv;  lesu  Antwort  paßt  nicht  zu 
vs.  4,  der  allerdings  auch  entstellt  ist,  s.  u. 


158  E.  Schwartz 

[7,  20]  daLfiöviov  ^x^ig '  rCg  ös  ^ritst  anoxzstvaL ;  Was  lesus  darauf 
erwiedert,  ist  keine  Rechtfertigung  seines  Verdachtes;  wer  etwas 
nicht  versteht,  will  darum  noch  nicht  denjenigen  über  den  er  sich 
wundert,  tödten.  Während  ev  EQyov  sitoii^öa  xal  jtävtsg  d^av^d^evs 
wie  ein  schlechtes  Fabricat  nach  5,  20  aussieht  und  lesu  Frage 
unpassend  auf  5,  18  zurückschlägt, » würde  öaL^iöviov  sieig  im  Munde 
nicht  der  Menge,  sondern  der  Juden  [vgl.  8,  48]  eine  passende  Er- 
wiederung auf  die  Scheltrede  7, 19  sein :  ov  Mcovafjg  edcoxsv  v^tv 
Tov  vo^ov;  xal  ovddg  i^  v^cbv  tcolsl  tbv  vö^ov.  Dies  Thema  wird 
durch  die  Aporie  die  lesus  7,  22  ff.  den  Zuhörern  hinwirft,  keines- 
wegs weitergeführt,  sondern  abgebrochen :  damit  daß  er  seine  Ent- 
weihung des  Sabbats  damit  entschuldigt,  daß  die  Juden  in  einem 
bestimmten  Fall  dasselbe  tun,  begründet  er  die  scharfe  Anklage 
[vgl.  Ps.  13,  3]  nicht,  daß  sie  alle  das  Gresetz  nicht  befolgen.  Ferner 
ist  in  Vs.  22  so  wenig  Verstand  hineinzubringen  wie  in  Vs.  21, 
auch  wenn,  wie  billich  und  notwendig,  die  mit  ovx  ort  eingeleitete 
corrigierende  Grlosse  ausgeschaltet  wird  [vgl.  S.  119].  Die  Anfangs- 
worte diä  Tovto  lassen  sich  nicht  ohne  Gewaltsamkeit  erklären^), 
und  auch  der  Satz  selbst  MayiJöfjg  dddcoxsv  v^tv  triv  icsQiroyi'^v  xal  ev 
eaßLßdtcji  7tSQLt6^v£T6  ccvd-QcoTtov  ist  uulogisches  Gestammel;  es  han- 
delt sich  ja  nicht  um  die  Beschneidung  im  Allgemeinen,  wie  man 
nach  dem  Verbum  dedcsxsv  annehmen  sollte  [vgl.  Act.  7,  8.  Rom. 
4, 11],  sondern  um  das  Gebot  sie  am  achten  Tage  vorzunehmen 
[Gen.  17, 12.  Lev.  12, 3],  das  eben  mit  dem  Sabbat  collidieren  kann. 
Hier  ist  mit  rohen  und  mechanischen  Mitteln  eingegriffen  um  an 
den  verstümmelten  Anfang  diä  rovro  —  f^v  Ttegizo^'^v  den  Vs. 
23  [vgl.  Lc.  13,16]  anzufügen,  d.  h.  die  Rückverweisung  auf 
Cap.  5.  Mit  Vs.  25  setzt  ein  neues  Gespräch  ein,  dessen  Anfang 
den  Widerspruch  zwischen  Jesu  Frage  7,  19  und  der  Wirklichkeit 
zu  entfernen  sucht,  indem  es  den  'Behörden'  eine  Inconsequenz  zu- 
schiebt.   Es   ist   schlecht  und  ungeschickt  geführt:    denn  während 


1)  Daher  verbinden  die  Hss.  z.  Th.  id-av(ia^ov  dioc  xovxo^  gegen  den  Sprach- 
gebrauch. Nur  Mc.  6,  6  kommt  xal  id-ccviiaasv  dicc  xr\v  icniaxCctv  wbx&v  vor,  an 
einer  verdächtigen  Stelle:  Mt.  13,58  läßt  xal  i^aviiaasv  aus.  Auch  von  der  in- 
correcten  Praeposition  abgesehen,  ist  Slcc  xovxo  neben  id-av(iatov  falsch,  weil  es 
eine  selbstverständliche  Beziehung  überflüssig  hervorhebt.  Wer  die  überlieferten 
Worte  in  irgend  einer  Weise  erklären  will,  muß  den  ganzen  Satz  Slcc  xovxo  — 
Tr}v  Äf ptrojLtTjv ,  xal  iv  aaßßdxai  7iSQixe(iv£xs  avO-gaTtov;  als  Frage  nehmen  und 
das  mit  xa^  eingeleitete  Kolon  einem  Finalsatz  gleichsetzen.  Mehr  als  ein  Not- 
behelf ist  das  aber  nicht. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  159 

die  Jerusalemer  ^)  zunächst  den  Ausdruck  äXtid-ag  eyvcjöav^)  brauchen, 
als  sähen  sie  selbst  in  Jesus  den  Messias,  bringen  sie  dann  selbst 
ein  Argument  dagegen  vor  ^)  und  wollen  ihn  endlich  greifen.  lesus 
lehrt  im  Tempel  schon  7,  14:  wozu  wird  das  7,28  wiederholt,  da 
doch  nirgends  steht  daß  er  weggegangen  ist?  Da  er  auf  die  Worte 
der  Jerusalemer  antwortet,  so  müssen  auch  diese  im  Tempel  ge- 
wesen sein;  es  liegt  also  nirgend  ein  Scenenwechsel  vor.  Das 
ganze  Stück  7,  25 — 30  dient  zu  nichts  anderem  als,  mit  allerdings 
unzureichenden  Mitteln,  die  vorher  eingeschalteten  Verweisungen 
auf  Cap.  5  zu  stützen  und  muß  ebenso  fallen  wie  diese  auch. 

Bei  den  Synoptikern  gehen  der  Verhaftung  lesu  Nachstellungen 
der  leitenden  Kreise  in  Jerusalem  voraus.  Das  Grewitter  zieht 
sich  allmählich  zusammen.  In  der  ältesten  TJeberlieferung  ist  es 
das  schroffe  Auftreten  lesu,  das  den  Hohenpriestern  und  Schrift- 
gelehrten den  Gedanken  eingiebt  ihn  zu  verderben,  zuerst  nach 
der  Tempelreinigung  [Mc.  11, 18],  dann  nach  der  Parabel  in  der 
den  Juden  die  Ermordung  der  Propheten  und  des  Sohnes  Gottes 
deutlich  vorgerückt  wird  [Mc.  12,  12].  Jenen  Plan  streicht  Mat- 
thaeus  und  setzt  den  einfachen  Aerger  an  die  Stelle,  den  die 
Hohenpriester  und  Schriftgelehrten  darüber  empfinden,  daß  Jesus 
Wunder  tut  und  Beifall  findet  [21,16];  Lucas  macht  die  Nach- 
stellung zfl  einer  Folge  von  Jesu  Lehrtätigkeit  im  Tempel  [19,  47. 
48].  Beim  zweiten  Mal  gehen  beide  [Mt.  21,  45.  46.  Lc.  20, 19]  mit 
Marcus  zusammen.  Im  ersten  wie  im  zweiten  Falle  scheuen  sich 
Hohenpriester  und  Schriftgelehrte  vor  der  Masse  [Mt.  11, 18  = 
Lc.  19,48.  Mc.  12,12  =  Mt.  21,46.  Lc.  20,19];  zu  beachten  ist 
daß  dies  Motiv  da  wo  es  zuerst  bei  Marcus  auftritt,  ungeschickt 
eingefügt  ist  [vgl.  Wellhausen,  Ev.  Marci  97]. 

An  Stelle  dieses  klaren  und  einfachen  Aufbaus  ist  im  vierten 
Evangelium  ein  sinnloses  Durcheinander  getreten;  immer  von 
Neuem  tauchen  die  Verfolger  auf  um  sofort  wieder  zu  verschwinden. 
7,  30    fgTirow  avTÖv  itiK^ai  xal  ovdslg  iitißalsv  fV  avxov  rriv  xstga 


1)  Diese  Bezeichnung  kommt  nur  noch  Mc.  1,  5  vor. 

2)  Sollte  7,  48  schlecht  copiert  sein  ?  üebrigens  kehrt  die  Verbindung  syvcoaccv 
ScXrid-ä)s  17,  8  in  dem  jungen  Gebet  lesu  wieder.  Zu  iarlv  äXrid'Lvbg  6  itiiiipa?  [is 
[7,28]  vgl.  19,35.  Apok.  3,14.  19,11.  6,10.  Höh.  5,20. 

3)  Gewöhnlich  wirds  umgedreht :  8,  14  und  besonders  9,  29  f.  Eine  dritte 
Argumentation  steht  7, 41. 42,  die  7, 52  wieder  auftaucht.  Sie  polemisiert  nicht 
gegen  die  Genealogien  Jesu  und  die  Geburt  lesu  in  Bethlehem,  sondern  will 
beides  andeuten ;  die  Juden  verraten  dadurch  daß  sie  versuchen  die  'Schrift'  gegen 
lesus  auszuspielen,  ihre  Unwissenheit. 


160  E.  Schwartz 

ort  ov7C(o  iXrjXv^si.  i^  aga  avtov  kehrt  8,  20  wieder.  Obgleich  'die 
Stunde  noch  nicht  gekommen  war',  wollen  die  Juden  8,  59  lesum 
steinigen :  er  versteckt  sich  und  geht  aus  dem  Tempel.  Es  scheint 
als  hätten  die  Juden  ihre  mörderischen  Absichten  bald  vergessen; 
denn  als  er  den  Blindgeborenen  heilt,  schelten  sie  zwar  weidlich 
auf  ihn,  aber  von  Verfolgung  ist  keine  Rede  mehr;  es  sind  sogar 
Pharisaeer  bei  lesus,  die  sich  eine  scharfe  Rede  von  ihm  ruhig  ge- 
fallen lassen  [9,  40.  41].  Zum  zweiten  Male  wollen  die  Juden 
lesum  steinigen  [10,  31] :  wie  er  ihnen  entschlüpft  [10,  39],  wird  so 
wenig  gesagt  wie  das  erste  Mal.  So  wichtig  dieser  letzte  Angriff 
ist,  der  Jesus  veranlaßt  Jerusalem,  ja  das  ganze  Land  ludaea  zu 
meiden  und  somit  scharf  in  die  Gresammterzählung  des  Evangeliums 
einschneidet,  so  verworren  ist  er  motiviert.  Die  Juden  sehen  in 
dem  Ausspruch  lesu  [10,  30]  sya  xal  6  Ttatrig  sv  iö^av  eine  Blas- 
phemie :  6v  av&Q(D7tos  hv  noLstg  ösavzbv  d-söv  [10,  33].  Das  ist  nur 
dann  begründet,  wenn  sie  aus  dem  Spruch  die  Metaphysik  des 
vierten  Evangeliums  voll  heraushören:  sonst  pflegen  sie  nicht  so 
rasch  aufzufassen  [8,  27].  In  seiner  Rechtfertigung  verschiebt  lesus 
seinen  Ausspruch  wiederum  dahin  daß  er  sich  den  Sohn  Gottes 
genannt  habe  [10,  36] ;  daß  die  Juden  selbst  Gott  ihren  Vater  ge- 
nannt hatten  [8,  41],  ist  vergessen,  vergessen  auch  die  Frage  der 
luden  10,  24,  nach  der  man  nicht  erwartet  daß  sie  so  schnell  mit 
dem  Steinigen  bei  der  Hand  sind :  'wie  lange  spannst  du  uns  noch* 
sind  nicht  Worte  die  feindliche  Absichten  verraten  [vgl.  auch 
1,20  ff.]. 

Wie  die  Verfolgungen,  so  häufen  sich  auch  die  Versicherungen 
daß  lesus  Glauben  fand,  zu  derselben  schattenhaften  Unbestimmtheit 
an.  7,32  +  7,45—52  scheinen  einen  leidlichen  Zusammenhang  zu 
ergeben;  daß  dieser  durch  die  Zeitbestimmung  7,  37  unpassend 
unterbrochen  wird ,  ist  schon  gesagt  [S.  122] ,  außerdem  paßt 
die  Schilderung  der  Volksstimmung  7,  40—43  nicht  zu  7,  32,  mit 
dem  doch  die  Erzählung  von  dem  Vorgehn  der  Hohenpriester  und 
Pharisaeer  eingeleitet  wird,  die  7, 45  ff.  fortgeführt  werden  soll. 
Sieht  man  in  7,  37—44  ein  für  sich  stehendes  Stück  das  durch  den 
zur  Formel  gewordenen  Vs.  44  ebenso  wie  7,25—30  aus  dem  Zu- 
sammenhang hinausgehoben  wird,  so  bleiben  noch  7,  33 — 36  ^)  übrig, 


1)  Zu  dem  Worte  lesu  [7,34]  ^rjnjdeW  fis  xal  oix  svgifiaeTB,  das  nach 
alttestaraentlichen  Mustern  [vgl.  z.  H.  Hos.  5,  6.  Deuteron.  4,  29.  les.  55,  G] 
gebildet  ist,  tritt  noch  hinzn  xal  otcov  sifil  kym,  vfisrg  oi)  dvvao&s  iXd^eCv. 
£b  kommt  nicht  viel  darauf  an  daß  7,36  der  Vers  einfach  wiederholt  wird; 
wichtiger     ist     daB    7,  33     nicht    von    demselben    Autor    verfaßt    sein     kann, 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  -      161 

in  denen  die  Büttel  ignoriert  werden  und  die  Juden  weder  an  eine 
Verhaftung  lesu  denken  noch  an  ihn  glauben,  der  Gegensatz  also 
der  7, 31.  32. 49  hervortritt  und  die  Geschichte  zusammenhält,  sich 
in  Nichts  auflöst.  Endlich  ist  es  aber  auch  xmmöglich  7, 45  direct 
mit  7, 32  zu  verbinden ;  es  muß  doch  irgend  etwas  dazwischen 
passiert  sein» 

An  einer  zweiten  Stelle  läßt   sich   deutlich  erkennen  wie  der 


der  die  Antwort  der  Juden  erfand:  vor  dieser  kann  lesus  eben  nicht  ange- 
geben haben  'wohin  er  geht',  und  die  Juden  hätten  vielmehr  fragen  müssen, 
wer  ihn  gesandt  habe.  8,  21  steht  ein  ähnliches  Wort  iyco  vndyoi  kccI  ^ririjcsts 
fts  y.al  SV  tfiL  ccfiagtiLaL  vfi&v  ccTtod'avSLöd'S '  OTtov  sycb  vndyco ,  vfistg  ov 
dvvccG^s  sXd'SLv.  Hier  deuten  die  Juden  ganz  anders;  die  Deutung  die  lesus  8, 
24  giebt,  ist  schon  durch  ort  iym  stfii  verdächtig  [vgl.  Nachr.  1997,  360].  Daß 
die  Juden  so  ähnliche  Worte  auf  zweierlei  Weise  auslegen,  ohne  daß  über  diese 
Differenz  etwas  bemerkt  wird,  kann  um  so  weniger  ursprünglich  sein,  als  lesus 
sein  Wort  an  die  Juden  den  Jüngern  gegenüber  wiederholt  [13,  33] :  xsv.vCa  [vgl. 
Nachr.  1907,  365],  hi  (il-kqöv  (isd'^  vfi&v  slfiL  •  ^rjTrjfffira  fis  xat,  Kcc&oog  slnov  toig 
'lovdccLOLg  otL  oitov  iycb  vTtdyco,  vfisig  ov  dvvaoQ'S  iX^etv,  xal  v[ilv  Xiyco  aqti. 
Welches  Wort  ist  denn  gemeint,  7,34  oder  8,21?  Untersucht  man  die  einzelnen 
Stellen  genauer,  so  fällt  zunächst  auf,  daß  7,  34  onov  ü^iC  für  o-Jtov  sym  'öndya 
[8,21.  13,33]  steht;  der  futurische  Gebrauch  von  onov  sI^l,  den  Blaß  [Grammatik 
§  56,  8]  nicht  erwähnt,  kehrt  12,  26.  14,  3.  17,  24  wieder,  an  Stellen  die  sämmt- 
lich  der  Ueberarbeitung  angehören  [über  17,  24.  14,  3  vgl.  Wellhausen  7ff. ; 
über  12,  26  s.  u.].  Streicht  man  aber  7,  34^,  so  geht  nicht  nur  die  Congruenz  mit 
13,33  verloren,  sondern  lesus  spricht  dann,  da  7,33  ein  nach  13,33  gemachter 
Zusatz  ist ,  eine  bestimmte  Todesweissagung  nicht  aus :  er  meint  nur ,  ihr  werdet 
nach  dem  Messias  vergeblich  verlangen,  wenn  ihr  mich  nicht  annehmt.  Die  Deutung 
der  Juden  ist  eine  Prophezeihung  wider  Willen,  die  in  Erfüllung  geht.  Auch  8, 
21  ff.  ist  alles  was  auf  den  Tod  lesu  zielt,  nicht  ursprünglich:  wenn  lesus  die 
Flucht  nicht  scheut  [s.  u.],  hat  es  keinen  Sinn  daß  er  seinen  Tod  prophezeiht, 
und  die  doppelte  Deutung  ist,  wie  schon  gesagt,  unerträglich.  Zu  der  Scheltrede, 
deren  Reste  in  8, 25  vorliegen ,  paßt  nur  iv  tfjL  cc^ccgTLai  v(i&v  dno%'avsT6^s 
[vgl.  Levit.  26,  39],  was  8,  24  nach  der  späteren  christlichen  Anschauung  ausge- 
legt wird.  Aber  Jesus  citiert  doch  13,  33  die  Prophezeihung  seines  Todes,  die  er 
vorher  den  Juden  gegeben  hatte?  Es  wäre  sehr  merkwürdig,  wenn  er  beim  Ab- 
schied von  seinen  Jüngern  ein  zorniges  Wort  das  er  den  Juden  einst  zurief, 
wiederholt  hätte,  und  das  Citat  ist  sonderbar  genug  eingeführt.  lesus  kann  zwar 
die  Parusie  verweigern,  wie  er  es  wirklich  tut,  aber  unmöglich  den  Jüngern  die 
Hoffnung  abschneiden  ebenfalls  zum  Vater  zu  gelangen;  er  weist  ja  selbst  darauf 
hin  daß  in  dessen  Hause  Platz  für  sie  alle  ist  [14,  2  vgl.  Wellhausen  11].  Man 
erwartet  onov  sydi  vTidya,  vfiscg  ov  övvaod's  iX&SLv  ccqtl:  Origenes  [comment.  in 
loann.  32,  394]  erzwingt  diesen  richtigen  Sinn  nach  der  Methode  der  altalexandri- 
nischen  Homerphilologie  durch  eine  unmögliche  Interpretation.  Wenn  aber  »tat 
vfiLv  Xsyco  fallen  muß,  so  fällt  auch  das  Selbstcitat.  Die  Todesweissagung  ist  aus 
dieser  Stelle  in  7,34.  8,21  hineingetragen,  gemäß  der  Tendenz  der  Ueberarbeitung 
den  Mißerfolg  der  ersten  Reise  zu  beseitigen  und  lesus  göttliches  Vorauswissen 
der  Zukunft  zuzuschreiben. 


152  ^-  Schwartz 

Glaube  der  Masse  eingeschaltet  ist.  Nachdem  eben  die  Juden 
ihren  Unglauben  und  Unverstand  an  den  Tag  gelegt  haben  [8, 
22.  27],  schlägts  plötzlich  um :  nach  wenigen  Versen  in  denen  lesus 
nichts  anderes  sagt  als  was  er  im  vierten  Evangelium  immer  zu 
sagen  pflegt,  geht  es  weiter:  tavta  avtov  XccXovvTog  jcoXkol  ini- 
6T6v0av  eis  avtov  sXsysv  ovv  6  'Ir^öovg  TtQog  tovg  TtemGtsvxötag 
amcbi  'lovdatovg  [8,  30.  31].  Aber  die  Fiction  daß  lesus  zu  einem 
gläubigen  Publicum  redet,  wird  nur  kurz  festgehalten  [8,  31.  32]  ^) ; 
in  dessen  Antwort  meldet  sich  nnverhüUtes  Judentum  an  [8, 33],  und 
nachdem  Jesus  das  von  ihm  angeschlagene  Thema  versucht  hat 
mit  der  Frage  der  Juden  auszugleichen  [8,  34. 35]  ^),  taucht  ohne 
jedes  Motiv  der  Vorwurf  'ihr  wollt  mich  tödten'  wieder  auf  [8, 
37].  Mit  der  Behauptung  der  Juden  [8,  39]  6  nav^Q  rj^&v  'JßQad^ 
iezLv  setzt  das  Gespräch  neu  ein :  sie  hat  nur  Sinn,  wenn  8,  33. 
37  nicht  vorangegangen  sind,  und  ebenso  kann  nach  8,  37  es  nicht 
noch  einmal  heißen  vvv  de  ^ritsits  ^s  änonxeivai.  Das  sieht  sehr 
so  aus  als  wenn  der  ganze  Abschnitt  der  ein  gläubiges  Publicum 
voraussetzt,  ein  Fremdkörper  ist,  der  nur  mangelhaft  und  ober- 
flächlich dem  Zusammenhang  in  dem  er  jetzt  steht,  assimiliert  ist. 
Uebrigens  läßt  er  sich  nicht  glatt  entfernen,  und  das  Gespräch 
verläuft  auch  nach  8, 40  keineswegs  glatt  und  ohne  Störungen. 
Die  Antwort  der  Juden  8,  42 ,  die  nichts  anderes  heißen  kann 
als  'wir  sind  keine  Götzendiener,  sondern  das  Volk  Gottes'^), 
paßt  so  wenig  zu  dem  Vorhergehenden,  daß  Origenes  [20,  128 fF.] 
auf  den,  allerdings  abstrusen  Einfall  kam  in  ihr  einen  Zornes- 
ausbruch der  Juden  zu  sehen,  die  durch  das  emphatisch  zu  nehmende 
riiLalg  lesus  als  den  Sohn  nicht  einer  Jungfrau,  sondern  einer 
Hure  hätten  bezeichnen  wollen.  So  verkehrt  die  Lösung  ist,  der 
Anstoß  ist  richtig;  er  wird  noch  vermehrt  dadurch  daß  von  der 
Abstammung  von  Abraham  auf  die  von  Gott  übergesprungen  und 
der  grade  Fortgang  der  Discussion  damit  gestört  wird.  Ueber 
die  Ueberarbeitung  von  8,  44  ff.,  die  den  Teufel  an  die  Stelle  Kains 
gesetzt  hat,  vgl.  Wellhausen  19 ff.:  hat  lesus  die  Juden  wirklich 
Kinder  Kains  genannt,  so  wird  damit  sein  Vorwurf  daß  sie  ihn 
tödten  wollten,  als  ein  echtes  Stück  seiner  Rede  erwiesen ;  es  fehlt 
nur  die  Erzählung  dazu.     8, 48  und  52  sind  Doubletten,    die  nicht 


1)  Da4S  ist  Origenes  aufgefallen  [comment.  in  loann.  20,  131]:  &XX'  iget  tig 
Ott  rcfvra  ovtoo  voov^isvcc  oi  Svvatai  slvai  qr^ucta  r&v  7C£7Ciatev>i6ra>v  wörmi 
'lovdaCatv, 

2)  Ueber  8, 36  s.  o.  S  151. 

8)  Vgl.  Deut.  23,  2  in  der  Auslegung  die  bei  PhUo  [de  spec.  leg.  1,  332.  de 
conf.  ling.  133.  de  mut.  nom.  205]  erhalten  ist. 


Aporien  im  vierten 'Evangelium  III  163 

neben  einander  stehen  können;  die  erste  Fassung  ist  die  bessere, 
sie  schlägt  nur  scheinbar  auf  7,  20  zurück  [s.  o.  S.  158],  in  "Wahr- 
heit fehlt  ihr  die  Beziehung.  Das  Wort  Jesu  8,  51,  eine  Umbildung 
der  synoptischen  Weissagung  von  der  Parusie  p\Ic.  9, 1.  Mt.  16, 
28.  Lc.  9,  27],  gilt  wiederum  nicht  den  ungläubigen  Juden,  sondern 
der  künftigen  christlichen  Gemeinde;  trjQstv  ist  in  spezifisch  4o- 
hanneischer'  Weise  gebraucht  [vgl.  Nachr.  1907,  365].  Wie  der 
Ausspruch  durch  nichts  vermittelt  ist,  so  muß  man  nach  8,  53  er- 
warten, daß  Jesus  von  sich  selbst,  nicht  von  den  Christen  geredet 
hatte.  Von  dem  polemischen  Zweck  der  späten  und  jungen  Schluß- 
verse 8,  57 — 59  ist  schon  die  Rede  [S.  122]  gewesen:  8,  56  ist  sinnlos. 
Denn  nach  ''äßgaäii  6  TCarr^Q  v^av  rjyakhccöaro  Xva  tdrii  xriv  rj^egav  ti^v 
ifiTJv,  was  nur  heißen  kann  ^Abraham  freute  sich  darauf  meine  Zeit 
zu  erleben',  kann  nicht  fortgefahren  werden  xal  sldsv  xal  exccgr^: 
man  muß  das  Praesens  erwarten,  da  lesu  'Tag'  noch  dauert.  Sollen 
aber  xccl  sldsv  xccl  s%dQri  auf  ein  Schauen  des  praeexistenten  Christus 
gehen,  worauf  8,  57  führt,  so  wiederholen  sie  riyaklidaato  iva  — 
tdriL  in  gröberer  und  schlechterer  Form.  Der  schlechte  Ett  der 
8,  57 — 59  anfügen  sollte,  ist  nicht  zu  verkennen,  und  ebenso  wenig, 
daß  die  richtige  Fortsetzung  von  8,  56*  durch  den  Zusatz  zerstört 
ist.  Ist  man  schon  über  die  Pharisaeer,  die  plötzlich  in  der  Um- 
gebung lesu  auftauchen  [9.40],  verwundert^),  so  noch  mehr  dar- 
über daß  die  Parabel  von  der  Herde  plötzlich  einsetzt,  ohne  jede 
Verbindung  mit  dem  was  vorangeht.  Auch  der  vorläufige  Abschluß 
des  gesammten  Redecomplexes  über  den  Hirten  10,  19 — 21  stellt 
die  Verbindung  mit  der  Greschichte  vom  Blindgeborenen  nur  in 
unvollkommener  Weise  her;  er  operiert  mit  dem  schematischen 
Motiv  des  ^iiö^a ,  das  auch  7, 43.  9, 16  in  secundären  Partien  ^) 
verwandt  wird  und  ähnlich  Act.  14,  4.  23,  7  vorkommt.  Die  Deu- 
tung der  Parabel  fehlt ;  die  Fortsetzungen  von  10,  7  an  passen 
nicht  mehr  dazu.  Wellhausen  [35]  verlangt  mit  Blaß  sy^  si^i  6 
Tioiiiriv  r&v  Tcgoßdrav,  Grewiß  mit  ßecht:  nur  so  kommt  der  rich- 
tige Gegensatz  zu  10, 8  heraus.  In  der  Wiederholung  10,  9  syG> 
ei^i  1]  Q-vQu'  8C  s^ov  sdv  reg  sC6sXd-r}L,  ^cod-Yi^stau  tritt  die  10,7 
noch  verborgene  Gleichung  der  Schafhürde  mit  dem  Himmelreich 
an  die  Oberfläche  und  sprengt  die  Parabel  vollends  auseinander; 
außerdem  stimmt  der  Anfang  des  Satzes  nicht  zum  Ende  xal  slös- 
Xev0sxai  xal  s^slsvösxai  xal   vo^i^v   sx}Q7]6sl.     Die   alttestamentliche 


1)  Sie   sollen   das  Publicum   für   eine  Rede   büden,    deren  Gedanke   in  den 
jüngeren  Abschiedsreden  wiederkehrt,  vgl.  15,  22. 24.  16,  9. 

2)  Vgl.  oben  S.  160.  146. 


164  ^-  ScLwartz 

Wendung  «ni  »S*^,  die  in  leichter  Umbildung  unverkennbar  vor- 
liegt, wird  technisch  vom  Führer  und  Herrscher  gebraucht  [Deut. 
31,2.  Jos.  14, 11.  3Kön.  3,  7],  wie  ja  auch  n^i  in  der  alttestament- 
lichen  Poesie  durchweg  den  7toi.^r}v  lacbv  bedeutet:  das  Subject 
dieses  Satzteils  ist  also  nicht  der  Christ,  der  durch  lesus  zur  Selig- 
keit gelangt,  sondern  lesus  selbst,  der  Hirte  der  führt  und  den 
Weideplatz  findet  für  seine  Herde.  Von  10,  11  an  schiebt  sich  an 
die  Stelle  des  Gregensatzes  zwischen  dem  Hirten  und  dem  Ein- 
dringling, der  gar  kein  Hirt  ist,  ein  anderer^),  der  wiederum,  wie 
der  Vergleich  Jesu  mit  der  Tür,  in  die  Parabel  nicht  aufgeht, 
derjenige  nämlich  zwischen  dem  echten  Hirten  und  dem  Mietling, 
der  zwar  als  Hirt  sich  nicht  bewährt,  aber  darum  noch  kein  Dieb 
und  Räuber  ist:  das  Bild  von  der  Hürde  verschwindet  um  nur 
noch  in  einer  jungen  Zutat  [10, 16  vgl.  17,  20]  wieder  zu  Tage  zu 
treten.  Am  Schluß  endlich  ist  die  'theologische'  Interpolation  eines 
Bearbeiters  zu  constatieren,  dem  der  Tod  lesu  in  der  Tat  ein 
Aergemiß  gewesen  ist,  weil  ihm  lesus  zum  allwissenden  Grotte 
geworden  war.  Der  ursprüngliche  Wortlaut  von  10, 17  kann  nur 
gewesen  sein:  diä  tovro  {le  6  TtatrjQ  ayccTcät,  ort,  iycj  tid-ri^L  x^v  ifjv- 
X7]v  ^ov  und,  sei  es  daran  anschließend,  sei  es  als  parallele  Fort- 
setzung von  10,  15:  tavtrjv  rijv  ivtolrjv  slaßov  icagä  tov  Tcatgög 
^ov.  Aber  auch  nach  dieser  Säuberung  bleibt  die  Todes  Weissagung 
lesu  der  Parabel  selbst  fremd;  sie  gehört  nur  zu  der  zweiten 
Antithese  zwischen  dem  echten  Hirten  nnd  dem  Mietling. 

Die  Deutung  muß  die  beiden  Gegensätze,  die  derselbe  Schrift- 
steller nicht  durcheinander  geworfen  haben  würde,  sorgfältig  aus- 
einanderhalten ;  weil  ich  es  versäumte,  bin  ich  selbst  früher  in  die 
Irre  gegangen.  Für  den  guten  Hirten,  der  für  seine  Schafe  in 
den  Tod  geht,  und  den  Mietling,  der  vor  dem  Wolfe  flieht,  so  daß 
die  Schafe  zerrissen  oder  zerstreut  werden,  wird  die  Erklärung 
durch  1  loh.  3,  16  gegeben:  iv  xovxcol  iyvaxa^sv  xijv  dyccTtrjv,  otl 
ixstvog  vTtSQ  rin&v  xriv  ipvx'^v  avxov  i^riKsv  xal  rj^stg  dcpsiXo^sv 
V716Q  xG)v  ocösXcpcbv  xäg  ipvxocg  dstvai.  lesus  redet  nicht  zu  den 
Juden,  sondern  wie  in  dem  Abschiedsgebet  und  sonst  noch  oft  genug, 
zu  der  zukünftigen  Kirche  und  deren  Hirten,  die  bei  einbrechender 
Verfolgung  nicht  ausreißen  sollen  ^) ;    die  Stelle  scheint  den  klein- 


1)  Die  Differenz  der  beiden  Gegensätze  wird  von  Theodor  von  Mopsuhestia 
p.  227  Chab.  sehr  gut  hervorgehoben.  Ezechiel  und  der  s.  g.  Tritojesaias  würden 
statt  des  Hirten  den  Wächter  einführen. 

2)  Im  wirklichen  Leben  konnte  gerade  der  Märtyrertod  eines  Bischofes  für 
die  Gemeinde  verhängnisvoll  werden,  vgl.  das  Resumä  das  Euseb  KG  4,  23,  2  von 
dem  Brief  des  Dionys   von  Korinth  an  die   athenische  Gemeinde  giebt.    Cyprian 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  165 

asiatischen,  monarchisclien  Episkopat  des  zweiten  Jahrhunderts  vor- 
auszusetzen. Dagegen  muß  in  der  Parabel  selbst  eine  Auseinander- 
setzung lesu  mit  den  jüdischen  Oberen  stecken,  in  der  er  nachweist  daß 
er  kein  Eindringling  und  Aufwiegler  sei,  sondern  der  rechtmäßige 
Führer  und  König  des  Volkes  Gottes,  der  es  aus  dem  Gresetz  hinaus 
führt :  nicht  heimlich,  auf  verbotenen  Wegen,  sondern  öffentlich  sei 
er  zu  seinem  Volke  gekommen  und  wirke  unter  ihm.  Wenn  auch 
die  Einzelheiten,  sonderlich  das  scharfe  Wort  gegen  die  Vorgänger 
[10,  8]  dunkel  bleiben,  weil  die  alte  Fortsetzung  der  Parabel  durch 
die  verkehrte  Grleichung  der  Hürde  mit  dem  Himmelreich  und  die 
secundäre  Antithese  zwischen  dem  echten  Hirten  und  dem  Miet- 
ling zerstört  ist,  so  darf  man  doch  wohl  diesen  zu  Tage  liegenden 
Sinn  der  Parabel,  der  auf  das  synoptische  Wort  lesu  bei  der  Ver- 
haftung zurückzulaufen  scheint^),  mit  der  Aufforderung  welche 
7,  3.  4  [vgl.  S.  117]  an  ihn  gerichtet  wird,  combiniren. 

lesus  ist  dieser  Aufforderung  gefolgt  und  wirklich  Öffentlich  in 
Jerusalem  aufgetreten:  das  große  Wunder  das  er  dort  vollbringt, 
ist  die  Heilung  des  Blindgeborenen.  So  sehr  die  metaphysischen 
Erweiterungen  der  E-edestücke  und  die  hineininterpolierte  Fest- 
chronologie die  ursprüngliche  Erzählung  verdunkelt  haben,  es 
schimmert  doch  noch  durch,  daß  in  ihr  die  gewöhnliche  Ueber- 
lieferung  von  dem  Wirken  lesu  in  Jerusalem  bis  zum  Beschluß 
des  Synhedrions  ihn  zu  verhaften  umgebildet  war;  der  Gegen- 
satz zwischen  der  empfänglichen  Menge  und  den  Oberen,  die  immer 
wieder  einschreiten  wollen  und  es  doch  nicht  wagen,  ist  zwar 
durch  die  Ueberarbeitungen  verzerrt  und  verdunkelt,  aber  doch 
nicht  in  vollem  Umfange  secundär,  wie  etwa  das  dürftige  Auf- 
nageln der  Reden  auf  Laubhütten  und  Enkaenien.  Nach  dem 
jetzigen  Evangelium  endet  dieser  Aufenthalt  lesu  mit  einer  Flucht. 
Das  fällt  nicht  besonders  auf,  da  das  Motiv  schon  bei  der  ersten 
und  zweiten  Reise  verbraucht  ist,  lesus  außerdem  heimlich  nach 
Jerusalem  geht  und  von  vorne  herein  ankündigt  [7,  8]  daß  'seine 
Zeit  noch  nicht  erfüllt  ist'.  Fallen  aber  die  ersten  beiden  Fest- 
reisen als  secundäre  Verschiebungen  fort,  ist  lesus  nach  Jerusalem 

wußte  was  er  tat,  als  er  bei  der  decianischen  Verfolgung  sich  in  Sicherheit  brachte ; 
nachdem  die  afrikanische  Provinzialkirche  fest  organisirt  war,  hat  er  sich  nicht 
gescheut,  als  unter  Valerian  die  Verfolgung  neu  ausbrach,  sein  Leben  für  seine 
Schafe  dahinzugehen. 

1)  Vgl.  besonders  Lc.  22,  52.  53  slnEv  de  'Triaovg  ngog  rovg  'jtaQaysvofisvovs 
isr'  avxov  ScQXi-SQeig  kccI  ötQcctriyovg  tov  lsqov  yial  TcgsaßvrsQOvg  'cbg  i^tl  XTiiaTTjv 
[10,1.8]  i^T^XQ-ars  (isra  (kuxcclq&v  xat  ^vXcov  «a-^"'  rjjjLsgccv  övrog  (lov  (isd'*  v(iä>v 
iv  tm  LSQcäL  ov-K  i^srsLvats  tag  %BtQag  lit  ifis,  ScXX'  avrri  ^^^''V  v^mv  7}  caqu  ticcl 
7]  i^ovüLa  tov  6yi6tovg. 

Kgl.  Ges.  d.  Wies.    Nachrichten.    Philolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft  2.  12 


IßQ  E.  Schwartz 

nicht  als  Festpilger  gegangen,  sondern  als  Prophet,  als  der  be- 
rufene Hirte  des  Volkes,  der  öffentlich  versucht  sich  durchzusetzen, 
dann  kommt  es  einer  Niederlage  gleich,  wenn  er  die  heilige  Stadt 
wieder  verläßt  um  von  den  Juden  nicht  gesteinigt  zu  werden,  und 
es  tauchen  aus  dem  monotonen  Nebel  der  speculativen  Reden  lesu 
über  den  Sohn  und  den  Vater  und  dem  schemenhaften  Wirrwarr 
der  secundären  Erzählungsmotive  die  Umrisse  einer  Dichtung  auf, 
welche  das  Leben  lesu  als  Tragödie  nahm  und  ein  vorläufiges 
Scheitern  des  Helden  als  retardierendes  Moment  benutzte  um  mit 
verdoppelter  Kraft  zur  Peripetie  auszuholen.  Indeß  würde  diese 
Betrachtung  kaum  mehr  Wert  für  sich  fordern  dürfen  als  die  üb- 
lichen, mit  Lust  und  Liebe  stets  von  Neuem  wiederholten  homi- 
letischen Ausdichtungen  des  halb  oder  gar  nicht  verstandenen 
Textes,  wenn  sie  nicht  in  der  Lazarusgeschichte  eine  feste  Stütze 
fände  und  diese  den  Beweis  dafür  lieferte,  daß  schon  das  ursprüng- 
liche vierte  Evangelium  den  ersten  und  einzigen  Aufenthalt  lesu 
in  Jerusalem  zwar  nicht  um  drei,  aber  doch  um  einen  vermehrt 
hatte,  der  durch  eine  Flucht  von  dem  letzten  getrennt  war. 

Freilich  bedarf  die  Lazarusgeschichte  einer  gründlichen  Reini- 
gung um  verständlich  zu  werden.  Gleich  der  Anfang  enthält  ein 
ganzes  Nest  von  Unmöglichkeiten.  Eine  Greschichte  die  in  Bethanien 
spielt,  kann  nicht  anfangen  [11,  1]  'fjv  Se  ng  aadsvav ,  Ad^aQos 
aTtb  Bri^avCag^  und  da  die  Krankheit  das  Hauptmotiv  ist,  das  die 
Handlung  in  Bewegung  setzt,  kann  sie  nicht  durch  ein  Participium 
das  zum  unbestimmten  Pronomen  tritt,  ausgedrückt  werden ;  correct 
würde  es  heißen  riv  de  zig  Adt.aQog  iv  Bri^avCai '  og  riöd-evrjösv.  Noch 
sonderbarer  ist  daß  Bethanien  als  das  Dorf  von  Maria  und  Martha 
vorgestellt  wird,  von  denen  ein  Leser  des  vierten  Evangeliums  nichts 
weiß,  und  vollends  grotesk  ist  der  Versuch,  Maria  durch  den  Hinweis 
auf  eine  Geschichte  die  erst  später  erzählt  wird,  zu  einer  bekannten 
Figur  zu  machen;  vgl.  Wellhausen  11,2,  der  auch  an  tbv  xvqlov 
[vgl.  S.  120]  angestoßen  ist.  Niemand  der  den  Anfang  unbe- 
fangen liest,  kann  sich  dessen  versehen,  daß  Lazarus  der  Bruder 
der  beiden  Schwestern  ist;  diese  zum  Verständniß  unentbehrliche 
Notiz  hinkt  in  dem  schlechten  Relativsatz  [11, 2j  ^g  6  ädsX(pbg 
Adlagog  rje^evsi  nach,  der  '^ö^evsl  ungeschickt  wiederholt.  Während 
in  diesen  beiden  Versen  mit  einfachen  Streichungen  nichts  auszu- 
richten ist,  sondern  man  sich  begnügen  muß  aus  den  Unordnungen 
auf  eine  Ueberarbeitung  zu  schließen,  muß  11, 4  einfach  ausgeschieden 
werden,  da  der  Vers  den  erklärenden  Zusatz  riyana  öh  6  ^Ttjöovs 
xtX.  [11,  5]  von  dem  Kolon  8r  (piXstg  [11,  3]  trennt,  das  er  erklären 
soll;   außerdem  geht   erst  11,  6  die  Erzählung  6g  ovv  iJTtovösv  ort. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  167 

cc6d^sv£i  weiter :  es  kann  also  nicht  aKovöas  äh  6  'Irj6ovg  vorangehn. 
Die  Interpolation  gehört  zu  den  im  vierten  Evangelium  häufigen 
Einschiebseln,  die  das  göttliche  Wissen  lesu  um  die  Zukunft  in 
kleinlicher  Weise  betonen  und  damit  der  Erzählung  alles  Leben 
nehmen  ^).  Bei  diesem  verhältnismäßig  unschuldigen  Eingriff  hat 
es  aber  die  Dogmatik,  die  einen  menschlichen  lesus  übel  vertrug, 
nicht  bewenden  lassen.  Die  Chronologie  der  Wundergeschichte 
ist,  wie  Bretschneider  [Probab.  79  ff.]  bemerkt  hat,  mit  einem  ge- 
wissen Raffinement  so  angelegt,  daß  lesu  Vorauswissen  und  Wunder- 
kraft im  wunderbarsten  Licht  erstrahlen.  Auf  die  Nachricht  von 
der  Krankheit  wartet  er  zwei  Tage,  um  so  spät  wie  möglich  zu 
kommen;  er  weiß  daß  Lazarus  gestorben  ist  [11,  11 — 15],  obgleich 
es  nicht  gemeldet  ist,  und  freut  sich  daß  er  nicht  da  war,  weil  er 
so  den  Jüngern  einen  stärkeren  Beweis  des  Glaubens  liefern  wird. 
Indeß  haben  diese  scholastischen  Hirngespinnste  die  ursprüngliche 
Erzählung  nicht  ganz  überwuchern  können:  die  Thränen  lesu  hat 
der  Interpolator  nicht  zu  streichen  gewagt  [11,  35],  obgleich  sie 
nicht  mehr  passen,  wenn  die  Auf  erweckung  des  Todten  theolo- 
gisches Experiment  wird,  und  der  blasphemische  Zusatz  mit  dem 
er  den  Dank  Jesu  an  den  Vater  entstellt,  ist  leicht  entfernt  [11, 
42] :  natürlich  ist  dies  Dankgebet  einstmals  sehr  ernst  gemeint  ge- 
wesen. Als  ursprünglicher  Zusammenhang  läßt  sich  erschließen, 
daß  lesus  auf  die  Nachricht  von  der  Krankheit  des  Lazarus  hin- 
geht um  ihn  zu  heilen^).  Die  Jünger  warnen  ihn,  als  er  sie  auf- 
fordert wieder  nach  ludaea  zu  ziehen  [11,8]:  Qaßßei,  vvv  i^rjtovv 
öS  Xid-daat,  oC'Iovdccioi  xccl  ndkiv  vndysLg  ixst;  Also  ist  er  jetzt  nicht 
dort,  aber  schon  einmal  dagewesen  und  vor  den  Juden  geflohen: 
wenn  die  Stelle  echt  ist,  beweist  sie  den  früheren  Aufenthalt. 
Auf   die  Warnung    antwortet  lesus   mit   einem  Spruch   der   zwei. 


1)  Vgl.  z,  B.  9,  3 ;  9,  4  führt  in  einen  ganz  anderen  Zusammenhang :  die 
törichte  Frage  der  Jünger  [s.  S.  157]  soll  wahrscheinlich  nichts  anderes  bezwecken 
als  das  Orakel  lesu  einzuführen.  13,11.18:  des  göttlichen  lesus  ist  es  unwürdig 
den  Verrat  nicht  genau  vorher  zu  wissen.  Die  Entwicklung  zum  Weissagungs- 
beweis tritt  18,  9.  32  hervor,  in  etwas  anderer  Wendung  16,  1.  4.  Auch  die  schon 
besprochene  [vgl.  S.  164]  Interpolation  in  10, 18  gehört  in  die  gleiche  dogmatische 
Sphäre. 

2)  Das  Miß  Verständnis  der  Jünger  11,12  ist  albern:  sie  können  doch  nicht 
annehmen,  als  Jesus  ihnen  mitteilt,  Lazarus  sei  eingeschlafen,  das  sei  ein  Kranken- 
bericht und  er  erzähle  ihnen  von  seinem  Befinden;  ihre  Bemerkung  paßt  auch 
nicht  zu  &IXCC  TtoQSvofiaL  i'va  i^vTCvlaca  avröv.  Vs.  12. 13  sind  ein  Flicken  der 
nach  Mc.  5,39.  Mt.  9,24.  Lc.  8,53  gemacht  ist;  V.  11  ist  wahrscheinlich  älter, 
aber  auch  nicht  ursprünglich. 

12* 


Ißg  E.  Schwartz 

noch  dazu  unvollständig  ausgedrückte  Gedanken  combiniert.  In  der 
rhetorischen  Frage  [11,9]  ovxl  öaöeyM  agaC  sC6lv  tfjg  rj^sgag;  kann 
nur  ein  Hinweis  auf  das  nahe  Ende  stecken ;  die  Parallelstelle  9,  4 
scheint  ebenso  erklärt  werden  zu  müssen,  ist  aber  zerstört  *).  Da- 
mit ist  der  folgende  Gegensatz  von  Licht  und  Finsternis  verkehrt 
verkuppelt:  idv  ng  TCeQLTtarfJL  iv  riji  rifiSQai,,  ov  tcqoöxötctsl,  ort  ro 
q)G)g  tov  Y.öö^ov  tovrov  ßksTtst'  iäv  de  rig  nsQLTCarfJL  iv  tfJL  vvxrt', 
TCQoßxoTCtsi, ,  Ott  TÖ  (p&g  ovx  ^6xLv  SV  avt&L.  Man  sieht  es  schon 
daran  daß  rö  (pG)g  ovx  sönv  iv  avtGii  auf  das  innere  Licht  geht 
und  vorher  ro  (p&g  durch  den  Zusatz  tov  xoeiiov  tovrov  auf  das 
äußere  Tageslicht  bezogen  ist.  Was  dem  mißhandelten  Satze  zu 
Grunde  liegt,  verrät  1  loh.  2, 10 f.  6  äyccncbv  tov  ädsXcpbv  avtov  iv 
tai  (patl  liivei  xal  öxdv daXov  iv  avtcbi  ovx  €6tLv'  6  ds 
fiL6c)v  TOV  ädskopov  avtov  iv  Ttjt  öxottat,  iötlv  xal  iv  tfJL  6 xot Ca l 
TtSQLTCatst,  xal  ovx  oldsv  Ttov  vitaysi^  ort  rj  6xotia  itv(pX(O06v 
tovg  ocpd'aX^ovg  a'ötov.  Die  wesentlichen  Züge  des  Bildes 
sind  auch  in  der  Evangelienstelle  da:  das  Wandeln  in  Licht  oder 
Finsternis ,  das  'Anstoßen' ,  das  dem  öxdvdaXov  entspricht  ^) ,  die 
innere  Dunkelheit:  sie  sind  nur  dadurch  getrübt,  daß  Licht  und 
Finsternis  wegen  der  Anfangsworte  in  Tag  und  Nacht  umgesetzt 
und  so  zu  Zeitbegriffen  geworden  sind,  die  in  den  Spruch  nicht 
passen^),   und   daß   die   ethische  Anwendung   auf  die   Bruderliebe 


1)  Der  Plural  rjfiäg,  der  unter  keinen  Umständen  mit  rä  l'pya  tov  nsfiipccvtog 
(IS  zusammengeht,  spottet  der  Erklärung:  er  weist  auf  einen  Zusammenhang  der 
durch  die  Interpolation  von  9,  2.  3  verloren  gegangen  ist ;  vielleicht  schloß  lesus 
die  Jünger  mit  ein,  wie  11,  11.  Vs,  5  erklärt  das  Bild  von  Tag  und  Nacht  falsch 
und  giebt  den  verkehrten  Sinn  daß  lesus  nur  so  lange  er  auf  Erden  wandelte,  das 
Licht  der  Welt  war.  Das  trifft  nur  dann  zu,  wenn  unter  tb  (p&g  tov  KÖafiov  die 
Wundertätigkeit  lesu  verstanden  wird;  es  pflegt  aber  ethisch  gemeint  zu  sein 
vgl.  8, 12. 

2)  Vgl.  Rom.  14,  21  Iv  c&t  ö  ädsXcpog  aov  TtgoayiOTtTSi.  Dafür  könnte  auch 
ö-KavSaX^STUL  stehen. 

3)  Ebenso  ist  12,  35.  36  dadurch  verwirrt,  daß  zugleich  tö  q)&g  Periphrase 
für  lesus  sein  soll,  der  von  seinem  Ende  redet,  und  das  Bild  des  'Wandels  in  der 
Finstemiß'  seinen  Gegensatz,  'den  Wandel  im  Licht'  hervorruft:  das  hat  aber 
nur  ganz  uneigentlich  mit  lesu  Tod  etwas  zu  tun.  Die  Ueberarbeituug  verrät 
sich  durch  das  schiefe  scag  tö  tp&g  ^x^ts  12,  35.  36 :  mg  läßt  sich  nicht  be- 
friedigend erklären  und  ist  ein  Versuch  sag  zu  verbessern,  das  verschiedentlich 
überliefert  ist.  Denn  die  zeitliche  Beschränkung  nimmt  allerdings  den  Mahnungen 
ihre  Kraft.  Chrysostomus  fragt  mit  Recht  t.  VIII  p.  405^  notov  ivTuvd-a  Uyet. 
ytttiQOv;  &Qa  Tr]v  nagovaav  ^ariv  anaaav  ri  töv  ngb  tov  aravgov  xq6vov  \  Er  er- 
klärt zunächst  die  Lesart  nusTBvsTt  —  nicht  iiEQiTtaTBtTS,  wie  falsch  in  den  Texten 
steht  —  tatg  zb  (pa>g  ix^TS  und  führt  12,  36,  das  er  nicht  erklärt,  in  der  Form  an 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  169 

weggelassen  ist.  Ursprünglich  muß  lesus  gesagt  haben  daß  seine 
zwölfte  Stunde  nahe,  er  wolle  sich  nicht  mehr  schonen,  sondern 
der  Gefahr  Trotz  bieten  um  des  Freundes  willen.  Das  reißt  die 
Jünger  fort:  äycofisv  xal  rjustgy  Xva  aTtod-ccvco^sv  ftfr'  avxov  [11,  16], 
sagt  Thomas;  die  Worte  hängen  mit  der  Warnung  der  Jünger 
11,8  unlöslich  zusammen. 

Wenn  ich  richtig  vermutet  habe  [Nachr.  1907,  354]  daß  im 
ursprünglichen  Evangelium  lesus  selbst  den  römischen  Offizier  der 
ihn  gefangen  nahm,  bat,  die  Jünger  ihres  Weges  ziehen  zu  lassen, 
so  rückt*diese  Entschuldigung  ihrer  Flucht  mit  den  mutigen  Worten 
des  Thomas,  die  so  ganz  undogmatisch  sind  und  eben  darin  die 
Bürgschaft  der  Echtheit  besitzen,  in  überraschender  Weise  zu- 
sammen :  sie  haben  mit  ihrem  Herrn  und  Meister  in  den  Tod  gehen 
wollen,  und  er  selbst  entbindet  sie  ihres  Vorsatzes;  ein  Pascha- 
opfer genügt.  Das  ist  allerdings  eine  Conception  die  aus  der 
Speculation  über  die  Einheit  des  Vaters  und  des  Sohnes  nicht  ent- 
sprungen sein  kann ;  sie  eignet  sich  auch  nicht  dazu  in  dem  Apparat 
von  Zeugnissen,  von  dem  die  Johannes briefe  so  viel  Wesens  machen, 
als  eine  Nummer  neben  anderen  zu  figurieren :  hier  hat  ein  Dichter 
geschaltet  und  gewaltet,  der  aus  dem  wunderbaren,  durch  be- 
sondere Gnade  Gottes  [11,  41]  gewährten  Sieg  über  den  Tod  die 
tragische  Peripetie  im  Leben  lesu  gemacht  hat.  Das  ist  begreif- 
licher Weise  anstößig  geworden  und  übermalt,  mehr  als  einmal 
sogar ;  die  Schichten  lassen  sich  aber  nicht  mit  Sicherheit  scheiden  ^) 
und  die  Analyse  muß  sich  begnügen  so  viel  Spuren  des  Ursprüng- 
lichen wie  möglich  aufzuzeigen. 


nBQinaxiixs  sv  t&i  cpoatt,  so  ist  für  das  falsche  slg  xo  cp&g  der  Texte  zu  lesen. 
In  ähnlicher  Weise  stellt  Aphraates  p.  ^»^  den  überlieferten  Text  um :  raaxsvsxs 
sag  x6  qpcog  txsxs  tiqIv  6v.oxia  v(i&g  yiaxaXdßrii  und  nsQLTtaxsixs  iv  x&l  cpcaxL,  iva 
viol  (fcoxbg  TiXrid-iixs.  Dagegen  folgt  er  p.  ^  dem  vulgären  Text,  hat  auch  das 
sinnlose  negntaxeCxs  ohne  Zusatz. 

1)  Ich  habe  oben  schon  vermutet  daß  Vs.  11  nicht  ursprünglich,  aber  doch 
älter  als  12 — 15  ist.  11,28  stimmt  nicht  zu  der  Unterredung  lesu  mit  Martha 
und  kann  doch  nicht  echt  sein,  weil  lesus  schon  11,  17  am  Grabe  ist,  s.  S. 
170  f.  Das  merkwürdige  ivsßgLfi'^Gaxo  xäi  ytvsvfiaxt.  xal  ixdga^sv  iavxov  11,  33 
entspricht  dem  sxagdx&'ri  x&i  nvsvfiaxL  13,21.  Diese  Stelle  gehört  dem  Bearbeiter 
an,  der  in  sehr  merkwürdiger  Weise  lesu  Weissagung  des  Verraths  zu  einer  eksta- 
tischen macht.  In  der  Lazarusgeschichte  läuft  die  Ekstase  in  die  nüchterne 
Frage  tcov  xsd-SLKccxs  cchxöv  [11,  34]  aus  und  wird  zwecklos  noch  einmal  wiederholt. 
Kein  Interpret  vermag  dem  singulären  Ausdruck  einleuchtenden  Sinn  unterzulegen ; 
es  wird  nur  geraten  und  ergänzt.  Die  Deutung  des  Motivs  ist  eben  unterdrückt, 
und  da  das  Motiv  selbst  erst  vom  Bearbeiter  herzurühren  scheint,  muß  diese 
Streichung  noch  jünger  sein. 


170  ^'  Schwartz 

Eine  Unordnung  tritt  sofort  in  der  ersten  Begegnung  lesu 
mit  den  Schwestern  hervor :  Martha  sagt  zu  Maria,  daß  der  Meister 
sie  rufe  [11,  28],  obgleich  das  nicht  wahr  ist  und  kein  Grrund  zu 
einer  Kotlüge  vorliegt.  Beide  Schwestern  reden  lesus  mit  genau 
denselben  "Worten  an  [11,  21  =  32].  Maria  erhält  keine  Antwort, 
die  Worte  sind  bei  ihr  ein  einfacher  Gefühlsausbruch;  bei  Martha 
schließt  sich  eine  Katechese  an,  die  in  ein  Grlaubensbekenntnis 
ausläuft^):  ein  einheitlich  concipirender  und  arbeitender  Schrift- 
steller, der  fähig  und  kühn  genug  war  das  Lazaruswunder  zu  er- 
finden, verfügt  nicht  über  so  geringe  Mittel  des  Ausdruckes,  daß 
er  sich  selbst  ungeschickt]  wiederholt.  Nach  11, 17  findet  Jesus 
den  Freund  schon  vier  Tage  im  Grabe  liegen.  Er  ist  also  schon 
beim  Grabe ;  wer  von  außen  her  kommt,  gelangt  zuerst  zur  Nekro- 
pole,  die  vor  der  Ortschaft  zu  liegen  pflegt.  Je  natürlicher  und 
einfacher  die  Handlung  hier  vorbereitet  wird,  um  so  mehr  erstaunt 
es  daß  im  Folgenden  die  Oertlichkeit  wieder  ganz  vergessen  wird 
und  ins  Unbestimmte  rückt  ^):  erst  11,34  ist  die  Scene  wieder  am 
Grabe.  Das  störende  Element  ist  die  Unterredung  mit  Martha; 
weil  sie  nicht  an  das  Grab  verlegt  werden  kann,  verschiebt  sie 
die  Handlung  von  dem  Ort  an  den  sie  gehört.  Und  das  wirkt 
weiter.  Es  ist  durchaus  nötig  daß  die  Juden  am  Grabe  sind  und 
das  "Wunder  sehen:  sie  gehen  nach  dem  nahen  Jerusalem  [11,  18] 
zurück  und  erzählen  es  [11,46],  worauf  dann  die  Hohenpriester 
und  Pharisaeer  den  verhängnißvollen  Beschluß  fassen.  Jetzt  muß 
die  Anwesenheit  der  Juden  in  der  seltsamsten  und  complicirtesten 
"Weise  motiviert  werden:  weil  sie  meinen  daß  Maria  zum  Grabe 
geeilt  sei  um  dort  zu  weiuen,  laufen  sie  ihr  nach  [11,  31].  Ganz 
davon  zu  schweigen  daß  die  zahlreichen  Juden  die  den  beiden 
Schwestern  einen  Condolenzbesuch  machen  [11,19]  und  dann  teil- 
weise zu  Denuncianten  werden  [11,46],  eine  wunderliche  Erfindung 
sind,  die  wiederum  von  der  kraftvollen  Conception  der  ganzen 
Peripetie  grell  absticht.     Das  schiebt  sich  alles  zurecht,    wenn  als 


1)  S.  0.  S.  151.  Die  'Auferstehung  am  jüngsten  Tage'  ist  im  vierten  Evan- 
gelium überall  verdächtig.  12,  48^  ist  deutlich  ein  Zusatz  zu  48»,  wo  tbv  %qC- 
vovru  nicht  futurisch  ist,  vgl.  3, 19 ff. ,  und  ebenso  verdirbt  6,39.40.44  %&yai 
icvaar^aa  airbv  iv  r^i  ioxätrii  iifiigai,  den  Zusammenhang,  der  nicht  vom  Gericht 
handelt,  sondern  davon  daß  Jesus  jeden  der  zu  ihm  kömmt,  annimmt. 

2)  Das  tritt  11,  32  grell  hervor:  rj  ovv  Magid^i,  mg  ^X-O-fr  onov  ^v  ^Iriaovg, 
und  ebenso  11,30  oihtat  dh  iXriXvJ&si  6  ^Iriao^s  stg  Tr}v  %&iiriv,  &XX*  riv  hi  iv  x&i 
x6no)i  onov  vnrivTr\aev  cchT&t  i}  MaQ&a.  Eine  so  gequälte  Umständlichkeit  stellt 
sich  immer  dann  ein,  wenn  nicht  ein  Schriftsteller  frei  arbeitet,  sondern  ein  Re- 
dactor  einen  gegebenen  Zusammenhang  umbiegt  und  verändert. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  171 

ursprüngliche  Erzählung  angesetzt  wird,  daß  Jesus  gleich  bei  seiner 
Ankunft  die  Schwestern  und  die  Juden  am  Grabe  findet,  hört  daß 
Lazarus  gestorben  ist  [11, 17]  und  nun  nach  der  Grabstelle  fragt 
[11,34].  Jetzt  ist  das  Wunder  bis  zum  Aeußersten  gesteigert  da- 
durch daß  Lazarus  schon  vier  Tage  im  Grabe  liegt  [11,17.39]; 
aber  das  ist  verdächtig,  weil  es  mit  der  absichtlichen  Säumniß  lesu 
zusammenhängt,  durch  die  im  jetzigen  Evangelium  die  Erzählung  so 
geschoben  ist,  daß  lesus  in  unerklärbarer  Weise  um  Lazarus  Tod 
weiß,  obgleich  er  nur  von  seiner  Krankheit  gehört  hat,  und  das 
Wunder  der  Auf  erweckung  von  vom  herein  arrangirt,  indem  er 
so  spät  aufbricht,  daß  er  Lazarus  schon  todt  finden  muß.  Ein- 
facher wirds  und  natürlicher,  wenn  lesus  unmittelbar  nach  der 
Bestattung  ankommt;  dann  ist  die  Anwesenheit  der  Juden  sehr 
viel  besser  motiviert  als  durch  die  Condolenzbesuche  am  vierten 
Tage  nach  dem  Tode.  Die  zweite  Stelle  die  mit  dieser  Tage- 
rechnung operiert  [11,  38 — 40],  ist  auch  aus  anderen  Gründen  ver- 
dächtig: das  Motiv  des  s^ßQL^äad-aL  wird  grundlos  wiederholt  und 
11,  40  ist  eine  Combination  aus  11,  26  und  der  jungen  Interpolation 
11,4. 

Zweifel  über  das  Einzelne  werden  und  mögen  bleiben;  das 
Wesentliche  schimmert  doch  durch  alle  spätere  Uebertünchung 
durch,  daß  die  Auferweckung  des  Lazarus  im  ursprünglichen  Evan- 
gelium die  Tat  lesu  war,  die  ihm  den  Untergang  auf  Erden  brachte. 
Um  die  Katastrophe  tragisch  zu  motivieren,  ist  der  Aufenthalt 
lesu  in  Jerusalem  in  zwei  Abschnitte  zerlegt  und  eine  bedeutungs- 
volle Steigerung  in  das  Handeln  lesu  gebracht :  das  erste  Mal  reist 
er  hin  um  als  Prophet  zu  siegen,  das  zweite  Mal  trotzt  er  der 
Gefahr  die  er  während  des  ersten  Aufenthalts  heraufbeschworen 
hat,  um  den  Freund  zu  retten. 

Wie  der  zum  Untergang  des  Helden  drängende  Lauf  der  Hand- 
lung es  verlangt,  schließt  sich  an  das  Lazaruswunder  als  unmittel- 
bare Folge  die  Beratung  der  Hohenpriester  und  Pharisaeer  an. 
Sie  stellt  die  von  den  K-ömem  drohende  Gefahr  in  den  Vorder- 
grund. Davon  findet  sich  bei  den  Synoptikern  [Mo.  14, 1  f.  Mt. 
26,  3 ff.  Lc.  22,  2]  auch  nicht  die  geringste] Spur;  um  so  besser  har- 
monirt  dieser  Zug  mit  der  Verhaftung  lesu  durch  die  Cohorte 
[Nachr.  1907,  352],  wenn  auch  die  Zwischenglieder  jetzt  fehlen. 
Jetzt  ist  auch  die  Befürchtung  des  Synhedrions  schlecht  motiviert, 
ein  Zeichen  daß  die  Ueberarbeitung  auch  hier  eingegriffen  hat. 
Man  mag  darüber  hinwegsehen,  daß  der  allgemeine  Ausdruck  ovtog 
6  ccvd'Qeojtog  TtoXkä  tcolsl  ötj^sta  [11,  47]  den  Eindruck  nicht  wieder- 
giebt,  den  ein  so  gewaltiges  Wunder  wie  die  Wiederbelebung  eines 


j[72  ^-  ächwartz 

schon  Begrabenen  machen  mußte:  aber  was  giengs  die  Römer  an, 
wenn  alle  *an  lesus  glaubten'  [1 1 ,  48]  ?  An  einer  anderen  Stelle 
[6, 15]  entzieht  sich  lesus  der  Menge,  weil  er  'erkennt  daß  sie  ihn 
entführen  und  zum  König  machen  wollen'.  Dort  ist  das  Motiv 
schlecht  eingeführt^)  und  verschwindet  sofort  wieder,  hier  ist  ein 
ähnlicher  Gedanke  unentbehrlich:  es  ist  unmöglich  ihn  xara  rö 
6iG)7C(o^£vov  zu  ergänzen,  da  auf  ihm  die  ganze  Berechnung  der 
Zukunft  und  damit  der  Entschluß  des  Synhedrions  selbst  basiert. 
Es  folgt  auch  nicht  mit  zwingender  Notwendigkeit  aus  dem  Grlauben 
der  Menge,  daß  sie  ihn  zum  König  machen  wollen:  das  vierte 
Evangelium  pflegt  zu  behaupten,  daß  das  Volk  in  lesus  den 
Propheten  sah,  der  da  kommen  sollte  ^),  und  wenn  schließlich  die 
Hoffnung  auf  den  künftigen  Propheten,  den  Messias,  den  König 
des  davidischen  Reiches  in  einander  laufen,  so  mußte  doch  an 
dieser  Stelle  grade  die  zur  Tat  übergehende  Hoffnung  des  Volkes 
ausdrücklich  aufgeführt  werden,  die  den  Römern  Anlaß  zum  Ein- 
schreiten geben  mußte.  Loser  als  diese  Bearbeitung  liegen  die 
Interpolationen  auf,  die  in  11,49.51.52  von  Wellhausen  nachge- 
wiesen sind  [25]. 

Wenn  lesus  wirklich  mit  seinen  Jüngern,  wie  diese  selbst 
sagen,  den  Todesweg  mit  der  Reise  nach  Bethanien  antrat, 
wenn  der  Beschluß  aus  politischen  Gründen,  also  nach  reiflicher 
Erwägung,  gefaßt  wird  ihn  zu  tödten,  dann  muß  die  Kata- 
strophe die  so  sorgfältig  vorbereitet  wird,  auch  eintreten:  die 
tragische  Spannung  darf  nicht  nachlassen.  Aber  wie  oft  im  vierten 
Evangelium,  scheint  die  Erfindung  sich  nicht  auf  der  Höhe  zu  er- 
halten,   sondern   flattert  flügellahm  hin  und  her.     'lesus   wandelte 


1)  Dafür  darf  man  sich  auf  den  Widerspruch  von  6,  15  zu  6,  3  nicht  be- 
rufen, wenn  6,3,  wie  Wellhausen  [S.  18]  meint,  aus  Mt.  15,29  eingelegt  ist. 
Aber  es  bleibt  merkwürdig  daß  die  welche  'das  Zeichen  gesehen  haben',  womit 
die  5000  wunderbar  Gespeisten  nur  schlecht  bezeichnet  sind,  in  lesus  den  kom- 
menden Propheten  sehen  und  dieser  sofort  weiß  daß  sie  ihn  zum  König  machen 
wollen.  Ein  so  wunderbares  Vorauswissen  darf  nicht  zu  einem  gleichgiltigen 
HUfsmotiv  der  Erzählung  degradirt  werden.  Der  Uebersetzer  des  Syr.  Sin.  hat 
die  Incongruenz  zwischen  6,  14  und  15  gefühlt  und  gestaltet  daher  den  zweiten 
Vers  um :  xal  ifisllov  [ooof  o^Hj]  ocgnaj^siv  ccitbv  iva  noLi^aansiv  ßaodia  •  '/ijtfoDg 
dl  yvovg  naxiXinsv  airovg  xai  &vsxoiQriO£v  [ndXiv  ist  ebenfalls  mit  Absicht  weg- 
gelassen] sCg  rb  ögog  airbg  (lovog. 

2)  7,  40  ^x  toi)  öxlov  ovv  ScyiovöavrBg  r&v  X6ycav  xovrcov  iXtyov '  ovxog  iariv 
&Xrid^&g  6  «poqp^TTjs,  vgl.  7, 52.  6,  14  ot  ovv  &v^Q(onoi  löovxsg  o  ^noCriaiv  ori- 
fttCoVj  iXsyov  oxi  ovxog  iaxiv  ScXrid-ätg  6  ngocp-^xrig  6  igx^fisvog  slg  xbv  yiöa^ov. 
Die  Synoptiker  bezeichnen  lesus  nicht  als  'den'  Propheten;  in  zwei  Predigten  der 
Apostelgeschichte  [3,  22.  7,  37]  dagegen  wird  Deut.  18, 15  angeführt. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  173 

nicht  mehr  öffentlich  unter  den  Juden,  sondern  begab  sich  von 
dort  in  das  Land  nahe  der  Wüste,  nach  der  Stadt  Ephraim^)  und 
hielt  sich  dort  mit  seinen  Jüngern  auf  [11,  54].  Also  war  Thomas 
Wort  11,  16  eitel  Renommisterei  und  das  Synhedrion  sehr  dumm; 
denn  es  läßt  sich  den  gefährlichen  Mann  so  leichten  Kaufes  ent- 
gehen, daß  es  den  Befehl  ergehen  lassen  muß  seinen  Aufenthalt 
zu  melden,  falls  er  zum  Feste  kommt  [11,57]:  schließlich  scheinen 
die  Pharisaeer  gar  an  ihrer  Absicht  zu  verzweifeln  [12, 19]  und 
man  kann  sich  nur  wundern,  wie  es  überhaupt  zur  Verhaftung 
kommt.  Umgekehrt  kehrt  lesus  aus  seinem  Versteck  'sechs  Tage 
vor  dem  Pascha'  nach  Bethanien  zurück,  als  wenn  es  gar  keine 
Gefahr  für  ihn  gäbe,  in  schneidendem  Gregensatz  zu  der  früheren 
Fahrt  dorthin,  die  durch  die  Warnungen  der  Jünger  und  die  Worte 


1)  Die  Ortsangabe  macht  Schwierigkeiten.  Euseb  [Onom.  p.  90,  18.  86,  1] 
identificiert,  wie  die  Mosaiktarte  von  Madeba,  die  Stadt  Ephraim  mit  einem 
großen  Dorf,  das  20  Millien  n.  von  Aelia  liege,  und  stellt  dies  wiederum  zu  dem 
Artikel  ^EtpQov  [los.  15,  9] :  an  der  Stelle  des  A.  T.  ist  von  Städten  des  Gebirges 
ynt:^  die  Rede.  Daneben  führt  er  [28, 4]  unter  'Acpga  [=  n"^B3?  los.  18,  23 ; 
LXX  'Ieq)Qa&a]  ein  Dorf  Alfpqaiyb  (wohl  'Etpgaiii  zu  sprechen)  5  Millien  ö.  von 
Bethel  auf.  Da  'Ecpgav  zum  Stamme  Inda,  'Jcpga  zum  Stamme  Benjamin  gehört, 
Euseb  ferner  von  beiden  Dörfern  'Ecpgccifi  behauptet  daß  sie  zu  seiner  Zeit  exi- 
stirten,  können  sie  nicht  mit  einander  identificirt  werden:  Euseb  bezog  die 
Evangelienstelle  auf  das  Ephraim  das  20  Millien  n.  von  Aelia  lag,  weil  es  das 
größere  und  bedeutendere  war.  Dasselbe  erwähnt  wahrscheinlich  auch  losephus 
BI  4,551;  Paralip.  2,  13,  19  mag  auf  sich  beruhen  bleiben.  Nun  paßt  aber  zu 
diesem  Ephraim  der  Zusatz  iyyvg  vfjg  egruiov  in  keiner  "Weise:  17  egriiios  kann 
nur  die  'Araba  am  unteren  Jordan  und  dem  todten  Meere  sein,  und  die  ist  weit 
weg.  In  dieser  Wüste  taufte  nach  den  Synoptikern  lohannes  [Mc.  1,  4.  Mt.  3,  1. 
Lc.  3,2];  sieht  man  11,54  in  slg  'Ecfgalfi  Xsyoiisvriv  noXiv  einen  verkehrten  Zu- 
satz, dessen  Sinn  und  Zweck  freilich  niclit  aufgehellt  ist,  so  kommt  so  ziemlich 
dieselbe  Localität  heraus  wie  die  in  der  sich  lesus  vor  der  Reise  nach  Bethanien 
aufhielt  [10,  40,  vgl,  1,  28] ;  dabei  ist  nur  zu  bedenken  daß  das  vierte  Evangelium 
lohannes  d.  T.  nicht  ausdrücklich,  wie  die  Synoptiker,  in  die  Wüste  versetzt. 
Eine  sehr  merkwürdige  Weiterbildung  des  geographischen  Fehlers  findet  sich  in 
der  Lesart  von  D:  &7t7jXd-sv  sCg  rrjv  xcoqav  ZuficpovQSLv  iyyvg  trig  ig^^ov  slg 
^EcpQalfi  Xsyofiivriv  noXiv.  Blaß  will  mit  Resch  unter  SccficpovgsLv  ein  samarita- 
nisches  'j'^I^Bo  verstehen,  von  dem  niemand  etwas  weiß  und  das  durch  4  Reg.  17 
in  keiner  Weise  bezeugt  wird.  Vielmehr  ist  2a(i(povQSLv  der  vielfältig  belegte 
aramaeische  Name  von  Diocaesarea  [vgl,  die  von  Thomsen,  Loca  sacra  55  ange- 
führten Stellen],  der  Hauptstadt  Galilaeas,  deren  Feldmark  Euseb  im  Onomastikon 
oft  zur  Orientierung  benutzt.  Unter  Atcpgai^  [28, 25  =  D^^^Bn  los.  19, 19]  be- 
merkt er  HOfl  iati,  yuaiiri  'AcpQuCa  vvv  yiccXovfisvri  ccTtsxovaa  Asysmvog  iv  ßogSLOLg 
liiXiOLg  c:  nach  p.  70,  9  stieß  die  Feldmark  von  Diocaesarea  an  'die  große  Ebene 
von  Legio',  d.  i.  die  Ebene  von  Jezreel. 


174  E.  Schwartz 

des  Thomas  als  eine  besondere  Tat  gekennzeichnet  wird.  Während 
das  Synhedrion  den  Beschluß  den  es  11, 47  ff.  unmittelbar  nach 
dem  Lazaruswunder  faßt,  nicht  ausführt  und  lesus  entkommen 
läßt,  stellen  12,  10  die  Hohenpriester  sogar  dem  auferweckten 
Lazarus  nach:  freilich  verläuft  auch  diese  Bosheit  gänzlich  im 
Sande. 

Es  ist  wieder  das  gleiche  Mißverhältniß :  neben  einer  Er- 
findungskraft die  das  Lazaruswunder  wagt  und  den  Beschluß  des 
Synhedrions  politisch  motiviert,  steht  ein  Ungeschick  die  Hand- 
lung durchzuführen,  das  nicht  einmal  naiv  genannt  werden  kann. 
Die  altkirchliche  Interpretation,  die  gegen  Schwierigkeiten  durch- 
aus nicht  blind  war,  half  sich  über  diese  Fälle  mit  der  Doppel- 
natur Jesu  und  der  'Torheit'  der  Juden  hinweg:  das  Evangelium 
war  für  sie  eine  gegebene  Grröße  mit  der  sie  fertig  werden  mußte. 
Trotzdem  sind  bei  dieser  Weise,  die  nach  der  Art  der  antiken 
Philologie  svötdöstg  und  Xv6sLg  praecis  formuliert,  scharfe  Beob- 
achtungen —  die]  immer  die  Hauptsache]  sind  —  noch  eher  mög- 
lich und  auch  wirklich  gemacht  als  bei  der  modernen  Manier, 
die  sich  eine  besondere,  den  Gresetzen  des  vernünftigen  Denkens 
und  Redens  nicht  unterworfene  Psyche  des  Schriftstellers  con- 
struirt  und  außerdem  einer  reinlichen  Antwort  auf  die  Frage  ob 
der  apostolische  Ursprung  des  Buches  fictiv  ist  oder  nicht,  mit 
allen  möglichen  Ausflüchten  aus  dem  Wege  geht:  was  man  nicht 
versteht,  soll  Stil,  Stimmung  oder  dgl.  sein.  Damit  wird  das  d-av- 
^d^SLv  eingeschläfert,  das  ' Nicht verstehn',  das  die  Frage  scharf 
zu  stellen  wagt  und  aller  Forschung  Anfang  ist.  Die  wissenschaft- 
liche Betrachtung  muß  an  dem  Widerspruch  zwischen  dichterischem 
Können  und  banalem  Ungeschick  anstoßen,  der  sich  im  vierten 
Evangelium  nach  der  Sitzung  des  Synhedrions  auftut.  Man  kann 
streiten  wo  die  Ueberarbeitung  beginnt  und  wo  sie  aulhört,  der 
Versuch  die  Spuren  des  Ursprünglichen  aufzudecken  kann  miß- 
glücken ;  damit  wird  die  Aporie  selbst  nicht  aus  der  Welt  geschafft 
und  das  Princip  ihrer  Lösung  nicht  aufgehoben,  das  neben  der 
ursprünglichen  Erfindung  eine  oder  mehre  Ueberarbeitungen  postu- 
lirt,  die  schon  darum  ungeschickt  sein  müssen,  weil  sie  in  einen 
gegebenen  Rahmen  Dinge  hineinpressen  wollen,  die  nicht  hinein- 
passen. Im  vorliegenden  Falle  bekommt  die  Analyse  von  vorne 
herein  dadurch  eine  bestimmte  Richtung,  daß  der  Einzug  lesu  in 
Jerusalem  aus  den  Synoptikern  stammt.  Um  ihn  hineinbringen  zu 
können,  mußte  lesus  noch  einmal  wieder  aus  der  Nähe  Jerusalems 
entfernt  werden,  und  das  hat  den  ursprünglichen  Aufbau  der  Hand- 
lung zerstört.     Der  Bericht  über  den  Einzug  selbst  sieht  durchaus 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  175 

wie  eine  verblaßte  Copie  nach  den  Synoptikern  aus :  eigentümlich  ist 
ihm,  daß  das  Volk  lesus  aus  der  Stadt  entgegenzieht  und  ihn  durch 
die  Palmzweige  [1  Makk.  13,  51]  und  den  Zuruf  als  König  begrüßt  ^), 
bei  den  Synoptikern  feiert  ihn  die  Menge  die  mit  ihm  zur  Stadt 
geht^).  lieber  den  Bearbeiter  der  den  Einzug  hineinbrachte,  ist 
dann  noch  ein  späterer  Interpolator  gekommen,  der  hier  wie  in 
der  Passionsgeschichte  sich  aussondern  läßt.  Bei  den  Synoptikern 
wird  das  Finden  des  Reittiers,  auf  dem  lesus  einzieht,  ausführlich 
erzählt  und  an  der  Stelle  wo  es  sich  gehört,  ehe  der  Zug  beginnt. 
Hier  [12, 14]  wirds  nur  kurz  angedeutet  mit  einem  nackten  svqcjv, 
und  die  Erklärung  der  Prophetenstelle  12,  16  ist  nur  für  den  Leser 
verständlich,  der  die  Synoptiker  kennt.  Denn  die  Worte  tote  ifi- 
v7]6dTj6av  (die  Jünger)  ötL  tavta  ^v  iit'  avtcbi  yeyQa^fieva  xal  tavta 
inoLriaav  ccvtm  setzen  voraus  daß  die  Jünger  nach  lesu  Anweisung 
das  Eselfüllen  gesucht,  gefunden  und  ihm  zugeführt  haben  ^) :  davon 
steht  aber  im  vierten  Evangelium  nichts.  Grrade  diese  schatten- 
haften, schlecht  skizzirten  Reminiscenzen  aus  den  Synoptikern  sind 
für  den  Interpolator  charakteristisch.  Er  hält  auch  im  Folgenden, 
gegen  den  Bearbeiter,  die  synoptische  Ueb erlief erung  fest,  daß  die 
Menge  mit  lesus  kam,  und  sucht  zugleich,  recht  ungeschickt,  den 
Anschluß  an  das  Lazaruswunder  herzustellen,  indem  er  dies  sowohl 
durch  die  einziehende  Menge  feiern  läßt  als  auch  für  die  Menge 
in  der  Stadt,  die  er  dem  Bearbeiter  entnahm,  zum  Motiv  der  Ein- 
holung macht,  was  dann  freilich  sehr  unpassend  am  Schluß  steht: 
i^aQtvQsv  ovv  6  o^log  6  hv  fist  avtov  oxl  [so  D,  Peschittha  und 
die  Lateiner]  thv  Ad^aQov  i(p6vi]06v  ix  tov  fivrj^SLOv  xal  i^ysigev 
avtbv  ex  vexQcov'  8iä  tovto  xal  v7t7}vtT]6ev  avtcbi  6  ox^os,  ort  i^xovöav 
rovto  avtbv  TceTtoLTjxevai,  tö  6r]^etov.  Es  gab  nun  aber  kluge  Leute 
die  merkten  daß  die  Juden  von  Jerusalem  [11,  19]  und  nicht  die 
Menge  die  mit  lesus  zog,  Zeugen  des  Lazarus  Wunders  gewesen 
waren,    und    daher  ort  in  ots  [»B]    änderten,    wobei   denn   cbv   zu 


1)  In  dem  überlieferten  Texte  [12,  13]  maccvva  svloyri^svog  6  SQxofisvog  iv 
dvofiari  kvqlov  yiccl  [fehlt  in  D  und  bei  den  Syrern]  6  ßccGLXsvg  tov  'iGQccqX  hinken 
die  letzten  Worte  verdächtig  nach:  sollte  der  Zuruf  nicht  ursprünglich  einfach 
maavvci  6  ßccGiXevg  tov  'l6Qui\X  gelautet  haben?  Der  Einschub  stammt  aus  Mt. 
21,9.  Mc.  11,  9  und  hat  auch  Lc.  19,  38  verunstaltet ;  vgl.  Wellhausen,  Ev.  Lucae  109. 

2)  Mc.  11,9  xal  Ol  TtQodyovrsg  xal  ot  äyioXovd'ovvTsg  b-hqcc^ov  '  maavva  v.xX. 
Ebenso  Mt,  21,9.  Lucas  [19,37]  macht  anuv  to  nXfi%-og  t&v  iiccQ^rir&v  daraus, 
zum  Zeichen  daß  von  einem  Einholen  lesu  durch  das  Volk  in  Jerusalem  bei  den 
Synoptikern  nicht  die  Rede  ist. 

3)  Vgl.  Mt.  21,  6  TtoQSvd'svTsg  dh  ot  ficcd-Jirccl  v.a.1  noiiqoavrsg  %ci^6ig  6vvs- 
TK^ev  avxotg  6  ^l7\60vg. 


176  E-  Schwartz 

einem  unklaren  Part.  Praet.  wird  und  i^aQtvQSi  sein  Object  ver- 
liert. Natürlicli  wird  durcli  ein  solches  Mittelchen  der  ärgste  An- 
stoß niclit  beseitigt,  daß  das  Motiv  der  festlichen  Einholung,  das 
am  Schluß  nachgetragen  wird,  die  Erzählung  selbst  verwirrt,  welche 
den  Ton  darauf  legt,  daß  das  Volk  von  Jerusalem  in  lesus  den 
König  sieht  ^). 

Der  glänzende  Einzug  lesu  in  Jerusalem,  der  so  grell  mit  dem 
Ende  contrastierte,  war  eines  der  wirksamsten  Stücke  der  synop- 
tischen Tradition.  Es  wurde  dem  vierten  Evangelium  verhängniß- 
voll,  daß  es  ihn  auslassen  mußte  um  seiner  Erfindungen  willen: 
die  Ueberarbeitung  zwängte  ihn  wieder  hinein  und  sprengte  da- 
durch die  straffe  und  geschlossene  Conception;  der  wichtigste 
Factor  der  Peripetie,  die  Reise  nach  Bethanien  um  Lazarus  zu 
retten,  wurde  entwertet  und^nur  das  Wunder  blieb  übrig.  Um 
des  Einzugs  willen  ist  auch  die  erste  Reise  nach  Jerusalem  ihres 
Charakters  entkleidet.  In  dem  Bewußtsein  der  Gremeinden  saß  die 
Vorstellung  zu  fest,  daß  lesu  öffentliches  Wirken  in  der  heiligen 
Stadt  mit  dem  Einzug  begonnen  habe,  als  daß  die  Erfindung  sich 
hätte  behaupten  können,  daß  er  schon  vorher  mit  dem  ausge- 
sprochenen Zweck  hingegangen  sei  öffentlich  zu  lehren  und  zu 
wirken,  aber  den  Juden  habe  weichen  müssen.  Dazu  kam  daß  es 
wohl  angieng  den  Tod,  der  zur  Auferstehung  führte,  als  ein  doja- 
ö^fivai  anzusehn,  aber  ein  Mißlingen,  eine  Flucht  der  werdenden 
Dogmatik  die  einen  Gott  postulierte,  mehr  und  mehr  widersprach. 
Man  wollte  andererseits  den  ganzen  Abschnitt,  der  von  dem  ersten 
Aufenthalt  lesu  in  Jerusalem  [7 — 10]  erzählte,  nicht  missen,  schon 
um  des[  Wunders  des  Blindgeborenen  nicht,  und  weil  der  Unglaube 
der  Juden  ein  willkommenes  Thema  war.  So  wurde  umredigiert: 
die  Aufforderung  an  lesus  nach  ludaea  zu  gehn  wurde  den  un- 
gläubigen Brüdern  in  den  Mund  gelegt,  und  die  Aufforderung 
selbst  dadurch  entstellt,  daß  die  Juden  als  Objekt  von  lesu  Wirk- 
samkeit hinausgebracht  wurden.  lesus  selbst  lehnt  die  Aufforde- 
rung ab,  seine  Zeit  sei  noch  nicht  erfüllt :  weil  er  nichts  will,  miß- 
lingt ihm  nichts.  Da  nun  aber  die  Reise  nicht  gestrichen  wurde, 
so  blieb  nichts  anderes   übrig   als   den  Widerspruch  zwischen  dem 


1)  Der  alte  syrische  Uebersetzer  hat  die  mannigfaltigen  Schwierigkeiten  des 
überlieferten  Textes  empfunden  und  hilft  sich  durch  eine  stark  umgestaltende 
Paraphrase  aus  der  Verlegenheit,  die  6  öxXog  6  mv  (isr  a'bxov  [12,  17]  zum  Sub- 
ject    von   inoiriaav    [12,  16]    macht   und  6  öx^og  12,18    mit    diesem    identiticiert : 

>^Q3o  ]\.^  ;p loa-)  ooo)  ^^jüoj    )oo^   opax?   Jjuj    ooj   \anD   o^  Oyiiix  >Aoto 

'jLO  c&^qa;  >^^  (H^ioU  Q^oji  >^0)  \aa). 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  177 

was  er  erst  sagt  und  nachher  tut,  dadurch  auszugleichen,  daß  er 
'heimlich'  hingeht:  die  Erfindung  ist  so  lahm,  daß  sie  sofort  zu 
Boden  sinkt.  Allem  Anschein  nach  gehören  diese  Verschiebungen 
dem  späten  Interpolator  an,  der  die  antivalentinianische  Chrono- 
logie durch  die  Festreisen  hineingebracht  hat. 

Nicht  so  einfach,  wie  bei  dem  Einzug,  liegen  die  Dinge  in 
der  Erzählung  12, 1 — 11,  die  dem  Grastmahl  im  Hause  Simons  des 
Aussätzigen  bei  den  Synoptikern  entspricht  [Mc.  14,  3  ff.  Mt.  26, 
6 ff.  Lc.  7,  36 ff.].  In  Ueb er einstimmung  mit  Marcus  und  Matthaeus, 
abweichend  von  Lucas,  ist  es  unmittelbar  vor  die  Passion  und  nach 
Bethanien  verlegt,  aber  vor  den  Einzug,  was  damit  zusammen- 
hängen kann,  daß  dieser  eine  secundäre  Einlage  ist.  Der  Anfang 
[12,  1]  6  ovv  'Irjöovg  TtQO  ^^  ij^sgav  zov  Ttdöx^  '^Xd'Bv  slg  Brjd'avCav, 
oitov  ^v  AdlaQog  ov  ijyetQSv  sx,  v6xqg>v  ^Irjöovg  verrät  die  Ueber- 
arbeitung  ebenso  wie  die  Flucht  lesu  11,  54;  ob  die  merkwürdig 
genaue  Chronologie  die  im  Folgenden  nicht  durchgeführt  wird,  mit 
der  Fastenwoche  zusammenhängt,  läßt  sich  nicht  mit  Bestimmtheit 
ausmachen.  Greschmacklos  ist  es  daß  der  auferweckte  Lazarus  als 
Grast  beim  Diner  eingeführt  wird:  ohne  Zweck  wird  damit  das 
schon  hoch  gespannte  Wunder  seiner  Auferstehung  über  die  Pointe 
hinaus  gesteigert.  12, 10.  11  habe  ich  schon  als  eine  müssige  Er- 
findung gekennzeichnet,  die  ohne  Folgen  bleibt  und  bleiben  muß: 
man  male  sich  nur  einmal  aus  daß  Lazarus  darum  auferweckt  wird 
um  von  den  Hohenpriestern  umgebracht  zu  werden.  Endlich  scheint 
12,  9  mit  der  Interpolation  12, 17  zusammenzuhängen,  vorausgesetzt 
daß  Ott  dort  gelesen  wird.  Die  Zeitrechnung  geht  ganz  in  die 
Brüche.  Am  Abend  ist  das  Grastmahl,  am  folgenden  Morgen  zieht 
Jesus  in  die  Stadt  ein  [12,  12] :  wann  sollen  die  Juden  scharenweis 
nach  Bethanien  hinausgegangen  sein,  als  sie  hörten  daß  lesus  dort 
war?  Granz  davon  zu  schweigen  daß  sie  schon  früher  Grelegenheit 
hatten  den  vom  Tode  auferstandenen  Lazarus  zu  sehen. 

Man  erfährt  nicht,  wo  das  Grastmahl  stattfindet;  es  heißt  ganz 
unbestimmt  [12, 2]  sTCotriöav  avtciv  dstjtvov  ixet.  Wenn  die  Inter- 
preten annehmen,  es  sei  im  Hause  des  Lazarus  gewesen,  ist  es 
mehr  als  verwunderlich  daß  dieser  als  Grast  hingestellt  wird  [12,  2] : 
6  ÖS  Ad^ttQog  sig  ^v  x&v  dvaxeL^svcav  6vv  ccvt&l.  Die  aufwartende 
Martha  ist  wieder  eine  schattenhafte  Reminiscenz  aus  Lc.  10,  40 ; 
endlich  sollte  jedem  einleuchten  daß  die  Greschichte  von  der  Sal- 
bung ungeheuer  verliert,  wenn  ihre  Heldin  nicht  zum  ersten  Male 
auftritt,  sondern  schon  längst  mit  lesus  in  Verbindung  steht.  Aus 
alle  dem  dürfte  so  viel  als  sicher  hervorgehn,  daß  Lazarus  mit 
den   beiden   Schwestern    aus    der   Greschichte   hinausgetan   werden 


178  E.  Schwartz 

muß;  sie  sind  hineingesetzt,  weil  das  ursprüngliche  vierte  Evan- 
gelium sie  in  Bethanien  localisirte  und  andererseits  die  Synoptiker, 
wenigstens  Marcus  und  Matthaeus,  das  Gastmahl  bei  dem  die  Sal- 
bung stattfand,  nach  Bethanien  verlegten. 

Die  Greschichte  selbst  ist,  trotz  zahlreicher  Anklänge,  keines- 
wegs dieselbe  wie  bei  den  Synoptikern.  Die  Ausmalung  daß  an 
Stelle  der  scheltenden  Jünger  ludas  Ischarioth  tritt,  ist  lebendig 
und  deutlich  motiviert;  sie  bekommt  auch  dadurch  eine  besondere 
Bedeutung,  daß  die  hier  geschilderte  Habsucht  des  Verräters  an 
Stelle  des  'Judaslohnes'  tritt,  der  im  vierten  Evangelium  fehlt.  Er 
hat  den  Beutel  auch  an  einer  Stelle  [13, 29]  die,  wie  früher  [Nachr. 
1907,  343]  gezeigt  wurde,  höchst  wahrscheinlich  zum  ursprüng- 
lichen Bestand  gehört.  Ferner  wiederholt  sich  der  im  N.  T.  sin- 
gulare Gebrauch  von  ßaßta^sLv  =  al'Qetv  [12,  6]  in  einem  Stück  der 
Auferstehungsgeschichte  [20, 15],  das  ebenfalls  sehr  echt  aussieht. 
Im  Ganzen  betrachtet,  weicht  die  Vorstellung  daß  lesus  von  einer 
Gemeinde  begleitet  wird,  die  eine  Kasse  hat,  und  daß  es  möglich 
war  unter  seinen  Augen  die  Kasse  zu  bestehlen,  sowohl  von  der 
synoptischen  Ueberlieferung  wie  von  den  Speculationen  des  Be- 
arbeiters über  Sohn  und  Vater  so  gründlich  ab,  daß  es  geraten 
ist  hier  wiederum  eine  Spur  des  ursprünglichen,  kühn  und  mensch- 
lich erfindenden  Evangelisten  zu  wittern.  Auf  ludas  Schelten  ant- 
wortet lesus  [12,  7] :  ag)£g  avviiv  iva  eig  rijv  rjfiBgav  xov  ivtatpLccö^ov 
^ov  xriQYierit,  avto  ^).  Das  ist  etwas  ganz  anderes  als  das  was  er  bei 
Marcus  [14,  8]  und  dem  Sinne  nach  nicht  abweichend  bei  Matthaeus 
[26,  12]  sagt :  'sie  hat  mich  im  Voraus  zur  Bestattung  gesalbt'. 
Wenn  sie  die  Salbe  aufbewahren  soll,  hat  sie  das  Gefäß  nicht  wie 
bei  jenen  zerbrochen;  sie  kann  überhaupt  nur  wenig  davon  ge- 
braucht haben ,  und  die  Combination  aus  Mc.  14,  3  und  Lc.  7,  38, 
daß  'Maria  lesu  Füße  mit  einem  Pfund  Nardensalbe  bestrich  und 
seine  Füße  [zovg  nodag  ist  zweimal  gesetzt]  mit  ihren  Haaren  ab- 
wischte', ist  schon  darum  verdächtig:  die  Aushilfe  daß  sie  nicht 
alle  Salbe  verbraucht  habe,  widerspricht  dem  griechischen  Wort- 
laut. Andere  Anstöße  kommen  hinzu:  das  Abwischen  der  Salbe 
statt  der  Thränen  und  die  unleidliche  Wiederholung  von  tovg  Tcööag, 
Hier  liegt  eine  täppische  Ausgleichung  mit   den  Synoptikern   vor, 


1)  Der  folgende  Vs.  8  tovg  nrcaxovs  yccg  nccvroze  ix^rs  (jisd"'  (avT&v,  ifil  Sh 
oi)  ndvtots  i%€tE  ist  ein  junger  Einschub  aus  Mt.  26,  11  [=  Mc.  14,  6],  der  mit 
Recht  in  D  und  dem  sinaitischen  Syrer  fehlt.  Zum  ursprünglichen  Bestand  gehört 
er  keinesfalls;  was  er  bei  den  Synoptikern  motivirt,  xC  %6novs  Teagsxfts  tf/i  yv- 
vai%C\    iqyov  yuQ  tiakbv  ij^ydaato  tig  i(ii^  fehlte  ja  grade  im  vierten  Evangelium. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  179 

die  ebenso  wie  die  Einführung  des  Lazarus  mit  den  Schwestern 
ein  gut  Teil  der  echten  Greschichte  zerstört  hat.  Was  in  ihr  mit 
der  Salbe  wirklich  geschehen  ist ,  läßt  sich  nicht  mehr  erraten : 
vom  Ursprünglichen  ist  nur  r^  de  oUCa  ETtlrjQchd-i]  ix  tfjg  dö^rjg  rov 
livQov  stehen  geblieben^).  Auch  das  Praeteritum  in  den  Worten 
des  ludas  [12,  5]  diä  xC  rovto  t6  y,vQov  ovx  sjtQccd^rj  tQiaxoöicjv  di^- 
vccQLcov  xal  ido^ri  Tcrcoxotg  ist  unpassend  aus  Mc.  14,  5.  Mt.  26,  9 
eingesetzt;  es  giebt  nur  dann  Sinn,  wenn  die  Salbe  wirklich  ver- 
schwendet ist:  dem  widersprechen  aber  die  Worte  lesu.  In  dem 
echten  Evangelium  muß  natürlich  die  Weissagung  lesu  in  Er- 
füllung gegangen  sein;  die  Ungereimtheit  daß  die  Weiber  den 
schon  begrabenen  lesus  salben  wollen  [Mc.  16, 1.  Lc.  23,  56],  sollte 
vermieden  werden^).  Die  salbende  Frau  fehlt  jetzt  in  der  Schilde- 
rung der  Bestattung  19,  39.  40:  aber  der  starke  Verbrauch  von 
Aromata  findet  sich  noch  und  fällt  auf,  wegen  des  Gregensatzes 
zu  den  Synoptikern.  Was  für  eine  Frau  nun  aber  das  ursprüng- 
liche Evangelium  eingeführt  und  ob  es  sie  benannt  hat,  das  kann 
niemand  mehr  sagen. 


1)  Wilamowitz,  Reden  und  Vorträge  204:  'Von  dem  ecliten  Parfüm  genügten 
auch  dem  Reichen  wenige  Tropfen,  die  man  auf  das  Haar  oder  den  Kranz  oder 
das  Busengewand  goß.'  Wenn  das  Salbfläschchen  nur  geöifnet  oder  nur  wenig 
ihm  entnommen  wurde,   hat  es  Sinn   zu  sagen   'das  ganze  Haus  duftete  danach'. 

2)  Auch  das  Petrusevangelium  versucht  über  diese  Inconcinnität  durch  um- 
ständliche Wendungen  hinwegzukommen  [50].  Es  stand  mit  dem  vierten  Evan- 
gelium jedenfalls  in  einem  Zusammenhang:  lesus  wird  in  einem  Garten  begraben 
[24  vgl.  19,41];  die  Erscheinung  am  See  von  Tiberias,  die  im  21.  Cap.  erzählt 
wird,  scheint  eine  Parallele  gehabt  zu  haben  [60].  25  läßt  sich  mit  8,  28  ver- 
gleichen. Im  Uebrigen  ist  aus  den  dürftigen  Fragmenten  der  apokryphen  Evan- 
gelien für  das  vierte  nicht  eben  viel  zu  gewinnen.  1, 12.  21,  15  stimmen  mit  dem 
Hebraeerevangelium  frg.  9.11  gegen  Mt.  16,17;  frg.  22  ist  vielleicht  mit  6,37. 
17,  6.  9  zusammenzustellen.  Merkwürdig  ist  die  Ueberlieferung  bei  Hippolyt, 
Comm.  Daniel  4,  60  tov  kvqlov  diriYov^svov  xotg  iia^r\tats  nsgl  xf)g  iisXXovatjg  rmv 
ayccov  ßccailsLag  mg  slri  svSo^og  nccl  ^avficcaf^  ^  ncctccTtXayslg  6  'lovSag  inl  xoig 
Xsyoiisvoig  Iqprj  'xal  vig  aqa  öipstccL  travra';  6  ds  Kvgtog  k'cpri  'ravra  öipovtaL  ot 
&^LOL  y£v6(ifvoL.  Sie  wird  wohl  mit  Recht  mit  den  Presbytern  bei  Iren.  5,  33,  4, 
d.  h.  Papias,  zusammengebracht:  et  adiecit  dicens :  'haec  autem  credibüia  sunt 
credentihus.^  et  luda,  inquit,  proditore  non  credente  et  interrogante  'quomodo  ergo 
täles  geniturae  [ysvvrjiiavcc]  a  domino  perficientur?^  dixisse  dominum:  'uidebunt 
qui  uenient  in  illa\  14,  22  fragt  ludas  'warum  willst  du  dich  uns  offenbaren  und 
nicht  der  Welt'  ?  Die  Frage  liegt  in  der  gleichen  Sphäre  wie  bei  Papias-Hippolyt ; 
es  macht  nichts  aus  daß  das  Evangelium  durch  den  Zusatz  ovx  ^  'iGy-ciQimtrig  den 
s.  g.  ludas  lacobi  einführt.  Der  Anklang  in  den  Aoyia  'Iriaov  7  [Preuschen,  Anti- 
legomena  25]  an  loh.  8,  51  ist  wertlos,  da  der  Papyrusfetzen  sich  nicht  mit  Evi- 
denz ergänzen  läßt. 


180  E.  Schwartz 

Im  ursprünglichen  vierten  Evangelium  entspracli  die  erste,  mit 
der  Flucht  endende  Reise  lesu  nach  Jerusalem  [7 — 10]  den  synop- 
tischen Erzählungen  von  seinem  dortigen  Auftreten  bis  zur  Ver- 
haftung. Danach  ist  anzunehmen  daß  bei  der  zweiten,  die  nach 
Bethanien  gieng,  dem  Beschluß  der  Hohenpriester  ihn  zu  tödten 
die  Katastrophe  rasch  folgte.  Jetzt  ist  der  wichtigste  Zug  daß 
die  Verhaftung  Pilatus  zugeschoben  wurde,  unterdrückt;  was  außer 
der  Salbungsgeschichte  und  dem  sicher  eingelegten  Einzug  zwischen 
der  Sitzung  des  Synhedrions  und  der  Fußwaschung,  dem  letzten 
Ereignis  vor  der  Grefangennahme,  steht,  sind  durcheinander  ge- 
worfene Trümmer,  aus  denen  nicht  einmal  die  Spuren  eines  Granzen 
zusammenzubringen  sind.  In  dem  kleinen  Stück  11,  55—57  werden 
jüdische  Landleute  eingeführt  die  vor  dem  Pascha  in  die  Stadt 
gehn  um  sich  zu  reinigen,  die  Syra  Sin.  fügt  die  genauere  Zeit- 
bestimmung hinzu  'am  Abend'  ^) ;  damit  soll  wohl  die  Verbindung 
mit  12,  Iff.  hergestellt  werden:  die  Menge  die  am  Abend  nach 
Jerusalem  kommt,  sucht  lesus  vergeblich  im  Tempel  und  findet  ihn 
in  Bethanien.  Obgleich  die  Bezeichnung  der  Tageszeit  zu  den 
targumartigen  Zusätzen  gehören  wird,  an  denen  die  alte  syrische 
TJebersetzung  reich  ist  [vgl.  Nachr.  1907,  350],  so  bleibt  der  Zu- 
satz doch  im  Sinn  und  Zweck  des  Textes;  die  Püger  sind  nur  er- 
funden um  die  Menge  zu  schaffen,  die  nach  12,  17  [vgl.  o.  S.  175] 
bei  lesus  war.  Daß  sie  zur  ayveta  vor  dem  Fest  kommen,  hängt 
mit  der  Tagezählung  12,  1  zusammen;  das  Fest  allein  genügt  nicht 
damit  sie  schon  sechs  Tage  vorher  sich  auf  die  Reise  begeben. 
Was  für  eine  ccyvsia  eigentlich  gemeint  ist,  ist  keineswegs  klar: 
die  Reinigung  für  das  Fest,  von  der  die  Interpreten  reden,  ist  als 
stehender  Usus  keineswegs  bezeugt,  und  unmöglich  ist  es  nicht, 
daß  das  was  die  Apostelakten  [21, 23  ff.]  bei  Gelegenheit  des  Pfingst- 
festes,  an  dem  der  Krawall  gegen  Paulus  entstand,  von  Naziraeem 
erzählen,  das  Vorbild  für  das  Motiv  gewesen  ist.  Es  verklingt  so- 
fort, weil  es  nur  ein  Hülfsmotiv  ist ;  die  secundäre  Erfindung  verrät 
sich  auch  darin  daß  11,  56  nur  eine  müßige  Wiederholung  von 
7,  11  ist,  einer  ebenfalls  jungen  Einlage;  von  11,  57  war  schon 
die    Rede.      Ursprünglich    ist    in    der    ganzen    Episode    nichts. 


1)  JAA  ^=^Vo;  \»s»  joof  jofo;  das  ist  etwa  xal  ^v  ianiga  8t^  iyy^g  riv  ^ 
ioQxri.  Blaß  übersetzt  falsch  xal  ^v  rj  ioniga  xöbv  iyyvg  iogt&v:  ^ix*'«o  kann 
uur  Praedikat,  nicht  Attribut  sein,  und  steht  im  Plural  als  wenn  J»*^  =  tu 
ä^vfia  Subject  wäre.  Uebrigens  ist  die  Stelle  schwerlich  intact,  wahrscheinlich 
war  ianiga  ursprünglich  Variante  zu  der  Vulgata  iyyvg  tö  na.a%u  rmv  'lovSccicov, 
nnd  diese  Lesung  ist,  in  verkürzter  und  schwankender  Form,  später  eingetragen. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  181 

Nach  dem  'Einzug  werden  im  jetzigen  Evangelium  hellenische' 
Eestpilger,  d.  h.  Proselyten  eingeführt,  nicht  ohne  eine  gewisse  Feier- 
lichkeit: sie  müssen  erst  angemeldet  werden,  als  wäre  lesus  ein 
Bischof  der  nicht  ohne  Weiteres  Leute  empfängt,  die  nicht  zur 
Cremeinde  gehören.  Und  auch  diese  Ceremonie  wird  noch  weiter 
complicirt.  Philippus  dessen  Herkunft  zum  zweiten  Male  [vgl.  1, 
44]  genau  angegeben  wird,  als  solle  er  von  einem  anderen  unter- 
schieden werden^),  kann,  wie  es  scheint,  die  Fremden  nicht  allein 
anmelden  und  wendet  sich  an  Andreas,  seinen  Landsmann  nach 
1, 44.  Das  erinnert  an  die  Stelle  6,  8,  wo  Andreas  ausdrücklich 
als  'einer  von  lesu  Jüngern'  vorgestellt  wird,  während  Philippus 
ohne  jedes  Epitheton  auftritt.  In  der  Erzählung  von  der  Jünger- 
waJil  ist  er  ebenfalls  ein  Anhängsel  von  Andrefas  und  Petrus  [1, 
44]  2).  Die  Apostelkataloge  der  Synoptiker  [Mc.  3,  18.  Mt.  10,  3. 
Lc.  6, 14]  nennen  ihn  an  fünfter  Stelle ,  unmittelbar  nach  den 
beiden  Brüderpaaren  die  als  die  eigentlichen  Jünger  des  Herrn 
erscheinen  und  deren  Berufung  allein  ausführlich  erzählt  wird. 
Ich  muß  es  dahingestellt  sein  lassen  ob  die  Versuche  des  vierten 
Evangeliums  Philippus  zu  einer  wirklichen  Figur  auszubilden  mit 
dem  Platze  zusammenhängen,  den  er  in  den  Katalogen  der  Zwölf 
einnimmt,  will  aber  doch  daran  erinnern,  wie  ich  es  schon  Öfter 
getan  habe^),  daß  es  unrichtig  ist  den  Herrenjünger  von  dem 
Evangelisten  und  Diakonen  zu  trennen.  Grade  daß  er  als  Mitglied 
der  Sieben  missionirte  und  sich  einen  Namen  erwarb,  hat  ihm 
wahrscheinlich  die  bevorzugte  Stelle  in  der  Liste  der  Zwölf  ver- 
schafft, und  seine  dvaKovCa  scheint  auch  im  vierten  Evangelium 
eine  Rolle  zu  spielen.  "Wenigstens  ist  12,  26  säv  e^oC  rt?  dtaxovfli, 
i^ol  ccxolovd-sitco  das  Wort  dtaKoveZv  so  ungewöhnlich  gebraucht, 
daß  der  Gredanke  an  den  'Diakon'  Philippus  Act.  Ap.  6,  5  nicht 
abzuweisen  ist,    umso  weniger  als  dort  auch  die  'Hellenisten'  eine 


1)  Ethnika  werden  den  Jüngern  nie  gegeben,  auch  bei  den  Synoptikern 
nicht.  Nur  der  Verfasser  des  21.  Cap.  [2]  setzt  zu  Nathanael  hinzu  6  ccnb  Kava 
xfi?  FaXilaCas.  Damit  soll  wohl,  in  Ausdeutung  von  2,1,  die  Scene  l,45flf.  nach 
Kana  verlegt  werden. 

2)  Es  wiirde  das  noch  deutlicher  hervortreten,  wenn  es  angienge  Andreas 
zum  Subject  von  bv^Cg-abi  1,  43  zu  machen.  Dafür  spricht  das  Verbum  vgl.  1,  41. 
45  —  Philippus  würde  der  einzige  Jünger  sein,  den  Jesus  im  vierten  Evangelium 
beruft  —  und  der  Zusatz  1,  44,  der  freilich  besser  vor  v.ccl  XsyBi,  avr&L  6  ^Iriaovg 
stände.  Was  dagegen  spricht:  r^t  incivQLOv  rjd-BXriaBv  i^Bldsiv  bIs  tr}v  raXilaiccv 
[1,  43],  ist  kaum  mehr  als  ein  unglücklicher  Versuch  1,  28  mit  2, 1  topographisch 
zusammenzubringen. 

3)  Abhdlg.  VIT  5,  17.  Nachr.  1907  (Chronologie  des  Paulus). 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.  Phüolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft.  2.  13 


182  E.  Schwartz 

Rolle  spielen  ^).  Ueber  Znov  sl^l  iy6  vgl.  oben  S.  161 ;  in  dem 
Corrigierenden  Zusatz  iav  tig  ifiol  diaxovrjt,  tl^tjösl  avtbv  6  natt^Q 
wird  der  Vater  an  die  Stelle  Jesu  gesetzt,  wie  16,  15  «^  16, 14  und 
16,  26.  27  r^  14, 16. 

Die  mit  Sorgfalt  vorbereitete  Situation  die  Jesus  mit  helle- 
nischen Proselyten  zusammenbringt,  wird  nicht  ausgenutzt;  die 
^Hellenen*  verschwinden  lautlos  wie  ein  Gespenst,  12,  29  tritt  der 
'öxXog  an  ihre  Stelle,  vor  dem  Jesus  sich  12,  36  versteckt.  Das  ist 
keine  Erzählung  die  Sinn  und  Verstand  hat;  es  ist  auch  nicht 
immer  so  arg  gewesen.  Der  schöne  Spruch  12,  24,  der  nicht  aus 
1  Kor.  15,  35  fP.  erklärt  werden  darf,  ist  allerdings  eine  Prophe- 
zeihung  der  Weltkirche,  die  aus  dem  Tode  Jesu  sich  erhebt,  ebenso 
wie  die  Deutung  die  die  Juden  in  ihrem  Unverstand  den  Worten 
lesu  4hr  werdet  mich  suchen  und  nicht  finden',  geben  [7,  35  s.  o. 
S.  161].  An  diesen  Spruch  12,  24,  den  Jesus  nur  von  sich  selbst 
sagen  kann,  sind  die  beiden  Ermahnungen  12,  25.  26  gehängt.  Von 
der  zweiten  war  schon  die  Rede ;  die  erste  ist  aus  den  Synoptikern 
entlehnt.  Mt.  10, 39  steht  sie  innerhalb  der  Rede  an  die  Missionare : 
Missionare  waren  auch  die  Diakonen ,  auf  die  12,  26  zu  zielen 
scheint. 

Wie  schon  gesagt,  tritt  12,  29  eine  Menge  auf,  von  der  man 
nicht  weiß  aus  wem  sie  besteht  und  woher  sie  kommt.  Sie  bildet 
das  Publicum  in  zwei  Redecomplexen,  die  nicht  mit  einander  zu- 
sammenhängen; die  Fuge  liegt  zwischen  12,  31  und  32.  Denn  zu 
den  beiden  vvv  paßt  weder  das  an  eine  Bedingung^)  geknüpfte 
Futurum  iXxvöG)  noch  xayc),  in  dem  deutlich  das  xaC  steckt,  das  aus 
einem  Allgemeinen  eine  specielle  Anwendung  zieht.  Jesus  weis- 
sagt nicht  seinen  Tod,  sondern  er  erklärt:  'nur  dann  wenn  ich 
sterbe,  ziehe  ich  alle  nach',  ein  Ausspruch  der  dem  Jesus  des 
Lazaruswunders  und  des  Spruches  12,  24  wohl  ansteht.  Aber  der 
Ausspruch  ist  entstellt:  denn  säv  vflxo^cb  ix  tfig  yrig  ist,  trotz  der 


1)  Ob  die  eigentümlicne  Art  mit  der  Philippus  12,  22  Andreas  unterge- 
ordnet und  6,  9  im  Gegensatz  zu  diesem  nicht  als  Jünger  bezeichnet  wird,  mit 
seiner  Diakonie  zusammenhängt,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden.  Aber  zuzugeben 
ist  daß  an  beiden  Stellen  einer  von  den  beiden  besser  fehlt.  Namentlich  6, 8 
tritt  das  darin  hervor,  daß  aitcäi,  unklar  ist:  vorher  redet  nicht  Jesus,  sondern 
Philippus,  und  die  Erzählung  fließt  besser,  wenn  man  &7tB'>iQ£&ri  wbx&i  6  ^iXCnnos 
6,  7  unmittelbar  mit  6,  9  verbindet.  G,  6  ist  eine  törichte  Glosse,  die  lesu  All- 
wissenheit um  jeden  Preis  aufrechterhalten  will. 

2)  Das  haben  diejenigen  gefühlt,  die,  wie  die  Syra  Sinaitica  [j  )»]  und  Ori- 
genes ,  Zxccv  für  ^dv  einsetzen.  Die  Correctur  ist  wertvoll ;  denn  sie  verbietet 
idv  mit  laxer  Interpretation  gleich  Ztav  zu  nehmen. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  183 

unverständigen  Glosse  12,33  —  was  kommt  auf  die  Todesart  an?  — , 
eine  scMeclite  Periphrase  für  das  was  verlangt  wird:  iäv  ccTtod-dvco. 
Sie  steht  mit  der  gleichen,  unverständlichen  Kürze  auch  8,  28 :  die 
alttestamentliche  Typologie,  die  auch  3, 14  nur  flüchtig  angedeutet 
wird,  kann  von  einem  Schriftsteller  der  erzählen  will,  nicht  zu 
solchen  Brachylogien  mißbraucht  werden ;  derartige  Gedankenlosig- 
keiten verraten  den  Interpolator,  dem  das  Ganze  gleichgiltig  ist. 
Dem  Interpolator  kommt  auch  die  Torheit  zu,  der  Menge  ein  so 
rasches  und  feines  theologisches  Verständniß  zuzuschreiben,  daß 
sie  die  wahrhaftig  dunkle  Metapher  sofort  vom  Sterben  gebraucht 
und  noch  dazu  den  Menschensohn  hineinbringt,  während  lesus  diesen 
Ausdruck  noch  gar  nicht  in  den  Mund  genommen,  sondern  von 
sich  in  erster  Person  gesprochen  hat:  noch  ärger  ist  daß  dann 
nach  der  Bedeutung  dieses  Ausdrucks  gefragt  wird.  lesus  ant- 
wortet nicht  darauf;  über  das  was  er  sagt,  vgl.^oben  S.  168.  Wie 
schon  gesagt,  steckt  in  12,  32  wahrscheinlich  Echtes  und  Ursprüng- 
liches, möglicherweise  ist  auch  rjiietg  rjxovaa^sv  —  ^dvsc  sig  tbv 
aiava  [12,  34]  ein  älterer  E,est:  weiter  läßt  sich,  dank  den  Ueber- 
arbeitungen  und  Interpolationen,  nicht  kommen. 

Die  'Menge'  ist  in  diesen  zweiten  Redecomplex  wohl  aus  dem 
ersten  übertragen.  Da  sitzt  sie  in  der  Erzählung  12,  28 — 31  fest; 
diese  ist  freilich  nur  eine  schlechte  Weiterbildung  von  Lc.  22,  43, 
in  der  eine  rein  dogmatische  Auffassung  von  lesu  Tod  grell  her- 
vortritt. Er  ist  kein  Erniedrigen,  sondern  Erhöhen  ^),  kein  Scheitern, 
sondern  Herrlichkeit  [vgl.  13,  32.  17,  1.  5].  Nach  diesem  Dogma 
ist  die  Geschichte  12,  28 — 31  gemacht;  charakteristisch  ist  ferner, 
daß  die  Offenbarung  für  lesus  gar  nicht  nötig  ist  [12,  30  vgl.  die 
oben  S.  167  angeführten  Stellen].  Wie  der  Interpolator  auch  sonst 
in  Anmerkungen  die  er  in  die  Erzählung  einschaltet,  söo^ccöd'ri  ein- 
fach für  den  Tod  setzt  [7,  39.  12,  16],  so  bildet  er  den  überlieferten 
Spruch  [Mc.  14,  41  vgl.  26,  45]  ^X^sv  rj  wga,  idov  ütagadidorai  6  vibg 
Toi)  avd-gaTtov  sig  tag  xstgag  tcbv  a^ccQtcoXcbv  um  zu  [12,  23]  iXyjXvd'ev 
r}  coga  tva  do^aed^fii,  6  vibg  tov  ävd'QG}^ov :  weil  er  an  eine  zu  frühe 
Stelle  der  Handlung  gerückt  ist,  muß  er  von  lesus  selbst  wieder- 
holt werden  [17, 1 ;  vgl.  auch  13, 1].  Unter  dieser  dogmatischen 
Uebermalung  sind  aber  noch  die  Spuren  einer  älteren  Erzählung 
zu  erkennen,  die  mit  der  synoptischen  Scene  im  Garten  Gethsemane 
parallel  lief:    tccctsq,   dö^aööv  6ov  xo  ovo^a  [12,28]  ist,   wie  11,42, 


1)  Damit  hängt  wohl  die  schon  erwähnte  Brachylogie  von  vipoad-ijvca  [3,  14. 
8,  28.  12,  34 ;  vtpa&a  iyi  rfjg  yijs  nur  12,  32]  zusammen. 

13* 


2g4  E-  Schwartz 

die  Correctur  eines  ganz  anderen  Gebets  ^),  das  dem  von  Mc.  14, 
35  berichteten  entspricht.  Es  steht  aber  an  verkehrter  Stelle, 
nnd  vollends  ist  nicht  abzusehen,  wie  es  mit  der  Einführung  der 
Proselyten  zusammengebracht  werden  kann:  auf  den  Spruch  12,  24 
kann  es  unmöglich  folgen.  So  ist  es  vielleicht  Einlage  des  Be- 
arbeiters, die  von  dem  Interpolator  erweitert  wurde. 

Daß  12,  37 — 43  ein  Predigtstück  schlecht  eingeschaltet  ist, 
wurde  schon  früher  [S.  152]  nachgewiesen.  Auch  die  Rede  lesu 
12,  44 — 50  ist  an  dieser  Stelle  unmöglich :  wie  kommt  lesus  dazu 
zu  'rufen',  nachdem  er  eben  sich  vor  der  Menge  versteckt  hat,  und 
vor  welchem  Publicum  predigt  er?  Der  jüngsten  Schicht  gehört 
das  Stück  schwerlich  an ;  eine  Interpolation ,  in  12,  48^,  ist  sicher 
nachzuweisen,  vgl.  oben  S.  170. 

Eine  genaue  Analyse  der  'Abschiedsreden'  überlasse  ich  Well- 
hausen, der  an  ihnen  zuerst  entdeckt  hat,  wie  den  Räthseln  des 
vierten  Evangeliums  beizukommen  ist.  Nur  einige  Beobachtungen 
mögen  hier  Platz  finden. 

Wellhausen  stützt  seinen  Schluß,  daß  15 — 17  eingelegt  sind, 
auf  die  Worte  14, 31  iysLQsad^s,  ayco^ev  evtevd-ev.  Bei  den  Syn- 
optikern [Mc.  14,  42.  Mt.  26,  46 ;  bei  Lukas  fehlen  sie]  werden 
sie  im  Grarten,  unmittelbar  vor  der  Verhaftung,  gesprochen,  im 
vierten  Evangelium  sind  sie  vor  den  Grang  zum  Garten  gestellt. 
Ob  sie  schon  dem  ursprünglichen  Text  angehören,  kann  ich  nicht 
entscheiden;  daß  aber  der  echte  Schluß  der  ältesten  Abschiedsrede, 
die  nicht  sehr  lang  gewesen  zu  sein  braucht,  unmittelbar  vor  diesen 
Worten  stand,  läßt  sich  noch  beweisen:  der  semitische  Abschieds- 
gruß schimmert  ja  noch  in  sigilvriv  a(piriHL  vfitv  [14,  27]  durch,  und 
das  Schlußgebet  in  Cap.  17  ist  deutlich  die  Doublette  dazu,  die 
das  einfache  Original  übertrumpfen  soll  und  sich  nicht  mit  ihm 
verträgt. 

Es  genügt  keineswegs  die  Capitel  15 — 17  auszuscheiden,  da- 
mit die  echte  Abschiedsrede  rein  und  ungetrübt  hervortritt.  Von 
ihr  sind  vielmehr  nur  Reste  da,  über  denen  mehr  als  eine  spätere 


1)  Wie  die  Worte  jetzt  dastehn,  muß  man  ndxBQ,  g&g6v  hs  in  rfis  mgag  xavxris 
[12,27]  als  den  Inhalt  von  tC  etna  fassen,  das  zeigt  &XXa  diu  tovto  Tjld-ov  slg 
xriv  mgav  xavxriv ;  diu  xoüxo  widerstrebt  der  Erklärung  ähnlich  wie  7,  22  [s.  oben 
S.  158] :  doch  ist  es  hier  eher  möglich  mit  dem  Fragezeichen  zu  helfen,  weil  Tva 
a(o^m  sich  leicht  ergänzen  läßt.  Das  zweite  Gebet  [12, 28]  «ar«^,  d6^aa6v  aov  xb 
övo(ia  giebt  dann  die  berichtigende  Antwort  auf  die  mit  &lXcc  eingeleitete  Frage. 
Die  Valentinianer  hatten  eine  Ueberlieferung  nach  der  lesus  sagte  xai  r/  bCtko^ 
oi}%  olda  [Iren.  1,8,2  =  Epiphan.  31,25  p.  194^;  vgl.  S.  135].  Sie  stammt  nicht 
aus  dem  vierten  Evangelium,  sondern  ist  in  ihm  benutzt. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  18o 

Schicht  liegt.  Die  Störungen  in  14,  3  ^)  und  13,  34.  35  sind  von 
Wellhausen  erkannt  [10. 14];  über  13,36 — 38  vgl.  Corssen,  Zeitschr. 
f.  neutestamentl.  Wiss.  8,  142;  über  14,29  oben  S.  167.  14,  30.  31 
(von  den  Schlußworten  abgesehen)  stellen  sich  mit  ihrer  den  Tod 
lesu  im  Voraus  aufhebenden  Dogmatik  zu  12,  31.  10, 18.  Schwierig- 
keiten machen  die  Zwischenreden  der  Jünger.  Thomas  fragt  so, 
als  wüßten  die  Jünger  nicht,  daß  lesus  zum  Vater  geht  [14,  5] :  er 
hat  es  auch  noch  nicht  ausdrücklich  gesagt.  In  14,  4  ist  ötcov  vnayco 
ungehörig  aus  14,  5  hineingetragen :  das  doppelte  Object  zu  ol'dare 
ist  schon  sprachlich  anstößig,  und  xal  ol'öare  rr^v  odöv  schließt, 
wenn  man  an  die  jüdisch-ur christliche  Bedeutung  von  oöög  denkt, 
die  in  14,  2.  3  enthaltene  Ablehnung  der  Parusie  erheblich  schärfer 
und  praegnanter  ab,  als  wenn  f^v  odöv  durch  das  vorausgehende 
oTtov  vTcdyw  seines  vollen  Sinnes  entkleidet  wird.  Daß  Thomas 
diesen  Sinn  nicht  gleich  findet,  ist  ebenso  passend  wie  daß  lesus 
antwortet  (14,  6] :  iyio  sl^l  rj  6öög  [xal  i]  «AtjO"£ta  xal  yj  Joij]  ^)* 
oifdslg  BQxstaf,  üt^bg  tov  TCcctSQa,  et  firj  dt  sfiov:  es  ist  wohl  zu  be- 
achten daß  er  nicht  von  dem  Wege  spricht,  den  er  jetzt  zurück- 
legen wird,  sondern  von  dem  welchen  die  Jünger  zurücklegen 
sollen.  Dagegen  fällt  die  metaphysische  Speculation,  die  14,  7  ein- 
setzt, aus  dem  Bilde :  durch  Jesus  zum  Vater  gelangen  und  seine 
speculative  Einheit  mit  dem  Vater  erkennen  sind  zwei  verschiedene 
Dinge.  Lediglich  dies  Thema  wird  in  dem  zweiten  Grespräch  mit 
Philippus  ausgesponnen,  das  sich  nicht  mit  14,  7  verträgt,  sondern 
14,  6  in  derselben  Weise  wie  14,  7  weiter  führt ;  also  sind  14,  7 
und  14,  8 — 10  Dubletten.  14, 10  läßt  sich  nur  so  verstehn,  daß 
lesu  Reden  als  ein  Wirken  des  Vaters  gefaßt  werden :  man  könnte 
die  zweite  Hälfte  mit  6  ds  jtatrjQ  iv  e^ol  svegyet  paraphrasieren. 
Dieser  Gredanke  fiel  so  auf,  daß  er  doppelt  glossiert  ist,  erstens 
durch  eine,  den  Jüngern  gegenüber  unpassende  Wiederholung  von 
10,  25. 37.  38,  und  dann  durch  einen  Hinweis  auf  die  Wunder 
welche  die  Jünger  nach  Jesu  Tod  tun  werden.  Daß  in  der  Frage 
des  ludas  [14,  22]  eine  den  Presbytern  des  Papias  bekannte  Ueber- 
lieferung  umgebildet  zu  sein  scheint,  wurde  schon  gesagt  [S.  179]. 
Sie  paßt  nicht  zum  Vorhergehenden,  wo  Jesus  von  dem  Gegensatz 
zwischen  den  Jüngern  und  der  Welt  nicht  redet;  das  hat  er  14, 
17  und  14, 19  getan.  Umgekehrt  hinkt  das  Kolon  welches  das 
einzige  14,21  und  22  verbindende  Wort  s^tpavi^siv   enthält:    xccya 


1)  Nur  muß  auch  der  Finalsatz  Tva  onov  sC^lI  iym,  nal  vfisig  '^ts  fallen;  er 
fügt  sich  in  den  Irrealis  schlecht  ein  und  kehrt  17,  24.  12,  26  wieder. 

2)  Vgl.  Nachr.  1907,  3652. 


186  E.  Schwartz 

äyuTnjaoy  avzbv  r.cX  iiicpavCoa  avrai  iuavrov  hinter  der  Sclilnßkotte 
in  14,  21*  nach  nnd  sieht  nach  einem  schlechten  Verbindungsstück 
aus :  i^fpavCöG)  avtm  iiiaircöv  ist  bedenklich  unklar,  weil  es  ebenso 
von  der  Parusie  wie  von  einer  geistigen  Offenbarung  auf  Erden 
verstanden  werden  kann.  Endlich  antwortet  lesus  auf  die  Frage 
nicht,  sondern  wiederholt  zunächst  den  Syllogismus  von  14,  21*  in 
verkürzter  und  verschlechterter  Weise  und  springt  dann  zu  einem 
Wir'  über  ^),  das  die  Rede  Grottes  Lev.  26, 12  und  das  Wort  lesu 
Mt.  28,  20  mit  unzulässiger  Kürze  vereinigt,  ganz  zu  schweigen  von 
dem  unverständlichen  ütQog  avtbv  eXsvöonad^a.  Auch  dieser  Vers 
ist  ein  Flicken:  das  'Wir'  ist  nur  aus  einer  Combination  von  14, 
18  ^QioiiKL  TtQog  v^ag,  14,  22  iiikXeig  eiiq)avL^SLv  öeavtöv  und  14,  21 
ayajctid-Tjöetai  'bno  xov  natQÖg  ^ov  erwachsen;  14,  24  enthält  den 
richtigen  Gegensatz  zu  14,  21*  ( —  TT^ptjcJft).  So  scheidet  die  Frage 
des  Judas  ebenso  aus  wie  die  des  Phüippus ;  die  des  Thomas  scheint 
aus  einem  echten  Kern  erweitert  zu  sein.  Auch  nach  Entfernung 
der  störenden  Zwischenrede  des  ludas  mitsammt  dem  Kitt  der 
daran  hängt,  bleibt  das  ganze  Stück  14,  14 — 24  ein  wirres  Hin- 
und  Herreden ;  vergleicht  man  1  loh.  3,  22 — 24,  so  erscheint  alles 
wieder:  die  Gebete,  das  Halten  der  Gebote,  die  unio  mystica  und 
auch  der  Geist,  der  sich  14,  17  sammt  den  Anhängen  14,  18 — 20 
so  störend  zwischen  14,  15  und  14,  21  zu  schieben  scheiat.  Auch 
die  Schlußreihe  von  14,  21  kehrt  dem  Sinne  nach  1  loh.  2, 5  wieder. 
Nur  hängt  1  loh.  3,  22  f.  alles  gut  zusammen ,  während  die  Ge- 
danken im  Evangelium  confus  durcheinander  laufen.  Dort,  im 
Brief,  konnte  der  Schriftsteller  sich  frei  bewegen;  hier  wollte  er 
eine  Vorlage  überarbeiten  und  kam  damit  nur  schlecht  zu  Stande. 

Der  Paraklet  wird  14,  17.  15,  26.  16,  13  durch  xo  nvsv^a  ti^g 
akri^sCag ,  14,  26  durch  rö  Jtvev^a  t6  äyiov  erklärt.  Nimmt  man 
diese  Gleichung  mit  der  Bedeutung  des  Wortes  jtaQcixXritog  = 
aduocatus  ^)  zusammen,  so  ergiebt  sich  daß  der  Ausdruck  zurückläuft 


1)  Es  war  schon  den  Alten  verdächtig,  D  und  Syr.  Curet.  setzen  den  Sin- 
gular dafür  ein. 

2)  Philo  gebraucht  es  nur  appellativ  =  Fürsprecher  oder  einfach  Beistand. 
Ohne  Beistand,  von  sich  aus  erkennt  Gott,  daß  er  der  Materie  durch  seine  Gnaden- 
beweise [Qi^on]  das  Gute  zuführen  müsse,  de  opif.  mundi  23.  Der  Hohepriester 
braucht  den  Beistand  des  göttlichen  Wortes,  dessen  Träger  sein  loystov  =  itun 
ist,  um  für  das  Volk  beten  zu  können,  de  uit.  Moys.  2,  134.  Beim  Gebet  um 
Sündenvergebung  ist  das  Gewissen  ein  Fürsprecher,  de  spec.  leg.  1,  237.  Das 
Volk  Israel  hat  drei  Fürsprecher:  Gottes  Güte,  die  Frömmigkeit  der  Erzväter, 
die    eigene  Bufie,   de  exsecrat.  166.    Im  gleichen  Sinne  kommt  auch  naQaixrixi^s 


Aporien  im  vierten  Evangelium  III  187 

auf  das  Wort  lesu,  das  bei  Marcus  in  der  letzten  Rede  vor  der 
Verhaftung  steht:  kkI  otav  äycoöcv  v^stg  TtaQadidövtsg,  [iri  Ttgo^is- 
QL(iväts  xC  XaX}]6i]r£,  äXX'  b  iäv  doO'iJt  v^lv  sv  ixsivrii  tijL  agcci,, 
rovto  XaXstxs'  ov  yccQ  iöts  v^stg  oC  XaXovvtsg,  äXXä  tb  Ttvsv^a  rö 
ayiov  [Mo.  13,11]:  Matthaeus  [10,20]  und  Lukas  [12,12]  rücken 
es  früher.  Diese  Grrundbedeutung  muß  das  Wort  geprägt  haben; 
sie  tritt  aber  nirgend  mehr  rein  hervor.  Im  ersten  lohannesbrief 
[2,  1]  ist  es  zwar  noch  rein  appellativ  gebraucht,  aber  ohne  Be- 
ziehung auf  den  Greist :  das  Forum  vor  dem  der  TtagauXT^tog  fungiert, 
ist  dort  kein  weltliches,  sondern  Gott.  Es  ist  schon  oben  auf  die 
nahen  Beziehungen  hingewiesen,  welche  14,  14  ff.  mit  dem  ersten 
lohannesbrief  verbinden :  ich  vermute  daß  nicht  nur  14, 17,  sondern 
auch  ccXXov  TtagdKXrjtov  aus  der  geistigen  Sphäre  des  Brief- 
schreibers, wenn  nicht  von  ihm  selbst  herrühren.  Denn  ccXXov 
kann  nur  heißen  'außer'  oder  'nach  mir',  und  damit  ist  die  Be- 
deutung von  TCagaTcXritog  zu  derjenigen  verschoben,  die  sich  im 
Briefe  findet:  ursprünglich  kann  das  aber  nicht  sein.  Denn  wenn 
auch  im  Verhältnis  zur  Gemeinde  Christus  und  der  Geist  auf  eine 
Linie  gestellt  werden  können,  ist  darum  doch  nicht  Christus  in 
demselben  Sinne  aduocatus  wie  der  Geist,  und  eben  weil  durch 
diese  Verschiebung  der  Ausdruck  an  der  Stelle  die  ihn  einführt, 
unklar  wird  und  die  Beziehung  zu  seinem  Ursprung  verliert,  ist 
anzunehmen  daß  auch  hier  nur  das  Wort  selbst  ursprünglich  ist, 
dagegen  nicht  der  Gedankenkreis  in  den  es  gestellt  wird.  Es  ist 
gar  nicht  ausgemacht,  daß  schon  das  ursprüngliche  Evangelium 
den  Geist  der  in  den  Jüngern  selbst  ihre  Sache  führte,  mit  dem 
identificierte,  der  in  der  werdenden  Kirche  eine  immer  breitere 
und  mächtigere  Stelle  einnahm :  'in  meines  Vaters  Hause  sind  viele 
Wohnungen;  ihr  wißt  den  Weg:  fürchtet  euch  nicht':  das  war 
dort  Jesu  Abschiedswort,  und  in  dieser  Richtung  muß  sich  auch 
das  was  er  vom  Parakleten  sagte,  bewegt  haben. 

Schon  bei  der  ersten  Wiederholung  [14,  26]  ist  aus  dem  über- 
tragenen Worte  ein  fester,  durch  den  Artikel  bestimmter  Terminus 
geworden,  6  TcagdcxXritog.  Auf  irgend  einen  Gemeindebrauch  weist 
das  nicht,  sonst  müßte  6  TcaQccxXritog  als  Bezeichnung  für  den  heiligen 
Geist  unabhängig  vom  vierten  Evangelium  vorkommen  und  könnte 
der  erste  lohannesbrief  die  Metapher  nicht  so  anders  gewandt  haben. 
Es  muß  sich  also  die  Entwickelung  vom  bildlich  gebrauchten  Appel- 
lativ zu  einem  Nomen  proprium  des  Geistes  innerhalb  des  vierten 


vor,  de  mut.  nom.  129,  vgl.  de  spec.  leg.  2,  25.    Mit  dem  Parakleten  der  Christen 
hat  dies  alles  nur  das  Wort  gemeinsam. 


188  E.  Schwartz,  Aporien  im  vierten  Evangelium  III 

Evangeliums  selbst  vollzogen  haben,  und  zwar  durch  die  Ueberarbei- 
tung :  eine  Metapher  versteinert  bei  dem  Schriftsteller,  der  sie  original 
anwendet,  nicht  so  rasch  und  leicht  wie  bei  dem  Bearbeiter,  der  sie 
vorfindet  und  aus  ihr  Capital  schlägt.  Schon  14,  26  ist  6  nagd- 
xXr^tos  der  Name  des  Greistes,  der  in  der  Gemeinde  lebt  und  wirkt. 
Hier  ist  an  die  Ethik  der  Gemeinde  gedacht:  der  Geist  hält  die 
Lehre  ^),  d.  h.  die  Gebote  lesu  aufrecht,  vgl.  1  loh.  3,  24.  15, 26 
ist  der  Paraklet  der  Geist  der  für  den  christlichen  Glauben  gegen 
die  Juden  zeugt;  in  mechanischer  Weise  wird  das  historische 
Zeugnis  der  Apostel  daneben  gesetzt,  wie  in  der  Rede  des  Petrus 
Act.  Ap.  5,  32.  Derselbe  Gedanke  steckt  auch  in  16,  8 — 11 ,  nur 
ist  er  praetentiöser  ausgedrückt,  so  daß  der  Geist  zur  geoffen- 
barten christlichen  Lehre  vom  Tode  Christi  umgesetzt  wird^). 
Dagegen  tritt  in  16,  13  das  Pneuma  der  christlichen  Prophetie 
unverkennbar  heraus;  an  diese  Stelle  knüpft  das  montanistische 
Mißverständnis  an. 


1)  Vgl.  Abhdlg.  VU  5,  122. 

2)  Der  ganze  Passus  von  16,  4  ravra  [allgemein,  ohne  bestimmte  Beziehung 
auf  das  was  vorhergeht]  Ss  vfitv  i^  ccQXVS  o^x  slnov  an  ist  eine  erweiternde  Aus- 
führung von  14,  25.  26 ;  14,  28  ist  in  16,  7  zu  dem  Gedanken  verschoben :  'ohne 
meinen  Tod  würdet  ihr  nicht  die  Träger  der  Offenbarung  geworden  sein'.  Da 
schlägt  schon  die  Lehre  des  zweiten  Jahrhunderts  von  der  apostolischen  Autorität 
durch.  Smauiövvr]  und  ngiOLg  16,  8  ff.  sind  eine  Keminiscenz  an  np^lS  und  üDtDia 
des  A.  T. ;  von  dem  jüngsten  Gericht  ist  keine  Rede,  sondern  von  der  Aufrichtung 
des  Rechts  durch  den  Messias,  die  nach  den  Juden  erst  kommen  sollte  und  nach 
den  Christen  schon  durch  Jesus  vollzogen  war. 


Das  erste  Gedicht  der  Carmina  Burana. 

Von 

Wilhelm  Meyer  ans  Speyer, 
Professor  in  Göttingen. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  22.  Februar  1908. 

Die  berülimte  Handschrift  der  Carmina  Burana,  die  lateinische 
Handschrift  4660  in  München,  und  Schmellers  Ausgabe  zeigen  auf 
der  ersten  Seite  eine  feine  Zeichnung ,  Fortuna  in  ihrem  Rade  ^), 
und  dazu  passende  hübsche  Verse.  Da  scheint  feine  Buchkunst 
mitgewirkt  zu  haben.  Das  kann  auch  der  Fall  gewesen  sein. 
Aber  dann  ist  es  nicht  der  feine  Sinn  jenes  Mannes  gewesen,  der 
in  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  diese  prächtige  Lieder- 
sammlung sich  zusammenschreiben  ließ,  sondern  der  Buchbinder 
oder  sein  Auftraggeber,  welcher  in  den  letzten  Jahrhunderten  die 
zerrissenen,  verstümmelten  und  in  Unordnung  liegenden  Blätter- 
lagen und  einzelnen  Blätter  dieser  Handschrift  zu  ordnen  versuchte. 

Die  genauen  Untersuchungen,  welche  ich  in  der  Festschrift 
unserer  Gesellschaft  von  1901,  in  den  Fragmenta  Burana,  über  die 
Blätter  und  Lagen  dieser  Handschrift  angestellt  habe,  haben  er- 
geben, daß  der  jetzige  Anfang  der  Handschrift  nicht  der  wirkliche 
ist.  Nach  Schmeller's  Vorgang  habe  ich  festgestellt,  daß  im  Anfange 
der  Handschrift  die  ursprüngliche  Folge  der  Blätter  gewesen  ist: 
Bl.  43—48,  dann  1—42. 


Am  Rade  sind  4  menschliche  Gestalten  mit  den  bezeichnenden  Inschriften: 
Eegnabo .  Regno .  Regnavi.  Aber  bei  der  4.  Inschrift  hat  den  Anfang  *Ve  ve 
misero'  vor  den  Worten  'sum  sine  regno'  sowohl  der  Zeichner  in  Schmeller's 
Ausgabe  übersehen,  wie  alle  diejenigen,  welche  die  Handschrift  nachverglichen 
haben. 


190  Wilhelm  Meyer, 

Ich  habe  1901  (Eragmenta  S.  6)  bemerkt:  'Der  Anfang  von 
BJatt  43  (bei  Schmeller  no  66  S.  37)  enthält  das  Ende  eines  Ge- 
dichtes ;  er  lautete  wohl  ursprünglich  'cie  nostrum  fedus  hodie' ; 
dann  ist  zum  Anschluß  an  den  Schluß  von  Blatt  42  'stu'  die  Silbe 
'cie'  in  'dio  nostrum  etc'  geändert:  ein  Sinn  wird  so  nicht  ge- 
wonnen. Es  fehlt  also  vor  Blatt  43  der  Anfang  der  Hand- 
schrift, eine  oder  mehrere  Blätterlagen'. 

Die  Anfangssilbe  von  Bl.  43  hat  man  allgemein  als  'dio'  ge- 
lesen: ich  sah,  daß  der  senkrechte  Strich  des  d  spät  zugesetzt  sei 
und  daß  aucb  das  o  nickt  ursprünglich  sei.  Eine  neue,  korrekte 
Ausgabe  der  Carmina  Burana  müßte  also  mit  einem  Bruchstück 
und  noch  dazu  mit  einer  unsichern  Silbe  beginnen :  *c  i  e  (?)  n  o  s  t  r  u  m 
fedus  hodie  defedat  et  inficit-  nostros  ablativos  qui 
absorbent  vivos-  moti  per  dativos  movent  genitivos. 
Ein  solch  häßlicher  Anfang  wäre  eine  Schande  für  eine  so  ge- 
schmackvolle Liedersammlung. 

Ich  freue  mich,    daß  eine  neue  Ausgabe  der  Carmina  Burana 
wenigstens  vor  einem  so  häßlichen  Anfang  bewahrt  werden  kann. 
Das   obige  Bruchstück  interessirte  mich.     Es  enthält   eine  Termi- 
nologie,   in   welche   satirische   Dichter  des  12.  Jahrhunderts  öfter 
ihre  Angriffe    einkleiden.     So    heißt   in   dem   heftigen   Streitliede 
gegen  die  Curie  Bur.  no  19  die  sechste  Strophe: 
Si  te  forte  traxerit     Homam  vocativns 
et  si  te  deponere     vult  accusativus, 
qui  (quo  =  ut?)  te  restituere     possit  ablativus, 
vide,  quod  fideliter     presens  sit  dativus. 
Also  vocativus  =  Vorlader,  accusativus  =  die  anklagende  Gregen- 
partei,  ablativus  =  der  Geschenke  verlangende  Richter  der  Curie, 
dativus  =  der  bestechende  Angeklagte.     In  der   berühmten  Apo- 
kalypse  (Mapes  S.  10;  Walther  v.  Chatillon  ed.  Müldener   S.  24) 
wird  in  Str.  45  auch  noch  der  Genitivus,  meistens  =  Geschlechts- 
theil,  hinzugefügt: 

Decano  precipit,    quod,  si  presbiteri 
per  genitivos  seit     dativos  fieri, 
accusans  faciat     vocatum  fieri, 
ablatis  fratrihus     a  porta  inferi. 
Da  diese  beiden  Stellen   mich  ziemlich  beschäftigt  hatten,   so 
hatte  ich  auch  jenes  Bruchstück  im  Anfange  der  Carmina  Burana 
mir  eingeprägt.     Da  fiel  mein  Auge  in  Walter  Mapes  (ed.  Thomas 
Wright  1841)  S.  227  auf  die  Zeilen : 
defectu  pecuniae 
causa  Codri  deficit; 


das  erste  Gedicht  der  Carmina  Burana.  191 

tale  foedus  liodie 

defoedat  et  inficit 

nostros  ablativos, 

quos  absorbent  vivos, 

morti  per  dativos 

movent  genitivos. 
Damit  war  das  Gredicht  gefunden,  von  dem  der  Anfang  der 
Carmina  Burana  einen  traurigen  Eest  enthält.  Aber  es  entstand 
eine  neue  Unklarheit.  In  den  Carmina  Burana  sind  die  genannten 
Zeilen  der  Schluß  des  Gredichtes:  dagegen  bei  Wright  sind  sie  es 
nicht;  33  Kurzzeilen  gehen  ihnen  voran,  20  folgen  ihnen.  Eine 
Vergleichung  der  3  Handschriften  schuf  auch  hier  Licht.  Die 
beiden  Handschriften  R  und  C  enthalten  die  Strophen  12  3  4  und  5 
in  dieser  Ordnung ;  dagegen  die  Handschrift  L  enthält  die  Strophen 
1,  4,  3,  2  und  6;  es  fehlt  also  in  ß  und  C  die  6.  Strophe,  in  L 
fehlt  die  5.  Strophe,  aber  die  6.  Strophe  bildet,  was  wir  brauchen, 
den  Schluß  des  Gredichtes.  "Weßhalb  Wright  diese  Strophe  vor  die 
4.  und  5.  gestellt  hat,  weiß  ich  nicht.  Allein  es  ist  klar,  die 
Fassung  dieses  Liedes  in  den  Carmina  Burana  war  mit  der  Fassung 
in  der  Handschrift  Lansdowne  397  nahe  verwandt. 

Das  Gredicht  'Manus  ferens  munera'  enthält  eine  halb  satirische 
Klage  über  die  Macht  des  Greldes,  besonders  vor  Grericht.  Dieser 
Inhalt  paßt  zu  den  vollständigen  Gredichten,  welche  in  den  Carmina 
Burana  folgen.  Denn  z.  B.  no  67  enthält  den  Vers  'regnat  avaritia', 
no  68  'iuris  libertas  ancülatur,  obsecundans  pecuniae'.  Dieser  Stoff 
ist  nach  Art  der  Spruchdichtung  behandelt;  deßwegen  fehlt  es  an 
einem  deutlich  sich  entwickelnden  Gredankengang  der  Strophen  und 
deßwegen  ist  es  schwierig  zu  entscheiden,  ob  die  Ordnung  der 
Strophen  in  EC  (1.  2.  3.  4.)  oder  die  in  L  (1.  4.  3.  2.)  die  richtige 
ist.  Für  die  von  EC  könnte  wenigstens  ein  rhetorischer  Grrund 
sprechen:  in  der  1.  Strophe  wird  die  Macht  des  Greldes  mit  sechs- 
maliger Wiederholung  des  Wortes  'nummus'  geschildert;  darauf 
folgen  2  Strophen,  von  denen  jede  mit  'nummus'  beginnt;  die  2. 
schüdert  besonders  die  Begünstigung  des  Eeichen,  die  3.  die 
Schädigung  des  Armen.  Aber  ich  finde  keinen  Grrund,  welcher  für 
die  Eeihenfolge  der  Strophen  in  L  spräche. 

Die  Form  der  Strophen  ist  fein.  Hiat  innerhalb  der  Kurz- 
zeilen findet  sich  nur  Z.  29  (nach  der  Münchner  Handschrift);  er 
findet  sich  auch  nicht  zwischen  den  Kurzzeilen.  Der  Reim  ist 
zweisilbig;  nur  Z.  22  steht  ein  'ötas'  gegen  2  'itas'.  Wiederholt 
wird  der  Eeim  itur  (Str.  2)  in  Str.  5:  das  ist  aber  Caesurreim. 
Die   Strophe   ist   entwickelt   aus   der   Vagantenzeile  7  u  __  +  6  ^  u : 


192  Wilhelm  Meyer, 

zuerst  6  Knrzzeilen  zu  7 ^^,  dann  4  Kurzzeilen  zu  6  —  u.  Diese 
Kurzzeilen  sind  zu  Langzeilen  verbunden :  also  7u__a4-7u_c, 
7u  —  a  +  7u_c,  7vj  —  a  +  7u-.c;  dann  nach  einer  Sinnespause : 
6  —  ub  +  6_ub,  6_ub-f6_ub.  Die  Sinnespause  nach  der  ersten 
Halbstrophe  ist  nur  in  der  6.  Strophe  vernachlässigt. 

1 

Manus  ferens  munera        pium  facit  impium. 
nununus  iungit  federa,         nummus  dat  consilium. 
3  nummus  lenit  aspera,         nummus  sedat  prelium. 
nummus  in  prelatis         est  pro  iure  satis. 
5  nummo  locum  datis,         vos  qui  iudicatis. 

2 
Nummus  ubi  loquitur,         fit  iuris  confusio. 
pauper  retro  pellitur,         quem  defendit  ratio. 
8  sed  dives  attrahitur        pretiosus  pretio. 

hunc  iudex  adorat;         facit  quod  implorat. 
10  pro  quo  nummus  orat,         explet,  quod  laborat. 

3 
Nummus  ubi  predicat,         labitur  iustitia, 
et  causam,  que  Claudicat,        rectam  facit  curia. 
13  pauperem  diiudicat        veniens  pecunia. 

sie  diiudicatur,         a  quo  nichil  datur. 
15  iure  sie  privatur,         si  nil  offeratur. 

4 
Sunt  potentum  digiti        trahentes  pecuniam. 
tali  preda  prediti        non  dant  gratis  gratiam. 
18  sed  licet  illiciti        censum  censent  veniam. 

clericis  non  morum        cura,  sed  nummorum, 
20  quorum  nescit  chorum        chorus  angelorum. 

5 
*Date,  vobis  dabitur'        talis  est  auctoritas. 
sancti  pie  loquitur        impiorum  pietas. 
23  sed  adverse  premitur        pauperum  adversitas. 

quo  vult  ducit  frena,        cuius  bursa  plena. 
25  sancta  dat  crumena        sancta  fit  amena. 

6 
Hec  est  causa  curie,        quam  daturus  perficit. 
defectu  pecunie        causa  Codri  deficit. 
28  tale  fedus  hodie        defedat  et  inficit 

nostros  ablativos,        qui  absorbent  vivos; 
30  moti  per  dativos        movent  genitivos. 


das  erste  Gedicht  der  Carmina  Burana.  193 

K  =  Brit.  Museum   Regius.    8.   B.  VI  f.  18»;  C  =  Cambridge   Corpus 

Christi  College   177  f.  202»,  2.  Spalte  L  =  Brit.  Museum   Lansdowne   397  f. 

10b.  R  und  L  hat  Th.  Wright,    Walter  Mapes  1841  S.  226  zum  Abdruck  be- 

nützt; C  habe  ich  gefunden.  RCL  habe  ich  selbst  1906  verglichen  und  über  L 
nachträglich  freundliche  Mitteilung  von  Prof.  B.  Priebsch  in  London  erhalten. 

I  1  inpium  L  2  Munus  L  2  nitigit  statt  iungit  R  3  Munus  L 
3  lenit  Meyer,  levit  Wright;  in  diesen  Hften  ist  n  und  u  kaum  zu  unterscheiden, 
munus  sedat  L  Nummus  und  Munus  wechseln,  wie  hier  in  L,  so  auch  sonst; 
vgl.  Carmina  Burana  no  19,  Str.  9  und  10. 

II  steht  nach  IV  +  III  in  L  6  vgl.  Bur.  19,  10,  7  ubi  nummus  loquitur; 
Mapes  S.  223,  17  Cum  nummus  loquitur.       8  s ;  (d.  h.  set)  L      9  inplorat  L 

III  steht  nach  I  +  IV  m  L  11  ubi  loquitur  L  12  cäm  (causam)  L,  causa 
RC  rectam  facit  curia  L:  recta  seuicia  R;  cedit  seuicia  und  recta  mit  anderer 
Tinte  über  cedit  C  15  iure  s;  (set)  L        15  afiferatur  L 

IV  steht  nach  I  in  L  17  graciam  L,  grotii  (?)  R  17  vgl.  Burana  no  18,7: 
Ibi  nemo  gratus  gratis,  Neque  datur  absque  datis  Gratiani  gratia.  18  s;  (set) 
RL  18  illiciti  RC,  illicito  und  s  über  o  L  18  census  cens.  L  19  cura  s; 
L,  cura  fit  RC  20  nescit  om.  L  20  thorum  LC  chorus:  corus  L,  deus 
RC  Wright 

V  fehlt  in  h  21  vgl.  Lucas  6,  38  date  et  dabitur  vobis;  Burana  192,2,  3 
date,  vobis  dabitur;  sonst  vcjl.' z.  B.  Bur.  19,16  Das  istis,  das  aliis,  addis  dona 
datis;  et  cum  satis  dederis,  querent  ultra  satis  21  tal  mit  Querstrich  durch  I 
{d.  h.  talis)  RC,  tale  Wnght  22  danti  pie?  23  s;  R  24  vult  {so  daß  man 
It  als  a  lesen  kann)  R,  vis  und  darüber  vult  C :  una  Wright  25  Vielleicht  sancta 
et  amena  =  das  heilig  geachtete  und  beliebte  Gold  schafft  Einem  selbst  Heiliges 
(Weihen  etc.) ;  doch  ist  der  Hiat  bedenklich. 

VI  Diese  Strophe  fehlt  in  RC ;  sie  steht  nach  Str.  II  als  letzte  in  L ;  in  der 
Hft  der  Carmina  Burana,  München  Latin.  4660,  beginnt  Blatt  43  mit  den  Worten : 
cie  (?)  nostrum  fedus  hodie  defedat  et  inficit  nostros  ablatiuos  qui  absorbent 
uiuos  moti  per  datiuos  mouent  genitiuos.  causa  Codri:  vgl.  Bur.  2,  5,  wo  die 
Mahnung,  mit  üeberlegung  nur  Würdigen  Geschenke  zu  geben,  geschlossen  wird 
mit  den  Worten:  In  te  glorior,  quia  Codro  Codrior  omnibus  abundas.  Aber 
welcher  Codrus  ist  das?  Der  sich  opfernde  attische  König?  oder  der  arme 
Schlucker  bei  luvenal  3,  203?  oder  ein  Anderer?       28  tale  L,  nostrum  Bur. 

29  qui  Bur-,  quos  L  30  moti  Bur.,  morti  L;  vgl.  Bur.  19,6  u.  Apokalypse 
Str.  45  (oben  S.  190).  Der  Sinn  scheint  zu  sein:  die  bei  uns  lebenden  Räuber 
(Ablativi)  verschlingen  Alle  mit  Haut  und  Haar,  und  durch  Bestecher  (dativi) 
bewogen  treten  sie  thatkräftig  (genitivi)  für  dieselben  ein. 


Lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik. 

Von 

Wilhelm  Meyer  aus  Speyer 
Professor  in  Göttingen. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  21.  März  1908. 

Vor  zwei  Jahren  habe  ich  die  von  Auspicius  um  470  in  Toni 
verfaßten  rythmischen  Jamben  wieder  herausgegeben  und  ihre  Form 
besprochen  (Nachrichten  1906  S.  192—229).  Jetzt  hat  P.  Maas  in 
der  byzantinischen  Zeitschrift  (XVII  S.  239 — 245)  meine  Arbeit 
besprochen,  hauptsächlich  ausgehend  von  einem  Vergleich  dieser 
lateinischen  Zeilen  mit  einigen  Zeilen  byzantinischer  Strophen. 
Die  von  ihm  dabei  vorgebrachten  Ansichten  halte  ich  für  unrichtig 
und  die  angewendete  Methode  für  gefährlich;  deßhalb  wül  ich  sie 
hier  besprechen.  Ich  füge  einen,  so  viel  ich  finde,  noch  nicht  ge- 
druckten, sehr  alten  Rythmus  einer  bemer  Handschrift  bei,  dessen 
Achtsilber  zu  denen  des  Auspicius  in  bemerkenswerthem  Gegen- 
satze stehen. 

Früher  war  die  Ansicht  verbreitet :  als  der  Wortaccent  mächtig 
geworden  sei,  habe  man  angefangen,  in  die  Vershebungen  der  ge- 
wöhnlichsten quantitirenden  Zeilen  Silben  einzuschieben,  welche 
mit  dem  Wortaccent  belegt  sind.  So  seien  die  rythmischen  Zeilen 
entstanden,  wie: 

Quae  tdli  viro  r^geris. 
Appar^bit  r^pentina  dies  mdgna  dömini. 
Als  ich  die  Formen  der  rythmischen  Dichtkunst  untersuchte, 
sah  ich,  daß  jener  einfachen  Theorie  nirgends  die  Thatsachen  ent- 
sprechen. Neben  Zeilen,  welche  den  Füßen  der  quantitirenden 
Schablone  entsprechen,  stehen,  wenn  es  überhaupt  möglich  ist,  oft 
ebenso    viele,    welche    widersprechen.     Viele   deutsche    Gelehrten 


Wilhelm  Meyer,  lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik.    195 

hatten  sich  geholfen  durch  Annahme  der  schwebenden  Betonung, 
wornach  man  jedes  lateinische  Wort  betonen  kann,  wie  man  will. 
Ich  hielt  mich  an  die  feststehende  Betonung  der  lateinischen 
Wörter  und  erklärte:  die  Zeilen  der  lateinischen  Rythmik  zählen 
Silben  und  achten  auf  eine  bestimmte  Schlußkadenz;  außerdem 
werden  noch  einige  allgemeine  Regeln,  je  nach  der  Art  und  der 
Lebenszeit  des  Dichters,  mehr  oder  minder  genau  befolgt :  es  wird 
Hiatus  gemieden;  es  wird  das  gemieden,  was  ich  daktylischen 
Wortschluß  genannt  habe  (Auspicius  S.  201),  und  endlich  wird, 
außer  durch  est,  nicht  leicht  der  Zeilenschluß  durch  ein  einzelnes 
einsilbiges  Wort  gebildet.  Sind  die  quantitirenden  Zeilen  durch 
Caesur  durchschnitten,  dann  wird  auch  das  rythmische  Nachbild 
genau  in  die  entsprechenden  Kurzzeilen  getheilt  und  in  deren 
Schluß  werden  die  entsprechenden  Kadenzen  nachgebildet. 

Im  Allgemeinen  werden  Zeilen  von  mehr  als  8  Silben  in  2 
Kurzzeilen  zerlegt,  Zeilen  von  weniger  als  8  Silben  werden  nicht 
durch  Caesur  getheilt.  In  den  Kurzzeilen  von  4,  5,  6  und  7  Silben 
finden  sich  vor  der  Schlußkadenz  all  die  möglichen  Tonfälle:  also 
z.  B.  von  Siebensilbem  mit  steigendem  Schluß  (7  u  _)  zunächst  die 
Schablone:  Saxa  növem  flumina-  Perdidisti  nobile-  Saeculi  qui 
crimina;  dann  mit  Taktwechsel:  Quas  ünda  salsiflui-  Subtilis  in- 
genio ;  endlich  bei  rohen  Dichtem :  Qui  saeculi  crimina ;  damit  sind 
die  möglichen  Variationen  des  Tonfalles  erschöpft. 

Die  Zeilen  von  8  Silben  stehen  auf  der  Grrenze.  Die  aus  4 
Trochaeen  bestehenden  quantitirenden  Achtsilber  enthalten  4 
sichere  Vershebungen;  bei  ihnen  lag  der  Gredanke  an  eine  Caesur 
näher  als  bei  den  aus  4  Jamben  bestehenden  Achtsilbem,  deren 
vierte  Hebung  die  Schlußsilbe,  also  anceps  war.  Das  tritt  auch 
in  den  entsprechenden  rythmischen  Achtsilbem  hervor.  Die  Acht- 
silber mit  sinkendem  Schluß  im  Psalm  des  Augustin  zeigen  alle 
möglichen  Betonungen:  Solet  fratres  conturbare-  Quando  retia 
ruperunt-  lUi  minantur  de  füste.  Höminös  miiltum  superbi-  Adda 
quod  mnöcöns  erat;  Dixerunt  maiöres  nöstri-  Non  iüdic6s  cönse- 
d^runt;  Qui  possent  causam  librorum.  Iniquus  pöpülüs  ille.  Da- 
gegen in  dem  schon  von  Beda  citirten  Hymnus  Apparebit  repen- 
tina  dies  magna  domini  ist  die  erste  Halbzeile  zu  8  ^  u  regelmäßig 
zerlegt  in  4_vj  +  4_vj:  Für  obscura-  völut  nöcte.  Dasselbe  ge- 
schieht auch  sonst  in  dieser  Zeile  außerordentlich  oft.  Da  nun  bei 
dieser  Zerlegung  der  Wortaccent  vollständig  trochäisch  sein  muß, 
so  haben  Manche  hier  den  Uebergang  von  den  quantitirenden 
Püßen  zu  den  rythmischen  finden  wollen. 

Den  jambischen  Dimeter  haben  die  alten  Griechen  gern  in  2 


J96  Wilhelm  Meyer, 

gleiche  Theile  zerlegt.  Die  späteren  Lateiner  gingen  in  Fragen 
der  Caesur  sehr  selbständig  vor.  Von  einer  Caesur  des  lateinischen 
quantitirenden  jambischen  Dimeter^s  hat  bisher  Niemand  gesprochen. 
Kach  meiner  Theorie  war  im  ryihmischen  Nachbilde  des  jambischen 
Dimeters  vor  der  Schlußkadenz,  also  vor  der  5.  Silbe,  der  Toniall 
frei  gegeben.  Möglich  sind  also  nach  meiner  Lehre  (vergleiche 
Seite  221)  die  Spielarten: 


pater  direjxit  filium 
sonus  magnns  |  intonnit 
quinto  iam  vojlatilia 


miratur  cun|ctus  populus 

quem  Abraham  |  ut  höspitem 

de  päradijsi  gaüdiis 

hoc  totum  figuraliter 

Dann  bei  rohen  Dichtem: 

aridä  paitent  limina  ibi  patü|it  trmitas. 
W.  Brandes  hat  nun  im  Programm  des  Herzoglichen  Gymnasiums 
in  Wolfenbüttel  1905  die  rythmische  Epistel  des  Auspicius  heraus 
gegeben,  und  hat  dabei  auch  die  rythmische  Form  eingehend 
untersucht.  Es  sind  41  ambrosianische  Strophen.  Brandes  hat 
richtig  hervorgehoben,  daß  unter  den  164  Zeilen  des  Auspicius  nur 
in  5  die  3.  Silbe,  aber  in  allen  übrigen  die  4.  Silbe  mit  Wort- 
accent  belegt  ist.  Daraus  hat  Brandes  gefolgert,  daß  Auspicius 
mit  Absicht  die  4.  Silbe  betont  habe,  daß  er  überhaupt,  außer  dem 
ersten,  die  jambischen  Füße  des  quantitirenden  Vorbildes  habe 
nachahmen  wollen,  daß  also  meine  Lehre  von  dem  Anfang  der  ryth- 
mischen  Dichtkunst,  von  der  bewußten  Annahme  des  Silbenzählens, 
unrichtig  sei.  Anderseits  fand  Brandes  nur  wenig  andere  Strophen, 
deren  Bau  ihm  dem  Zeilenbau  des  Auspicius  ähnlich  zu  sein  schien, 
während  die  ganze  übrige  Masse  zu  meiner  Lehre  paßte;  deßhalb 
construirte  Brandes  eine  frühe  Periode  der  rythmischen  Dichtung, 
in  welcher  die  Füße  des  quantitirenden  Vorbildes  nachgeahmt 
worden  seien. 

Alles  geht  hier  aus  von  der  richtig  constatirten  Thatsache, 
daß  Auspicius  fast  immer  die  4.  Silbe  accentuirt.  Aber  ich  wies 
zunächst  nach,  daß  Auspicius  eine  sonst  ganz  gewöhnliche  Betonung 
der  4.  Silbe  vermieden  hat;  er  hat  nemlich  nur  die  2  Verse: 
Auspicius  I  qui  diligo  und  Aut  r^novds  |  aut  superas,  während  sonst 
in  diesen  rythmischen  Zeilen  diese  Bildung  ganz  gewöhnlich  ist. 
Dann  vereinigte  ich  die  Beobachtung  von  Brandes  und  die  meine 
dahin,  daß  Auspicius  es  gemieden  habe,  die  4.  Silbe  durch  die 
Schlußsilbe  eines  Wortes  zu  bilden,  ohne  darauf  zu  achten,  ob  sie 
accentuirt  sei  oder  nicht.  Das  führte  mich  weiter  darauf,  daß 
hier  gemieden  sei,  die  Zeile  in  2  ganz  gleiche  Hälften  zu  zerlegen. 
So  haben  schon  die  alten  Griechen  und   dann  noch   viel  strenger 


lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik.  197 

die  Roemer  es  gemieden,  den  Trimeter  in  2  völlig  gleiche  Hälften 
von  je  3  Jamben  zu  zerlegen  und  haben  deßhalb  die  Caesur  ein- 
geführt. Diese  ist  eine  schwankende:  entweder  wird  die  erste 
Senkung  der  zweiten  Hälfte  noch  mit  der  ersten  Hälfte  verbunden, 
oder  die  letzte  Hebung  der  ersten  Hälfte  wird  mit  der  zweiten 
Hälfte  verbunden,  also  3^  imd  J2  oder  2J  und  J3  Füße  oder,  in 
Silben  ausgedrückt,  7  +  5  oder  5  +  7  Silben :  Amans  iratus  •  mülta  • 
mentitur  sibi.  Dasselbe  war  offenbar  hier  geschehen.  Die  4 
Jamben  sind  zerlegt  in  IJ  +  ^2  oder  2J  +  Jl  oder  ^  +  1  +  Jl  Füße 
oder  in  Silben  ausgedrückt  in  3  +  5  oder  5  +  3  oder  3  +  2  +  3 
Silben.  Es  war  zu  vermuthen,  daß  dies  Caesurgesetz  schon  von 
quantitirenden  Dichtern  befolgt  worden  sei,  und  beim  Suchen  fand 
ich  wirklich,  daß  Prudentius  in  Peristephanon  V  unter  576  Zeilen 
nur  11  hat,  welche  nicht  im  2.  oder  3.  Fuß  trochäisch  durch- 
schnitten sind.  Daß  Auspicius  diese  Caesur  gesucht  hat,  wird 
auch  dadurch  bewiesen,  daß  er  auch  Verse  gemieden  hat,  wie 
Tamen  non  generaliter,  Quinto  iam  volatilia.  Sie  haben  auf  der 
4.  Silbe  Nebenaccent  und  zerfallen  nicht  in  2  völlig  gleiche  Theile . 
aber  sie  sind  caesurlos  und  werden  deßhalb  von  Auspicius  gemieden: 
Es  hat  also  die,  allerdings  wenig  verbreitete,  Schullehre  ge- 
geben, daß  der  jambische  Dimeter  durch  Caesur  getheilt  werden 
solle.  Diese  Schullehre  hat  Auspicius  gekannt  und  in  seinen  ryth- 
mischen  Versen  zu  befolgen  versucht.  Seine  rythmischen  Zeilen 
bestehen  also  aus  2  Stücken  von  3  +  5  oder  5  +  3  Silben;  das  erste 
Stück  hat  stets  sinkenden,  das  zweite  steigenden  Schluß.  Also 
bringt  Auspicius  folgende  Zeilen :  a)  regelmäßige,  b)  unregelmäßige : 

1.  u_u,  _u_u_:  antiquis •  comparabili  14 

2.  u_u,  _u,  _u_:  conlatus •  tänta •  gratia  42 

3.  — u,  u_u,  _u^:  mägnas  caelesti-  dömino  48 

4.  rv-»rN^u_u,  _u_:  religioni •  deditus  52 

b.  Zeilen  ohne  Caesur  (Ausnahmen) : 

5.  — u_u,  u_v^_:  erit  credo  velocius  5 

6.  u_u_,  u_u-^:  aut  r^noväs  aut  süperas  2 

7.  _u,  rvj,  rv>»u_u_:  tämen  non  generaliter  1 

In  den  regelmäßigen  Zeilen  des  Auspicius  no  1 — 4  ist  es  unver- 
meidlich, daß  die  4.  Silbe  mit  Wortaccent,  meistens  mit  vollem 
Accent,  seltener  mit  ISTebenaccent,  belegt  ist;  die  Betonung  der 
beiden  ersten  Silben  ist  frei  gegeben.  Daktylische  Wortschlüsse, 
wie  dridä  patent  limina  erlaubte  sich  Auspicius  nicht,  da  er  nicht 
zu  den  rohen  Dichtem  gehört;  die  noch  übrige  Möglichkeit  Ibi 
patüit  trinitas  erlaubte  sich  Auspicius  noch  weniger,  da  hier  auch 
die  Caesur  gefehlt  hätte. 

Kgl.  Ges.  d.  WisB.  Nachrichten.  Philolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft.  2.  14 


198  Wilhelm  Meyer, 

So  sind  die  Eigenthümliclikeiten  der  Zeilen  des  Auspicius  er- 
klärt, völlig  in  Uebereinstimmung  mit  meiner  Lehre  über  den  Anfang 
der  rytkmischen  lateiniscben  Dichtung.  Die  von  Brandes  construirte 
Vorstufe  ist  beseitigt  und  nichts  widerspricht  meiner  Theorie,  daß 
im  4.  Jahrhundert  lateinische  Christen  mit  einem  festen  Entschluß 
der  Quantität  und  ihren  Füßen  den  Abschied  gegeben  haben  und 
nur  deren  gewöhnlichste  Zeilenarten  nachgebildet  haben,  wobei  sie 
auf  die  Zahl  der  Silben,  auf  etwaige  Caesur  und  auf  die  Schluß- 
kadenz in  Caesur-  und  Zeilenschluß  achteten. 

Brandes  nennt  S.  32  einige  Hymnen,  deren  Zeilenbau  mit  dem 
des  Auspicius  in  allen  Punkten  übereinstimme;  ich  will  sie  hier 
prüfen:  lam  lucis  splendor  rutilat  (Daniel  I  69):  hat  stets  die 
richtige  Caesur,  doch  bei  Daniel  sind  es  12,  ja  bei  "Werner  (S.  107) 
gar  nur  8  Zeilen.  lam  ter  quatemis  trahitur  (bei  Dan.  I  81: 
16,  bei  Dreves  II  84:  32  Zeilen):  2  Zeilen  ohne  Caesur.  Jesu 
nostra  redemptio  (Daniel  I  63,  Dreves  II  49):  in  20  Zeilen  2 — 3 
Zeilen  ohne  Caesur.  Mysteriorum  signifer  (Daniel  I  104,  Werner 
144) :  in  32  Zeilen  3  caesurlose.  Hex  aeteme  domine  (Dan.  I  85 : 
64  Zeilen);  ich  nehme  nur  die  bei  Werner  122  und  Dreves  II  47 
gedruckten  Verse  1 — 28 :  darunter  sind  7  caesurlose.  Gegenüber 
der  großen  Masse  der  ambrosianischen  Strophen  kommen  diese 
wenigen  kaum  in  Betracht ;  aber  die  Aehnlichkeit  ihres  Zeilenbaus 
ist  zum  Theil  sehr  fraglich. 

P.  Maas  hat  meine  Untersuchungen  besprochen  in  der  byzan- 
tinischen Zeitschrift  XVII  S.  239.  Ich  will  zunächst  das  vornehmen, 
was  er  über  die  lateinischen  ßy^thmen  selbst  vorbringt. 

Maas  bringt  zunächst  (S.  240)  die  Grabschrift  des  523  ver- 
storbenen Abtes  Achivus  von  Acaunum  mit  dem  Anfang  'Amore 
Christi  fervidus'  (vgl.  Chevalier  no  22931  Amore  Christi  fervidi 
und  no  1010  Amore  Christi  nobilis).  Es  sind  4  Strophen,  deren 
meiste  Zeilen  durch  Akrostichon  gebunden  sind.  Maas  hat  Recht, 
diese  16  Zeilen  sind  ebenso  gebaut,  wie  die  des  Auspicius;  sie 
haben  alle  die  richtige  Caesur,  und  der  Vers  9  Benigna  quies  nunc 
verum  Beatae  luci  transtulit  ist  verderbt ;  es  muß  wohl  'nunc  eum* 
corrigirt  werden. 

Dann  meint  Maas,  außer  den  oben  erwähnten  von  Brandes 
citirten  Hymnen  habe  noch  der  um  550  citirte  Hymnus  'Bis  temas 
horas  explicans'  (Dan.  I  23)  sehr  ähnlichen  Zeilenbau.  Das  ist  sehr 
unrichtig.  Denn  in  diesen  32  Zeilen  ist  die  Caesur  oft  verletzt, 
wie  in  den  Zeilen  8  Prece  mixta  Davidicis;  14  Peccantibus  dat 
veniam,  30  Oratio  canentium;  ebenso  in  Z.  9  18  21  22  25  und  32. 
Ja,  mir  ist  es  überhaupt  fraglich,   ob  der  Hymnus  rythmisch  sein 


lateinische  Kythmik  und  byzantinische  Strophik.  199 

will.  Er  ist  nur  dann  rythmiscli,  wenn  man  Alles  rythmiscli  nennt, 
was  nicM  quantitirend  ist.  Die  SilbenzaM  würde  für  quantitirende 
und  rythmische  Art  passen;  ja  die  Elision  in  29  'Tunc  enim  deo 
accepta  est'  spricht  für  die  quantitirende  Art.  Allerdings  ist  die 
Quantität  oft  stark  verletzt,  aber  die  Gresetze  der  Rythmik  noch 
mehr.  Man  vergleiche  die  Schlüsse  9  di^m  vere ;  11  cäntantes  deo ; 
17  desit  tamen;  18  servis  dei;  20  pra^dixit  nöbis;  20  idto  deo; 
25  deo  canät ;  31  id^m  gerat :  das  sind  unter  32  acht  unry thmische 
Schlüsse.  Mir  scheint  der  Verfertiger  dieser  Zeilen  sich  mit  dem 
bloßen  Silbenzählen  begnügt  zu  haben ;  um  die  rythmische  Schluß- 
kadenz bekümmert  er  sich  nicht  mehr  als  um  die  Quantität.  Frei- 
lich wäre  bei  diesem  Zeilenbau   das  Gredicht  eine  große  Rarität. 

Grleich  hier  bleibt  mir  unklar,  wie  Maas  einen  wesentlichen 
Punkt  verstanden  hat.  Die  eben  besprochenen  Hymnen  sind  es, 
in  welchen  außer  der  6.  auch  die  4.  Silbe  den  Tonfall  des  jambi- 
schen Schemas  nachmalen  soll.  Diese  Hymnen  sind  gewiß  wenige. 
Nun  sagt  Maas  S.  243  'Wenn  von  den  späteren  Dichtern  wenige 
sich  gar  nicht  um  den  Accent  im  Innern  des  Achtsilbers  gekümmert 
haben  (so  der  des  Plangit,  vgl.  "W.  M.  S.  224)  .  .'.  Also  Maas 
meint,  auch  jene  Dichter,  welche  sich  um  den  Tonfall  vor  der  5. 
Silbe  des  Achtsilbers  nichts  gekümmert  haben,  seien  nur  'wenige'. 
Da  aber  die  Anzahl  der  rythmischen  ambrosianischen  Strophen 
eine  gewaltige  ist  —  Brandes  S.  32  nennt  sie  'geradezu  ungeheuer- 
lich' — ,  welcher  Art  sind  denn  nach  Maas'  Vorstellung  jene  Tau- 
sende von  Strophen,  die  von  der  ungeheuerlichen  Menge  übrig 
bleiben,  wenn  wir  die  von  ihm  genannten  beiden,  nur  'wenige' 
Hymnen  umfassenden  Grruppen  abziehen?  Ich  kann  nicht  finden, 
wie  beschaffen  Maas  dieselben  sich  vorstellt.  Das  ist  aber  sehr 
wesentlich.  Für  mich  liegt  nemlich  die  Sache  so :  ich  habe  einst 
sehr  viele  Gredichte  in  ambrosianischen  Strophen  geprüft,  aber 
überall  gefunden,  daß  vor  der  Schlußkadenz,  d.  h.  hier  vor  der 
5.  Silbe  kein  bestimmter  Tonfall  beobachtet  wurde.  Das  stimmte 
mit  dem,  was  ich  in  andern  rythmiscjien  Zeilen  gefunden  hatte, 
und  darnach  habe  ich  meine  Regel  formulirt.  Jetzt  ist  nach- 
gewiesen, daß  bei  Auspicius  und,  wenn's  nicht  Zufall  ist,  in  den 
3  Strophen  von  'lam  lucis  splendor'  und  in  den  4  Strophen  der 
Grabschrift  des  Achivus  in  der  Regel  die  4.  Silbe  betont  ist,  also 
uur  die  2  ersten  Silben  frei  gegeben  sind:  doch  diese  Eigenthüm- 
lichkeit  erklärt  sich  vollkommen  daraus,  daß  in  diesen  Strophen 
der  Achtsilber  durch  Caesur  getheilt  ist.  Nun  mag  man  ja  noch 
sechs  Mal  so  viel  Gedichte  finden,  in  welchen  diese  Caesur  beob- 
achtet  ist,    immerhin   bleibt   nach   meiner  Ansicht   die   Menge,    in 

14* 


200  Wilhelm  Meyer, 

welcher  der  Dichter  nm  den  Tonfall  im  Innern  der  Zeile  sich  nichts 
gekümmert  hat,  wie  jener  des  schönen  Gredichtes  Plangit  cor  meum 
misere,  eine  gewaltige.  Maas  aber  sagt,  diese  Dichter  seien  nur 
wenige.  Was  also  meint  er  von  seiner  3.  Menge,  einer  gewaltig 
großen,  welche  ja  beim  Abzug  jener  beiden  wenige  Nummern 
zählenden  Grruppen  für  ihn  übrig  bleibt? 

S.  240/241  bespricht  Maas  jene  5  Verse  des  Auspicius,  in 
welchen  die  3.  Silbe  accentuirt  ist  und  nicht  die  4.,  wie  Erit  cr^do 
velöcius  oder  Quam  si  forte  improvidus.  Er  sagt  dabei:  'Wenn 
am  Versschluß  V.  135  üt  simul  zweifellos  Proparoxytonon  ist  (obwohl 
W.  M.  das  nicht  notirt),  kann  dann  nicht  si  forte  ebenfalls  pro- 
paroxytonisch  gelesen  werden?  Und  können  nicht  auch  enim,  tibi 
und  credö  so  gut  enklitisch  sein  wie  im  Grriechischen  yag  6ol  und 
(fi]lin  Und  muß  quidquid  unbedingt  auf  dem  ersten  quid  betont 
werden?  Ich  stelle  diese  Fragen,  weil  Meyer  sie  nicht  gestellt 
hat'.  Auf  diese  Fragen  habe  ich  schon  so  oft  geantwortet,  daß 
es  mir  zuwider  ist,  noch  einmal  darauf  zu  antworten.  Sie  bejahen, 
heißt  die  rythmische  Dichtkunst  zu  dem  Messer  ohne  Klinge  machen, 
an  dem  der  Grriif  fehlt.  Was  den  Zeilenschluß  *üt  simül'  betrifft, 
so  habe  ich  öfter  (z.  B.  Gres.  Abh.  II  7  und  II  365  Note)  darauf 
hingewiesen,  daß  im  Zeilenschluß  ein  jambisches  Wort  mit  vorher 
gehendem  einsilbigen  Worte  hie  und  da  von  rythmischen  Dichtem 
als  Proparoxytonon  gebraucht  worden  ist.  Dazu  mögen  auch  Ver- 
bindungen wie  attamen,  insimul,  etenim,  necubi  sie  ermuthigt  haben. 
Eine  andere,  abscheuliche  Betonung  entstände  bei  siforte,  erit  credo. 
Aber  hat  Maas  denn  nicht  gesehen,  daß  diese  Zeilen  mit  eben 
dieser  falschen  Betonung  Cuiquidquid  |  tribueris  erst  recht  falsch 
würden,  da  sie  die  Zeilen  in  2  völlig  gleiche  Theile  zerlegen,  was 
Auspicius  ja  meidet. 

S.  241  heißt  es  bei  Maas:  'Meyer  erklärt  die  Regulirung  der 
Accente  als  eine  unbeabsichtigte  Folge  davon,  daß  Auspicius  einer- 
seits die  Formen  _uu|rs->u_uu  und  r^u__uu|_uw,  anderseits 
jede  'Caesur'  hinter  der  Herten  Silbe  gemieden  hat,  beides  auf 
Grund  von  Schulregeln,  die  er  von  seinem  quantitirenden  Vorbild, 
den  jambischen  Dimetem  (des  Prudentius  u.  a.),  hinüber  genommen 
habe'.  Dann  'Gegen  Meyer's  Hypothese  scheint  zu  sprechen,  daß 
Auspicius  (und  in  einigen  Punkten  auch  seine  Nachfolger)  mehrere 
tiefeingreifende  rythmische  Regeln  ganz  sinnlos  und  mechanisch 
durchgeführt  haben  müßten,  wenn  sie  sich  wirklich  "nicht  um  den 
Wortaccent  im  Innern  gekümmert  hätten".  Besonders  die  ausnahms- 
lose Vermeidung  der  Formen  — uu|j-u_uu  und  Ou  —  uv^j  —  uu 
fordert  eine  Erklärung  aus  dem  thatsächlich  empfundenen  ßythmus 


lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik.  201 

(so  schien  auch  Meyer,  Gres.  Abhandlungen  I  269  zu  denken);  und 
die  Thatsache,  daß  die  Formen  _  u  |  u  ^  . .  .  da  zugelassen  sind,  wo 
_  u  «^  I . . .  gemieden  wird,  läßt  vermuthen,  dsß  zweisilbige  Paroxy- 
tona  an  den  betreffenden  Versstellen  sich  dem  Rythmus  weniger 
stark  entgegenstemmen,  als  die  ersten  zwei  Silben  eines  Pro- 
paroxytonon's'. 

Die  meisten  dieser  Worte  beziehen  sich  darauf,  daß  auch 
Auspicius  das  vermieden  hat,  was  ich  daktylischen  Wort- 
schluß nenne,  d.  h.  daß  er  Verse,  wie  Aridä  patent  limina  ge- 
mieden hat ;  (die  andere  Sorte  Ibi  patüit  trinitas  mußte  er  meiden, 
weil  sie  caesurlos  wäre ;  s.  oben  S.  197).  lieber  den  daktylischen 
Wortschluß  habe  ich  oft  genug  und  auch  in  der  Abhandlung  über 
Auspicius  S.  201  gehandelt.  Es  ist  nun  einmal  so:  schon  Plautus 
meidet  in  den  Jamben  und  Trochaeen  die  2  letzten  Silben  von 
cörpörä  Senkung  bilden  zu  lassen,  und  bis  ins  13.  Jahrhundert 
meiden  die  anständigen  rythmischen  Dichter  in  Sieben-  und  Acht- 
silbern  solch  daktylischen  Wortschluß.  Eine  'Erklärung  aus  dem 
thatsächlich  empfundenen  Rythmus'  finde  ich  für  meine  Person 
darin,  daß  in  Zeilen,  wie  Fortissimüs  sapiens-  Qui  ömnia  cöndidit, 
die  Stimme  nach  fortissimüs  und  omnia  abschnappt,  während  sie 
in  den  Zeilen  Et  fortis  6t  sapiens-  Omnia  qui  cöndidit  bequem 
dahin  gleitet:  und  das  soll  doch  im  Innern  einer  Kurzzeile  ge- 
schehn.  Doch  ich  will  diese  Ansicht  Niemanden  aufdrängen:  ich 
constatire  nur  die  Thatsache,  daß  die  anständigen  rythmischen 
Dichter  in  Sieben-  und  Achtsilbern  den  daktylischen  Wortschluß 
gemieden  haben,  wie  sie,  in  ähnlicher  Weise,  Hiatus  oder  ein- 
silbigen Zeilenschluß  gemieden  haben. 

Die  übrigen  Worte  von  Maas  berühren  kurz  die  Caesur  des 
jambischen  Achtsilbers.  Das  war  in  meiner  Untersuchung  ein 
Hauptpunkt.  Prudentius  hat  sich  gewiß  nichts  gekümmert  um  den 
Fall  der  Wortaccente  im  Zeileninnem,  und  dennoch  hat  er  es  ge- 
mieden, den  Vers  in  2  völlig  gleiche  Theile  '0  praepotens  |  virtus 
dei'  zu  zerlegen,  und  hat  deßhalb  den  Fuß  vor  oder  nach  der  geo- 
metrischen Mitte  durch  Caesur  durchschnitten,  genau  wie  er  dies 
im  Senar  gethan  hat:  Minister-  al|taris  dei,  Fias  deo|rum-  pontifex; 
Servire-  sanjxit-  omnia.  So  hat  der  quantitirende  Dichter  genau 
denselben  Accentfall  in  seinen  Versen,  wie  der  rythmische;  ja  er 
accentuirt  die  4.  Silbe  noch  etwas  häufiger  als  der  rythmische. 
Das  ist  ihm  sicherlich  ohne  seine  Absicht  passirt.  Nun  will 
Auspicius  rythmische  ambrosianische  Zeilen  und  Strophen  machen 
und  dabei  die  Caesur  a  la  Prudentius  festhalten.  Er  bildet  also 
2  Stücke  zu  3  und  5  oder  zu  5  und  3  Silben,  schließt  nach  seiner 


202  Wilhelm  Meyer, 

Vorlage  das  erste  Stück  stets  mit  sinkender,  das  zweite  mit  stei- 
gender Kadenz.  So  haben  es  alle  rytlimisehen  Dichter  gemacht, 
in  einfachen  wie  in  zusammengesetzten  Zeilen;  so  ist  z.  B.  auch 
der  rythmische  Fünfzehnsilber  (8  —  u  +  7  u  _),  der  rythmische  as- 
klepiadeische     Alexandriner     (6  u  _  +  6  u  _)     entstanden.  Maas 

nennt  dies  Verfahren  'ganz  sinnlos  und  mechanisch',  Grut,  er  möge 
uns  ein  anderes,  ästhetischeres  Verfahren  angeben,  wie  jene  ryth- 
mischen  Zeilen  gebildet  worden  sind,  wobei  er  Silbenzahl,  Caesur 
und  Kadenz  in  Caesur-  und  in  Zeilenschluß  bei  Seite  läßt! 

Maas  handelt  viel  vom  alternirenden  Rythmus,  d.  h.  von 
dem  regelmäßigen  Wechsel  von  Hebung  Senkung  Hebung  Senkung 
und  so  fort.  Er  ist  fascinirt  von  diesem  alternirenden  Rythmus, 
'der  der  Menschheit  seit  Ewigkeit  im  Blutlauf  und  im  Schritt  pul- 
sirt'  (S.  245).  Ich  bescheide  mich  mit  dem  Grebiete,  das  ich  kenne; 
aber  da  kann  ich  nur  sagen:  Gott  sei  dank,  daß  die  mittellateini- 
sche und  die  romanische  Rythmik  diesen  alternirenden  Rythmus 
nicht  als  Prinzip  angenommen  haben.  Maas  citirt  (S.  241)  mich 
selbst,  wo  er  von  der  'entscheidenden  Rolle'  spricht,  'die  der  alter- 
nirende  Tonfall  in  der  gesammten  mittellateinischen  und  romani- 
schen Metrik  spielt  (vgl.  W.  Meyer,  Ges.  Abh.  I  181  „Der  herr- 
schende Rythmus  ist  stets  trochäisch  oder  jambisch"  —  also  rich- 
tiger: altemirend)'.  Allein  Maas  dürfte  nur  das  Blatt  umdrehen 
und  könnte  da  lesen:  'in  Wahrheit  sind  nur  die  Silben  gezählt, 
d.  h.  unter  Beobachtung  des  gesetzmäßigen  Schlusses  je  5  6  7  8 
Silben  in  die  Zeile  gestellt,  wie  auch  Aedilwold  vor  dem  Jahre 
706  . .  seine  Achtsilber  (8  u  — )  selbst  charakterisirt :  carmen  non 
pedum  mensura  elucubratum,  sed  octonis  syllabis  in  uno  quolibet 
versu  conpositis  . .  caraxatum' ;  und  3  Jahre  später  habe  ich  diese 
Frage  eingehend  behandelt  (Ges.  Abh.  II  134/136). 

Die  Sache  ist  eigentlich  einfach.  In  der  Aussprache  der  alten 
Griechen  und  Römer  bekämpften  sich  2  Mächte,  die  Quantität  und 
der  Wortaccent ;  zwischen  keyovöi,,  Xiyete ;  f^cerant,  fäciunt,  facite, 
war  ein  großer  Unterschied.  In  den  Versen  herrschte  die  Quan- 
tität vor,  aber  der  Accent  störte  stets  die  Zirkel  der  Quantität. 
Bei  den  Deutschen  und  den  Engländern  haben  die  Stammsilben 
einen  Charakter  indelebilis;  sie  können  ja  in  die  Senkung  kommen, 
allein  zwischen  Falsche  Falschheit  und  Fälscheid  bleibt  doch  ein 
mächtiger  Unterschied.  Dagegen  im  Mittellateinischen  und  im  Ro- 
manischen herrscht  nur  1  Macht,  der  Wortaccent,  und  es  ist  theils 
unmöglich  theils  schwierig,  2  oder  3  betonte  Silben  neben  einander 
zu  bringen,  d.  h.  für  die  Dichtung  gibt  es  da  wohl  Daktylen  und 
Anapaeste,  Jamben  und  Trochäen,  aber  keine  Spondeen. 


lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik.  203 

Wie  sollten  nun  daktylische  oder  anapaestische  Zeilen  ryth- 
miscli  nachgebildet  werden  ?  Mischte  man  zweisilbige  Füße  zwischen 
diese  dreisilbigen,  so  waren  das  keine  Daktylen  oder  Anapäste, 
sondern  Trochäen  oder  Jamben.  Es  blieben  also  nur  Reihen  vo^ 
reinen  Daktylen  oder  Anapästen.     Also  etwa: 

WdXs  Tov  dvÖQa  dsd  tov  TtoXvtQOTtov  ööttg  roöoihovg 
tOTtovg  difiXd'6  Ttügd-Tjöag  rrig  Tgoiag  rrjv  svdo^ov  jcöXiv. 
'Arma  nunc  cano  virümque  qui  Troicis  primus  ab  oris 
profugus  fato  Italiam  venit  et  litus  Lavinum. 

Rhangabis  sah  sich  gezwungen,  so  den  Homer  zu  übersetzen.  Ich 
frage  nicht  darnach,  wie  es  in  dem  Kopf  der  Leute  stände,  welche 
6  bis  7  Hunderte  solcher  Zeilen  mit  deutlicher  Stimme  vorgetragen 
anhören  müßten:  aber  sicher  ist,  daß  das  nicht  die  antiken  Hexa- 
meter wären.  Deutsche  und  Engländer  können  hier  überall  rechte 
Spondeen  einmischen: 

Pflückt  es  des  Oelbaüms  Frucht,  nie  schlummert  es  unter  dem 

Palmbaum. 
Bis  Klopstöck  naht  und  die  Welt  fortreißt  in  erhabener 

Odenbeflüglung. 

So  verbot  sich  den  mittellateinischen  und  den  romanischen 
Dichtern  von  selbst  die  Nachahmung  daktylischer  oder  anapästi- 
scher Zeilenarten.  Neben  einigen  gemischten  Zeilen  (der  asklepia- 
deischen,  der  sapphischen)  blieben  also  als  Vorbilder  für  Nachah- 
mungen hauptsächlich  jambische  und  trochäische  Zeilen  der  quan- 
titirenden  Poesie.  Aber  bei  dem  Mangel  an  Spondeen  würde  auch 
hier  die  unendliche  Kette  von  alternirender  Hebung  und  Senkung 
bald  Langeweile  und  Gähnen  erwecken:  Gallia  est  omnis  tres  in 
partes  separata,  quarum  linam  colunt  Belgae,  äliam  nunc  Aquitani, 
tertiam  hi,  qui  ipsörum  Imgua  Belgae,  nostra  Gälli  appellantur. 
Solche  Monotonie  kann  man  in  Gebeten,  Bußpredigten  und  ähn- 
lichen Gedichten  eine  Zeit  lang  alä  charakteristisch  sich  gefallen 
lassen : 

Dies  irae,  dies  illa  Quantus  tremor  est  futurus, 

solvet  saeclum  in  favilla,  quando  iudex  est  venturus, 

teste  David  cum  Sibylla.  cuncta  stricte  discussurus! 

Lacrimarum  fluit  rivus,  sed  pluralis  genitivus 

quas  effundo  fugitivus  nequam  nimis  et  lascivus 

intra  cetum  semivivus  mihi  factus  est  nocivus. 
tuus  quondam  adoptivus; 


204  Wilhelm  Meyer, 

Das  ist  der  von  Maas  gepriesene  altemirende  Rythmus.  Damit 
mag  man  ein  kurzes  Bußgebet  ausmalen,  aber  die  ganze  Dicbtung 
eines  Volkes  läßt  sich  nicht  in  solche  Ketten  legen.  Ich  kann 
nur  wiederholen:  Gott  sei  Dank,  daß  die  rythmischen  Dichter  von 
vom  herein  die  Nachahmung  der  quantitirenden  Vorbilder  auf  die 
Schlußkadenz  beschränkt  haben,  daß  sie  aber  vor  dieser  nur  Silben 
gezählt  haben.  Die  lateinischen  haben  dadurch  die  Abwechselung 
einsilbiger  und  zweisilbiger  Senkungen  ermöglicht ;  sie  haben  ferner 
diese  dichterische  Prosa  durch  Vermeidung  des  Hiatus  und  des 
daktylischen  Wortschlusses  wohlklingender  zu  machen  gesucht. 
Wozu  solche  Regeln,  wenn,  wie  Manche  meinen,  diese  Zeilen  nach 
dem  Tonfall  der  Schablone  recitirt  werden  sollten? 

So  steht  es  im  Bau  der  Zeilen,  welche  in  kleineren  oder 
größeren  Reihen  zum  Aufbau  von  Gedichten  verwendet  worden 
sind,  die  ich  deßhalb  gleichzeilige  genannt  habe.  Aber  in  der 
Gesangslyrik  der  alten  Griechen,  der  Byzantiner  und  der 
Mittellateiner  wird  auf  das  Innere  der  Zeilen  und  insbesondere 
auf  die  Vertheilung  der  einsilbigen  und  der  zweisilbigen  Senkungen 
genau  geachtet.  Hier  ist  ja  Mischung  und  fortwährende  Abwech- 
selung der  Hauptreiz.  Wohl  malt  Aeschylus  den  zornigen  Trotz 
des  Prometheus  mit  Reihen  stürmischer  Anapäste,  und  ähnlich  der 
Byzantiner  die  verzweifelte  Klage  der  Hinterbliebenen  am  Grabe 
von  Vater  oder  Mutter,  und  der  lateinische  Dichter  des  10.  Jahr- 
hunderts malt  den  Marschschritt  der  Truppen  Otto 's  hauptsächlich 
mit  Trochäen: 

His  incensi-  bella  fremunt:  arma  poscunt-  hostes  vocant: 
signa  secuntur-  tubis  canunt: 
clamor  passim  oritur:  et  milibus-  centum  Theutones-  inmiscentur. 
Allein  in  der  Regel  sind  in  den  kunstvollen  Strophen  der  altgrie- 
chischen, der  byzantinischen  und  der  mittellateinischen  Gesangs- 
Ijrrik  einsilbige  und  zweisilbige  Senkungen  in  den  verschiedenen 
Arten,  wie  sie  in  Zeilen  von  4  5  6  7  und  8  Silben  möglich  sind, 
bunt  gemischt  zu  finden  und  sind  dann  diese  Kurzzeilen  zu  verschie- 
denartigen Langzeüen  und  diese  Langzeilen  zu  verschiedenen  Ab- 
sätzen vereinigt,  welche  endlich  das  Gebäude  der  so  mannigfaltigen 
Strophen  vollenden.  Hier  gebietet  nur  der  Wohllaut,  welcher  in 
der  Seele  des  Dichter-Sängers  regieren  soll,  den  bei  der  Findung 
der  Wort^  und  der  Töne  zugleich  das  musikalische  und  das  gei- 
stige Empfinden  treiben.  Das  ist  das  unvergänglich  Schöne  an  den 
Schöpfungen  der  altgriechischen,  der  byzantinischen  und  der  mittel- 
lateinischen Gesangslyrik. 

Damit  hat  aber  eine  ambrosianische  Zeile  oder  Strophe 


lateinische  Kythmik  und  byzantinische  Strophik.  205 

und  ihr  rythmisclier  Abklatsch  nichts  zu  tun.  Der  jambische  Dimeter  ist 
im  4.  Jahrhundert  nach  Christus  bei  den  Lateinern  Mode  geworden, 
und  Prudentius  und  Ambrosius  haben  ihn  häufig  verwendet.  Damit 
war  sein  Glück  gemacht.  Er  wurde  bald  rythmisch  nachgebildet, 
wohl  schon  etliche  Zeit  vor  Auspicius,  welcher  in  Toul  im  470 
seine  simple  Epistel  in  ambro sianischen  Strophen  schrieb.  Jahr- 
hunderte lang  wurden  nun  quantitirende  oder  ryiihmische  ambro- 
sianische  Zeilen   und  Strophen   verfaßt.  Die  Zeile   ist   auch   in 

fremde  Sprachen  übergegangen  und  ist  da  sehr  verschieden  behan- 
delt worden.  Die  G-ermanen  haben  sich  die  4  Hebungen  her- 
ausgeholt und  haben  die  Zeile  immer  mit  einer  Hebung  geschlossen  ; 
die  Senkungen  haben  sie  nach  Gutdünken  behandelt.  Ich  wun- 
dere mich  eigentlich,  daß  die  Vermittlungsgriechen,  d.h.  die  in 
TJnteritalien  wohnenden  griechisch  sprechenden  römisch-katholischen 
Christen,  welche  z.  B.  lateinische  Heiligenlegenden  übersetzt  haben, 
nicht  auch  diese  Strophe  nachgemacht  haben,  die  doch  für  die  Li- 
turgie und  für  das  Lob  von  Märtyrern  und  Heiligen  privilegirt 
war.  Ihre  Sache  wäre  es  dann  gewesen,  wie  sie  die  Zeilen  bauen 
wollten;  wichtig  wäre  dafür  z.B.,  ob  sie  die  offizielle  Melodie 
einer  quantitirenden  lateinischen  Strophe  als  Ausgangspunkt  gehabt 
hätten,  oder  solche  Sprechverse,  wie  Auspicius  sie  fabrizirt  hat. 

(Die  byzantinische  Strophiic  und  die  ambrosianische  rythmische 
Zeile   und   Strophe).  S.  241   erklärt  Maas:    'Wir  können   durch 

Vergleich  einer  mittelgriechischen  Form  jeden  Zweifel  über 
den  alternierenden  Charakter  jenes  Achtsilbers  (des  Auspicius)  be- 
seitigen'. Dann  führt  er  an,  daß  in  einer  byzantinischen  Strophen- 
form, von  der  er  74  Exemplare  kenne,  der  4.  Absatz  aus  folgenden 
4  Zeilen  gebildet  ist: 

NB(p8kai  v7to6Tg(o6ats  vcbta  tm  STtLßaCvovn ' 
ccld^riQ  s^svtQSTiLöd-ritL  x(p  öiä  60V  bdevovxL. 
Femer  führt  Maas  einzelne  Vorkommnisse  dieser  Zeile  an:  1  Mal 
eine  Gruppe  von  4  solchen  Achtsilbem,  1  Mal  eine  Gruppe  von 
6  und  7  Mal  Gruppen  von  je  2  solchen  Achtsilbem;  endlich  weist 
er  auf  den  politischen  Vers,  dessen  erste  Halbzeile  durch  einen 
solchen  Achtsilber  gebildet  ist.  In  all  diesen  Zeilen  sei  die  4.  und 
die  6.  Silbe  accentuirt. 

Maas  schließt  nun:  'Kein  anderes  metrisches  Gebilde  taucht 
an  so  vielen  Stellen  in  der  mittelgriechischen  Metrik  auf,  wie  eben 
jener  altemirende  proparoxytonische  Achtsilber'.  'Da  nun  zur  Er- 
klärung des  altemirenden  Tonfalls  in  den  griechischen  Formen  sich 
keine  von  einer  fremden  Metrik  äußerlich  übernommene  Schulregel 


206  Wilhelm  Meyer, 

und  kein  Zufall  verantwortlich  machen  läßt,  wird  man  auch  bei 
Auspicius  nicht  ausschließlich  mit  diesen  beiden  Faktoren  rechnen 
dürfen,  vielmehr  annehmen,  daß  er  sich  absichtlich  einen  solchen 
antiken  Vers  zum  Muster  genommen  hat,  der  auch  für  das  der 
Quantität  verschlossene  Ohr  einen  wohlklingenden  Rythmus  ergab'. 

Jemand  könnte  fragen,  wie  konunt  der  simple  Auspicius  in 
Gallien  zu  dem  Zeilenbau  der  byzantinischen  Strophik.  Maas  hat 
auch  dies  bedacht  und  antwortet:  'In  Grallien  und  in  der  Krim 
taucht  um  das  Ende  des  5.  Jahrhunderts  dieselbe  aus  zwei  alter- 
nierenden proparoxytonischen  Achtsilbem  bestehende  Langzeile  auf, 
beidemal  als  erste  Zeugin  für  eine  unter  vollem  Verzicht  auf  die 
Quantität  den  Accent  im  Innern  regulirende  Verskunst.  Man  wird 
versucht,  in  dieser  Versform  einen  besonders  naheliegenden  Aus- 
druck des  'expiratorischen'  Prinzips  zu  suchen.  Mit  zwei  Faktoren 
hatte  diese  Metrik  zu  rechnen,  mit  der  hochbetonten  (resp.  neben- 
betonten) und  der  unbetonten  Silbe.  Aus  dieser  Zweiheit  ergab 
sich  ganz  von  selbst  der  altemirende  Rythmus,  der  der  Menschheit 
seit  Ewigkeit  im  Blutlauf  und  im  Schritt  pulsirt.  Vier  solcher 
Takte  —  das  ist  der  alternirende  Achtsilber;  vier  solcher  Verse 
—  das  ist  die  Strophe  des  Auspicius  und  die  Periode  des  Romanos. 
So  mögen  die  gleichen  Resultate  in  letzter  Linie  einer  einzigen 
gleichen  Ursache  entsprungen  sein,  nemlich  dem  gleichzeitigen 
Wandel  der  beiden  nah  verwandten  Sprachen  vom  quantitirenden 
zum  expiratorischen  Prinzip'. 

Welch  complicirte  Theorie  für  welch  einfache  Sache!  Pru- 
dentius,  Ambrosius  und  die  andern  Dichter  von  quantitirenden 
jambischen  Achtsilbem  und  von  ambrosianischen  Strophen  existiren 
nicht  für  Maas.  Allein  sie  haben  existirt,  und  nach  ihnen  sind  noch 
Hunderte  von  quantitirenden,  Tausende  von  rythmischen  ambro- 
sianischen Strophen  verfaßt  worden.  All  diese  Tausende  betonen 
nicht  regelmäßig  die  4.  Silbe;  sie  sind  also  nicht  nach  dem  von 
Maas  mühsam  herausgesuchten  byzantinischen  Muster  gebaut.  Nur 
in  den  41  Strophen  des  Auspicius  und  in  vielleicht  20  Strophen 
anderer  lateinischer  Dichter  findet  sich  die  4.  Silbe  regelmäßig 
accentuirt.  Wie  schon  Beda,  so  nennen  alle  Neuem  auch  all  diese 
rythmischen  Strophen  ambrosianische,  d.  h.  Nachahmungen  der 
quantitirenden  ambrosianischen  Strophen,  und  ich  bringe  zur  vollen 
Erklärung  der  Eigenthümlichkeit  des  Auspicius  das  Gesetz  der 
Caesur,  welche  in  der  Geschichte  der  lateinischen  Metrik  eine  so 
große  Rolle  spielt:  all  das  ist  für  Maas  gleichgiltig  oder  sinnlos 
und  mechanisch. 

Ich   könnte   damit   schließen.    Doch   da  Männer,    welche  wie 


lateinische  Kythmik  und  byzantinische  Strophik.  207 

P.  Maas  ihre  ganze  Kraft  diesen  Dingen  widmen,  so  irr  gehen, 
scheint  die  Klarstellung  noch  einzelner  Punkte  nützlich  zu  sein. 
1)  Es  ist  natürlich,  daß  in  jeder  Strophik  die  Zeile  zu  8 
Silben  mit  jambischem  Tonfall  ziemlich  oft  vor- 
kommt. Zuerst  zur  Zeile  selbst.  In  den  fein  gebauten  Strophen 
der  Byzantiner  wird  allerdings  ein  Unterschied  gemacht,  ob  eine 
Zeilenstelle  mit  vollem  Wortaccent  oder  mit  Xebenaccent  belegt 
ist.     Die  Zeilen 

Tfj  t,dh]  ßvd'it,6^Bvoq         ä^Ccog  EdsiXCaöa 
werden  meistens  unterschieden  von  Zeilen,  wie 

"Ov  et  TCQOfpfixai  nal  Mcoöfjg  Msöövav  syQaijjav  svqcov. 
Die  ersten  nennen  sie  proparoxyton,  die  letzteren  oxyton.  So  viel 
ich  noch  weiß,  habe  ich  als  Erster  diese  Feinheit  notirt  (Ges.  Abh. 
II  54  und  209).  Maas  nennt  die  byzantinische  rythmische  Ideal- 
zeile, von  welcher  auch  Auspicius  angesteckt  sein  soll,  'alternirende 
proparoxy tonische  Achtsilber',  und  allerdings  sind  die  von  ihm 
S.  242  angeführten  byzantinischen  Achtsilber  alle  proparoxyton. 
Allein  Maas  sagt  (S.  242)  selbst,  sein  Achtsilber  bilde  auch  die 
erste  Halbzeile  des  politischen  Verses,  und  von  dem  weiß  er  besser 
als  ich,  wie  oft  er  oxyton  schließt: 

Ov  iiijv  dl  yQttfofisv  ccTtXag  tag  ke^si,g  öCxa  6ti%aiv, 
slg  dexaTCEvts  övXXaßäg  rbv  örcxov  jcsQLTtXs^cj. 
Auch  nach  seiner  Theorie  über  den  Ursprung  dieser  vierhebigen 
Zeile  hat  Maas  keinen  Grrund  den  oxytonen  Achtsilber  auszu- 
schließen. Also  mußte  er  wenigstens  für  den  griechischen  Acht- 
silber seine  Benennung  erweitern^).  Hinweisen  will  ich  schon 
hier,  wie  verschieden  der  strenge  Bau  der  strophischen  Zeilen  ist 
von  dem  laxen  Bau  der  zu  gleichzeiligen  Gredichten  verwendeten 
(s.  unten  S.  210). 

Die  byzantinischen  Strophen  sind,  wie  oben  S.  204  ausgeführt, 
zusammengesetzt  aus  den  Kurzzeilen  von  4  5  6  7  oder  8  Silben. 
Die  Spielarten,  welche  diese  Silbenzahlen  je  nach  der  Anwendung 
von  einsilbiger  oder  zweisilbiger  Senkung  und  von  steigendem 
oder  sinkendem  Schlüsse  ergeben,  sind  nicht  viele.  Es  ist  also 
nicht  zu  wundern,  wenn  auch  der  jambisch  betonte  Achtsilber, 
einzeln  oder  in  Grruppen,  in  der  byzantinischen  Strophik  nicht 
selten  vorkommt.     In  der   altgriechischen  Strophik   sind  die  jam- 

1)  Maas  gibt  viel  auf  Terminologie.  So  ist  er  auch  unzufrieden  mit  meinem 
Gebrauch  des  Wortes  Rythmus  und  rythmisch.  Ich  begnüge  mich  damit,  den 
Theoretikern  der  Zeit  zu  folgen,  welche  die  schönen  von  mir  behandelten  Formen 
geschaffen  hat.  Sie  unterschieden  dictamen  prosaicum  •  metricum  •  rythmicum,  und 
auch  ich  bin  mit  diesem  Unterschiede  bis  jetzt  gut  ausgekommen. 


208  Wilhelm  Meyer, 

bischen  Dimeter  häufig,  und,  wenn  Maas  meine  Gres.  Abh.  II  S.  87 
citirte,  so  konnte  er  kurz  vorher  S.  66  aus  dem  Carmen  Buranum 
citirt  lesen: 

Invideo,  dum  video.  sie  capi  cogit  sedulus 
me  laqueo  virgineo  cordis  venator  oculus. 
Endlich  noch  eine  Note.  Maas  hebt  öfter  das  hohe  Alter  der 
Strophen  des  Auspicius  hervor ;  schon  um  470  sei  hier  regelmäßig 
die  4.  Silbe  accentuirt  oder  'könne  die  Regulirung  des  Wortaccents 
über  den  letzten  Hochton  hinaus  bis  ins  Innere  des  Verses  ver- 
folgt werden'.  Das  begründet  er  (S.  245)  mit  dem  besondern 
"Wesen  dieser  Zeile;  sie  sei  wohl  ein  besonders  nahe  liegender 
Ausdruck  des  'expiratorischen'  Prinzips.  Denn  'die  zwei  Faktoren 
dieser  Metrik,  die  hochbetonte  und  die  unbetonte  Silbe',  seien  hier 
zu  einer  'Zweiheit'  vereinigt,  aus  der  sich  'ganz  von  selbst  der 
alternirende  Eythmus  ergab,  der  der  Menschheit  seit  Ewigkeit  im 
Blutlauf  und  im  Schritt  pulsirt.  Vier  solcher  Takte  —  das  ist 
der  alternirende  Achtsilber;  vier  solcher  Verse  —  das  ist  die 
Strophe  des  Auspicius  und  die  Periode  des  Romanos'.  Maas 
kann  nichts  dagegen  einwenden,  wenn  ich  in  dieser  poetischen 
Begründung  den  Schluß  ändere  zu  'das  sind  die  vier  Zeilen  des 
Augustin : 

Custos  noster,  deus  magne,  tu  nos  potes  liberare 
ä  pseudoprophetis  istis,  qui  nos  quaerunt  devorare'. 
Auch  hier  stehen  vier  Zweiheiten  von  betonten  und  unbetonten 
Silben;  diese  Zeile  kann  also  beanspruchen,  ein  Erstgeborner  des 
expiratorischen  Prinzips  zu  sein  so  gut  wie  der  Vers  des  Auspicius. 
Wir  finden  ihn  sogar  lOO  Jahre  vor  Auspicius,  im  Psalm  des 
Augustin.  Allein  mit  der  'Regulirung  des  Wortaccents  über  den 
letzten  Hochton  hinaus  bis  ins  Innere  der  Zeile'  steht  es  hier  sehr 
übel:  alle  die  von  mir  oben  S.  195  angeführten  Verletzungen  des 
alternirenden  Rythmus  sind  bei  diesem  Erstgebornen  des  expira- 
torischen Prinzips  in  Fülle  zu  finden  und  bestätigen  meine  Regel, 
daß  in  diesen  Zeilen  vor  der  Schlußkadenz  d.  h.  hier  vor  der  6. 
Silbe  die  Accente  tanzen  können  wie  sie  wollen.  Erst  das  Vor- 
gehen einer  andern  Schule  von  Rythmikern,  welche  auch  in  diesen 
Achtsilber  eine  Caesur  einführten,  allerdings  einer  Diärese,  die 
den  Vers  in  2  gleiche  Theile  zerlegt:  Apparebit  |  repentina,  brachte 
hier  Uebereinstimmung  der  Wortaccente  mit  der  Schablone  zu 
Stande.  Während  die  Caesur  des  rythmischen  Achtsilbers  mit 
steigendem  Schlüsse  kaum  beachtet  wurde,  wird  der  Achtsilber 
mit  sinkendem  Schlüsse  bis  ins  13.  Jahrhundert  in  der  Regel  in 
4  —  u  -f  4  _  u    zerlegt.     Er    entspräche    also    viel    mehr    den   An- 


lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik.  209 

Sprüchen,  welche  Maas  an  seinen  Erstgebornen  des  expiratorischen 
Prinzips  stellen  muß. 

2)  Die  Zeilen  der  byzantinischen  Rythmik  können 
überhaupt  nichts  beweisen  für  den  Innern  Bau  ähn- 
licher Zeilen  der  lateinischen  Rythmik,  und  am  aller- 
wenigsten können  dies  die  Zeilen  der  byzantinischen  Strophik. 
Die  lateinische  Metrik  geht  von  der  Zeit  des  Augustus  ab  ihre 
eigenen  Wege  und  kümmert  sich  nichts  mehr  um  die  griechische. 
Sie  schafft  sich  Gesetze  über  die  Caesuren,  über  den  Bau  der 
Caesur-  und  der  Zeilenschlüsse,  welche  mit  denen  der  Grriechen 
nichts  zu  thun  haben.  Am  einfachsten  läßt  sich  das  am  Bau  des 
Hexameters  erkennen.  Die  rythmische  Dichtkunst  der  Grriechen 
und  der  Lateiner  hat  denselben  Ursprung,  Silbenzählen  und  regu- 
lirten  FaU  der  Accente  in  Caesur-  und  Zeilenschluß.  Allein  sonst 
trennten  sich  die  Wege.  Die  Byzantiner  gingen  fast  ganz  auf  in 
ihrer  Strophik,  welche  des  feinen  Gresanges  halber  die  Betonung 
der  Kurz  Zeilen  fast  bis  auf  jede  Silbe  regeln  mußte.  Die  Lateiner 
kümmerten  sich  nichts  um  diese  Strophik.  Denn  die  quantitirende 
Polymetrie  des  Prudentius,  Ausonius  oder  Boetius  und  Anderer, 
wobei  hie  und  da  sogar  schüchterne  Versuche  neuer  Strophen  ge- 
wagt wurden,  hat  nichts  zu  thun  mit  der  byzantinischen  ryth- 
mischen  Strophik,  sondern  erklärt  sich  als  Weiterentwicklung  der 
Polymetrie,  wie  sie  bei  Petron  und  bei  Terentianus  Maurus  zu 
Tage  getreten  war. 

Wie  wenig  die  lateinischen  und  die  griechischen  Rythmiker 
sich  um  einander  kümmerten,  mag  das  Beispiel  des  rythmischen 
Satzschlusses  beweisen.  Um  dessen  Ursprung  zankt  man  ja  noch 
sehr.  Doch  die  Formen  des  griechischen  und  des  lateinischen  ryth- 
mischen Satzschlusses,  welche  ich  festgestellt  habe,  werden  ziemlich 
allgemein  anerkannt.  Auf  der  einen  Seite  ist  klar,  daß  der  eine 
dem  andern  nachgeahmt  ist ;  aber  auf  der  andern  Seite  sind  starke 
Unterschiede  ebenso  klar.  Diese  sind  auch  ganz  natürlich,  da  die 
Betonungsverhältnisse  der  beiden  Sprachen  verschieden  sind,  wie 
ja  das  Lateinische  Oxytonon  nur  als  Nebenaccent  kennt. 

Damit  aber  könnte  Maas  nicht  verteidigen  den  Unterschied 
zwischen  dem  'alternirenden  proparoxytonen  Achtsilber'  und  der 
Zeile  des  Auspicius  und  weniger  Grenossen.  Ich  habe  reichlich 
nachgewiesen,  wie  natürlich  und  wie  oft  mit  dem  schablonen- 
richtigen jambischen  Tonfall  der  rythmischen  Achtsilber  es  sich 
vereinigt,  daß  die  4.  Silbe  betonten  Wortschluß  bildet :  Ac  fortiter  | 
sententias.  Das  wird  durch  die  von  Maas  S.  242  citierten  byzan- 
tinischen Verse  bestätigt:   in   den   citierten  29  Versen   findet  sich 


210  Wilhelm  Meyer, 

die  4.  Silbe  folgendermaßen  betont:  sig  ovgavovg  \  ccvidQa^s:  4  Mal; 
xal  sxXavösv  \  änivavxL :  4  Mal ;  xat  iv  avxa  \  svXöyr^öa :  3  Mal  (dazu 
kommt  noch  2  Mal  die  Form :  cpcsviiv  äyaXXcdöecjg).  Diese  15  oder 
17  Verse  entsprechen  alle  dem  rythmischen  Idealvers  des  Auspicius, 
welchen  Maas  construirt  hat:  allein  sie  widersprechen  alle  dem 
wirklich  von  Auspicius  gebauten  Verse.  Auspicius  bildet,  wie 
S.  196/7  nachgewiesen  ist,  nicht  die  4.  Silbe  durch  Wortschluß :  das 
geschieht  aber  hier  in  15  Versen  von  30.  Um  diesen  bösen 
Widerspruch  zu  beseitigen,  wäre  Maas  gezwungen,  anzunehmen, 
daß  Auspicius  außer  dem  Idealvers  noch  eine  'Schulregel'  befolgt 
habe;  nemlich,  daß  Auspicius  es  gemieden  habe,  den  Achtsilber  in 
2  völlig  gleiche  Theile  zu  zerlegen.  Aber  das  wäre  nicht  einmal 
die  Kehrseite  der  Medaille,  sondern  fiele  mit  meiner  Erklärung 
zusammen:  eben,  um  diese  gleiche  Theilung  zu  vermeiden,  ist  die 
C  a  e  s  u  r  eingeführt  worden.  Ferner,  Verse  wie  qxDvriv  ayakXLdöscog, 
quinto  iam  volatilia,  haben  auf  der  4.  Silbe  Nebenaccent.  Dennoch 
sind  sie  von  Auspicius  gemieden.  Das  erklärt  das  Caesurgesetz. 
Wenn  Maas  auch  eine  andere  Eegel  dafür  wüßte,  immerhin  kämen 
wir  auch  bei  seiner  Führung  dabei  an,  daß  Auspicius  'tief eingreif  ende 
rythmische  Regeln  ganz  sinnlos  und  mechanisch  durchgeführt  habe'. 

3)  Der  Bau  der  Strophenzeilen  hat  nichts  zu  thun 
mit  dem  Bau  der  gewöhnlichen  Zeilen,  welche  in 
langen  Ketten  zu  einem  (gleichzeiligen)  Gedichte 
verwendet  werden.  Jene  sind  Gesangesabsätze  und  können 
bis  zu  jeder  einzelnen  Silbe  herab  durch  die  Melodie  beherrscht 
sein  (vgl.  oben  S.  207);  dies  sind  zunächst  Sprechverse  und  sie 
müssen,  schon  damit  langweilige  Einförmigkeit  vermieden  werde, 
Abwechselung  im  Tonfall  ermöglichen.  Schon  in  der  altgriechischen 
Metrik  habe  ich  den  lyrischen,  den  tragischen  und  den  komischen 
Trimeter  unterschieden,  ebenso  in  der  byzantinischen  Rythmik  den 
Zeilenbau  der  gesungenen  strophischen  Gedichte  von  dem  der 
meistens  gesprochenen  gleichzeiligen  Gedichte. 

Auch  hier  genügt  ein  Beispiel.  Oben  (S.  208)  habe  ich  4  Acht- 
silber aus  der  kunstreichen  Strophe  eines  Carmen' s  Buranum  ge- 
druckt: sie  haben  mit  der  kleinen  Ausnahme  'cordis  venator  ocu- 
lus'  reinen  jambischen  Tonfall.  Dann  hat  um  1020  Ekkehard  IV. 
den  deutschen  Lobgesang  des  Ratpert  ins  Lateinische  übersetzt 
(Müllenhoff  s  Denkmäler  no  XII)  und  dabei  mit  seinen  lateinischen 
Worten  möglichst  eng  der  dulcis  melodia  sich  angeschmiegt.  Die 
kunstreiche  Strophe  besteht  aus  5  Langzeilen,  von  denen  die  ersten 
4  schließen  mit  einer  Kurzzeile  zu  7  oder  zu  8  Silben.  Von  diesen 
68  Kurzzeilen  haben  29  den  Tonfall:   Est  mihi  magnum  gaüdiumi 


lateinische  Kythmik  und  byzantinische  Strophik.  211 

38  den  Tonfall:  Quam  sanctum  misit  Grällum:  also  67  Zeilen  mit 
durchaus  reinem,  jambischem  Tonfall  ohne  jeden  Taktwechsel.  Das 
ist  längst  erkannt  (s.  Gres.  Abh.  I  182  Note  und  239):  allein  Nie- 
mand bat  gewagt,  die  Tausende  der  übrigen  freien  Achtsilber  und 
Siebensilber  nach  diesen  lyrischen  Zeilen  reglementiren  zu  wollen, 
wenn  sie  auch  in  denselben  Zeiten  und  Gregenden  gedichtet  waren. 
Und  nun  soll  die  Accentuirung  einiger  lyrischen  Strophenzeilen, 
welche  in  Byzanz  gedichtet  sind,  beweisen  für  die  Accentuirung 
weniger  lateinischen  Zeilen,  welche  mitten  in  der  Entwicklung  der 
lateinischen  Dichtungsformen  stehen  und  deren  eine  Eigenthümlich- 
keit  mit  einem  so  gewöhnlichen  Hilfsmittel  der  lateinischen  Metrik 
und  Rythmik,  wie  es  die  Caesur  ist,  reichlich  erklärt  werden  kann? 
Eine  solche  Methode  der  wissenschaftlichen  Forschung  ist  unerlaubt. 

Persönliches.)  Die  Herbeiziehung  der  byzantinischen 
Strophik  zur  Erklärung  der  lateinischen  Zeile  des  Auspicius  ist 
für  P.  Maas  der  Kernpunkt  seiner  Arbeit  gewesen  ^).  Er  spricht 
im  Anfang  dieses  Theiles  auch  von  'W.  Meyer,  der  seine  einst 
bahnbrechenden  Forschungen  zur  mittelgriechischen  Metrik  leider 
seit  zwanzig  Jahren  liegen  gelassen  und,  wie  es  scheint,  sogar 
vergessen  hat';  und  seine  ganze  gegen  mich  gerichtete  Arbeit 
schließt  Maas  mit  den  Worten :  'Es  genüge,  wieder  einmal  darauf 
hingewiesen  zu  haben,  daß  die  mittelgriecbische  Verslehre  von  der 
mittellateinischen  lernen  kann  —  und  umgekehrt'.  Das  ist  we- 
nigstens deutlich. 

Zunächst  glaube  ich,  oben  genügend  bewiesen  zu  haben,  daß 
in  diesem  Falle  nicht  ich  geirrt  habe,  und  daß  ich  mit  Recht  die 
byzantinische  Rythmik  unbeachtet  gelassen  habe,  weil  ich  daraus 
in  diesem  Falle  nichts  habe  lernen  können. 

Auf  die  andere  Vorhaltung,  daß  ich  die  Forschungen  über 
mittelgriechische  Eythmik  seit  20  Jahren  leider  habe  liegen  lassen. 


1)  Maas  verwirft  auch  meinen  Satz,  daß  das  große  Uebergewicht,  welches 
die  schlecht  pronunzirenden  Provinzialen  im  römischen  Kaiserreich  erlangt  hatten, 
den  üebergang  von  der  complicirten  quantitirenden  Aussprache  zur  einfachen 
accentuirenden  veranlaßt  habe ;  ebenso  den  andern,  daß  das  Aufblühen  der  silben- 
zählenden christlichen  Dichtung  bei  den  Syrern  griechische  und  lateinische  Christen 
veranlaßt  habe,  die  quantitirenden  Füße  aufzugeben  und  das  Prinzip  der  Silben- 
zählung anzunehmen.  Nun,  ich  kann  mich  zufrieden  geben,  daß  Maas  für  das 
Gebiet  der  byzantinischen  Strophendichtung,  welches  auch  er  gründlich  durch- 
forscht hat,  syrischen  Ursprung  zugibt,  und  daß  auf  dem  Gebiet  der  lateinischen 
rythmischen  Dichtkunst,  deren  Anfang  ich  eifrig  und  möglichst  unparteüsch  stu- 
dirt  habe,  ich  bis  jetzt  keinen  stichhaltigen  Grund  gefunden  habe,  der  gegen 
syrischen  Ursprung  spräche. 


212  Wilhelm  Meyer, 

will  ich  antworten,  weil  dabei  die  Geschichte  dieses  Zweigs  der 
Literaturgeschichte  etwas  beleuchtet  wird.  Um  1880  verkehrte 
ich  in  München  viel  mit  dem  jungen  Krumbacher,  der  viel  mit 
Keugriechen  umging.  Zuerst  machte  ich  ihn  aufmerksam  auf  die 
münchner  Handschriften  des  griechisch-lateinischen  Gesprächbüch- 
leins des  Dositheus.  Dann  vertiefte  ich  mich  selbst  in  das  Studium 
der  byzantinischen  Rythmik.  Ich  fand  hier,  was  ich  sonst  in  der 
byzantinischen  Literatur  vermißt  hatte :  eine  von  Herzen  kommende 
und  zu  Herzen  sprechende  Lyrik.  Das  Verständnis  mußte  ich 
natürlich  mühsam  erringen.  Oft  war  ich  empört  über  die  ent- 
setzliche, unkritische  Arbeitsweise  Pitra's,  mit  dessen  Ausgabe 
des  Tropologiums  (=  I  Band  der  Analecta  sacra  spicilegio  Soles- 
mensi  parata,  1876)  ich  hauptsächlich  zu  arbeiten  hatte  (vgl.  Ges. 
Abh.  I  21).  Dabei  las  ich  mit  Sehnsucht  von  den  Romanoshand- 
schriften  in  Patmos,  deren  Spur  Pitra  aufgefunden  hatte.  Kurz 
darauf  wurde  berathen,  welche  Preisaufgabe  von  der  Zographos- 
Stiftung  aufgestellt  werden  solle.  Da  kam  mir  der  Gedanke,  es 
solle  die  Erforschung  jener  Handschriften  in  Patmos  gefordert 
werden ;  dabei  dachte  ich  natürlich  an  Krumbacher.  Der  Gedanke 
war  gut  und  hat  schon  gute  Früchte  getragen.  Als  nun  Krum- 
bacher mit  seinen  Abschriften  nach  München  zurückgekehrt  war 
und  die  Ausarbeitung  mit  Eifer  begann,  was  sollte  ich  da  thun? 
Was  die  Handschriften  Neues  bieten,  zeigt  ja  P.  Maas  selbst: 
S.  242  kennt  er  von  einer  Strophenart,  die  ich  in  der  schlechten 
Ausgabe  Pitra's  nur  in  18  Strophen  studiren  konnte,  aus  Krum- 
bacher's  Schätzen  74  Strophen.  Ein  Konkurrent  Krumbacher's 
konnte  und  wollte  ich  nicht  sein.  Ich  habe  also  in  jenen  Jahren, 
die  ohnedies  die  härtesten  meines  Lebens  gewesen  sind,  die  weitere 
Forschung  auf  dem  Gebiete  der  byzantinischen  Strophik  aufgegeben 
und  auch  mein  Handexemplar  Pitra's  Krumbacher  überlassen.  Ich 
denke,  dies  Vorgehen  ist  verständig  gewesen.  Ohnedies  zog 
mein  Herz  mich  wenig  zur  byzantinischen  Literatur,  die  ja  nur 
geringen  Einfluß  gehabt  hat  auf  die  westeuropäische  Kultur,  son- 
dern viel  mehr  zu  der  mittellateinischen,  aus  deren  Geist  und 
Gemüth  wir  geboren  sind.  Dann  hat  der  kraftlose  Boden  der 
byzantinischen  Kultur  nur  die  weißen  Rosen  der  liturgischen 
Gesangslyrik  getragen;  dagegen  das  kraftreiche  Neuland  der 
mittellateinischen  Gesangsdichtung  hat  auf  allen  Gebieten,  auf 
denen  des  Menschen  Fühlen  und  Denken  waltet,  in  Religion, 
Staats-  und  Privatleben  einen  ebenso  üppigen  und  mannigfaltigen 
Rosenflor  hervorgebracht,  wie  einst  die  altgriechische  Gesangs- 
dichtung.   Diesem   wichtigen    Stoffe   habe   ich  in  den  letzten  25 


lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik.  213 

Jahren  die  Zeit  und  die  Kraft  gewidmet,  welche  andere  Pflichten 
mir  übrig  ließen,  und  ich  glaube,  dabei  meine  Schuldigkeit  gethan 
zu  haben. 

Ein  Rythmus  über  die  Personen  der  Trinität.  Der  folgende 
\E,ythmus  steht  in  der  Berner  Handschrift  no  611  auf  fol.  80^  +  81* 
eingeschrieben  von  einer  Hand  des  8./9.  Jahrhunderts.  Ich  habe 
ihn  vor  etwa  20  Jahren  abgeschrieben;  leider  habe  ich  jetzt  weder 
die  Handschrift  selbst  einsehen,  noch  zu  civilen  Preisen  eine 
Photographie  erhalten  können.  Ich  gebe  hier  den  Text  der  Hand- 
schrift mit  der  von  mir  eingesetzten  Interpunction.  Manches  Citat 
danke  ich  der  Hilfe  des  Kollegen  Bonwetsch. 

1 
Agiusque  igneus 
Spiritus   sanctissimus, 
3     antequam  fierit  mundus 
patri  aequalis  filius : 
trinum  refulgens  unicus, 
6     omosyon  kyrius. 
1  Agius  atque  igneus?,  so  daß  V.  4  Vater  und  Sohn  umfaßt, 
oder  Agius  atque  ingenitus?,  Beiwörter  des  Vaters.        3  fieret 
6  homousios,  consubstantialis. 

2 
Bene  caeli  speciem, 
terrae  potestas  feceret 
9     foueas  aquas  gurgites, 
tenebras  densas  repellens. 
collectae  aquae  miriter 
12     arida  patent  limina. 
6  ffl.  Bene  (dei)  potestas  fecerat  caeli  speciem  et  terrae  foveas 
{=  abyssi    faciem?)   etc?         6  vgl.    Gen.  1,  1    creavit    coelum    et 
terram        7  vgl.  V.  15  maris   terraeque    speciem         10  Gren.  1,  2 
tenebrae  erant,   4  divisit  lucem  a  tenebris         11  miriter  =  mire, 
mirabiliter?        11/12   vgl.  Gren.  9/10   congregentur  aquae   (maria) 
^  .  et  appareat  arida  (terra);  also  ist  aquae  Genitiv. 

3 
Clara  luce  in  primitus, 
firmamentam  in  postmodum, 
15     maris  terraeque  speciem 
tertia  fixisti  diem, 
sidera  quarto  incoans, 
18     quinto  iam  volatilia. 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.      Philolog.-histor.  KI.    1908.  Heft  2.  15 


214  Wilhelm  Meyer, 

Vgl.  G-en.  1,  3 — 5  fiat  lux  .  .  dies  unus ;  6 — 8  fiat  firmamen- 
tum  . .  dies  secundus;  9 — 13  terram  .  .  maria  .  .  dies  tertius;  14 — 19 
luminaria  .  .  dies  quartus;  20 — 23  volatile  .  .  dies  quintus.  13 
claram  lncem?  14  vgl.  V.  52  in  postmodum  15  vgl.  V.  7 
caeli  speciem  16  tertio  f.  die  ?  18  volatilia  hahen  viele  TJeher- 
setjsungen  statt  volatile  (Vulg.) 

4 
Die  sextoque  bestias, 
iumenta  atqne  pecora 
21     regem  terraeque  hominem 
plasmasti  ad  imaginem; 
dedisti  ei  similem: 
24     Eva  prodit  ex  latere. 
Vgl.  Gren.  1,24 — 31;    besonders:    25  ..  bestias    iumenta;    27 
creavit  hominem  ad  imaginem  suam;  28  dominamini;  31  dies  sex- 
tus.     Gren.  2,  18    adiutorium    simile    sibi,    20  adiutor    similis  eins  i 
22  aedificavit  costam,  quam  tulerat  de  Adam,  in  mulierem. 

6 

Ecce  gustando  uetita 
de  paradysi  gaudiis 
27     eiecti  foras  tribulant. 
spinis  gignent  arida. 
sequitur  culpa  noxia 
30    in  filios  et  filias. 
Vgl.  Gren.  3,  18   spinas    et    tribulos    (terra)    germinabit    tibi; 
3,  23    paradiso    voluptatis ;    3,  24  eiecitque   Adam         27    trihulare 
kommt  auch  intransitiv  =  tribuJari  vor         28  corr.  spinas  gignunt» 

6 
Funera  crescent  nimium 
usque  tempus  diluuii. 
33     mundum  sensit  naufragium. 
Corpora  mersa  gigantum. 
arca  seruasti  spiritus 
36     intra  undarum  ictibus. 
31  corr.   crescunt.     Sollten  hier  gemeint  sein   die   allmählich 
sich  häufenden  Todesfälle,   die  in  Gen.  V  6,  8,  11,  14,  17,  20,  27, 
31   mit  mortuus  est  bezeichnet  sind?   oder   sollte  Gen.  IV,  23/24 
gemeint  sein  ?        33  corr.  mundus        34  Gren.  6, 4  gigantes  erant 
35  corr.  servati  (sunt)  ?        fpöf  hat  die  Hft ;     Vielleicht  ist  zu  ver- 
gleichen Gen.  7, 15  bina  ex  omni  carne,  in  qua  erat  spiritus  vitae. 
Oder  ist  zu  interpungiren :  arca  (arcam?)    servasti,  Spiritus,   intra 


lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik.  215 

u.  i.  ?,  mit  Bezug  auf  I  Petri  3,  20  in  diebus  Noe,  cum  fabricaretur 
arca,  in  qua  pauci  id  est  octo  animae  salvae  factae  sunt  per  aquam. 

7 

Gentium  augens  numeros 

fili  Noe  per  partibus. 
39     turrem  super bi  aedificant 

nisi  caeli  cacumina. 

quem  summa  dei  trinitas 
42     ibi  confundens  lingüas. 
Vgl.  Gren.  9,  1   Benedixit  deus  Noe   et  filiis  eins  et  dixit  eis: 
Crescite  et  mxdtiplicamini  et  replete  terram;    10,  32  hae  lamiliae 
Noe  iuxta  populos  et  nationes  suas.    Ab  bis  divisae  sunt  gentes 
in  terra  post  diluvium.        37  corr,  augent.     38  =  per  partus. 
39  vgl.  Gren.  11,  4  faciamus  .  .  turrim,   cuius  culmen  pertingat  ad 
coelum;   5  descendit  dominus  .  .;  7  venite  igitur,   descendamus   et 
confundamus  ibi  linguam  eorum.     Ob  hier  der  Wechsel  von  descen- 
dit und  descendamus   als  Andeutung  der  Trinität  gefaßt  worden 
ist  ?    Sie  spielt  von  hier  ab  die  Hauptrolle.        40  nisi :  corr.  usque, 
oder  nisi  =  enitentes  ad?       42  zu  confundens  gehört  linguas]  also 
kann  man  nicht  etwa  quam  schreiben   und  es  mit  confundens  ver- 
binden wollen.     Es  ist  möglich,  daß  confundens  (erat)  =  confundebat 
sein  soll.     Aber  was  soll  dann  aus  'quem'  werden? 

8 
Hoc  totum  figuraliter 
in  patriarchae  usui 
45     ilex  Mambre  promeruit. 
trinitas  pia  damit, 
quem  Abraham  ut  hospitem 
48     pedes  lavit  parapside. 
Vgl.  Gren.  18,  1 — 4  Apparuit   ei  dominus   in  convalle  Mambre 
sedenti  .  .;  2  cxmique  elevasset  oculos,  apparuerunt  ei  tres  viri  .  .; 
3  et  dixit:   domine,  .  .  ne   transeas   servum  tuum;   4  sed   afferam 
pauxillum  aquae  et  lavate  pedes  vestros  et  requiescite  sub  arbore. 
Statt   convaUis  wird   in   älteren  Uebersetzungen  ilex   oder  quercus 
genannt.     Diese  Stelle  wird  für  die  Trinität  ausgedeutet,  weil  der 
Singular  und  Plural  wechselt.       44  usui  =  usu  oder  visu  ?       45  ob 
promeruit  =  prompsit  ?        46  vgl.  V.  83  ibi  patuit  trinitas. 

9 
I(n)  Sodomae  interitum 
pater  direxit  iilium 
51     simulque  sanctum  spiritum 

15* 


216  Wilhelm  Meyer, 

in  postmodum  signiferum 
pater  in  arce  resedens, 
54     per  ipsos  iubens  homines. 
Zn  vergleichen  ist  das  18.  Kapitel  der  Genesis,  wo  der  Wechsel 
des  Singulars   und  des  Plurals  auf  die  Trinität  ausgedeutet  wird: 
V.  20  dixit  dominus ;  21  descendam  et  videbo ;  22  converteruntque 
se  et  abierunt  Sodomam,  Abraham  vero  adhuc  stabat  coram  domino ; 
33  abiitque  dominus,  postquam  cessavit  loqui  ad  Abraham.    Kap.  19, 

I  Yeneruntqne  duo  angeli  Sodomam;  13  coram  domino,  qui  misit 
nos,  ut  perdamns  illos.     Darüber  sagt  schon  Augustin,  de  Trinitate 

II  12  §  22:  Quas  duas  personas  hie  intelligimus  ?  Patris  et  filii, 
an  patris  et  Spiritus  sancti,  an  filii  et  spiritus  sancti?  Hoc  forte 
congruentins,  qnod  ultimum  dixi.  Missos  enim  se  dixerunt,  quod 
de  filio  et  de  spiritu  sancto  dicimus.  52  in  postmodum:  vgl. 
Y.  14  52  was  soll  'signiferum'  bedeuten?  Etwa,  daß  in  den 
folgenden  Strophen  von  den  Personen  der  Trinität  besonders  der 
h.  Greist  eine  Rolle  spielt?  oder  ist  igniferum  zu  schreiben? 

10 
Calor  ardens  in  herimo 
nusquam  consumpsit  flammeos. 
57     Moyses  uocatus  famulus 
ab  igne  et  spiritu, 
ut  nuda  planta  graderet 
60     terraque  sancta  tangeret. 
Vgl.  Exod.  3,  1  Moyses  .  .  ad  interiora  deserti  venit  .  .  2  ap- 
paruitque  ei  dominus  in  flamma   ignis    de  medio  rubi ;   et  videbat, 
quod  rubus  arderet  et  non  combureretur  .  . ;  4  dominus  .  .  vocavit 
eum  de  medio  rubi  .  . ,   5  Ne    appropies  huc ;   solve  calceamentum 
de  pedibus  tuis ;  locus  enim,  in  quo  stas,  terra  sancta  est  .  . ,  7  ego 
sum  deus  patris  tui;  deus  Abraham,  deus  Isaac  et  deus  Jacob. 
56  flammeos  =  inflammatos,  ardentes  ?        57  vgl.  Hebr.  3,  5  Moyses 
fidelis  erat . .  tanquam  famulus     59  =  graderetur  terramque  sanctam. 

11 
Lustratus  in  enigmate 
ut  erat  possibilitas, 
63     in  holocausti  uictimas 
consume  .  .  sacrificia 
natura  eins  ignia 
66     adflatu  purgans  omnia. 
64  nach  consume  scheint  fint  getilgt  zu  sein:  consumens? 
Ich  glaube  nicht,  daß  hierher  gehören  die  von  Augustin  de  Trüiit. 


lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik.  217 

II  15  §  26  angeführten  Stellen  der  Exodus :  19,  18  Sina  autem 
mons  fumabat  totus,  propterea  quod  descendit  in  eum  deus  in  igne 
und  24,  17  Aspectus  maiestatis  domini  tanquam  ignis  ardens  super 
verticem  montis  coram  filiis  Israel;  vielmelir  scheint  die  Strophe 
auf  Lev.  9  sich  zu  beziehen,  wo  V.  12  Aaron  'immolavit  et  holo- 
causti  victimam' ;  23  'Apparuitque  gloria  domini  omni  multitudini. 
24  et  ecce  egressus  ignis  a  domino  devoravit  holocaustum  et  adipes 
qui  erant  super  altare'.  Sollten  weiterhin  die  Sühnopfer  des  alten 
und  des  neuen  Testamentes  verglichen  werden,  wie  dies  im  9.  und 
10.  Kapitel  des  Hebräerbriefs  geschieht?  61  Instratus  =  ge- 
schaut oder  gesühnt?  in  aenigmate;  oh  =  Num.  12,8  palam  et 
non  per  aenigmata;  1  Cor.  13,  12  per  speculum  in  anigmate?  Dies 
würde  dafür  sprechen,  daß  lustratns  nt  erat  possibilitas'  das  un- 
vollkommene Anschauen  Gottes  (Exod.  33,  20)  bezeichnet.  63 
victima?  66  ob  nach  Joh.  20,  22  'Insufflavit  et  dixit:  Accipite 
spiritum  sanctum'  ? 

12 

Maria  princeps  uirginum 
sacrum  audiuit  niincium, 
69     quod  de  sancto  spiritu 
impletum  esset  uterum 
uirtutemque  altissimi 
72     nascere  dei  filium. 
69  Matth.  1, 18  in  utero  habens  de  spiritu  sancto         71  Luc. 
1,  35  Spiritus    sanctus  superveniet   in  te  et  virtus  altissimi  obum- 
brabit  tibi .  ideoque   et ,    quod  nascetur   ex   te  sanctum ,   vocabitur 
filius  dei.         70  uterum  =  uterus?         72  nasceret  activ? 

13 
Nee  non  Esaias  placitae 
diuinus  iuris  cecinit 
75     spiritum  sanctum  nuntians 
repletum  Christum  dominum. 
Jesu  in  templo  religens 
78     inter  doctores  floruit. 
Gremeint   ist    wohl   die    von   Matth.  12,  18    citirte   Stelle:    ut 
adimpleretur  quod  dictum    est  per  Isaiam  prophetam   (42,  1)   di- 
centem :    Ecce   puer   mens ,    quem  elegi .  . .  ponam   spiritum  meum 
super  eum.         73   placita   divini    iuris?         75   spiritu  sancto? 
77/78  wohl  nach  Luc.  2,  46 :   invenerunt  illum  in  templo  sedentem 
in  medio  doctorum,  audientem  illos  et  interrogantem  eos. 


218  Wilhelm  Meyer, 

14 

Ora  ingressus  fluninm, 

nt  incoaret  baptisrntim. 
81     pater  de  caelis  loquitur 

in  columbae  speciem. 

ibi  patuit  trinitas 
84     diuinaque  snbstantia. 

Vgl.  Matth.  3, 16  ßaptizatus  Jesus  confestim  ascendit  de  aqua 
. .  et  vidit  spiritum  dei  descendentem  sicut  columbam.  Et  ecce 
vox  de  coelis  dicens:  hie  est  filius  meus  dilectus;  äbnlich  Marc. 
1,  10  u.  11;  Luc.  3,  21  (descendit  spiritus  sanctus  corporali  specie 
sicut  columba  in  ipsum);  Job.  1,  32  79  ora  =  ex  ora?  oder 
*orans'  nach  Luc.  3,  22 :  Jesu  baptizato  et  orante  apertum  est  coe- 
lum?  80  baptismum.  82  specie?  83  vgl.  V.  46  trinitas 
pia  claruit. 

15 

Promittensque  discipulis 

Jesus  in  euangeliis : 
87     nisi  ego  abier o, 

paraclytus  non  ueniet. 

ipse  docebit  omnia, 
90     suggeret  mirabilia. 

Job.  16,  7  si  non  abiero,  paraclitus  non  veniet  ad  vos ;  14, 26 
Par acutus  autem  spiritus  sanctus,  quem  mittet  pater  in  nomine 
meo,  ille  vos  docebit  omnia,  et  suggeret  vobis  omnia,  quaecunque 
dixero  vobis. 

16 

Quibus  euolutis  circulis 

post  quinquaginta  diebus 
93     apostolorum  cordibus 

repleuit  abundantius. 

repleti  sunt  spiritos 
96     et  profetarunt  plenius. 

91  corr.  Qui  vgl.  Lev.  25,  30  anni  circulus  fuerit  evolutus 
92  Act.  2, 1  cum  complerentur  dies  Pentecostes  93  =  corda? 
95  fpöf  Codex ;  repleti  sancto  spiritu  ?  vgl.  Act.  2,  4  et  repleti 
sunt  omnes  spiritu  sancto  96  Act.  2, 18  effundam  de  spiritu 
meo  et  prophetabunt ;  19,  6  venit  spiritus  sanctus  super  eos  et 
loquebantur  linguis  et  prophetabant. 


lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik.  219 

17 
Resedit  super  singnlis 
in  bipertitis  Unguis; 
99     domum  ignis  apparuit; 
sonus  magnus  intonuit, 
loquunturqne  magnalia; 
102     gentes  reciperunt  gratiam. 
97  Act.  2,  3  apparuerunt  illis  dispertitae  linguae  tanquam  ignis 
seditque    super    singulos    eorum         99   Act.  2,  2   (sonus)  replevit 
totam  domum,    ubi  erant  sedentes         domum  =  in  domo?         100 
Act.  2,  2  f actus  est  repente  de  coelo  sonus,    tamquam  advenientis 
Spiritus   vehementis         101   Act.   2,  11    audivimus    eos    loquentes 
nostris   unguis  magnalia   dei         102  Act.  11,  1    gentes  receperunt 
verbum  dei;  2  Cor.  6,  1  gratiam  dei  recipiatis. 

18 
Sancta  crescens  ecclesia 
multiplicatas  lingüas. 
105     ad  turrem  ßabyllonicam 
ira  turbavit  labia, 
uirtutem  sancti  Spiritus 
108     recipitque  humilitas 
103  crescens  sfatt  crescit;   multiplicatis  unguis?     105   vgl.  V. 
42,  dann  Gen.  11,  9   vocatum  est  nomen  eins  Babel,    quia  ibi  con- 
fusum  est  labium  universae  terrae        105    der  Gedanke  ist   nicht 
übel :  die  Vielspracbigkeit  der  Apostel  gewinnt  Gläubige,  aber  der 
Thurmbau  ist  durch  Vielsprachigkeit  verhindert  worden.    Bei  Babel 
hat   Gottes   Zorn    die  Redegabe   der    stolzen  Menschen   verwirrt: 
jetzt  hat  der  h.  Geist  den   demüthigen  Dienern  Christi  Redegabe 
verliehen.    Also  ist  zu  bessern:  virtute  sancti  spiritus  recipit  (re- 
cepit)  quae  (d.  h.  labia)  humilitas. 

19 
Tantaque  dona  spiritus 
miratur  cunctus  populus : 
111     Arabae  Maedus  Prosylitus 
Judaeus  atque  Barbarus 
Romani  atque  advenae 
114     Scythae  et  Assyrii. 
109  Act.  2,  4    Spiritus   sanctus    dabat  eloqui  illis         110  Act. 
2,  7  =  12  stupebant   et   mirabantur   omnes         111    Act.  2,  9ffl. : 
Medi . .  et  advenae  Romani.     Judaei  quoque  et  Proseljrti  Cretes  et 
Arabes.     Colos.  3,  11  :  ubi  non  est  Gentilis  et  Judaeus,  circumcisio 


220  Wilhelm  Meyer, 

et  praeputimn,   Barbari  et  Scythae.     Nur  die  Assyrii  kommen  im 
N.  Testament  nicht  vor. 

Die  Sprache  dieses  Rythmus  ist  fast  barbarisch.  Wohl  nicht 
zn  bezweifeln  sind  die  seltsamen  Formen  oder  Bedeutungen,  wie: 
11  miriter.  12  in  primitus.  13  und  51  in  postmodum.  45  pro- 
meruit.  36  intra  undarum  ictibus.  38  per  partibus  {statt  per 
partus).  44  in  patriarchae  usui.  59  graderet.  70  uterum  {statt 
uterus).  72  nasceret.  98  cordibus  replevit.  In  diesen  Zeiten 
sind  von  den  Fehlern  der  Verfasser  oft  schwer  zu  trennen  die 
Fehler  der  Abschreiber;  doch  glaube  ich,  daß  hier  ziemlich  viele 
Fehler  des  Abschreibers  vorliegen,  die  also  gebessert  werden 
müssen:  3  fierit,  13  clara  luce,  28  spinis  gignent,  31  crescent,  33 
mundum,  37  augens,  60  terra  sancta,  75  spiritum  sanctum,  91 
quibus,  104  multiplicatas  linguas.  Eigenthümlichkeit  des  Verfassers 
zu  sein  scheint  die  Auslassung  von  'est'  beim  Particip,  sowohl  85 
promittens  und  103  crescens,  wie  57  vocatus  und  79  ingressus. 

(Der  Inhalt)  H.  Hagen  hat  im  Katalog  der  bemer  Hand- 
schriften das  Stück  überschrieben :  'Sententiae  ex  libris  sacris  pe- 
titae  a  littera  A  incipientes  usque  ad  litteram  T,  rythmice  com- 
positae.  Der  Verfasser  will,  wie  mir  scheint,  schildern,  wie  im 
alten  und  im  neuen  Testament  die  Personen  der  Trinität,  bes.  der 
h.  G-eistj  hervorgetreten  sind.  In  den  Strophen  2 — 6  kann  ich 
diesen  Faden  nicht  finden ;  sonst  aber  liegt  er  deutlich  vor  Augen. 
Betrachtet  man  das  Schriftstück  als  summarische  Ausführung  jenes 
Thema'Sj  so  ist  es  für  seine  Entstehungszeit  nicht  verächtlich. 

Die  Form  dieses  G-edichtes  ist  ebenso  roh  wie  die  Sprache.  Es 
finden  sich  hier  etwa  97  Achtsilber  mit  steigendem  Schlüsse  (8  u  _), 
5  mit  sinkendem  (8—^);  außerdem  8  Siebensilber  (7  u_.)  und  3 
Neunsilber  mit  steigendem  Schlüsse  (9  u  _).  Wir  haben  also  hier 
ein  neues  Beispiel  jener  merowingischen  lateinischen  Rythmik,  wo 
die  gesetzmäßige  Silbenzahl  verletzt  werden  konnte  (vgl.  meine 
Abhandlung  'Ein  Merowinger  Rythmus  über  Fortunat,  in  diesem 
Bande  S.  37/39).  Aber  die  wichtige  Frage,  ob  auch  weniger  Silben 
genommen  wurden  als  das  Schema  verlangte  (vgl.  S.  38),  scheint 
dieser  Rythmus  bejahend  zu  beantworten.  Denn  gesichert  scheinen 
hier  die  Verse  zu  7  u  _ :  2  spiritus  sanctissimus,  7  bene  caeli  spe- 
eiem,  28  spinas  gignunt  arida,  58  ab  igne  et  spiritu,  69  quod  de 
sancto  spiritu,  82  in  columbae  specie,  114  Scythae  et  Assyrii;  be- 
denklich ist  nur  der  8.  Siebensilber:  95  repleti  sunt  spiritu). 
Auffallend  wenige  sind  die  Neunsilber:  39  turrem  superbi  aedi- 
ficant;  {in  91  quibus  evolutis  circulis  ist  wohl  qui  zu  schreiben)^  102 


lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik.  221 

gentes  receperunt  gratiam,  111  Arabae  Maedus  Prosylitus.  Dazu 
kommen  als  schlimmere  Verletzungen  der  Regel  5  Achtsilber  mit 
sinkendem  Schlüsse  (8_u):  3  anteqaam  fieret  mnndus,  10  tenebras 
densas  repellens,  16  tertio  fixisti  die,  34  corpora  mersa  gigantum, 
92  post  quinquaginta  diebus.  Bleibt  noch  V.  1  Agiusque  igneus 
als  unsicher  bei  Seite,  so  sind  unter  den  114  Zeilen  97  Achtsilber 
mit  steigendem  Schlüsse  übrig.  Die  Frage  ist  nun,  wie  diese  Acht- 
sLlber  gebaut  sind. 

Diese  97  Achtsilber  mit  steigendem  Schlüsse  sind  so  gebaut 
wie  es  die  allgemeine  Regel  mit  sich  bringt;  d.  h.  der  Accentfall^ 
der  letzten  vier  Silben  ist  gebunden,  dagegen  der  Accentfall  der 
ersten  4  Silben  ist  frei  gegeben:  patri  aequa|lis  filius;  es  treten 
also  alle  möglichen  Accentfälle  ein  (vgl.  oben  S.  196).  Ich  scheide 
4  Hauptgruppen 

1)  jambischer  Accentfall:  u_u^w_u_:  miratnr  cunctus  populus  35 

Hoc  totum  figuraliter.    In  filios  et  filias  (6  Mal).    V.  86 
Jesus  in  evangeliis. 

2)  unsicherer  Anfang:    r^r\^u-z-u_^u_:    apostolorum   cördibns     10 

Et  prophetarunt  plenius.     Nee  non  Esaias  placita. 
8)  die  erste  Senkung  zweisilbig  :_uu_u_u-_:  pater  direxit  filium.  32 

Fünerä  crescent  nimium  (11  Mal).    V.  18  Quinto  iam  vo- 

latiHa. 
4)  die  zweite  Senkung  zweisilbig:  _u_uu_u_:  sönus  magnüs 

intonuit.         Ibi  patüit  trinitas  (Y.  6  u.  83).  20 

Bei  der  3.  und  4.  Art  sind  besonders  die  Unterarten  zu 
notiren ,  in  welchen  die  beiden  Silben  der  Senkung  den  Schluß 
eines  Wortes  bilden  (daktylischer  Wort  Schluß,  siehe  oben 
S.  195  u.  201),  wo  also  die  gewöhnliche  Regel,  welche  solchen 
Wortschluß  verbietet,  verletzt  wird.  Es  sind  11  der  3.  Art  und 
2  der  4.  Art: 

_uu,  _u_u-^:  fünörä  crescent  nimium  11 

-_u_uo,  _u_:  83  ibi  patüit  trinitas,  6  hömoüsiös  kyrius  2 

Von  diesen  97  Achtsilbern  beginnen  35  mit  einer  Senkung, 
52  mit  einer  Hebung.  Das  ist,  wenn  für  die  4  ersten  Silben  keine 
Regel  gilt,  ziemlich  natürlich.  Denn,  da  etwa  die  Hälfte  der 
dreisilbigen  lateinischen  Wörter  auf  der  ersten  Silbe  Accent  hat 
hömines  fülgurat,  die  zweisilbigen  aber  alle  magnus  laüdat,  so 
beginnen  in  jeder  lateinischen  Prosa  mehr  Wörter  mit  accentuirter 
Silbe  als  mit  nicht  accentuirter. 

Von  Caesur  hat  natürlich  dieser  Mann  nichts  gewußt.  Von 
den  97  Zeilen  haben  67  sinkenden  Einschnitt  nach  der  3.  oder  5. 


222  Wilhelm  Meyer,  lateinische  Rythmik  und  byzantinische  Strophik. 

Silbe;  die  4  Verse  18  86  90  und  83  hätten  keine  Caesur;  in  6 
Zeilen  bildet  die  4  Silbe  steigenden,  in  18  sinkenden  Wortschlnß 
(in  filiös  et  filias,  magnns  sönus  intonuit) :  also  liegt  Alles  so,  wie 
es  der  Zufall  bringt. 

Der  innere  Bau  dieser  Achtsilber  ist  also  weit  verschieden 
von  dem  Zeilenbau  bei  Auspicius.  Diese  Verschiedenheit  ist  aber 
nur  dadurch  bewirkt,  daß  dieser  Dichter  1),  wie  fast  alle,  nichts 
wußte  von  Caesur,  und  daß  er  2)  daktylischen  Wortschluß  nicht 
gemieden  hat. 

Strophen  und  Reim  Die  Zeilen  sind  in  Gruppen  von  je 
6  zusammengestellt,  was  sich  sonst  selten  findet.  Bestimmte,  regel- 
mäßig wiederkehrende  Sinnespausen  innerhalb  dieser  sechszeiligen 
Gruppen  kann  ich  nicht  nachweisen ;  doch  spricht  der  Reim  dafür, 
daß  je  2  solche  Kurzzeilen  eine  Langzeile  bilden  sollen.  Der 
Reim  oder  vielmehr  die  einsilbige  Assonanz  in  diesem  Gedicht 
ist  auffallend  stark.  Ohne  Assonanz  ist  eigentlich  nur  die  13. 
Strophe.  Oft  haben  5  oder  4  Zeilen  die  gleiche  Assonanz  und 
nur  1  oder  2  Zeilen  sind  regellos.  Oft  assoniren  je  2  Kurzzeilen; 
so  in  Str.  3 :  us  xmi ;  iem  iem ;  ans  a.  Str.  4 :  as  a ;  inem  inem  ilem 
re.  Aehnliche  Paare,  wie  8,5/6;  9,5/6;  10,5/6;  15,  1/2  5/6;  17: 
ulis  uis,  uit  uit,  ia  iam,  sprechen  dafür,  daß  der  Dichter  je  2 
Kurzzeilen  zu  einer  Langzeile  zusammengefaßt  und  wohl  auch 
zusammengeschrieben  hat. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  IL 

Von 

P.  Kehr. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  20.  Juli  1907. 

Im  dritten  Heft  unserer  Nachrichten  von  1905  habe  ich  bereits 
eine  erste  Serie  von  Nachträgen  zu  den  Papsturkunden  Italiens 
veröffentlicht,  der  ich  jetzt  eine  zweite  folgen  lasse.  Ich  brauche 
hier  nicht  zu  wiederholen,  was  ich  damals  ausführte:  schwerlich 
wird  das  Material  jemals  vollständig  erschöpft  werden,  und  ver- 
einzelte Findlinge  werden  immer  wieder  an  den  Tag  kommen. 
Von  andern  Stücken  sind  die  bisherigen  Drucke  so  schlecht  oder 
so  unvollständig  oder  auch  so  unzugänglich,  daß  es  sich  empfiehlt, 
auch  sie  in  diesen  Nachträgen  zugänglicher  zu  machen. 

So  ist  diese  Gruppe  von  43  Papsturkunden  zusammengekommen, 
die  sich  alle  auf  Mittelitalien  beziehen.  Den  Benutzern  der  ersten 
drei  Bände  der  Italia  pontificia  werden  sie,  denke  ich,  will- 
kommen sein. 

Zu  ihrer  Erläuterung  habe  ich  wenig  zu  sagen. 

Aus  Florenz  biete  ich  ein  Privileg  Honorius'  II.  (n.  4)  für 
die  Badia  di  Leno  bei  Brescia,  mit  deren  Ueberlieferung  es  be- 
kanntlich sehr  schlecht  bestellt  ist.  Jene  Urkunde  ist  aus  einem 
Kopialbuch  von  Leno  von  1540  entnommen,  das  der  Direktor  der 
Nationalbibliothek  Morpurgo  jüngst  auf  dem  Hökermarkt  fand. 
Aus  dem  Florentiner  Fonds  von  Camaldoli  steuerte  Prof.  L.  Schia- 
pareUi  ein  Mandat  Honorius'  II.  (n.  5)  und  ein  Privileg  Celestins  IL 
(n.  9)  bei;  aus  demselben  Fonds  biete  ich  ein  Privileg  Clemens' III. 
für  Arezzo  (n.  35).  Ein  Streifzug  in  das  erzbischöfliche  Archiv 
in  Florenz  brachte  außer  einigen  Urkunden  für  das  Priorat  von 
S.  Andrea  di  Mosciano  noch  ein  interessantes  Ineditum  Clemens'  m. 


224  P.  Kehr, 

für  Ripoli  (n.  38)  an  den  Tag.  Aus  den  Strozzipapieren  der  Na- 
tionalbibliothek  kopierte  ich  selbst  Lucius'  III.  Privileg  für  das 
Kloster  S.  Salvadore  di  Spugna,  das  in  einer  seltenen  Monographie 
von  Morozzi  gedruckt  ist.  Gedruckt  sind  auch  bereits  die  beiden 
Mandate  Alexanders  III.  für  Passignano  (n.  16.  18),  allein  die 
Lettere  von  Fedele  Soldani,  in  denen  sie  stehen,  sind  nicht  nur 
in  Deutschland,  sondern  auch  in  Italien  so  selten,  daß  ich  geglaubt 
habe,  sie  zugänglicher  machen  zu  sollen.  Dieselbe  Erwägung  hat 
mich  veranlaßt,  die  aus  den  Archiven  der  Yallombrosaner  stam- 
menden Urkunden  n.  7.  8.  10.  14.  17.  39.  43  noch  einmal  zu  drucken. 
Ich  habe  seiner  Zeit  von  ihrer  Wiedergabe  abgesehen,  weil  ich  sie 
in  dem  Bullarium  Vallumbrosanum  gedruckt  fand,  das  1729  Ful- 
gentius  Nardi,  einst  Prior  von  S.  Trinita  in  Florenz,  herausgegeben 
hat.  Das  Buch  ist  nicht  nur  Jaffe  und  Loewenfeld,  sondern  auch 
den  Geschichtsschreibern  der  Yallombrosaner  unbekannt  geblieben, 
und  es  scheint  in  der  Tat  eine  litterarische  Seltenheit  ersten 
Ranges  zu  sein.  In  Rom  sind  nur  zwei  Exemplare  vorhanden, 
das  eine  im  Yallombrosaner  Archiv  von  S.  Prassede,  das  andere 
kaufte  ich  jüngst  bei  einem  Antiquar  in  Bologna  für  ein  par  Soldi. 
In  der  Nazionale  von  Florenz  fand  ich  ein  drittes  Exemplar,  ein 
viertes  im  Yallombrosanerkolleg  von  S.  Giuseppe  in  Pescia.  Also 
glaube  ich  recht  zu  tun,  wenn  ich  auch  diese  Stücke  im  Anhang 
folgen  lasse. 

Aus  Arezzo  stammt  eine  Urkunde  Lucius'  III.  (n.  28)  und  eine 
Celestins  III.  (n.  42),  auf  deren  Druck  wir  seiner  Zeit  verzichteten, 
weil  sie  im  II.  Band  der  Documenti  par  la  storia  della  citta  di 
Arezzo  nel  medio  evo  von  Ubaldo  Pasqui  ihren  Platz  finden 
sollten.  Allein  dessen  Erscheinen  steht  leider  noch  immer  in 
weiter  Ferne. 

Aus  Volterra  bringe  ich  einen  Nachtrag:  das  oft  zitierte, 
aber  niemals  gedruckte  Diplom  Urbans  III.  (n.  33). 

Aus  Sie  na  habe  ich  noch  sechs,  allerdings  schon  sämtlich 
bekannte  Urkunden  genommen,  von  Anastasius  lY.  (n.  11)  aus  dem 
Fonds  von  Monte  Amiata,  von  Alexander  III.  (n.  22.  27)  aus  dem 
Archiv  von  S.  Agatä  zu  Asciano  und  aus  dem  Fonds  von  S. 
Agostino,  von  Clemens  III.  (n.  34.  36)  für  die  Kirchen  S.  Nicolo 
in  Montieri  und  S.  Pietro  in  Sovana,  von  Celestin  III.  (n.  41)  aus 
dem  Fonds  von  S.  Maria  degli  Angeli.  Zu  den  Seneser  Urkunden 
gehört  auch  das  Privileg  Hadrians  lY.  für  San  Lorenzo  dell' 
Ardenghesca  (n.  12),  das  Dr.  Hessel  unter  den  Urkunden  von  S. 
Salvadore  di  Reno  im  Staatsarchiv  zu  Bologna  fand. 

Eine  stattliche  Serie  von  Urkunden  lieferte  das  Kapitelarchiv 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  225 

in  Prato  (n.  2.  6.  23.  26.  27.  30.  31.  32.  40).  Sie  wieder  ent- 
deckt zu  haben  ist  das  Verdienst  von  Fr.  Carlesi,  der  aucli  mir 
ein  freundlicher  Führer  gewesen  ist.  Aber  sein  Buch  Origini  di 
Prato  hat  schwerlich  in  Deutschland  Verbreitung  gefunden.  Es 
ist  einer  jener  wohlgemeinten  Beiträge  zur  Lokalgeschichte,  welche 
mehr  aus  der  Heimatsliebe  als  aus  dem  historischen  Ingenium  des 
Autors  entspringen.  Diese  Prateser  Urkunden  hat  Dr.  Fr.  Bal- 
dasseroni  in  Florenz  nochmals  kollationiert. 

Pisa  spendete  noch  drei  Urkunden  (n.  1.  19.  25),  von  denen 
die  letzte  ein  bisher  ganz  unbekanntes  Privileg  Alexanders  III. 
für  die  Kirche  S.  Christina  ist.  Bei  Pisa,  in  der  Certosa  von 
Calci,  befindet  sich  bekanntlich  das  Archiv  von  Grorgona.  Doch 
fand  sich  eine  zu  Grorgona  gehörende  Urkunde  auch  noch  im  De- 
partementalarchiv  von  Ajaccio  (n.  15). 

Alle  diese  Stücke  beziehen  sich  auf  Toscana;  ich  drucke  sie, 
um  die  Benutzung  des  jetzt  erscheinenden  dritten  Bandes  der 
„Italia  pontificia"  zu  erleichtern. 

Dazu  biete  ich  noch  unbedeutende  Nachträge  zu  Band  I  und  II. 
Im  Bd.  I  unter  S.  R.  E.  cardinales  hatte  ich  zu  n.  11  (p.  7)  ein 
Privileg  Urbans  II.  gesetzt,  das  wir  auszugsweise  in  einei^  Hand- 
schrift der  Vallicellana  besitzen.  Es  ist  für  die  Greschichte  des 
Kardinalkollegiums  so  wichtig,  daß  ich  es  gerne  abdrucke. 

Zu  Band  11  (Latium)  gebe  ich  noch  vier  Stücke,  nämlich 
Alexanders  III.  Reskript  J-L.  12724.  12725  (vgl.  p.  96  n.  49),  das 
oft  zitiert,  aber  nie  ganz  gedruckt  ist,  dann  das  für  die  Topo- 
graphie der  Tuscia  Romana  sehr  wichtige  Privileg  Alexanders  III. 
für  S.  Giusto  di  Toscanella  J-L.  13038a  (vgl.  p.  199  n.  2),  femer 
ein  kleines  Privileg  Hadrians  IV.  für  S.  Sisto  in  Viterbo,  das 
jüngst  Prof.  Pietro  Egidi  unter  den  Farneseurkunden  des  Staats- 
archivs in  Neapel  auffand  (vgl.  p.  210),  endlich  ein  Mandat 
Clemens'  III.  an  den  Erzpriester  von  Civita  Castellana  (vgl.  p.  185 
n.  1),  das  mir  Comm.  Griocondo  Pasquinangeli  mitgeteilt  hat. 


226  P.  Kehr, 


Alexander  IL  nimmt  die  Kanoniker  der  Kathedralkirche  S, 
Maria  in  Pisa  in  den  apostolischen  Schutz  und  bestätigt  ihr  den  Besitz, 

Lateran  1065  Fehmar  7, 

Orig.  Pisa  Ar  eh.  capitolare  (Nr.  152). 

Die  Urkunde  steht  auch  in  üghellVs  Sammlung  Privilegia  ponti- 
ficum  varia,  s,  XVII,  cod.  Vat.  Barb.  8222  (XL  19,  olim  3640),  bei 
Ottavio  Angelo  D'Abramo  Pisanae  primatialis  dignitatum  ac  pra£ben'- 
darum  omnium  descriptio  II  p.  71,  und  im  Auszug  in  Onofrio  Pan- 
vinio's  Scheden  Vat.  Arch.  Mise.  Arm.  XI  t.  34  f.  20  und  Arm.  XV 
t.  128  f.  177.  Sie  ist  registriert  von  üghelli  ^  III  412;  ^  III  360; 
Pflugk-Harttung  Iter  p.  198  n.  141;  J-L.  4562.  —  Der  Teoct  wieder- 
holt in  der  HauptscLche  Victors  IL  Privileg  J-L.  4841. 

ALEXANDER  EPISCOPVS  SERVVS  SERVORVM  DEL  KA- 
RISSIMIS  m  CHRISTO  FILnS  NOSTRIS  CANONICIS  SANCTE  DEI 
GENITRICIS  ET|  [  perpetu^  uirginis  MARIE  uobis  uestrisque  suc- 
cessoribus  in  perpetuum.  Instis  et  rationabilibus  petitionibns  be- 
niuolus  debetur  consensus.  Qu^  enim  diuin^  |  religioni  nichil  au- 
ferunt,  in  futurum  autem  utilitati  hominum  multum  conferunt, 
profecto  concedenda  et  expetenda  sunt.  Quapropter  notum  esse  | 
uolumus  Omnibus  Christi  fidelibus  presentibas  scilicet  et  futuris, 
qualiter  fratres  Pisanensis  ^cclesi^  de  canonica  sanct^  Dei  genitricis 
MARIE,  sicut  prediximus,  |  nostram  adierunt  clementiam,  rogantes 
nostr^que  patemitati  humiüter  supplicantes ,  quatinus  ipsos  cum 
bonis  predict^  canonici  iure  pertinentibus  sub  tutelaim  apostolicQ  | 
defensionis,  dato  eis  nostro  priuilegio,  susciperemus.  Quorum  pe- 
titioni  beniuolentia  ipsius  apostolicQ  sedis,  cui  Deo  auctore  licet 
indigni  presidemus,  annuentes,  eosdem  |  fratres  sub  nostram  de- 
fensionem  suscepimus  datoque  priuilegio  omnia  h^c  bona  tam  in 
decimis  quam  in  prediis,  quQ  eadem  prescripta  canonica  tunc  iure 
tenuit  uel  in  futuro  |  iuste  acquisitura  erit,  auctoritate  Dei  sancti- 
que  PETRI  concessimus  et  confirmauimus,  quatenus  nostra  fulti 
auctoritate  de  die  in  diem  in  melius  proficiant  et  de  uirtute  in  | 
uirtutem  securius  ascendant.  Super  h§c  nero  pacem,  quietem  et 
securitatem  eidem  prenominat^  canonici  bonisque  suis  cupientes, 
statuimus  et  confirmauimus  ipsa  eademque  |  auctoritate  Dei  sancti- 
que  PETRI  et  nostra,  ut  nulla  persona  parua  seu  magna  audeat 
uel  presumat  uim,  dampnum  uel  molestiam  ullam  inferre  aut  mo- 
lestare  uel  quicquam  de  |  bonis   suis  absque  legali  iudicio  aut   ca- 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  227 

nonicali  usnrpare.  Quod  si  quis,  quod  non  optamus,  hnius  nostr^ 
concessionis  et  confirmationis  priuilegium  infringere  presumpserit  | 
nostriqne  mandati  immemor  dampnum  uel  molestiam  eis''^  aut  de 
bonis  predict§  canonici  quicquam  sibi  usurpauerit,  nisi  resipiscat 
dignaque  emendet  satisf actione,  uin|ciilo  anathematis  innodetur. 
Qui  uero  custos  et  obseruator  extiterit,  apostolica  benedictione 
repleatur  et  misericordiam  a  domino  Deo  consequatur.  | 

R. 

Datum  Lateranis  septimo  idus  febraarii  per  manus  Petri  sanct§ 
Romanae  ecclesi^  subdiaconi  atque  bibliothecarii,  anno  IUI  ponti- 
ficatus  domni  ALEXANDRI  papQ  II,  inditione  III. 

B. 


3. 

(Fälschung), 

TJrban  IL  befiehlt  dem  Volk  von  Bisantium  (d.  i.  Prato),  zum 
Kreuzzug  einen  Führer  nebst  30  Edlen  zu  senden. 

Lateran  1093  Februar  24. 

Historia  di  Prato  scritta  da  M.  Alessandro  Guardini  a.  1560 
(ed.  Carlesi  Origini  della  cittä  e  del  comune  di  Prato.     Prato  1904). 

Ed.  Carlesi  l.  c.  p.  184.  —  Die  ganz  abstruse  Fälschung  hat 
wohl  Guardini  selbst  auf  dem  Gewissen.  Er  fabelt  auch  von  einer 
Indulgenz  Felix'  IV.  und  von  einem  Aufenthalt  der  Päpste  Marcus 
und  Sergius  in  Bisantium,  d.  i.  Prato,  Der  Text  ist  übel,  —  Zur 
Sache  vergleiche  Italia  pont.  III  135  sq, 

Urbanus  papa  secnndus. 

Dilecte  fiK*),  salutem  et  apostolicam  benedictionem.  Omnibus 
Christi  fidelibus  conuenit  pro  piae  deuotionis  affectn  omne  prae- 
stare  auxilinm  et  uolentes  ex  munere  nostri  pastoralis  officii  ope- 
ribus  satisfacere  piis,  et  maxime  pro  filiae  Sion  et  iHius  Terrae 
sanetae  recuperatione  per  nos  et  sedem  apostolicam  nuper  ten- 
tanda,  precibus  et  meritis  dilecti  filii  nostri  Petri  eremitae,  ad  id 

pro    exhortatione    omnium   beUantium    deputati  ad 

rendum  nostrum  ac  sanetae  matris  ecclesiae  inimicum,  qui  eam 
indigne  occupat.  Nos  tamen  confisi  prius  in  maxima  Dei  et  domini 
nostri  lesu  Christi  benignitate  et  deinde   rerum  gerendarum    ex- 


a)  aus  der  Vorurhunde  ist  zu  ergänzen  intulerit.  6)  filie. 


228  P-  Kehr, 

perientia,  omnium  Christi  nomen  pia  deuotione  portandnm,  ad 
illius  professione  facientium  et  ciuitatem  sanctam  Hyerusalem  eius- 
que  districtum  ab  atroce  eximere  hoste  atque  liberare  cupientium, 
qua  in  urbe  beata  carnis  conditor  pro  peccatis  nostris  misericor- 
diter  crucis  patibulo  ac  mucrone  lanciae  diuo(?)  uulneratus  atque 
suspensus  est.  Quapropter  uos  omnes  de  consilio  populi  et  liber- 
tatis  praestantes,  cuius  curam  et  gubernium  gerentes"),  ad  hoc  pium 
opus  rogamus  et  benigne  in  Domino  hortamur,  quatenus  deputetis 
iuxta  nostrae  mentis  desiderium  ducem  per  uos  eligendum,  qui  secum 
deinde  eligat  auctoritate  nostra  apostolica  triginta  nobiles  ac 
probos  iuuenes  suosque  conciues  ad  hoc  utiles  pro  substentatione 
classis  Terram  sanctam  uersus  bellantes  eorom  sumptibus,  quanto 
eins  ducat,  armis  et  aliis  ad  similia  spectantibus  et  pertinentibus 
ad  ciuitatem  Viterbiensem  per  totum  mensem  martii  proximi  fu- 
turi.  Et  nuUi  ergo  hominum  liceat  eundem  ducem  eiusque  milites 
quoquo  modo  uexare,  molestare,  perturbare  et  iter  eisdem  impedire 
sub  excommunicationis  latae  sententiae  poena. 

Datum  Romae  apud  Lateranum  sub  anno  a  natiuitate  Domini 
MXCIll,  die  uero  XXTTTT  februarii,  sub  anulo  piscatoris,  pontifi- 
catus  nostri  anno  VI. 

In  tergo:  Dilecto  populo  filio  nostro  Libertatis  de  Bisantio 
Thusciae  Pistoriensis. 

3. 

Urhan  II.  erläßt  über  die  Rechte  der  Kardinäle  ein  Edikt, 

(1088—99). 
Auszug  im  Cod.   Vallicell.  C  24,  s.  XVI,  f.  198'. 

Die  Handschrift  enthält  eine  historische  Zusammenstellung  über 
die  Kardinäle,  welche  einem  älteren  Vaticanus  entnommen  sein  soll. 
Hier  stehen  die  bekannten  Urkunden  Johannes'  VIII.  J-E.  3366  und 
Alexanders  IL  J-L.  4736,  worauf  dann  diejenige  TJrhans  IL  folgt 
(vgl,  Italia  pontif.  I  6  sq.).  Der  ganze  Aufsatz  verdiente  wohl  noch 
eine  genaue  Untersuchung. 

Item  Urbanns  11.  presbyteris  cardinalibus.  Clerici  diaconi- 
arum,  quibus  diaconi  non  praefuerint,  ad  scrutinia  cum  capellanis 
conveniant.     Quia,   ut  decessor   noster  Pelagius  scribit,    anilantem 

süperb.  ...  et   desperatis  mentibus   doctrina  sine   po- 

testate  contemnitur  ^),  mansuro  in  perpetuum  decreto  sancimus,  ea 

a)  stau  geritis?  h)  die  Stelle  ist  stark  zerstört  utid  kaum  wiederherzu- 

stelien. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  229 

uos  auctoritate  et  dignitate  precellere,  ut  in  hac  urbe  E-omana, 
cuius  tituli  et  diaconiae  et  parrocliiae  et  parrochianorum  paeni- 
tentiae  per  singulas  regiones  et  suburbia  nostris  olim  decessoribns 
ab  apostolicis  eorumque  successoribus  delegatae  sunt,  iuxta  con- 
cilium  Neocaesariense,  in  quo  de  catbedralibus  presbyteris  agitur, 
nulli  presbytero  in  praesentia  cuiuslibet  uestri  absque  nostra  per- 
missione  liceat  sacra  missarum  solemnia  celebrare  nee  generaliter 
baptismatis  fontes,  paschae  scilicet  seu  pentecostes,  sicut  usque 
ad  hoc  tempus  urbis  huius  consuetudo  se  habuit,  absque  nostra 
permissione  uel  uicini  cardinalis  audeat  consecrare.  Addentes 
etiam  hoc,  ut  clerus  cuiusque  diaconiae,  his  exceptis,  quibus  car- 
dinales  diaconi  praefuere,  ad  peragenda  scrutinia  et  baptismata 
iuxta  decessores  nostros  Alexandrum  et  Grregorium  irrefragabiliter 
cum  capellanis  omnibus  debeant  conuenire. 


4. 

Honorius  IL  nimmt  das  Kloster  S.  Salvadore  di  Leno  unter  dem 
AU  Tedald  in  den  apostolischen  Schutz  und  bestätigt  die  Besitzungen 
und  Beeilte.  (1125). 

Privilegi  concessi  alla  hadia  di  S.  Leno  a.  1540  f.  46'  Firenze 
Bibl.  naz,  (Nuovi  acqiiisti  n.  14)  aus  notarieller  Abschrift^  wie  es 
scheint,  von  1280. 

Vgl.  Gott.  Nachr.  1903  S.  555  Nr.  3  Beg.  aus  dem  Kopialbuch 
von  Leno  s.  XVI  f.  14  im  Kapitelarchiv  des  Lateran. 

Honorius  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilecto  filio  Tedaldo 
monasterii  Leonensis  abbati  eiusque  successoribus  regulariter  substi- 
tuendis  in   perpetuum.  Pi^  postulatio   uoluntatis   effectu  debet 

prosequente  compleri,  quatenus  et  deuotionis  sinceritas  laudabiliter 
enitescat  et  utilitas  postulata  uires  indubitanter  assumat.  Tuis 
igitur,  dilecte  in  Domino  fili  Tedalde  abbas,  petitionibus  annuentes, 
«ancti  Saluatoris  monasterium,  cui  Deo  auctore  pr^sides,  sicut  a 
pr^decessoribus  nostris  in  tutelam  et  protectionem  apostolicQ  sedis 
susceptum  est,  nos  quoque  suscipimus,  quod  uidelicet  monasterium 
a.  Longobardorum  rege  Desiderio  in  honorem  domini  Saluatoris 
et  beati  Benedicti  patris  nostri  ^dificatam  cognoscitur.  Statuimus 
^nim,  ut  nulli  ecclesiastic^  seculariue  persona  liceat  districtum 
ullum  in  locis  quibusquam  ipsius  monasterii  seu  placitum  absque 
abbatis  licentia  facere  seu  fodrum  vel  mansiones  exigere.  Abbas 
-autem,  ubicunque  per  eadem  loca  uoluerit,  mercatum  nemine   con- 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.   Nachrichten.    Philolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft  2.  16 


230  P-  Kehr, 

tradicente  constituat  uel  Qdificet  districtnmque  seruorum  sen  libe- 
rorum  teneat  nee  episcoporum  quenqnam  in  pr^fato  monasterio 
dicionem  aliquam  habere  permittimus  et  missas  publicas  pr^ter 
abbatis  uoluntatem  illic  agere  probibemus.  Confirmamus  igitur 
eidem  uenerabili  monasterio  possessiones  priorum  temporum,  id 
est  plebem  sancti  loannis,  ecclesiam  saneti  Petri  in  Summo  lacn, 
Campilione,  Materno,  Patinole,  Cauunno,  Cubiato,  Grusiago,  Casa- 
nona,  Solarium  in  Brixia  cum  broilo  usque  in  uiam  orientis,  cum 
ecclesia  sancti  Benedicti  in  Verona,  Dale,  Mucianum"),  Paonem, 
Castrum  nouum  cum  ecclesia  sancti  Andr^Q,  Milcianum,  Groteningum 
cum  ecclesia  sancti  Petri,  sanctam  Mariam  in  Mauriaticam^^,  Vsti- 
lianum,  Curtem  ruptam,  Flexum,  Fontanellam,  Bucellanum,  Turri- 
cellam,  Carpenetulum,  Gambaram  cum  ecclesia  sanct^  Mari^,  et 
aliam  sancti  Petri,  et  castrum  Turricelle  cum  ecclesia  sancti 
Andr^^,  Pancianum  cum  ecclesia  apostolorum  Philippi  et  lacobi 
et  cum  plebe  sanct^  Maricj  et  sancti  Sebastiani,  decimam  etiam 
ad  idem  Pancianum  pertinentem,  sanctum  Vincentium,  Fontanam 
latam,  Cassium  cum  pertinentiis  suis,  Montem  longum  cum  perti- 
nentiis  suis,  ecclesiam  sancti  Greorgii  in  Pontremulo'^),  Talauumum, 
uillam  Laudem  cum  duabus  partibus  de  Arcole.  Pr^terea  qu§- 
cunque  pr^dia,  qu^cunque  possessiones  uel  catholicorum  regnm 
uel  aliorum  fidelium  legitimis  oblationibus  in  pr^senti  uestro  mo- 
nasterio pertinent  siue  in  futurum  largiente  Domino  pertinere 
contigerint,  firma  tibi  tuisque  successoribus  et  illibata  permaneant. 
Decernimus  ergo,  ut  nulli  omnino  hominum  liceat  idem  monaste- 
rium  temere  perturbare  aut  eins  possessiones  auferre  aut  ablatas 
retinere,  minuere  uel  temerariis  uexationibus  fatigare,  sed  omnia 
integra  conseruentur,  eorum,  pro  quorum  sustentatione  et  guber- 
natione  concessa  sunt,  usibus  omnimodis  profutura.  Decimas  atque 
primitias  pr§decessorum  nostrorum  autoritate  monasterio  uestro 
concessas  nullatenus  deinceps  ab  episcopis  uel  episcoporum  mi- 
nistris  permittimus  usurpari.  Cbrisma,  oleum  sanctum,  consecra- 
tiones  altarium  siue  basilicarum,  ordinationes  monachorum  siue 
c^terorum  clericorum  totius  abbati^,  qui  ad  sacros  faerint  ordines 
promouendi,  a  quo  malueritis  catbolico  accipiatis  antistite.  Ob- 
eunte  te,  nunc  eins  loci  abbate  uel  tuorum  quolibet  successorum, 
nullus  ibi  qualibet  subreptionis  astutia  seu  uiolentia  pr^ponatur, 
nisi  quem  fratres  communi  consensu  uel  fratrum  pars  consilü  sani- 
oris  secundum  Dei  timorem  et  beati  Benedicti  regulam   elegerint; 


a)  am  Rande  wiederholt  von  anderer  Handr  Dale.  Mucianum. 

b)  am  Bande  S.  M.  Muratica.  c)  am  Bande  Fontremulum. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  231 

electiis  autem  ad  Romanum  pontificem  consecrandus  accedat,  qui 
profecto  potestatem  habeat  castella  et  ecclesias  faciendi,  ubicunque 
uoluerit  in  terris  ad  pr^fatum  monasterium  pertinentibus.  Pi- 
scarias  ad  ipsum  monasterium  pertinentes  in  fratrum  usus  omnibus 
modis  confirmamus,  nt  nulli  facultas  sit  eas  inuadere  aut  quibus- 
libet  occasionibus  alienare.  Vos  igitur,  filii  in  Christo  dilecti,  ut 
hac  semper  gratia  digniores  censeamini,  Dei  semper  timorem  in 
uestris  cordibus  habere  satagite,  ut  quanto  a  secularibus  tumul- 
tibus  liberiores  estis,  tanto  amplius  placere  Deo  totius  mentis  et 
anim§  uirtutibus  anheletis.  Si  quis  igitur  in  crastinum  archiepi- 
scopus  aut  episcopus,  imperator  aut  rex,  princeps  aut  dux,  comes, 
uicecomes,  iudex  aut  ecclesiastica  qu^libet  secolarisue  persona  hanc 
nostrQ  constitutionis  paginam  sciens  contra  eam  temere  uenire 
tentauerit,  secundo  tertioue  commonita,  si  non  satisf actione  con- 
grua  emendauerit,  potestatis  honorisque  sui  dignitate  careat  re- 
amque  se  diuino  iudicio  existere  de  perpetrata  iniquitate  cogno- 
scat  et  a  sacratissimo  corpore  ac  sanguine  Dei  et  domini  redemp- 
toris  nostri  lesu  Christi  aliena  fiat  atque  in  extremo  examine 
districte  ultioni  subiaceat.  Cunctis  autem  eidem  loco  iusta  ser- 
uantibus  sit  pax  domini  nostri  lesu  Christi,  quatenus  et  hie  fruc- 
tum  bon§  actionis  percipiant  et  apud  districtum  iudicem  pr^mia 
Qtern^  pacis  inueniant.     Amen.     Amen.     Amen. 

E.    Ego  Honorius  catholic^  ecclesi^  episcopus  ss.     BV. 

Dat E,oman<^  ecclesi^  cancellarii,   IUI 

,   incarnationis   dominier 

Honorii  secundi  pape  anno  primo. 


Honorius  II.  heauftragt  wiederholt  den  Bischof  Petrus  von  Chiusi, 
die  renitenten  Mönche  von  Vivo  zum  Gehorsam  des  Camaldulenser- 
prior s  Johannes  und  zur  Annahme  der  Pegel  von  Camaldoli  zu  be- 
wegen. Lateran  (1126)  März  17. 

Kopie  saec.  XII  Florenz  Ärch.  di  stato  (Camaldoli  1143  marzo  17). 

Bas  Stück  enthält  den  Bericht  über  die  Streitigheiten  mit  Kloster 
Vivo  in  der  Diözese  Chiusi,  worüber  Mittarelli  Ann.  Camald.  III  60, 
der  sich  an  Baroncini's  Exzerpte  hielt,  zu  vergleichen  ist.  Da  findet 
sich  auch  das  Reskript  Honorius'  IL  und  Celestins  IL  definitive 
Entscheidung  kopiert,  die  mir  bei  meinen  Nachforschungen  in  Florenz 
entgangen  waren.    Ich  verdanke  ihre  Mitteilung  unserm  Freunde  und 

16* 


232  P-  Kehr, 

Kollegen  Prof,  L.  SchiaparelU,  —  Das  Jahr  1126  ergibt  sich  aus  der 
Begierungszeit  des  Priors  Johannes  von  Camaldoli,  der  im  September 
1126  Kardinal  von  Ostia  ivurde  (cf.  Mittarelli  III  43). 

Honorius  episcopus  seruus  seruoram  Dei.  Yenerabili  fratri 
P.  Clusino  episcopo  salutem  et  apostolicam  benedictionem.  Super 
fratribus  illis  monacbis  de  Vivo  miramur  admodmn  et  grauamur, 
quoniam  per  litteras  nostras  et  per  te  atque  per  alios  fratres  totiens 
moniti,  ad  dilecti  filii  nostri  I.  Camaldulensis  prioris  redire  obe- 
dientiam  noluerunt,  sed  in  sua  potius  proteruia  contumaciter  per- 
senerant.  Quocirca  fraternitati  tuQ  iterato  iniungimus,  ut  eos  adhuc 
diligenter  monere  non  desinas  °^,  quatenus  ad  eiusdem  subiectionem 
et  obedientiam  redeant  et  seenndum  beati  Benedicti  regulam  e.t 
seeundum  generalem  formam  et  institutionem  Deo  acceptQ  congre- 
gationis  Camaldulensis  deinceps  uiuant.  Quodsi  etiam  modo  con- 
tempserint,  sciant  se  ab  exeommunicationis  uinculo  nullatenus  ab- 
solutes.       Dat.  Lat.  XVI  kal.  aprü. 


a)  desinat. 

6. 

Innocenz  H.  nimmt  die  KollegiatkircJie  S.  Stefano  in  Prato  unter 
dem  Propst  Bdeprand  in  den  apostolischen  Schutz,  verbietet  ohne  des 
Propstes  und  seiner  Nachfolger  Erlaubnis  in  der  Parrochie  eine  Kirche 
zu  errichten^  bestätigt  die  Zehnten  und  die  Sepultur  und  andere  Vor- 
rechte. Lateran  1133  Mai  21. 

Kopie  im  Ms.  Concessioni  giurisdizionali  dei  sommi  pontefici  etc, 
s.  XIV  ex.  [B]  und  Kopie  im  Ms.  Bolle  e  indulti  pontificii;  de^ 
creti  vescovüi  $.  XVI  sq.  [CJ,  beide  Prato  Ar  eh.  capitolare. 

Edd.  Uglwlli  ^  III  331  =  Migne  Patr.  lat.  CLXXIX  177  n.  134. 
—  Begg.  J.  5450.  J-L.  7618.  UgJielli's  Text  ist  unvollständig.  Ich 
gebe  daher  die  bei  ihm  fehlenden  Unterschriften  aus  C,  da  auch  die  Kopie 
s.  XIV  nicht  vollständig  ist.     Vgl.  Italia  pont.  III 136  n.  2. 

Innocentius  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilecto  filio  Ilde- 
prando  preposito  ecclesie  sancti  Stepbani  de  Prato  eiusque  suc- 
cessoribus   canonice   substituendis    in   perpetuum.  lustitiae   et 

rationis  ordo. 

R.     Ego  Innocentius  catholic§  ecclesiq  episcopus  ss.^^     BV. 
t  Ego  Grulielmus  Penestrinus  episcopus  ss.* 

a)  88.  fehlt  hier  und  in  der  Folge. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  233 

f  Ego  Johannes  Hostiensis  episcopus  ss. 

f  Ego  [Conradus]^)  Sabinensis  ecclesie  episcopus  ss. 
f  Ego  Johannes  tit.  sancti  Grisogoni  presb.  card.  ss. 
f  Ego  Gerardus  tit.  sanete  Crucis  presb.  card.  ss. 
f  Ego  Anseimus  presb.   card.  tit.  <^)  sancti  Laurentii   in  Lucina  ss. 
f  Ego  Martinus  presb.  card.  tit.  sancti  Stephani  in  Celio  monte  ss. 
t  Ego  Lucas  presb.  card.  sanctornm  lohannis  et  Pauli  ss. 

f  Ego  Eomanus  diac.  card. , sanete  Marie  in  Porticu  ss. 

t  Ego  Gregorius   diac.  card.  sanctorum  Sergii   et  Bachi  ss. 

t  Ego  Guido  diac.  card.  sanete  Marie  in  Via  lata  ss. 

t  Ego  Oddo  diac.  card.  sancti  Georgii  ad  Velum  aureum  ss. 

f  Ego  Guido  diac.  card.  sanctorum  Cosm^  et  Damiani  ss. 

Dat.  Lat.  per  manum  Aimerici  sanete  Romane  ecclesie  diaconi 
cardinalis  et  cancellarii,  XII  kal.  iunii,  indictione  XI,  incarnationis 
dominice  anno  MCXXXIII,  pontificatus  uero  domni  Innocentii 
pape  II  anno  IUI. 


h)  Lücke  im  Text  c)  tit.  fehlt. 


Innocenz  II.  nimmt  die  Klöster  S.  Michaelis  de  Plaiano  und  S. 
Michaelis  de  Salvenero  unter  den  Äebten  Matiriis  und  Hugo  in  den 
apostolischen  Schutz  und  bestätigt  ihnen  Besitz  tmd  Rechte  und  die 
Vallombrosanerregel.  Lateran  1189  Mai  25. 

Cornelii  Margarini  Thesaurus  historicus  vol.  III  f.  173  Born 
Vat.  Ar  eh.  Arm.  LIV  t.  8  ex  registro  congregationis  Vallis  Umbrosae 
in   TJrbe  fol.  84. 

Das  Chartular  von  Vallomhrosa,  das  sich  noch  im  19.  Jahrhundert 
in  S.  Prassede  in  Born  befand,  ist  verschollen,  vgl.  Italia  pontif.  I  50; 
III  86.  Unser  Privileg  für  die  beiden  Vallombrosanerhlöster  in  Sar- 
dinien Jcamiten  auch  noch  die  Vallombrosanerschriftsteller  Vinc.  Nan- 
nini, Ambr.  Genovini  und  Fulg.  Nardi;  cf.  Italia  pontif.  III 87.  Die 
von  Nardi  im  Bull.  Vallumbr.  p.  14  gedrucMe  Urkunde  ist  Jaffe- 
Loewenfeld  entgangen, 

Innocentius  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis 
Mauro  monasterii  s.  Michaelis  de  Plaiano  et  Ugoni  cenobii  s.  Mi- 
chaelis de  Saluenero  abbatibus  eorumque  successoribus  regulariter 
substituendis  in  perpetuum.       Desiderium,  quod  ad  religionis  pro- 


234  P.  Kehr, 

positum  et  animarum  salutem  noscitur  pertinere,  animo  nos  decet 
libenti  concedere  et  petentium  desideriis  congruum  impertiri  suf- 
fraginm.  Eapropter,  dilecti  in  Domino  filii  Maure  et  Ugo  abbates, 
uestris  rationabilibus  postulationibus  clementer  annuimus  et  mo- 
nasteria  saneti  Michaelis  de  Plaiano  et  beati  IVIichaelis  de  Salue- 
nero,  quibus  authore  Domino  pr^sidetis,  apostolic^  sedis  priuilegio 
communimus.  Statuentes,  ut  quascunque  possessiones ,  quQCunque 
bona  eadem  monasteria  iuste  et  canonice  possident  aut  in  futurum 
concessione  pontificum,  liberalitate  regum  uel  principum,  oblatione 
fidelium  seu  aliis  iustis  modis  prestante  Domino  poterunt  adipisci, 
uobis  uestrisque  successoribus  iirma  et  illibata  permaneant.  Huic 
quoque  decreto  adiicimus,  ne  nnquam  uos  uel  successores  uestri 
absque  licentia  Vallis  Umbrosani  abbatis,  qui  pro  tempore  fuerit, 
ad  episcopale  officium  pr^sumatis  accedere,  ne  forte  bona  eorumdem 
monasteriorum  seruorum  Dei  usibus  deputata  hac  occasione  aliquod 
exterminium  patiantur.  Prohibemus  etiam,  ne  archiepiscopo  aut 
episcopo  licentia  pateat  absque  Vallis  Umbrosani  abbatis  con- 
cessione monachos  inde  toUendi  ad  aliud  officium  promouendos 
aut  aliqua  de  causa,  inuito  eodem  abbate,  quemlibet  de  fratribus 
ipsius  loci  ad  aliam  ecclesiam  transferendos.  Si  quis  sane  fratrum 
eorumdem  locorum  ad  regimen  alterius  ecclesi^  fuerit  assumptus, 
in  monasteriis  ipsis  nullam  ulterius  habeat  potestatem,  nisi  qualem 
pr^decessores  sui  inibi  habuerunt,  qui  pr^fuere  ecclesi§,  ad  quam 
fuerit  ipse  translatus.  Obeuntibus  uero  uobis  aut  uestrorum  quo- 
libet  successore,  nullus  ibi  qualibet  surreptionis  astutia  seu  uio- 
lentia  pr^ponatur,  nisi  quem  abbas  Vallis  Umbrosanus  secundum 
Dei  timorem  elegerit  ordinandumque  pr^viderit.  Liceat  etiam 
uobis  uestrisque  successoribus  atque  fratribus  clericos  cuiuscunque 
ordinis  de  quolibet  episcopatu  ad  uos  transire  uolentes  cum  rebus 
suis  propriis  ad  conuersionem  suscipere  et  absque  aliquorum  epi- 
scoporum  aut  aliarum  personarum  contradictione  monasticum  habitum 
iuxta  sanctorum  patrum  regulas  ei  tradere.  Nihilominus  etiam  eo- 
rumdem locorum  fratribus  sit  facultas,  tarn  monachos  quam  con- 
uersos,  clericos  uel  laicos,  liberos  aut  seruos  eidem  monasterio  sub- 
ditos  iudicare  absque  prohibitione  uel  molestia  cuiuslibet  eccle- 
siasticQ  aut  secularis  etiam  potestatis.  Porro  ordinationes  mona- 
chorum  uel  clericorum,  qui  ad  sacros  gradus  fuerint  promouendi, 
et  aliqua  ecclesiastica  sacramenta  a  quocumque  malueritis  catho- 
lico  suBcipietis  episcopo,  nullusque  episcoporum  abbates  aut  mo- 
nachos uel  sacerdotes  in  dictis  monasteriis  aut  ecclesiis  sibi  sub- 
ditis  constitutos  pr^sumat  excommunicationi  aut  interdicto  subii- 
cere  aut   qualibet  occasione   suspendere,  nisi   forte  abbas   uel  pr§- 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  11.  235 

latus,  qui  pro  tempore  fuerit,  in  eorumdem  correptionem  delin- 
quentium  negligens  apparuerit  et  in  eorum  regulari  castigatione 
defecerit.  Pr§terea  decimas  uel  primitias  labomm,  quos  propriis 
manibus  sumptibusue  colligitis ,  eas  etiam ,  qu^  a  diocesanis  epi- 
scopis  uobis  concessa  sunt  uel  in  posterum  concedentur,  nos  quoque 
uobis  authoritate  apostolica  confirmamus.  Liceatque  omnibus  qui- 
buscunque  placuerit,  tarn  in  uita  quam  in  morte,  monasterio  uestro 
suas  oblationes  offerre,  testamenta  facere,  et  corpora  inibi  sepelire. 
Statuimus  insuper,  ut  nullus  episcoporum  in  eisdem  monasteriis 
missas  audeat  celebrare,  nisi  forte  ab  abbate  uel  fratribus  eorum- 
dem locorum  inuitatur.  Ad  h^c  firmiter  interdicimus ,  ut  nemo 
unquam  quocunque  tempore  pr^fata  monasteria  a  regimine  uel 
gubernatione  Vallis  Umbrosani  abbatis  tentet  subtrahere  uel  au- 
ferre.  Saneimus  etiam,  ut  ordo  monasticus,  qui  seeundum  normam 
fratrum  Vallis  TJmbros^  in  eisdem  monasteriis  noscitur  institutus, 
ibidem  perpetuis  futuris  temporibus  firmiter  obseruetur.  Decer- 
nimus  ergo,  ut  nulli  imperatori  seu  regi,  nulli  episcoporum  aut 
curatorum,  nulli  prorsus  aliqua  dignitate  predito  fas  sit  eadem  mo- 
nasteria temere  perturbare  aut  eorum  possessiones  auferre  uel 
ablatas  retinere,  minuere  seu  quibuslibet  uexationibus  fatigare, 
sed  omnia  integra  conseruentur,  eorum,  pro  quorum  gubernatione 
et  substentatione  concessa  sunt,  usibus  omnimodis  profutura.  Si 
quis  autem  in  futurum  huius  nostr^  constitutionis  paginam  sciens 
contra  eam  temere  uenire  tentauerit,  secundo  tertioue  commonitus, 
nisi  pr^sumptionem  suam  condigne  correxerit,  honoris  et  dignitatis 
su^  periculum  patiatur  atque  a  sacratissimo  corpore  et  sanguine 
domini  nostri  lesu  Christi  alienus  fiat  atque  in  extremo  examine 
district§  ultioni  subiaceat.  Conseruantes  autem  h^c  eiusdem  domini 
nostri  lesu  Christi  et  beatorum  Petri  ac  Pauli  apostolorum  eins 
benedictionem  et  gratiam  consequentur.     Amen.     Amen.     Amen. 

Ego  Innocentius  catholicf  ecclesi^  episcopus  ss. 

Ego  Greraldus  presb.  card.  tit.  sanct§  Crucis  in  Hyerusalem  ss. 
Ego  Anseimus  presb.  card.  tit.  sancti  Laurentii  in  Lucina  ss. 
Ego  Lucas  presb.  card.  tit.  sanctorum  lohannis  et  Pauli  ss. 
Ego  Martinus  presb.  card.  tit.  s.  Stephani  in  .Coelio  monte  ss. 

Ego  Gruido  sanct^  Romano  ecclesi^  indignus  sacerdos  ss. 

Ego  Gregorius  diac.  card.  sanctorum  Sergii  et  Bacchi  ss. 

Ego  Otto  diac.  card.  sancti  Greorgii  ad  Velum  aureum  ss. 

Ego  Guido   diac.  card.  sanctorum  Cosme  et  Damiani  iuxta 
templum  Romae  ss. 

Ego  Ribaldus  diac.  card,  sancte  Mari§  de  Porticu  ss. 


236  P-  Kehr, 

Datum  Laterani  per  manum  Aimerici  S.  R.  E.  diacoiii  cardi- 
nalis  et  cancellarii,  VIII  kalendas  iunii,  indictione  II,  incarnatio- 
nis  dominier  anno  M^.CXXXVIIII,  pontificatus  nero  domini  Inno- 
centii  II  anno  X. 

8. 
Celestin    11.    nimmt    das    Kloster    VaUomhrosa    unter    dem    Aht 
Gualdo   nebst  allen  ihm   unterworfenen  Klöstern  in   den  apostolischen 
Schutz  und  bestätigt  die  ihm  von  Victor  111.,  Gregor  Vll.,   ürban  IL, 
Paschal  11,  und  Innocenz  II.  verliehenen  Freiheiten  und  Rechte. 

Lateran  1144  Februar  15. 

Cornelii  Margarini  Thesaurus  historicus  vol.  111  f.  187  Rom 
Vat.  Arch.  Arm.  LIV  t.  3  ex  registro  congregationis  Vallis  Umlrosa£ 
de   Urbe  fol.  40. 

lieber  die  Ueberlieferung  s.  Italia  pontif.  III  91  n,  15.  Jaffe- 
Loeicenfeld  8469  citiert  die  Urkunde  aus  Franchi  Hist.  del  patriarcha 
S.  Giovangualberto  p.  292,  der  aber  auch  nur  ein  Regest  bietet.  Ge- 
druckt ist  sie  in  Nardi's  Bull.  Vallumbr.  p.  18  {niit  XVI  kal.  martii). 

Celestinus  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilecto  filio  Gualdoni 
VaUis  Umbrosano  abbati  einsque  successoribus  regulariter  substitu- 
endis  in  perpetuum.  Apostolici  moderaminis  dementia  conaenit 
religiosas  diligere  personas  "^  et  eorum  loca  pia  protectione  nrnnire. 
Dignum  namque  et  bonestati  conueniens  esse  cognoscitur,  ut  qui 
ad  ecclesiarum  regimen  assumpti  sumus,  eas  et  ab  improborum 
hominum  nequitia  tneamur  et  apostolic§  sedis  patrocinio  foueamas. 
Hoc  nimirum  charitatis  intuitu,  dilecte  in  Domino  fili  Gualdo 
abbas,  tuis  rationabilibus  postulationibns  annuentes,  Vallis  Um- 
brosannm  monasterium,  cui  Deo  autbore  pr^sides,  cum  omnibus 
monasteriis  sibi  subiectis,  sub  apostolic^  sedis  tutela  et  protectione 
suscipimus  et  scripti  nostri  pagina  roboramus.  Statuentes ,  ut 
omnis  immunitas,  omnis  libertas,  qu^  a  pr^decessoribus  nostris  f^- 
licis  memoria  Victore,  Gregorio  VII,  Urbano,  Pascbale  et  Inno- 
centio  Romanis  pontificibus  pr^fato  monasterio  concessa  est,  futuris 
perpetuo  temporibus  firma  tibi  tuisque  successoribus  et  Vallis 
Umbrosanae  congregationi  et  illibata  permaneant.  Pr^terea  quas- 
cunque  possessiones,  qu^cunque  bona  iam  dictum  monasterium  iuste 
et  legittime  possidet  aut  in  futurum  conce«sione  pontificum,  lar- 
gitione  principum,  oblatione  fidelium  seu  aliis  iustis  modis  pre- 
stante   Domino   poterit   adipisci,    quieta    uobis   et   integra   conser- 

a)  personas  fehlt] 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  237 

uentur.  Porro  fructuum  uestrorum  decimas,  quas  ubilibet  propriis 
sumptibus  laboribusue  coUigitis,  absque  episcoporum  contradictione 
uel  episcopalium  ministrorum  seu  etiam  plebanorum  xenodochio 
uestro  reddendas  possidendasque  sancimus.  Sane  nulli  omnino 
hominum  liceat  conuersos  aut  monacbos  iam  dicti  monasterii  seu 
etiam  totins  congregationis  ausu  temerario  capere  uel  captos  re- 
tinere  seu  aliquibus  fatigationibus  infestare.  Liceat  etiam  uobis 
clericos  e  seculo  fugientes  seu  laicos  ad  conuersionem  absque  cuius- 
libet  interdictione  suscipere,  et  qui  se  decreuerint  in  uestro  cimi- 
terio  sepelire,  et  tarn  ipsorum  quam  c^terorum  fidelinra  oblationes 
sine  aliarum  ecclesiarum  pr^iudicio  recipere,  nisi  excommunicationis 
uinculo  fuerint  innodati.  Decernimus  ergo,  ut  nulli  omnino  homi- 
num fas  sit  idem  monasterium  temere  perturbare  aut  ei  subditas 
ecclesias  uel  possessiones  auferre,  minuere  seu  temerariis  uexatio- 
nibus  fatigare,  sed  omnia  integra  conseruentur,  eorum,  pro  quorum 
substentatione  et  gubernatione  concessa  sunt,  usibus  omnimodis 
profutura,  salua  apostolic^  sedis  autboritate.  Si  qua  igitur  in  po- 
sterum  ecclesiastica  secularisne  persona  banc  nostr§  constitutionis 
paginam  sciens  contra  eam  temere  uenire  tentauerit,  secundo  ter- 
tione  commonita,  si  non  satisfactione  congrua  emendauerit,  po- 
testatis  honorisque  sui  dignitate  careat  reamque  se  diuino  iudicio 
existere  de  perpetrata  iniquitate  cognoscat  et  a  sacratissimo  cor- 
pore ac  sanguine  Dei  et  domini  redemptoris  nostri  lesu  Christi 
aliena  fiat  atque  in  extremo  examine  districte  nltioni  subiaceat. 
Cunctis  autem  eidem  loco  iura  seruantibus  sit  pax  domini  nostri 
lesu  Christi,  quatenus  et  hie  fructum  bone  actionis  percipiant  et 
apud  districtum  iudicem  pr^mia  ^tern^  pacis  inueniant.  Amen. 
Amen.     Amen. 

Ego  Celestinus  catholic§  ecclesi^  episcopus  ss. 

Ego  Corradus  Sabinensis  episcopus  ss. 

Ego  Albericus  Hostiensis  episcopus  ss. 

Ego  Stephanus  Pr^nestinus  episcopus  ss. 

Ego  Petrus  Albanensis  episcopus  ss. 
Ego  Petrus  card.  presb.  tit.  sanct^  Susann§  ss. 
Ego  Guido  presb.  card.  tit.  sancti  Grrisogoni  ss. 
Ego  Ranerius  presb.  card.  tit.  sancte  Prisc§  ss. 
Ego  Groizo  presb.  card.  tit.  sancte  C^cili^  ss. 
Ego  Thomas  presb.  card.  tit.  Vestin^  ss. 
Ego  Guido  presb.  card.  tit.  sancti  Laurentii  in  Damaso  ss. 
Ego  Arimbertus  presb.  card.  sancte  Anastasi^  ss. 
Ego  Manfredus  presb.  card.  tit.  sancte  Sabin^  ss. 


238  P-  Kehr, 

Ego  Gregorius  diac.  card.  sanctorum  Sergii  et  Bacchi  ss. 

Ego  Guido  diac.  card.  sanctorum  Cosm^  et  Damiani  ss. 

Ego  Guido  in  Romana  ecclesie  indignus  minister  altaris  ss. 

Ego  Rodulfus  card.  diac.  sancte  Luci^  in  Septasolis  ss. 

Ego  lohannes  [Paparo]  diac.  card.  sancti  Adriani  ss. 

Ego  Hugo  Roman^  ecclesi^  diac.  card.   sanct^  Luci^  in  Or- 
phea  SS. 

Ego  Johannes  diac.  card.  sanct^  Mari^  Nou§  ss. 
Datum  Laterani  per  manum  Gerardi  S.  R.  E.  presbyteri    car- 
dinalis    ac  bibliothecarii,   XV  kalendas  martii,    indictione  VII,   in- 
camationis  dominier  anno  M.CXLIU,  pontificatus  uero  domini  Cq- 
lestini  pap^  secundi  anno  primo. 

9. 

Celestin  U.  entscheidet  den  Streit  zwischen  dem  Prior  Azzo  und 
den  'Brüdern  von  Camaldoli  einerseits  und  dem  Frim-  Bonus  und  den 
Brüdern  von   Vivo  andererseits  und  ordnet  ihr  Verhältnis. 

(Lateran  1144  Februar  23). 

Kopie  saec.  XII  Florenz  Ar  eh.  di  stato  (Camaldoli  1143  marzo  17). 

BisJier  war  nur  die  an  den  Prior  Bonus  von  Vivo  gerichtete 
Gegenurhunde  Celestins  IL  J.  6017:  J-L.  8497  bekannt.  Aus  ihr 
kann  auch  mit  aller  Sicherheit  das  in  dem  Camaldoleser  Exemplar 
fehlende  Eschatokoll  genommen  werden.  Deren  Abschrift  verdanke 
ich  L.  Schiaparelli  (vgl.  Nr.  5).     Vgl.  Italia  pontif.  III 179  n.  15. 

Celestinus  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis  A. 
Camaldulensi  priori  eiusque  fratribus  salutem  et  apostolicam  bene- 
dictionem.  Apostolice  sedis  amministratione  nobis  a  Deo  con- 

cessa  compellimur,  religiosorum  fratrum  scandala  de  medio  tollere 
et  eorum  paci  et  tranquillitati  paterna  sollicitudine  prouidere. 
Ideoque  controuersiam,  qu^  inter  uos  et  religiosos  fratres  de  Viuo 
diutius  agitata  est,  auditis  hinc  inde  rationibus  et  diligenter  in- 
quisitis,  communicato  fratrum  nostrorum  consilio,  hoc  ordine  duxi- 
mus  decidendam.  Quia  igitur  locus  ipse  fere  a  principio  sue  fun- 
dationis  per  Camaldulenses  fratres  in  religione  profecisse  digno- 
scitur,  ut  uinculum  caritatis  inter  uos  conseruetur,  statuimus,  ut 
prior,  qui  in  eodem  loco  pro  tempore  fuerit  ordinandus,  de  ipsa 
congregatione,  si  idoneus  ibi  repertus  fuerit,  secundum  beatiBene- 
dicti  regulam  a  fratribus  eiusdem  loci  eligatur;  electus  autem  infra 
XL  dies  Camaldulensi  priori  de  ordinis  obseruantia  obedientiam 
cum  omni  humilitate  promittat.  Si  uero,  quod  absit,  ibidem  ido- 
neus repperiri  non  poterit,   a  fratribus  de  Viuo   de  congregatione 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  239 

Camaldulensi ,  sicut  predictum  est,  secundum  regulam  eligatur. 
Cum  autem  prior  et  fratres  Camaldulenses  ad  Viuum  uenerint, 
in  choro,  in  refectorio  et  dormitorio  tamquam  fratres  communiter 
recipiantur,  atque  prior  tarn  in  capitulo  quam  in  aliis  precipuum 
locum  teneat  et  qu§  in  ordine  corrigenda  fuerint,  rationabili  pro- 
uidentia  corrigat  et  stabilienda  stabiliat.  Prior  uero  de  Viuo  ad 
annuum  capitulum  Camaldulensium  fratrum  uadat  et  tamquam 
unus  ex  maioribus  prioribus  eiusdem  congregationis  tam  in  loco 
quam  in  aliis  honoretur.  Si  uero  ipse  et  fratres  sui  aliquando 
Camaldulam  uenerint,  tam  in  cboro  quam  in  aKis  communiter  re- 
cipiantur et  honeste  tractentur.  Breuia  etiam  mortuorum  fratrum 
utrimque  secundum  consuetudinem  Camaldulensis  congregationis 
recipiantur  et  diuina  pro  eis  obsequia  celebrentur. 


10. 

Eugen  III.  nimmt  das  Kloster  Vallambrosa  unter  dem  Aht  Gu- 
dldo  sammt  allen  ihm  unterworfenen  Klöstern  in  den  apostolischen 
Schutz  und  bestätigt  die  von  Victor  IL,  Gregor  VII.,  ürban  II., 
F aschal  II.  und  Innocenz  IL  verliehenen  Freiheiten  und  Rechte. 

Marturi  1147  Januar  23. 

Cornelii  Margarini  Thesaurus  historicus  vol.  III  f.  214  Rom 
Vat.  Ar  eh.  Arm.  LIV  t.  3  ex  registro  congregationis  Vallis  ümbrosae 
de  TJrbe  fol.  49. 

Die  Abschriften  von  Nannini,  Genovini,  Nardi  u.  s.  w.  lasse  ich 
bei  Seite;  sie  ergeben  keine  ivesentlichen  Varianten.  Der  Text  folgt 
dem  Privileg  Celestins  IL  (oben  Nr.  8).  Gedruckt  bei  Nardi  Bidl. 
Vallumbr.  p.  20;  citiert  von  Jaffe-Loewenfeld  8995  aus  der  Pariser 
Coli.  Baluze.     Vgl.  Italia  pontif.  III  91  n.  16. 

Eugenius  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilecto  filio  Gual- 
doni  Vallumbrosano  abbati  eiusque  successoribus  regulariter  sub- 
stituendis  in  perpetuum.  Ad  hoc  nobis  a  prouisore  omnium  bo- 
norimi  Domino  cura  commissa  est,  ut  religiosas  diligamus  personas 
et  beneplacentem  Deo  religionem  studeamus  modis  omnibus  propa- 
gare  et  uenerabilia  loca  cum  ipsis  personis  diuino  famulatui  man- 
cipatis  pia  protectione  munire.  Eapropter,  dilecte  in  Domino  fili 
Gualdo  abbas,  tuis  rationabilibus  postulationibus  annuentes,  Yal- 
lumbrosanum  monasterium,  cui  Deo  auctore  presides,  cum  omnibus 
monasteriis  sibi  subiectis  sub  apostolic^  sedis  tutela  et  protectione 
suscipimus    et    scripti    nostri    pagina    roboramus.     Statuentes,    ut 


240  P-  Kehr, 

omnis  immnnitas,  omnis  libertas ,  que  a  predecessoribus  nostris 
felicis  memoria  Victore,  Gregorio  VII.,  Urbano,  Pascale  et  Inno- 
centio  Romanis  pontificibus  prefato  monasterio  concessa  est,  futuris 
perpetuo  temporibus  firma  tibi  tuisque  successoribns  ac  Vallnm- 
brosanae  congregationi  et  illibata  permaneant.  Preterea  quas- 
cmnque  possessiones ,  qn^cumque  bona  iam  dictum  monasterium 
iuste  et  legitime  possidet  aut  in  futurum  concessione  pontificum, 
largitione  principum,  oblatione  fidelium  seu  aliis  iustis  modis  pre- 
stante  Domino  poterit  adipisci,  etiam  quieta  uobis  et  integra  con- 
seruentur.  Porro  fructuum  uestrorum  decimas,  quas  ubilibet  pro- 
priis  sumptibus  laboribusue  colligitis,  absque  episcoporum  contra- 
dictione  uel  episcopalium  ministrorum  seu  etiam  plebanorum  xeno- 
dochio  uestro  reddendas  possidendasque  sancimus.  Sane  nulli 
omnino  hominum  liceat  conuersos  aut  monachos  iam  dicti  monasterii 
seu  etiam  totius  congregationis  ausu  temerario  capere  uel  captos 
retinere  seu  aliquibus  infestationibus  fatigare.  Liceat  etiam  uobis 
clericos  e  seculo  fugientes  seu  laicos  liberos  ad  conuersionem  abs- 
que cuiuslibet  interdictione  suscipere  et,  qui  se  deuouerint,  in 
uestro  cimiterio  sepelire,  et  tam  ipsorum  quam  ceterorum  fidelium 
oblationes  sine  aliarum  ecclesiarum  pr^iudicio  recipere,  nisi  ex- 
communicati  uel  interdicti  fuerint.  Decernimus  ergo,  ut  nulli  om- 
nino hominum  fas  sit  idem  monasterium  temere  perturbare  aut 
ei  subditas  ecclesias  uel  possessiones  auferre,  minuere  seu  temera- 
riis  uexationibus  fatigare,  sed  omnia  integra  conseruentur,  eorum, 
pro  quorum  substentatione^et  gubernatione  concessa  sunt,  usibus 
omnimodis  profutura,  salua  apostolicQ  sedis  auctoritate.  Si  qua 
igitur  in  posterum  ecclesiastica  secularisue  persona  hanc  nostr^ 
constitutionis  paginam  sciens  contra  eam  temere  uenire  tentauerit, 
secundo  tertioue  commonita,  si  non  satisfactione  congrua  emenda- 
uerit,  potestatis  honorisque  sui  dignitate  careat  reamque  se  diuino 
iudicio  existere  de  perpetrata  iniquitate  cognoscat  et  a  sacratissi- 
mo  corpore  ac  sanguine  Dei  et  domini  redemptoris  nostri  Jesu 
Christi  aliena  fiat  atque  in  extremo  examine  district^  ultioni  sub- 
iaceat.  Cunctis  autem  eidem  loco  iura  seruantibus  sit  pax  domini 
nostri  lesu  Christi,  quatenus  et  hie  fructum  bon^  actionis  perci- 
piant  et  apud  districtum  iudicem  prqmia  ^tern^  pacis  inueniant. 
Amen.     Amen.     Amen. 

Ego  Eugenius  catholicQ  ecclesi^  episcopus  ss. 

Ego  Theodouuinus  sancte  Rufin^  episcopus  ss. 

Ego  Albericus  Hostiensis  episcopus  ss. 
Ego  Guido  presb.  card.  tit.  sancti  Grisogoni  ss. 
Ego  Ubaldus  presb.  card.  tit.  sanctorum  lohannis  et  Pauli  ss. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  241 

Ego  Odo  diac.  card.  sancti  Greorgii  ad  Velum  aureum  ss. 

Ego  Johannes  diac.  card.  sancte  Marie  Noue  ss. 

Ego  Hiacintlius  diac.  card.  sancte  Marie  in  Cosmedin  ss. 

Dat.  apnd  Marturam  per  manum  Gruidonis  S.  R.  E.  diaconi 
cardinalis  et  cancellarii,  X  kal.  februarii,  indictione  X,  incarna- 
tionis  dominice  anno  MCXLYI,  pontificatus  uero  domini  Eugenii 
III  pape  anno  secundo. 


U. 

Anasfasius  IV.  erneuert  den  zwischen  Eugen  HL  und  dem  AU 
Bainerius  von  Monte  Amiata  über  das  Kastell  Badicofani  abge- 
schlossenen Vertrag.  Lateran  1153  Oktober  23. 

Kopie  von  1249  Aug.  3  Born  Vat.  Arch.  Arm.  C  fasc.  27  n.  1 
[BJ.  —  Kopie  im  Botulus  saec.  XIII  Siena  Arch.  di  stato  (1050 
agosto  6).  —  C.  Fatteschi  Exemplaria  instrumentorum  ac  diplomatum 
. .  in  tabulario  coenobii  s.  Salvatoris  Montis  Amiati  existentium  vol.  II 
p.  317  n.  340,  Born  Bibl.  Vittorio  Emanuele  cod.  215  (cod.  Sessor. 
2119). 

J-L.  9749  cit.  nach  J.  v.  PflugJc-Harttung  Iter  p.  247  n.  468.  — 
Die  Kopie  im  Vaticanischen  Archiv  ist  die  bessere;  sie  gibt  auch 
allein  das  vollständige  Eschatokoll.  —  Der  Text  selbst  ist  eine  ivört- 
liche  Wiederholung  des  Privilegs  Eugens  III.  von  1153  Juni  20  J-L. 
9732,  und  ist  dann  wieder  von  Innocenz  III.  1198  Juni  10  erneuert 
worden.     Vgl.  Italia  pontificia  III  242  n.  17. 

Anastasius  episcopus  seruus  seruomm  Dei.  Dilecto  filio  E,ai- 
nerio  abbati  monasterii ")  sancti  Saluatoris  de  Monte  Amiato  sa- 
lutem   et   apostolicam   benedictionem.  Rerum   gestarum   series 

ideo  litterarnm  fidei  commendatnr,  ne  ipsarum  ueritas  in  posterum 
memorie  subtrahatur.  Qualiter  igitur  consentientibus  fratribus 
tuis  monacis  atque  conuersis  et  uassalHs  commissi  tibi  monasterii 
propria  et  spontanea  uoluntate  tua,  in  presentia  fratrum  nostrorum 
episcopornm  et  cardinalium,  integram  medietatem  castri  Radecofani 
predecessori  nostro  beate  memorie  Eugenio  pape  eiusqne  cathoUcis 
successoribus  et  beato  Petro  sancteque  Romane  ecclesie,  cni  licet 
inmeriti  largiente  Domino  deseruimus,  in  perpetuum  locasti,  con- 
cessisti*^    et  instrnmenti  pubHci   pagina  roborasti,   quemadmodum 


ä)  monasterii  fehlt  in  B.  b)  concesisti  B. 


242  P-  Kehr, 

in  eodem  autentico  instrumento  continetur,  presentis  scripti  serie 
precepimus  annotari.  Tu  siquidein,  dilecte  fili''^  in  Domino  Raineri 
abbas,  integram  predicti  castri  medietatem  cum  dimidia  in  integrum 
parte  totius  curtis  eins,  cum  tenimentis  suis  et  burgo  de  Calemala, 
bandis,  placitis,  districtu  et  omni  honore  ipsius*^)  castri,  omnia  in 
integrum,  pro  medietate  ipsi  suisque  catholicis  successoribus  lo- 
casti  et  concessisti,  exceptis  antiquis  possessionibus ,  que  etiam 
tempore  comitum  per  speciales  et  proprios  ministros  monasterii 
tenebantur  et  custodiebantur  ad  usus  fratrum  ibidem  seruientium, 
et  feudis  et  libellariis,  que  similiter  nomine  tantum  monasterii 
detinebantur ,  reseruato  etiam  monasterio  saneti  Saluatoris  iure 
ecclesiarum,  quod  in  eis  habet,  in  burgo  quoque  de  Calemala  red- 
ditus  panis  et  uini,  qui  de  agris  et  uineis  soluitur,  pensiones  etiam 
monasterio  tuo  integre  reseruando.  Omnes  autem  homines  ipsius 
castri  nobis  nostrisque  catbolicis  successoribus  contra  omnes  ho- 
mines fidelitatem  iurabunt;  tibi  quoque  abbati  tuisque  catholicis 
successoribus  fidelitatem  facient,  sie  tamen,  ut,  si  quando  tu  uel 
successorum  tuorum  quilibet  preter  tenorem  hac  cartula  compre- 
hensum  castrum  ipsum  nobis  nostrisque  catholicis  successoribus 
sancteue  Romane  ecclesie  aufferre  tentaueritis  uel  castrum  ipsum 
uel  quamlibet  partem  eins  cuiquam  in  feudum  uel  quolibet  alio 
modo  concesseritis  aut  concessum  seruaueritis  et  requisiti  infra 
tres  menses  non  emendaueritis ,  a  fidelitate  tua  sint  soluti  et  ca- 
strum ipsum  in  ius  beati  Petri  et  sancte  Romane  ecclesie  deuol- 
uatur.  Si  uero  nos  uel  successorum  nostrorum  quilibet  tibi  uel 
successorum  tuorum  alicui  uel  monasterio  soluere  designatum  censum 
cessauerimus  uel  custodiam  uestram  nos  uel  eustodes  nostri  eiece- 
rimus  et  infra  tempus  subscriptum  non  emendauerimus,  tunc  a  fide- 
litate nostra  nostrorumque  successorum  soluantur.  Ad  inditium 
autem,  quod  castrum  ipsum  monasterii  saneti  Saluatoris  iuris  et  pro- 
prietatis  semper  existat,  ad  uestimenta  monachorum  nos  nostrique 
successores  tibi  tuisque  successoribus  et  monacis,  qui  pro  tempore 
ibi  fuerint,  sex  marcas  puri  argenti  annis  singulis  in  mense  madio 
pro  pensione  persolaemus.  Hoc  autem  duxisti  adnectendimi,  ut 
castrum  ipsum  per  eustodes  proprios  nostros  nostrorumque  succes- 
sorum, assumptis  secum  duobus  uel  tribus  custodibus  tuis  tuorum- 
que  successorum  semper  teneatur,  per  quos  et  per  alios  homines 
ipsius  castri  et  a  nobis  nostrisque  successoribus,  sicut  quod  iuris 
beati  Petri  existit,  monasterium  ipsum  cum  bonis  suis  a  prauorum 
hominura  incursibus  defendatur,  nec'^  ab  eisdem  fraudulenter-^  nee 


c)  filii  Ä  d)  issius  B.  e)  ne  B.  f)  fradulenter  B, 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  243 

malitiose  perturbetur  et  ipsum  castrum  in  alicuius  alterins  dominio 
uel  potestate  siue  custodia  nullo  umquam  in  tempore  transferatur 
et  omnes  custodes  nostri  uel  nostrorum  successorum,  qui  ibi  pro 
tempore  fuerint,  quod  tibi  et  monasterio  in  ipso  castro  reseruatum 
est,  tibi  tuisque  successoribus  conseruare  iurabunt.  Si  uero  su- 
pradictus  census  aliquo  casu  per  tres  annos  solutus  non  fuerit  et 
nos  siue  successores  nostri  ter  requisiti  et  in  quarto  anno  in^^  in- 
tegrum persolui  non  fecerimus  siue  etiam  custodes  monasterii 
uestri  ab  hominibus  nostris  de  castro  eiecti  fuerint  et  infra  tres 
menses,  postquam''^  tertio  requisiti  fuerimus  super  adiecto  tempore 
ad  iter  faciendum  et  ad  custodiam  monasterii  opportune  reuocan- 
dam  sine  utriusque  partis  malitia  sufiiciente  restituta  non  fuerit, 
hec  locationis  cartula  de  cetero  uiribus  careat.  Si  quando  etiam 
nos  qualibet  ex  causa  castrum  ipsum  ad  manus  nostras  retinere 
noluerimus,  ipsi  monasterio  uestro  absque  inpensarum  recompen- 
satione  restituemus,  eo  tamen  tenore,  ut  quandocumque  nos  uel 
successorum  nostrorum  catbolicus  quilibet  castrum  ipsum  ad  manus 
nostras  reuocare  uoluerimus,  simili  tenore  absque  omni  contra- 
dictione  et  inpensarum  restitutione  nobis  restituatur. 

R.     Ego  Anastasius  catbolice  ecclesie  episcopus  ss.     BV. 

f  Ego  Hugo  Hostiensis  episcopus  ss. 
t  Ego  Guido  presb.  card.  tit.  sancti  Grrisogoni  ss. 
f  Ego  Hubaldus  presb.  card.  tit.  sancte  Praxedis  ss. 
f  Ego  Manfredus  presb.  card.  tit.  sancte  Sauine  ss. 
f  Ego  Aribertus  presb.  card.  tit.  sancte  Anastasie  ss. 
f  Ego  lulius  presb.  card.  tit  sancti  Marcelli  ss. 
f  Ego  Gruido  presb.  card.  tit.  Pastoris  ss. 
f  Ego  Astaldus  presb.  card.  tit.  sancte  Prisce  ss. 
f  Ego  Johannes  Paparo  sancti  Laurentii  in  Damaso  presb.  card.  ss. 
f  Ego  Centius  presb.  card.  tit.  sancti  Laurentii  in  Lucina  ss. 
f  Ego  Henricus  presb.  card.  tit.  sanctorum  Nerei  et  Achilei*^  ss. 

f  Ego  Oddo  diac.  card.  sancti  Greorgii  ad  Velum  aureum  ss. 

t  Ego  Gruido  diac.  card.  sancte  Marie  in  Porticu  ss. 

f  Ego  lacintus  diac.  card.  sancte  Marie  in  Cosmedin  ss. 

f  Ego  Oddo  diac.  card.  sancti  Nicolai  in  carcere  Tulliano  ss. 

Dat.  Laterani  per  manum  Rollandi  sancte  Romane  ecclesie 
presbyteri  cardinalis  et  cancellarii,  X  kal.  nouembr. ,  indictione 
prima,  incarnationis  dominice  anno  M^.C^.L^.III,  pontificatus  uero 
domni  Anastasii  pape  IUI  anno  primo. 


g)  in  fehlt  in  B.  h)  posquam  B.  i)  Archilei  B. 


244  P.  Kehr, 


13. 


Hadrian  IV.  nimmt  das  Kloster  S.  Lorenzo  alV  Änso  (delV  Ar- 
denghesca)  unter  dem  Abt  Johannes  nach  dem  Vorgange  Celestins  II., 
Lucius'  IL  und  Eugens  HL  in  den  apostolischen  Schutz  und  bestätigt 
die  namentlich  aufgezählten  Besitzungen^  den  Zehnten  und  das  Auf- 
nahmerecht  j  gegen  jährlicJie  Zahlung  von  zwei  Luccheser  Schillingen, 

Lateran  1157  April  22, 

Orig.  Bologna  Arch.  di  stato  (S.  Saluadore). 

Die  Abschrift  verdanke  ich  Herrn  Prof.  A,  Gaudenzi.  —  Das 
Kloster  DelV  Ardenghesca  (vgl.  Repetti  Dizionario  1 4)  Jcam  1440  durch 
Eugen  IV.  an  die  regulierten  Chorherren  von  S.  Salvadore  in  Bologna, 
deren  Sitz  in  Siena  die  Kirche  S.  Maria  degli  Angeli  war.  Während 
hier  die  andern  ürJcunden  des  Klosters  blieben,  bis  sie  in  das  Staats- 
archiv von  Siena  kamen,  ward  die  Urkunde  Hadrians  IV.  offenbar  als 
eine  Art  von  Rekognitionsurkunde  im  Hauptarchiv  der  Kanoniker  von 
S.  Salvadore  aufbewahrt,  aus  dem  sie  in  das  Staatsarchiv  in  Bologna 
gelangte,  wo  sie  Herr  Dr.  A.  Hessel  auffand.  —  Der  Text  ist  eine 
ziemlich  wörtliche  Wiederholung  der  Vorurkunden  Celestins  IL  J-L. 
8439,  Lucius"  LI.  J-L.  8631  und  Eugens  LIL  J-L.  8791.  Vgl.  Italia 
pontificia  III 266  n.  4. 

ADRIANVS  EPISCOPVS  SERYVS  SERVORVM  DEI.  DILECTIS 
FILIIS  lOHANNI  ABBATI  MONASTERII  SANCTI  LAVRENTH 
IVXTA  FLVVIVM  QVOD«)  ANSO  DICITVR  SITVM«)  EIVSQVE  FRA- 
TRIBVS  TAM  PRESENTIBVS  QVAM  FVTVRIS  REGVLAREM  VI- 
TAM  PROFESSIS  IN  PERPETVVM.  |  Religiosam  nitam  eligen- 

tibus  apostolicum  conuenit  adesse  presidium,  ne  forte  cuiuslibet 
temeritatis  incursus  aut  eos  a  proposito  reuocet  aut  robur,  quod 
absit,  sacre  religionis  infringat.  Qno|circa,  dilecti  in  Domino  filii, 
uestris  instis  postulationibus  clementer  annuimus  et  predecessorum 
nostrorum  felicis  memorie  CELESTINI,  LVCII  et  EVGENII  Roma- 
norum pontificum  uestigiis  |  inherentes,  prefatum  beati  LAVRENTTI 
monasterium ,  in  quo  diuino  mancipati  estis  obsequio ,  sub  beati 
Petri  et  nostra  protectione  suscipimus  et  presentis  scripti  priui- 
legio  communimus.  Statuenjtes,  ut  quascumque  possessiones ,  que- 
cumque  bona  idem  monasterium  impresentiarum  iuste  et  canonice 
possidet  aut  in  futurum  concessione  pontificum,  largitione  regum 
uel  principum,   oblatione  fidelium    seu  aliis  iustis  modis  prestante 

a)  sie. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  n.  245 

Domino  poterit  adipisci,  firma  uobis  uestrisque  successoribus  et 
illibata  permaneant.  In  quibus  hec  propriis  dnximus  exprimenda 
nocabulis:  ecclesiam  |  sancte  Trinitatis  de  [Orjgia^^  et  hospitalem 
domum  eiusdem  loci  cum  omnibus  suis  pertinentiis,  ecclesiam  de 
Monte  Sizi  cum  omnibus  suis  pertinentiis  et  quod  iuste  tenetis  | 
in  ecclesia  de  Stiliano,  ecclesiam  de  Modani  cum  omnibus  suis  per- 
tinentiis, castrum  de  Ciuitella  cum  suis  appenditiis  et  cum  duabus 
ecclesiis  in  ipso  |  constructis,  ecclesiam  uidelicet  sancti  Sebastiani 
infra  castellum  positam,  ecclesiam  sancti  Martini^)  extra  castellum 
sitam,  duas  portiones  de  ca|stello  et  curte  Montis  uiridis,  ecclesiam 
de  Signano  et  tres  portiones  ipsius  uille,  ecclesiam  sancti  Donati 
cum  rebus  ad  ipsam  pertinentibus,  ecclesiam  sancti  Bartbolomei 
de  Lam|pognano  cum  ipsa  uilla,  ecclesiam  sancti  Anastasii  et  ipsius 
castri  duas  partes,  ecclesiam  sancti  Andree  de  Suuarella  cum  ipsa 
uilla,  ecclesiam  sancti  Laurentii  et  eiusjdem  castelli  duas  partes. 
Decimationem  allodii  in*^^  eiusdem  monasterii,  quod  in  Senensi 
episcopatu  situm  est,  quemadmodum  a  Senensibus  episcopis  bone 
memorie  lobanne  uidelicet  |  et  Radulfo  uobis  concessa  est,  simüiter 
confirmamus.  Concedimus  etiam  nobis,  ut,  si  aliqua  libera  persona 
siue  in  uita  siue  in  morte  uestro  monasterio  se  |  conferre  uoluerit, 
recipiendi  eam  absque  alicuius  contradictione  liberam  habeatis  fa- 
cultatem,  saluo  tamen  iure  matricis  ecclesie.  Decernimus  ergo,  ut 
nulJi  omnino  hominum  |  liceat  supradictum  monasterium  temere 
perturbare  aut  eins  possessiones  auferre  uel  ablatas  retinere,  mi- 
nuere  seu  quibuslibet  uexationibus  fatigare,  sed  illibata  |  onmia  et 
integra  conseruentur,  eorum,  pro  quorum  gubernatione  et  susten- 
tatione  concessa  sunt,  usibus  omnimodis  profutura,  salua  sedis  apo- 
stolice  auctoritate  et  dyocesanorum  episcoporum  |  canonica  iustitia. 
Ad  indicium  autem  huius  a  sede  apostolica  percepte  protectionis 
duos  Lucensis  monete  solidos  nobis  nostrisque  successoribus  annis 
singulis  persoluetis.  |  Si  qua  igitur  etc,  Cunctis  autem  etc, 
AMEN.     AMEN.     AMEN.  | 

E,.     Ego  Adrianus  catbolicQ  Qcclesi§  episcopus  ss.     BV. 
f  Ego  Grregorius  Sabinensis  episcopus  ss. 
f  Ego  Manfredus  presb.  card.  tit.  sancte  Sauine  ss. 


f  Ego  Octauianus  presb.  card.  tit.  sancte  Cecilie  ss. 


V)  Or  scheint  von  späterer  Hand  ausradiert  zu  sein.  c)  Martini  stand 

sicher  ursprünglich  da,  ist  aber   dann   durch   Basur  von  ti   ganz  undeutlich  ge- 
worden, ohne  daß  die  Absicht  des  Korrektors  (Materni?)  klar  wird.  d)  sie. 

Kgl.  Ges.  d.  Wies.    Nachrichten.    Philolog.-hist.  Klasse.     1908.    Heft  2.  17 


246  P-  Kehr, 


f  Ego  lohannes  presb.  card.  tit.  sanctomm  Siluestri  et  Martini  ss. 
i  f  Ego  Odo  diac.*)   card.  sancti  Georgii  ad  Velum  auremn  ss. 

f  Ego  Rodulfas  diac.  card.  sancte  Lncie  in  Septasolis  ss. 

f  Ego  Gruido  diac.  card.  sancte  Marie  in  Porticu  ss. 

f  Ego  lacintus  diac.  card.  sancte  Marie  in  Cosmydin  ss. 


f  Ego  Ardicio  diac.  card.  sancti  Theodori  ss. 

f  Ego  Boso  diac.  card.  sanctomm  Cosme  et  Damiani  ss. 

f  Ego  Albertus  diac.  card.  sancti  Adriani  ss. 

Dat.  Lat.  per  manmn  Rolandi  sanct§  Romane  ecclesi^  presby- 
teri  cardinalis  et  cancellarii ,  X  kal.  maii ,  indictione  V ,  incar- 
nationis  dominice  anno  M^.C^.L^.VII^,  pontificatus  uero  domni 
ADRIANI  pape  III  anno  tertio. 

B. 


e)  diaconus  diaet  Or. 


13. 


üadrian  IV.  bestätigt  dem  Erzpriester  Pepo  und  den  Kanonikern 
von  S.  Sisto  in  Viterbo  das  Statut  des  Bischofs  Genso  von  Tosca- 
nella  über  die  Zehnten  und  Oblationen, 

Anagni  (1159)  August  5. 

Kopie  von  1280  Neapel  Arch.  di   stato  (Fergamene  Farnesiane). 

In  dem  Fonds  von  S.  Sisto,  der  sich  im  Archiv  der  Farnese  in 
Neapel  befindet  (vgl.  Gott.  Nachr.  1901  S.  211),  fand  P.  Egidi  noch 
ein  kleines  Privileg  Hadrians  IV.,  das  M.  Klinkenborg  seiner  Zeit 
entgangen  war.  Ich  teile  es  hier  nach  der  Abschrift  EgidVs  mit. 
Vgl.  Italia  pontif  II  p.  210. 

Adrianus  episcopns  semus  seruorum  Dei.  Dilectis  fiüis  Pe- 
poni  arcbipresbytero  et  ceteris  canonicis  ecclesie  s.  Xisti  salutem 
et  apostolicam  benedictionem.  Ea  que  a  uenerabilibus  fratribus 
nostris  episcopis  rationabiliter  statuuntur,  in  suo  debent  statu 
persistere  et,  ne  processu  temporis  alicuius  temeritate  turbentur, 
fanore  nostro   ea  conuenit  et  anctoritate  firmari.    Eapropter,  di- 


% 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  247 

lecti  in  Domino  filii,  petitioni  nestre  benignum  impertientes  assen- 
smn,  quod  uenerabilis  frater  noster  Gr.  Tuscanensis  episcopus  super 
decimationum  prouentu  et  oblationibus  tarn  niuorum  quam  mor- 
tuorum  parrochie  uestre  rationabili  prouidentia  statuit  et  in  scripto 
eins  dicitur  contineri,  auctoritate  apostolica  confirmamus  et  pre- 
sentis  scripti  patrocinio  communimus.  Nulli  ergo  omnino  hominum 
liceat  hanc  paginam  nostre  confirmationis  infringere  uel  ei  aliqua- 
tenus  contraire.  Si  quis  autem  hoc  attemptare  presumpserit,  in- 
dignationem  omnipotentis  Dei  et  beatorum  Petri  et  Pauli  aposto- 
lorum  eins  se  nouerit  incursurum. 

Dat.  Anagnie")  non.  augusti. 


a)  Ang. 

14. 

Alexander  III.  nimmt  das  Kloster  S.  Maria  di  Bibbona  unter 
dem  AU  Martin  nach  dem  Vorgange  B.adrians  IV.  in  den  apostoli- 
schen Schutz,  bestätigt  die  namentlich  aufgeführten  Besitzungen,  die 
von  Bischof  Galgan  von  Volterra  verliehenen  Zehnten,  unterwirft  es 
dem  päpstlichen  Stuhl  und  verleiht  die  freie  Wahl  des  Bischofs  für 
die  bischöflichen  Leistungen,  die  Sepultur,  das  Wahlrecht  und  Freiheit 
von  Interdikt  gegen  einen  jährlichen  Zins  von  ewei  zweipfündigen 
Wachsherzen.  Benevent  1168  Mai  20. 

Orig.  Florenz  Arch.  di  stato  (Vallomhrosa) .  —  C.  Margarini 
Uiesaurus  historicus  vol.  III  f.  828,  s.  XVII,  Born  Vat.  Arch.  Arm. 
LIV  t.  3  (aus  dem  verlorenen  Begistrum  Vallis  ümbrosae  f.  85  elie- 
mals  in  S.  Prassede  in  Bom).  —  (Nannini)  Bullarium  Vallumbro- 
sanum  vol.  I  p.  172,  s.  XVIII,  Pescia  Collegio  di  S.  Giuseppe.  — 
(Genovini)  Liber  bullarum  a.  1704  f.  65  ebenda.  —  Privilegia  con- 
gregationis  Vallumbrosanae  f.  24',  s.  XVIII,  ebenda.  —  Nardi  Memorie 
Vallmnbros.  vol.   V°  p.  291,  s.  XVIII,  ebenda. 

Die  Urkunde,  deren  Vorurkunde  Hadrians  IV.  nicht  erhalten  ist, 
ist  gedruckt  bei  Nardi  Bull.  Vdllumbr.  p.  38,  der  aber  den  alten  Titel 
s.  Marie,  quod  apud  Mansium  situm  est  durch  s.  Mariae,  quod 
apud  ßibbonam  situm  est  willkürlich  ersetzt  hat.  Aus  Nardi 
resp.  Nardi' s  Quelle  citieren  die  Urkunde  Tamburini  De  iure  abbatum, 
Sarnelli  Memorie  de'  vescovi  di  Benevento  p.  98,  Lami  in  Hodoe- 
poricon  II  (Bei.  erud.  1741)  p.  360.  Aus  Sarnelli  J-L.  11402. 
Kdltenbrunner  in  Wiener  SB.  XCIV  668  n.  7623a  gab  ein  neues 
Begest  mit  der  richtigen  Adresse  aus  dem  Original,  und  da  Loewen- 

17* 


248  P-  Kehr, 

feld  nicht  wußte,  daß  es  sich  um  dieselbe  UrJcunde  und  um  das  gleiclie 
Kloster  handelte,  notierte  er  sie  noch  einmal  unter  J-L.  11403.  üeber 
die  Abtei  S.  Maria  del  Mansio  oder  Masio  oder  auch  Abazia  di  Bib- 
bona ,  vgl,  Bepetti  Dizionario  I  6,  Obwohl  sie  ein  zinspflichtiges 
Schutzkloster  des  h.  Stuhles  war,  wie  aus  dem  Privileg  Alexanders  III. 
hervorgeht,  steht  sie  nicht  im  Cencius.    Vgl.  auch  Italia  pontif.  III 294. 

ALEXANDER  EPISCOPVS  SERVVS  SERVORVM  DEI.  DI- 
LECTIS  FILIIS  MARTINO  ABBATI  MONASTERII  SANCTE  MARIE 
QVOD  APVD  MANSIVM  SITVM  EST  EIVSQVE  FRATRIBVS  TAM 
PRESENTIBVS  QVAM  FVTVRIS  REGVLAREM  VITAM  PROFESSIS 
IN  PERPJßTVTM.  I  Religiosam   tiitam  eligentibus   apostolicum 

conuenit  adesse  presidium,  ne  forte  cuiuslibet  temeritatis  incursus 
aut  eos  a  proposito  reuocet  ant  robur,  quod  absit,  sacre  religionis 
infringat.  Eapropter,  |  dilecti  in  Domino  filii,  uestris  iustis  postu- 
lationibus  clementer  annuimus  et  prefatum  monasterium,  in  quo 
diuino  mancipati  estis  obsequio,  ad  exemplar  predecessoris  nostri 
felicis  memorie  ADKIANI  PAPE  |  sub  beati  Petri  et  nostra  pro- 
tectione  suscipimus  et  presentis  scripti  priuilegio  communimus. 
Statnentes,  ut  qnascumque  possessiones,  quecumque  bona  idem  mo- 
nasterium impresentiarum  iuste  et  canonice  posjsidet  aut  in  futurum 
concessione  pontificum,  largitione  regum  uel  principum,  oblatione 
fidelium  seu  aliis  iustis  modis  prestante  Domino  poterit  adipisci, 
firma  uobis  uestrisque  successoribus  et  illibata  permaneant.  |  In 
quibus  hec  propriis  duximus  exprimenda  uocabulis:  ecclesias  sanc- 
torum  Petri,  Hylarii,  Romani  et  Christ ofori  infra  episcopatum  Lu- 
canum  cum  cimiteriis  et  oblationibus  seu  ceteris  ad  eas  pertinen- 
tibus  bonis,  |  ecclesias  quoque  sanctorum  Christofori  et  Cerbonii 
infra  Vulterranum  episcopatum  cum  omni  iure  et  actione  sua 
uobis  uestrisque  successoribus  regulariter  regendas  semper  ac  dis- 
ponendas  possidendasque  firmamus.  Decimas  |  uero  a  Gualgano 
Vulterranensi  episcopo  canonice  uobis  concessas  et  scripti  sui  mu- 
nimine  roboratas,  quemadmodum  in  eins  scripto  autentico  contine- 
tur,  auctoritate  sedis  apostolice  uobis  nichilominus  confirmamus.  | 
Statuentes  preterea,  ut  idem  cenobium  cum  monachis  et  omnibus 
ibi  Deo  seruientibus  ab  omni  secularis  seruitii  sint  infestatione 
securi  omnique  grauamine  mundane  oppressionis  remoti,  in  sancte 
religionis  obseruatione  |  persistant,  nee  ulli  aHi  nisi  Romane  et 
apostolice  sedi,  cuius  iuris  ipse  locus  est,  aliqua  teneantur  occa- 
eione  snbiecti.  Crisma  quoque,  oleum  sanctum,  consecrationes  alta- 
rium  seu  basilicarum  et  ordinationes  |  clericorum  a  quocumque 
malueritis  suscipietis  episcopo.     Sepulturam    quoque  ipsius   loci  li- 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  249 

beram  esse  concedimus ,  ut  eomm  deuotioni  et  extreme  noluntati, 
qui  se  illic  sepeliri  deliberauerint,  nisi  forte  excommunicati  uel 
interdicti  |  sint,  nuUus  obsistat,  salua  tarnen  iustitia  parrochialium 
ecclesiarum,  de  quibus  mortuorum  corpora  assumuntur.  Obeunte 
uero  te,  nunc  eiusdem  loci  abbate,  uel  tuorum  quolibet  successorum, 
nullus  ibi  qualibet  surrep|tionis  astutia  seu  uiolentia  preponatur, 
nisi  quem  fratres  communi  assensu  uel  fratrum  pars  consilii  sani- 
oris  secundum  Dei  timorem  et  beati  Benedicti  regulam  de  suo  uel 
de  alieno,  si  oportunum  fuerit,  coUegio  prouiderint  eli|gendum. 
Electus  autem  ad  sedem  apostolicam  benedicendus  accedat.  Ad 
hec  adicimus ,  ut  nulli  episcoporum  facultas  sit ,  monasterium 
uestrum  uel  monacbos  seu  etiam  clericos  uestros  et  ecclesiarum 
uestrarum  nisi  pro  euidenti  et  manifesta  culpa  |  interdicto  subicere 
aut  excommunicationis  sententiam  in  eos  promulgare.  Decernimus 
ergo,  ut  nulli  omnino  hominum  liceat  supradictum  monasterium 
temere  perturbare  aut  eins  possessiones  auferre  uel  ablatas  |  reti- 
nere,  minuere  seu  quibuslibet  uexationibus  fatigare,  set  illibata 
omnia  et  integra  conseruentur ,  eorum,  pro  quorum  gubernatione 
et  sustentatione  concessa  sunt,  usibus  omnimodis  profutura,  salua 
sedis  apostolice  auctor|itate  et  in  predictis  cappellis  dyocesanoram 
episcoporum  canonica  iustitia.  Ad  indicium  autem  percepte  a  E,o- 
mana  ecclesia  libertatis  annuatim  cereos  duos  duarum  librarum 
nobis  nostrisque  successoribus  persoluetis.  Si  qua  igitur  etc. 
Cunctis  autem  etc.     AMEN.     AMEN.     AMEN.  | 

R.     Ego  Alexander  catholice  ecclesie  episcopus  ss.     BY. 

f  Ego  Hubaldus  Hostiensis  episcopus  ss. 

f  Ego  Bernardus  Portuensis    et  sancte  Buiine   episcopus  ss. 
f  Ego  Hubaldus  presb.  card.  tit.  sancte  Crucis  in  Jerusalem  ss. 
f  Ego  lobannes  presb.  card.  sanctorum  lohannis  et  Pauli  tit.  Pa- 

macbii  ss. 
f  Ego  lobannes  presb.  card.  tit.  sancte  Anastasie  ss. 
f  Ego  Tbeodinus  presb.  card.  sancti  Yitalis  tit.  Vestine  ss. 

f  Ego  lacintus  diac.  card.  sancte  Marie  in  Cosmydyn  ss. 

f  Ego  Ardicio  diac.  card.  sancti  Theodor!  ss. 

f  Ego  Manfredus   diac.  card.   sancti  Greorgii   ad  Velum  au- 

reum  ss. 
f  Ego    Hugo    diac.    card.    sancti    Eustachii   iuxta   templum 

Agrippe  ss. 
f  Ego  Petras  diac.  card.  sancte  Marie  in  Aquiro  ss. 

Dat.  Beneuent.   per  manum  Grratiani   sancte  E-omane   ecclesie 


250  P.  Kehr, 

subdiaconi  et  notarii,  XTTI  kal.  iun. ,  indictione  I,  incarnationis 
dominice  anno  M^C^L^XyilP«),  pontificatus  uero  domni  ALEXAN- 
DRI*)  pape  III  anno  Villi. 

B.  dep. 

ä)  M^'.C^'.LXVIII®  auf  Rasur  und  von  späterer  Hand  nachgezogen, 
h)  ebenso  ALEXANDRI. 


15. 

Alexander  HL  bestätigt  dem  Kloster  des  h.  Gorgonius  (auf  der 
Insel  Gorgona)  die  von  dem  Biscltof  Tedald  von  Mariana  geschenkte 
Fieve  S.  Maria  de  Capella. 

Benevent  (1168—69)  Mai  19, 

Orig.  Ajaccio  Archives  departementales  de  la  Corse  (Gorgonne 
H  1.  21).  —  Notarielle  Kopie  von  1503  Feh.  3  ebenda  (H  2.  85). 

Die  Abschrift  besorgte  Dr.  H,  Niese.  —  Citiert  von  v.  Pflugh- 
Harttung  Iter  p.  268  n.  596.  Danach  J-L.  11537.  —  Die  im  Text 
angezogene  Urkunde  des  Bischofs  Tedald  von  Mariana  für  den  Abt 
Sigismund  von  Gorgona  trägt  die  Daten  1126,  non.  april.,  ind.  6. 

ALEXANDER  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis 
Gr.  abbati  et  fratribus  monasterii  sancti  Grorgonii  salutem  et  |  apo- 
ßtolicam  benedictionem.  lustis  petentium  desideriis  dignum  est 
nos  facilem  prebere  consensum  et  |  uota,  que  a  rationis  tramite 
non  discordantj  effectu  sunt  prosequente  complenda.  Eapropter,  | 
dilecti  in  Domino  filii,  uestris  instis  postulationibus  grato  con- 
currentes  assensu,  plebem  sancte  |  Marie  de  Capella,  cum  omnibus 
pertinentiis  suis  a  bone  memorie  Ted(aldo)  quondam  Maranensi 
episcopo  I  sub  statuto  censu  duodecim  denariorum  per  annos  sin- 
gulos  exsoluendo  canonice  monasterio  uestro  con|cessam,  sicut  in 
autentico  scripto  exinde  facto  contineri'dinoscitur,  uobis  et  per 
uos  eidem  mona|sterio  auctoritate  apostolica  confirmamus  et  pre- 
sentis  scripti  patrocinio  communimus.  Statuentes,  |  ut  nulli  om- 
nino  hominum  liceat  hanc  paginam  nostre  confirmationis  infringere 
nel  ei  aliquatenus  contraire.  Si  quis  autem  hoc  attemptare  pre- 
sumpserit,  in|dignationem  omnipotentis  Dei  et  beatorum  Petri  et 
Pauli  apostolorum  eins  |  se  nouerit  incursurum.  Dat.  Beneuent. 
XIIII  kal.  innii.  | 

B.  dep. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  11.  251 

16. 

Alexander  111.  befiehlt  den  Mönchen^    Prioren,   Priestern,  Kon- 
versen und  Patronen  des  Klosters  PassignanOj  dem  neugewählten  unp 
von  ihm  bestätigten  Abt  Jacob  von  Vallombrosa  die  schuldige  Oboedienz 
zu    leisten  und   mr  Wiedereinsetzung   des  Abtes   Lambert  von  Pas 
signano  Hülfe  zu  leisten,  Benevent  (1169)  Februar  17. 

Orig.  Florenz  Ar  eh.  di  stato  (Passignano  1255  febbrajo  17). 

Ed.  Soldani  Lettera  sopra  il  monacato  di  S.  Gregorio  VII  p.  65 
Vgl.  Davidsohn  Forschungen  1180  n.  56  zu  1169  (vgl.  auch  S.  105) 
und  Italia  pontif.  111  106  n.  8. 

[Alexajnder  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis 
monachis,  prioribus,  presbiteris,  conuersis  |  [et  patjronis  monasterii 
de  Passignano  in  tmitate  ecclesie  consistentibus  salutem  et  aposto- 
licam  I  [benedictionem].  Certa  uobis  significatione  presentium  inno- 
tescat,  quod  nos  mnltis  argnmentis  et  |  [injdiciis  eognoscentes, 
qnod  dilectns  filius  noster  lac(obus)  nunc  Vallimbrosanus  abbas 
ad  I  [hon]orem  Dei  et  Romane  ecclesie  ac  nostrum  imanimiter  et 
concorditer  ftiisset  electus,  nee  |  [illjud  detestabile  et  profanum 
sacramentum  fecisset,  ipsam  in  plenitudinem  gratie  nostre  |  [r]ece- 
pimus  et  electionem  eins  auctoritate  duximus  apostolica  confir- 
mandam.  Inde  |  est  quod  per  apostolica  uobis  scripta  precipiendo 
mandamus,  quatinus  eidem  lac(obo)  |  tamquam  abbati  [et]  magistro 
uestro  debitam  obedientiam  et  reuerentiam  exlii|bentes,  ei  ad  resti- 
tuendum  dilectum  filium  nostrum  Lambertum  abbatem  monasterii  | 
uestri  et  in  alüs,  sicut  conuenit,  unanimiter  assistatis  et  ita  ad 
hoc  efficien|dum  cum  eo  pariter  diligentem  et  sollicitam  operam 
adMbere  curetis,  quod  |  religio  et  discretio  uestra  uideatur  exinde 
commendanda.     Dat.  Beneuenti  |  XIII        kal.        mar.  | 

B.  dep. 

17. 

Alexander  111.  nimmt  die  Kirche  S.  Trinitä  di  Alfiano  unter 
dem  Prior  Gregor  in  den  apostolischen  Schutz,  bestätigt  die  Regel 
von  Vallombrosa,  die  namentlich  aufgeführten  Besitzungen  und  Zehnten^ 
und  verleiht  das  Begräbnis-^  das  Aufnahme-  und  das  Wahlrecht  mis 
Zustimmung  des  Abts  von  Passignano. 

Cornelii  Mar  gar  im  Thesaurus  historicus  vol.  111  f.  344  s.  XVll 
Bom  Vat.  Arch.  Arm.  LIV  t.  3  aus  dem  verlorenen  Begistrum  Valli*f 


252  P-  Kehr, 

Umhrosae  f.  88,  ehemals  im  Archiv  von  S.  Frassede  in  JRom  [CJ.  — 
(Nannini)  Bull.  Vallumhrosan.  t.  I  p.  181,  s.  XVIII ^  Fescia  Colle- 
gio  di  S.  Giuseppe  aus  dem  gleichfalls  verlorenen  Frotocollum  I  f.  8. 
0  —  Genovini  Liher  hullarum  von  1704  f.  69  ebenda.  —  Frivilegia 
congregationis  Vallumhrosan.  s.  XVI II  f.  25  ebenda.  —  Auszug  in 
Ughelli's  Monumenta  varia  sacra  s.  XVII  f.  208,  cod.  Vat.  Barb. 
3221  (XL  18,  olim  3689), 

Ed.  Nardi  Bull.  Vallumhr.  p.  40  [NJ.  —  Die  Besitzungen  sind 
Hospitale,  quod  est  iuxta  castrum  q.  d.  Montone,  molendinum  de 
ßiloco"^  cum  uinea,  silnam^^  de  Mazzano,  molendinTim'^)  de  Bozzone 
cum  terra  contigua.    —    Zur  Sache  vgl.  Italia  pontif.  III  222  n.  2. 

Alexander  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis  Grre- 
gorio  priori  ecclesi^  sanct§  Trinitatis  de  Alphiano  eiusque  fra- 
tribus  tarn  pr^sentibus  quam  futuris  canonice  substituendis  in  per- 
petuum.         Quotiens  illud  a  nobis. 

Ego  Alexander  catholic^  ecclesi^  episcopus  ss. 

Ego  TJbaldus  Hostiensis  episcopus  ss. 

Ego  Bernardus  Portuensis  et*^^  sanct§  RufinQ  episcopus  ss. 

Ego  Oddo  Tusculanus  episcopus  ss. 
Ego  Johannes   presb.    card.    sanctorum  lohannis    et  Pauli  tit.   Pa- 

machii  ss. 
Ego  Hdebrandus  *^  basilicQ  XII  Apostolorum  presb.  card.  ss. 
Ego  lohannes  presb.  card.  tit.  sanct§  Anastasi^  ss. 
Ego  Albertus  presb.  card.  tit.  sancte  Laurentii  in  Lucina  ss. 
Ego  Gruilielmus  presb.  card.  tit.  sancti  Petri  ad  Yincula  ss. 
Ego  Boso  presb.  card.  sanct^  Pudentian^  tit.  Pastoris  ss. 
Ego  Petrus  presb.  card.  tit.  sancti  Laurentii  in  Damaso  ss. 

Ego  lacinctus-'^  diac.  card.  sanct^  Mari^  in  Cosmedin  ss. 

Ego  Ardicio  diac.  card.  sancti  Theodori  ss. 

Ego   Manfredus   diac.    card.    sancti   Greorgii   ad   Velum    au- 
reum  ss. 

Ego     Ugo     diac.     card.     sancti    Eustachii    iuxta    templum 
AgrippQ^)  ss. 

Datum  Tusculani  *^  per  manum  Gratiani  *)  S.  R.  E.  subdiaconi 
et  notarii,  octauo  idus  maii,  indictione  ni*\  incarnationis  dominic^ 
anno  M^.C.LXXI,  pontificatus  uero  domini  Alexandri  pape  III 
anno  XIL 

a)  Diloco  N.  h)  sylua  C  N.  c)  monendinum  C.  d)  presbiter 

et  C;   presb.  card.  N.  e)  Adobrandus  C;    Aldobrandus  N.  f)  Hiacyn- 

thus  N.  g)  Agippe  C.  h)  Tusculi  CN.  t)  Gregorii  CN. 

k)  m  C,  cwr.  aus  IUI;  4^". 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  253 

18. 

Alexander  111,  bestätigt  den  Schiedsspruch  der  Prioren  von  S, 
Fier  Scheraggio  und  S.  Jacopo  (in  Florenz)  in  der  Streitsache  zwischen 
dem  Kloster  S.  Michele  di  Poggio  di  S.  Do7tato  in  Siena  und  dem 
Abt  von  Vallombrosa  und  dem  Kloster  Passignano, 

Anayni  (1174)  März  30. 

Kopie  s.  Xlll  Florenz  Arch.  di  stato  (Passignano  1255  marzo 
30  als  Alexander  IV). 

Ed.  Soldani  Letter a  sopra  il  monacato  di  S.  Gregorio  ¥11  p.  66. 
Vgl.  Davidsohn  Forschungen  1 184  n.  70  zu  1176  März  30  und  Italia 
pontif.  111  108  n.  18. 

Alexander  episcopus  seruus  seruornm  Dei.  Dilectis  filiis  ab- 
bati,  priori  et  ceteris  fratribus,  monacliis,  clericis  et  conuersis  mo- 
nasterii  de  podio  sancti  Donati,Senensis  salutem  et  apostolicam  bene- 
dictionem.  Ex  litteris  dilectorum  filiorum  nostrornm  sancti  Petri  de 
Scaradio  et  sancti  lacobi  priorum,  quibus  causam,  que  inter  uos 
et  Vallenbrosanum  abbatem  et  abbatem  et  fratres  Passinianenses 
super  subiectione  et  libertate  uestri  monasterii  uertebatur,  de  as- 
sensu  partium  commiseramus ,  euidenter  nobis  innotuit,  quod,  cum 
ipsi  predictum  Vallenbrosanum  abbatem  legitime  citassent,  eo  suum 
iudicium  recusante  subire,  possessionem  monasterii  uestri  predicto 
Passinianensi  abbati  et  monasterio  suo  in  dispositione  et  ordina- 
tione  eiusdem  monasterii  uestri,  salua  questione  proprietatis,  ad- 
iudicarunt.  Unde  nos  sententiam  eorundem  iudicum«)  ratam  ha- 
bentes  et  firmam  eamque  auctoritate  apostolica  confirmantes,  per 
apostolica  uobis  scripta  mandamus  et  in  uirtute  obedientie  preci- 
pimus,  quatinus  predicto  abbati  de  Passiniano,  sicut  magistro  et 
prelato  uestro,  debitam  obedientiam  et  reuerentiam  inpendatis  et 
eins  monitis  et  mandatis  in  bis,  que  Dei  sunt,  deuote  et  humiliter 
pareatis ,  ut  sicut  obedientie  filii  obedientie  uideamini  sequi  uir- 
tutem.  Si  qui  autem  ex  uobis  iam  dicto  abbati  contumaces  fuerint 
uel  rebelies,  sententiam,  quam  ipse  in  eos  propter  hoc  canonice  de- 
derit,  nos  auctore  Domino  ratam  et  firmam  habebimus  eamque  fa- 
ciemus  usque  ad  dignam  satisfactionem  inuiolabiliter  obseruari. 
Dat.  Anagn.        III        kal.  april. 

a)  iudicium. 


254  P-  Kehr, 

19. 

Alexander  IIL  nimmt  die  Kirche  der  h.  Maria  in  Bisa  unter 
dem  Erzbischof  Huhald  nach  dem  Vor  gange  Innocenz^  IL,  Eugens  III., 
Anastasius'  IV,  und  Hadrians  IV.  in  den  apostolisclien  Schutz  und 
bestätigt  ihr  die  genannten  Besitzungen,   Ffarrlcirchen  und  Kapellen. 

Anagni  1176  April  11. 

Orig.  Pisa  Ar  eh.  di  stato  (Atti  pubblici). 

Die  Urkunde  steht  auch  kopiert  im  Kopialbuch  von  Pisa  s.  XVI 
f.  78  Rom  Arch.  Vat.  Arm.  XXXII  t.  16,  ivoraus  sie  Contelori 
Bidlae  et  brevia  Alexandri  III.,  ebenda,  Mise.  Arm.  VII  t.  127  ab- 
schrieb. Von  den  Vorurkunden  ist  nur  Innocenz  IL  von  1137  März  5 
J-L.  7830  erhalten,  diejenigen  Eugens  IIL,  Anastasius'  IV.  und  Ha- 
drians IV.  sind  nicht  auf  uns  gekommen.  Deshalb  rechtfertigt  sich 
die  volle  Wiedergabe  des  Textes.  Die  Urkunde  erwähnt  Mattei  Eccl. 
Pis.  hist.  I  238.  Sie  ist  registriert  von  J.  v.  Pflugk-Harttung  Iter 
p.  279  n.  658,  Gott.  Nachr.  1897  p.  209  n.  11  und  J-L.  12693. 

ALEXANDER  EPISCOPVS  SERVVS  SERVORVM  DEL  VENE- 
RABILI  FRATRI  HVBALDO  PISANO  ARCHIEPISCOPO  EIVSQVE 
SVCCESSORIBVS  CANONICE  SVBSTITVENDIS  IN  PERPETWM.  | 
Fratres  nostros  episcopos,  qui  sunt  in  partem  soUicitudinis  euo- 
cati,  et  illos  precipue,  qui  honestate,  prudentia  et  religione  pol- 
lere noscuntur,  ampliori  nos  conuenit  caritate  diligere  et  eos  in 
sinn  I  sacrosancte  Romane  ecclesie  specialius  confouere,  quatinus 
studiosius  commisse  sibi  ecclesie  negotia  peragere  possint,  cum  se 
cognouerint  apostoKce  sedis  patrocinio  familiarius  communiri.  £a- 
propter ,  uenerabilis  frater  Hubalde  |  archiepiscope ,  tuis  iustis 
postulationibus  benignum  impertientes  assensum,  ad  exemplar  pre- 
decessorum  nostrorum  felicis  memorie  Innocentii,  Eugenii,  Anasta- 
sii  atque  Adriani  Romanorum  pontificum  ecclesiam  beate  Dei  ge- 
nitricis  semperque  uirginis  Marie ,  cui  Deo  auctore  preesse  dino- 
sceris,  cum  omnibus")  ad  eam  pertinentibus  sub  beati  Petri  et 
nostra  protectione  suscipimus  et  presentis  scripti  priuilegio  com- 
mnnimus.  Statuentes ,  ut  decime  Pisani  episcopatus ,  que  |  tibi 
competunt,  secnndum  sanctomm  canonum  instituta  in  tua  et  suc- 
cessorum  tuorum  dispositione  consistant.  Honestas  quoque  per- 
sonas  in  episcopali  sede  ac  prefata  beate  Dei  genitricis  Marie 
ecclesia  iaxta  sanctiones    canonum  I  ordinäre   et  ibidem   canonicos 


a)  Omnibus  auf  Rasur. 


Nachträge  zu  den  Papstirrkunden  Italiens  II.  255 

statnere  et  que  ibidem  fuerint  corrigenda  canonice  corrigere  seu 
alias  plebes  ael  capellas  tuas  disponere  nichilomiiius  habeas  facul- 
tatem.  Decernimus  etiam,  ut  quascumque  possessiones,  |  quecum- 
que  bona  prefata  beate  Marie  ecclesia  in  presentiarum  iuste  et 
canonice  possidet  aut  in  futurum  concessione  pontificum,  largitione 
regum  uel  principum,  oblatione  fidelinm  seu  aliis  iustis  modis 
prejstante  Domino  poterit  adipisci,  firma  tibi  tuisque  successoribus 
in  perpetuum  et  illibata  permaneant.  In  quibus  hec  propriis  du- 
ximus  exprimenda  uocabulis :  uidelicet  eastrum  et  curtem  de  Nu- 
bila,  eastrum  |  et  curtem  de  Lorentian(a),  eastrum  et  curtem  de 
sancta  Lucia,  eastrum  et  curtem  de  Monte  Caluo,  tres  partes 
castri  et  podii  de  ripa  Stricaria,  nouem  partes  de  quattuordecim 
partibus  castelli  et  curtis  Belo|ra  et  Boueclo,  quintam  partem 
curtis  et  castri  de  Segalari  cnm  omnibus  aliis,  que  inibi  habes, 
quicquid  habes  in  Donnoratic(o)  et  in  curte  eins,  quicquid  habes  in 
Castagneto  et  in  curte  eins,  quicquid  habes  in  |  OHueto  et  in 
curte  eins,  et  quicquid  habes  in  curte  de  Bulgari,  duas  partes 
castri  et  curtis  de  Plumbin(o),  placitum  et  fodrum  de  Vico,  campum 
qui  sancte  Marie  dicitur  iuxta  plebem  et  eastrum  ipsius  loci,  cur- 
tem de  I  Blentina,  placitum  et  fodrum  sancti  lohannis  de  Vena, 
placitum  et  fodrum  de  plebe  de  Cascina,  placitum  et  fodrum  de 
Silualonga ,  Gunfum  nouum  et  uetus ,  placitum  et  fodrum  de 
Buiti,  placitum  et  fodrum  de  E,asinian(a) ,  placi|tum  et  fodrum  de 
Vada,  eastrum  et  curtem  de  Lari,  medietatem  castri  et  curtis  de 
Ceule,  medietatem  castri  et  curtis  de  Lucagnan(o),  placitum  et  fo- 
drum de  Pustignan(o)j  quicquid  habes  in  Furcule  et  in  |  curte  eins, 
quicquid  habes  in  Casa  noua  et  in  curte  eins,  et  eastrum  de  Laua- 
ian(o)  cum  curte  eins,  quicquid  habes  in  Mastin(o}  et  in  curte  eins, 
quicquid  habes  in  Strido  et  in  curte  eins,  eastrum  episcopi  de 
Calci  cum  |  curte  sua,  curtem  de  Pappian(a)  cum  suis  pertinentiis, 
curtem  de  Auane  cum  morlo  et  bouario  et  aliis  suis  pertinentiis, 
tumulum  ab  Arno  nsque  ad  stagnum,  a  terra  filiorum  Dodonis  et 
Castagnolo  usque  ad  mare  et  |  a  Coltano  usque  ad  ^)  mare,  Tertiam 
in  stagno  positam,  eastrum  et  curtem  de  Liuorn(a),  eastrum  et 
curtem  de  Vsiliano  positum  prope  Kesinam,  medietatem  castri  et 
curtis  de  Colliule,  eastrum  et  curtem  de  Riojcauo,  terram  Vber- 
tingam,  quartam  partem  totius  terre  filiorum  Cantarucii,  duas 
partes  insularum,  Palmaiole  uidelicet  et  Cerui,  possessiones  quoque 
Baldinelli  et  filii  Thocculi  atque  Sorelle,  ecclesie  tue  concessas. 
Preterea  plebes   prefate   Dei  |  genitricis   ecclesie   pertinentes   tibi 


b)  vor  ad  ein  Wort  durch  Masur  getilgt. 


256  P-  Kehr, 

tuisque  successoribus  nichilominus  confirmamus,  plebem  uidelicet 
de  Caicinaria  cum  capella  sancti  Angeli  de  Traualda,  capellam  de 
Rapida  cum  capella  de  Planethule  et  omnibus  aliis  capellis  1  eidem 
plebi  pertinentibus,  plebem  de  Buiti  cum  capella  sancti  Marci  de 
Submonte  et  omnibus  aliis  suis  capellis,  plebem  de  vico  Ausu- 
rissule  cnm  omnibus  suis  capellis,  plebem  sancti  lohannis  de  Vena 
cum  omnibus  suis  capeUis,  plebem  de  Cascina  |  cum  omnibus  suis 
capellis,  plebem  sancti  Cassiani  cnm  omnibus  suis  capellis,  plebem 
sancte  lulie  cum  omnibus  suis  capellis,  plebem  sancti  Laurentii 
de  Curte  cum  omnibus  suis  capellis,  plebem  de  Calci  cum  omnibus 
suis  capellis,  plebem  de  Ascian(oj  cum  omnibus  suis  ca|pellis,  plebem 
de  Massa  Zucculi  cum  capella  sancte  Agatbe  de  Clatri,  capella 
sancti  Prosperi  de  Bozano,  capella  de  Balbano  et  aliis  omnibus 
capellis  suis,  plebem  de  Auane  cum  omnibus  suis  capellis,  plebem 
de  Pugnan(o)  cum  capella  de  Laian(o)  et  omnibus  aliis  |  suis  capellis, 
plebem  de  Riulo ,  plebem  de  Arena ,  ecclesiam  sancti  Nicholai  de 
Paratin(o),  plebem  de  Liuorna,  plebem  de  Larzenth  cum  omnibus 
suis  capellis,  plebem  de  Limon(a)  cum  omnibus  suis  capellis,  plebem 
sancti  Laurentii  in  Platba  cum  omnibus  suis  capellis,  plebem  |  de 
Scutrian(a)  cum  omnibus  suis  capellis,  plebem  de  Camaian(o)  cum 
omnibus  suis  capellis,  plebem  sancti  Angeli  cum  omnibus  suis  ca- 
pellis, plebem  de  Pomaria^^  cum  monte  Vaso  et  omnibus  capellis 
suis,  plebem  de  Rasignan(o)  cum  omnibus  capellis  suis,  plebem  |  de 
Yada  cum  omnibus  capellis  suis,  plebem  de  Ripalbella  cum  ecclesia 
sancte  Perpetue  et  territorio  sancti  Cassiani  de  Molazan(o)  et  om- 
nibus aliis  capellis  eidem  plebi  pertinentibus  et  Pinistellum.  Ut 
autem  ad  complementum  securitatis  |  seu  corroborationis  horum 
omnium  nichil  uobis  desit,  cuncta,  que  in  territoriis  predictarum 
plebium  seu  etiam  intra  terminos  plebium  infra  positarum,  uide- 
licet plebis  de  Morrona,  plebi s  de  Paua,  plebis  de  Aqui,  |  plebis 
de  Suuiliano,  plebis  de  Triana,  plebis  de  Miliana,  plebis  de  Tri- 
pallo,  plebis  de  Gello  in  Collin(is),  plebis  de  Bibona,  plebis  de 
Paratino,  iure  proprietatis  ad  prefatam  Pisanam  ecclesiam  perti- 
nent,  auctoritate '^^  apostolica  confirmamus,  |  saluo  nimirum  iure 
beati  Petri  et  sancte  Romane  ecclesie.  Nulli  ergo  omnino  homi- 
num  liceat  predictam  Pisanam  ecclesiam  temere  perturbare  aut 
eius  possessiones  auferre  uel  ablatas  retinere,  minuere  seu  quibus- 
libet  uexatiojnibus  fatigare,  set  illibata  omnia  et  integra  conser- 
uentur,  eorum,  pro  quorum  gubernatione  et  sustentatione  concessa 
sunt,  usibus  omnimodis  profutura.    Si  qua  igitur  in  futurum  eccle- 


e)  Pomaria  z.  2  h.  auf  Rasur.  d)  corr.  aus  apost.  auctoritate. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  257 

siastica  secularisue  persona  hanc  nostre  |  constitutionis  paginam 
sciens  contra  eam  temere  uenire  temptauerit ,  secundo  tertioue 
commonita,  nisi  presumptionem  suam  digna  satisfactione  correxerit, 
potestatis  honorisque  sui  dignitate  careat  reamqne  se  diuino 
iujdicio  existere  de  perpetrata  iniquitate  cognoscat  et  a  sacratissimo 
corpore  ac  sanguine  Dei  ac  domini  redemptoris  nostri  lesu  Christi 
aliena  fiat  atque  in  extremo  examine  districte  ultioni  subiaceat. 
Cunctis  autem  |  eidem  loco  sua  iura  seruantibus  sit  pax  domini 
nostri  lesn  Christi,  quatinus  et  hie  fructum  bone  actionis  perci- 
piant  et  apnd  districtum  iudicem  premia  eterne  pacis  inueniant. 
AMEN.     AMEN.     AMEN.  | 

R.     Ego  Alexander  catholice  ecclesie  episcopus  ss.     BV. 
f  Ego  Hubaldus  Hostiensis  episcopus  ss. 
f  Ego  Bernardus  Portuensis   et  sancte  Rufine  episcopus  ss. 
f  Ego  Johannes  presb.  card.  sanctorum  lohannis  et  Pauli  tit.  Pa- 

machii  ss. 
f  Ego  Albertus  presb.  card.  tit.  sancti  Laurentii  in  Lucina  ss. 
f  Ego  Gruillelmus  presb.  card.  tit.  sancti  Petri  ad  Yincula  ss. 
f  Ego  Boso  presb.  card.  sanct^  Pudentiane  tit.  Pastoris*)  ss. 
f  Ego  lohannes  presb.  card.  tit.  sancti  Marci  ss. 
f  Ego  Theodinus  presb.  card.  sancti  Vitalis  tit.  Vestine  ss. 
f  Ego  Manfredus  presb.  card.  tit.  sancte  Cecilie  ss. 

f  Ego  Petrus  presb.  card.  tit.  sancte  Susanne  ss. 

f  Ego  lac(intus)  card.  sancte  [Majrie  in  Cosmidyn  ss. 

f  Ego  Cinthyus  diac.  card.  sancti  Adriani  ss. 

f  Ego   Hugo   dyac.    card.   sancti   Eustachii   iuxta   templum 

Agrippe  ss. 
f  Ego  Labor  ans  sanct§  Mari^  in  Porticu  diac.  card.  ss. 
f  Ego  Raynerius  diac.    card.    sancti  Georgii  ad  Velum   au- 

reum  ss. 

Dat.  Anagnie  per  manum  Grratiani  sancte  Romane  ecclesie 
subdiaconi  et  notarii,  III^  idus  aprilis,  indictione  Villi,  incarna- 
tionis  dominice  anno  M°.  C^.  L^XXYP ,  pontificatus  uero  domini 
ALEXANDRI  pape  tertii  anno  septimodecimo. 

B.  dep. 

e)  tit.  Past  auf  Rasur. 


258  P.  Kehr, 


30. 


Alexander  III.  bestätigt  den  zwischen  dem  Edlen  Philipp  de 
Marano  und  dessen  Söhnen  und  dem  Aht  und  den  Mönchen  von  Sub- 
iaco  abgeschlossenen   Vergleich  über  das  Lehen  Jenne. 

Anagni  1176  Juli  11. 

Orig.  Subiaco  Ar  eh.  di  S.  Scolastica  (I  n,  3).  —  Inseriert  in 
Alexander  IV.  1257  März  9  Orig.  (I  n.  63)  und  1260  Sept.  9  Orig. 
(I  n.  79)  und  JReg.  Alexandri  IV.  a.  VII  n.  28  Paris  Bibl.  nat. 
lat.  4038  B.  —  Bullarium  Sublacense  descr.  per  P.  B.  Cherubinum 
Mirtium  a.  1623  f.  53  und  f.  101'  Subiaco  Arch.  di  S.  Scolastica 
(VI  n.  15).  —  Contelori,  Bullae  et  brevia  Alexandri  III,  s.  XVII ^ 
Rom  Vat.  Arch.  Mise.  Arm.  VII  t.  127  (drei  Kopien).  —  C.  Mar- 
garini  Thesaurus  hist.  s.  XVII  t.  III  f.  373  und  t.  V  f.  85  ebenda 
Arm.  LIV  [t.  3.  5  =  Cod.  Vat.  lat.  7157  s.  XVII  f.  72.  —  Reg. 
bei  Massarelli  Miscell.  t.  I  f.  32  San  Severino  Bibl.  comunale  (ex  re- 
gistro  Alexandri  IV.)  und  Galletti  Miscell.  t.  IV  Cod.  Vat.  lat.  7925 
f.  98'. 

Regg.  Belisle  in  Bibliotheque  de  Vecole  des  chartes  XXXVIII 
(1877)  p.  110  aus  Reg.  Alexanders  IV;  Allodi  La  cronaca  Sublacense 
del  P.  B.  eher.  Mirzio  p.270;  v.  PflugJc-EarUung  Iter  p.  280  n.  661 
(aus  Orig.)  und  n.  662  (aus  Vat.  7157) ;  Federici  Boc.  n.  221  in 
I  monasteri  di  Subiaco  t.  II  (Roma  1904);  J-L.  12724  und  12725. 
—  Bie  UrJcunde,  die  für  die  Geschichte  von  Subiaco  und  die  Ge- 
schichte der  Feudalherren  der  Campagna  im  XII.  Jahrhundert  be- 
sonders wichtig  ist,  ist  so  oft  abgeschrieben^  und  registriert  worden  wie 
wenige,  aber  niemals  im  Wortlaut  veröffentlicht.  Ich  trage  ihn  also 
hier  nach.  Zur  Sache  vgl.  P.  JEgidi  in  Monasteri  de  Subiaco  t.  I 
107  und  Italia  pontif  III  96  n.  49. 

ALEXANDER  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis 
nobilibus  tiiris  Philippo  de  Marano  et  R.  et  B.  filiis  eius  salutem 
et  apostolicam  benedictionem.  Cum  inter  uos   et  abbatem   et 

fratres  Sublacenses  grauis  |  fuisset  qnestio  suborta,  talem  cnm  eis 
in  presentia  nostra  concordiam  et  compositionem  fecistis,  uidelicet 
quod  abbas  de  auctoritate;  nostra  et  assensu  capitnli  sui  uobis 
Gennam**)  et  feodum  |  lohannis  Rolandi  uel  cambium  pro  eo,  si 
uolueritis,  dedit  et  concessit,  tali  quidem  tenore  quod  duo  milites 
de  hoc  iurati  intra  spatium  duorum  mensium  sine  fraude  arbitra- 
buntur,  si  propter  |  Pontiam  super ''^  Gennam**^  et  feudum  lohannis 

a)  z.  Th.  auf  Rasur.  b)  auf  Rasur. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  259 

Rolandi  aliquid  debeat  predictus  abbas  addere  et,  si  arbitrati  fne- 
rint  aliquid  esse  addendum,  quantum  arbitrium  eorum  dictauerit, 
addet.  |  Vos  uero  supradicta  a  monasterio  suo  in  feudum  tenebitis 
iuxta  tenorem  illmn,  secundum  qnem  Pontiam  tenere  debuistis,  re- 
tentis  et  seruatis  abbati  et  fratribus  ecclesiis,  deci|inationibiis  et 
mortuariis  et  data  publica,  quam  abbas  cum  eo  modo  et  mensura 
faciet,  in  qua  dolus  et  immoderantia  esse  non  uideatur,  preter 
quam  in  alia  abbatia;  quam  siquidem  |  datam  tu,  fili  Ph.,  uel  uos, 
filii  R.  et  B.,  coUigetis  et  abbati  uel  cui  preceperit  assignabitis ; 
de  qua  tamen  uobis  assuetam  assisam  monete  hominum  uestrorum 
dabit  et  uos  |  guerram  et  pacem  ad  mandatum  abbatis  predicti 
monasterii  facietis;  abbas  autem  non  auferet  uobis  predicta  feuda 
sine  forisfacto  et  eo  iudicato,  |  unde  uos  terram  perdere  debeatis, 
unde  uos  per  pugnam  defendere  non  possitis,  id  est  de  uita,  de 
menbris,  de  mala  captione,  de  amissione  terre  siue  |  de  recupera- 
tione  et  aequisitione,  et  si  consilium  suum  panderitis,  unde  aliquod 
istorum  ineurrere  debeatis.  Si  quando  uero  de  supradictis,  que  sie 
distineta  |  sunt,  abbas  uos  appellauerit  et  uos  per  pugnam  defen- 
dere uolueritis,  abbas  inde  curiam  tenebit  ad  usum  et  consuetu- 
dinem  bone  et  legalis  curie;  uos  autem  pre|scripta  feuda  tenebitis 
et  utemini  communiter  uel  diuisim  et  post  mortem  tuam,  fili  Ph., 
uos,  filii  R.  et  B.,  eadem  feuda  habebitis,  prestita  fidelitate  mo- 
na|sterio  et  abbati.  Sane  si  quolibet  tempore  iam  dicta  feuda  tu, 
fili  Pb.,  aut  uos,  R.  et  B.,  aliquo  casu  perdideritis,  abbas  uos  ipsa 
recuperare  iuuabit  et  recuperata  |  restituet.  Vos  uero  fidelitatem 
monasterio  iurabitis.  Ut  autem  hec  compositio  futuris  temporibus 
inuiolabiliter  obseruetur,  eam  auctoritate  apostolica  con|firmamus 
et  presentis  scripti  patrocinio  communimus.  Statuentes,  ut  nulli 
omnino  hominum  liceat  banc  paginam  nostre  confirmationis  infrin- 
gere  |  uel  ei  aliquatenus  contraire.  Si  quis  autem  hoc  attemptare 
presumpserit,  indignationem  omnipotentis  Dei  et  beatorum  Petri  et 
Pauli  apostolorum  eins  se  nojuerit  incursurum. 

R.    Ego  Alexander  catholice  ecclesie  episcopus  ss.     BV. 

f  Ego  Hubaldus  Hostiensis  episcopus  ss. 
■j-  Ego  lohannes  presb.  card.  ss.  lobannis  et  Pauli  tit.  Pama[chü]  ss. 
f  Ego  Albertus  presb.  card.  tit.  s.  Laurentii  in  Lucina  ss. 
f  Ego  Boso  presb.  card.  s.  Pudentiane  tit.  Pastoris  ss. 
f  Ego  lohannes  presb.  card.  tit.  s.  Marci  ss. 
f  Ego  Theodinus  presb.  card.  s.  Yitalis  tit.  Vestine  ss. 
f  Ego  Manfredus  presb.  card.  tit.  s.  Cecilie  ss. 
f  Ego  Petrus  presb.  card.  tit.  s.  Susanne  ss. 


260  P-  Kehr, 

f  Ego  Iac(inctus)  diac.  card.  s.  Marie  in  Cosmidjm  ss. 

f  Ego  Cintliyus  diac.  card.  s.  Adriani  ss. 

f  Ego  Hv.*)  diac.  card.  s.  Eustachii  iuxta  templtun  Agrippe  ss. 

f  Ego  Laborans  diac.  card.  s.  Mari§  in  Porticn  ss. 

f  Ego  Raynerius  di[ac.  c]ard.  s.  Greorgii  adVelum  anrenm  ss. 

Dat.  Anagnie  per  mannm  Grratiani  sancte  Romane  ecclesie 
subdiaconi  et  notarii,  V  id.  iul.,  indictione  Villi*,  incamationis 
dominice  anno  M^.C^.LXX^.VI^,  pontificatus  uero  domni  Alexandri 
päpe  III  anno  XVII^ 

B. 


c)  auf  Rasur  von  lac. 


31. 


Alexander  HL  nimmt  das  Kloster  San  Giusto  bei  Toscanella 
unter  dem  Abt  Bonatus  na^h  dem  Vorgange  Lucius'  IL.  in  den  apo- 
stolischen Schutz  und  bestätigt  die  Begel,  die  namentlich  aufgeführten 
Besitzungen  und  Rechte.  Lateran  1178  April  2, 

Fei.  Contelori  Cameralia  vol.  S.,  s.  XVLL,  Rom  Vat.  Arch.  Arm. 
XXXVI L  t.  17  p.  30  ex  lihro  iurium  abbatiae  s.  Anastasii  ad  Aqitas 
Salvias. 

Der  Liber  iurium  des  Klosters  SS.  Anastasio  e  Vincenzo  (Tre- 
fontane)  bei  Rom,  aus  dem  Contelori  schöpfte,  ist  leider  verloren. 
Aus  derselben  Quelle  entnahmen  Panvinius  (R&m  Vat.  Arch.  Mise. 
Arm.  XL  t.  34  f.  32),  Massarello  (San  Severino  Bibl.  comunale  vol.  I 
f.  32')  und  Contelori  (Rom  Vat.  Arch.  Mise.  Arm.  VII  t.  127)  die 
Unterschriften  und  die  Datierung.  Nach  Massarello  habe  ich  Gott.  Nachr. 
1898  S.  511  n.  6  das  Formular  gegeben.  Aber  die  Urkunde  ist  für 
die  Lohalgeschichte  des  römischen  Tusciens  und  als  die  einzige  er- 
haltene ältere  Bulle  für  das  Kloster  des  h.  Justus  so  wichtig  ^  daß 
•der  Abdruck  des  ganzen  Wortlauts  erwünscht  ist.  Sie  ist  auch  citiert 
von  J.  V.  Pflugk-Harttung  Iter  S.  283  n.  680  und  danach  bei  J-L. 
13038  a.     Vgl.  auch  Ltalia  pontif  II  p.  199. 

Alexander  episcopus  seruus  seruornm  Dei.  Dilectis  filiis  Do- 
nato  abbati  monasterii  sancti  lusti,  quod  prope  Tuscanensem  ciui- 
tatem  situm  est,  eiusque  fratribns  tarn  praesentibns  quam  futuris 
regulärem  uitam  professis   in**)  perpetuum.  Religiosam   uitam 

eligentibus  apostolicum  conuenit  adesse  praesidium,  ne  forte  cuius- 


a)  in  feHU. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  IL  261 

libet  temeritatis  incursus  aut  eos  a  proposito  reuocet  aut  robur, 
quod  absit*),  sacrae  religionis  infringat.  Eapropter,  dilecti  in  Do- 
mino filii,  nestris  iustis  postulationibns  clementer  annuimus*^^  et 
prefatum  monasterium,  in  quo  diuino  mancipati  estis  obsequio,  ad 
exemplar  predecessoris  nostri  felicis  memoriae  Lucii  papae  sub 
beati  Petri  et  nostra  protectione  suscipimus  et  presentis  scripti 
priuilegio  communimus.  Inprimis  siquidem  statuentes ,  ut  ordo 
monasticns,  qui  secnndum  Deum  et  beati  Benedicti  regulam  et  in- 
stitntionem  Cisterciensiam  fratrum  •  in  eodem  loco  noscitur  insti- 
tntus,  perpetnis  ibidem  temporibns  inniolabiliter  obseruetur.  Pre- 
terea  qnascunque  possessiones,  quaecunque  bona  idem  monasterium 
impresentiarum  iuste  et  canonice  possidet  aut  in  futurum  conces- 
sione  pontificum,  largitione  regam  uel  principum,  oblatione  fide- 
lium  seu  aliis  iustis  modis  prestante  Domino  poterit  adipisci,  firma 
uobis  uestrisque  successoribus  et  illibata  permaneant.  In  quibus 
haec  propriis  duximus  exprimenda  uocabulis :  castrum  uidelicet 
iuxta  monasterium  situm,  eiusdem  sancti  lusti  uocabulo  nuncupa- 
tum,  cum  terris,  uineis,  pratis,  molendinis,  siluis  et  aliis  pertinentiis 
suis,  in  ciuitate  Tuscanensi  casas,  uineas,  terras,  quae  iuris  eiusdem 
monasterii  esse  noscuntur,  in  ciuitate  Castrensi  ecclesiam  sancti 
Mamiliani  de  Ponte  cum  omnibus  pertinentiis  suis  ^),  in  castro  Cor- 
neto  ecclesiam  sancti  Nicolai  ^)  et  ius,  quod  habet  in  ecclesia  sancti 
Andrej  et  sancti  Laurentii  et  sancti  Martini  et  sancti  Secundiani 
iuxta  mare,  et  partem  de  portu  et  quicquid  iuris  habet  in  castro 
Corneto  de  intus  et  foris,  in  casis,  casalinis,  uineis,  ortis,  pratis, 
siluis,  terris  cultis  et  incultis,  aquis  et  molendinis,  in  ciuitate 
Centumcellensi'^^  ecclesiam  sancti  Andrej  cum  casis,  terris,  uineis, 
siluis,  molendinis  et  aliis  pertinentiis  suis,  in  ciuitate  Vetula^)  ec- 
clesiam sanctae  Fermettae^)  cum  pertinentiis  suis,  in  castro  Or- 
clano  *)  ecclesiam  sanctae  Agathae   cum  casis,  uineis  ^\  terris,  siluis 


b)  esset.  c)  communimus.  d)  Centucellensi.  e)  domeis. 


1)  Das  Kloster  S.  Mamiliani  de  Ponte  lag,  soviel  wir  wissen,  nicht  in  der 
Stadt  Castro,  sondern  im  Comitat  von  Castro.  Danach  wird  statt  in  ciuitate  Ca- 
strensi zu  lesen  sein  in  comitatu  Castrensi.  Vgl.  Leos  IX.  Privileg  für  das  Bis- 
tum Castro  von  1053  April  14  (Nachr.  1900  S.  144  n.  4)  und  Innocenz'  II.  Ur- 
kunde für  S.  Mamiliano  J-L.  8098.  Das  Kloster  war  dem  h.  Stuhl  zinspflichtig 
(vgl.  Cencius  ed.  Fabre-Duchesne  I  57). 

2)  Auch  die  Kirche  S.  Nicolai  de  Corgneto  steht  im  Cencius  (I  56). 

3)  Sowohl  der  NameVetula  wie  der  der  Heiligen  scheinen  verlesen  zu  sein. 
Vetula  ist  wohl  zu  emendieren  in  Vetralla. 

4)  Orcle,  jetzt  Castello  d'Orchia  oder  Norchia. 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Philolog.-hist.  Klasse  1903.    Heft  2.  18 


262  P-  Kehr, 

et  aliis  pertinentiis  suis,  in  arce  Rispampin^-^  ecclesiam  sanctae 
Mariae  cum  pertinentiis  suis^),  in  Castello  nouo  ^)  ecclesiam  sanctae 
Mariae  cum  casis,  uineis,  terris  et  siluis,  in  castello  Bulzi^)  eccle- 
siam sancti  Siluestri  cum  pertinentiis  suis,  apud  castrum  sancti 
Laurentii  iuxta  lacum  ecclesiam  sanctae  Mariae  in  Thorano  cum 
pertinentiis  suis,  arcem  Montis  loguli  iuxta  fluuium  Agonem  cum 
pertinentiis  suis,  in  castello  Quintignano  casas,  uineas,  terras,  sil- 
uas,  et  terras  in  castro  Planzano^^  et  Euglano  atque  Arnena^), 
casas,  uineas,  siluas  et  terras  iuxta  fluuium  Rispampinae,  hospitale 
cum  ecclesia  sancti  Leonardi  cum  omni  pertinentia  sua.  Decemi- 
mus  ergo,  ut  nuUi  omnino  hominum  liceat  supra scriptum  monaste- 
rium  temere  perturbare  aut  eins  possessiones  auferre  uel  ablatas 
retinere,  minuere  seu  quibuslibet  uexationibus  fatigare,  sed  illibata 
omnia  et  integra  conseruentur,  eorum,  pro  quo r um  gubernatione 
et  sustentatione  concessa  sunt,  usibus  omnimodis  profutura,  salua 
sedis  apostolicae  auctoritate  et  Tuscanensis  episcopi  tam  in  con- 
sueta  pensione  quam  in  aliis  iusticia  et  reuerentia.  Si  qua  igitur 
etc.     Cunctis  autem  etc. 

Ego  Alexander*)  catbolicae  ecclesiae  episcopus  ss. *) 

Ego  TJbaldus  Ostiensis  episcopus  ss. 
Ego   lobannes   presb.    card.    sanctorum    loannis    et   Pauli   tit.   Pa- 

macbii  ss. 
Ego  Boso  presb.  card.  sanctae  Pudentianae  tit.  Pastoris  ss.*> 
Ego  Viuianus  presb.  card.  tit.  sancti  Stepbani  in  Coelio  monte  ss. 

Ego  lac(inctus)  diac.  card.  sanctae  Mariae  in  Cosmedin  ss. 

Ego  Ardicio  diac.  card.  sancti  Theodori  ss. 

Ego  CintMus  diac.  card.  sancti  Adriani  ss. 

Ego  Rainerius  diac.  card.  sancti  Georgii  ad  Velum  aureum  ss. 

Dat.  Lateran,  per  manum  Albert i  sanctae  Romanae  ecclesiae 
presbyteri  cardinalis  et  cancellarii,  IIII  non.  aprilis,  indictione  XI, 
incarnationis  dominicae  anno  M^.C^.LXX^VIII^,  pontificatus  uero 
domini  Alexandri  pape  III  anno  XVIIII^\ 

f)  corr.  aus  oder  zu  Rispampini.  g)  Lesung  unsicher.  h)  Alexander  papa. 
t)  88.  fehlt  hier  und  weiterhin.  k)  ich  stelle  die  in  der  Kopie  verwirrte  rich- 

tige Bähenfolge   der  Kardinalunterschriften  stillschweigend   wieder  her.  l)  die 

Zahlen  in  der  Datierung  sind  korrigiert;  sie  waren  zuerst  auf  Alexander  IV.  bezogen. 


1)  Die  Rocca  Respampani  hat  in  der  Geschichte  jener  Gegend   eine  Rolle 
gespielt.    Jetzt  liegt  sio  in  Trümmern  (cf.  Campanari  I  172  flF.). 

2)  Castellum  novüm  weiß  ich  nicht  zu  deuten. 

3)  Bulzi  ist  das  alte  Vulcia  am  Fiorafluß. 

4)  Von  diesen  Orten  sind  Piansano  und  Arlena  wohlbekannt. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  263 

Alexander  III.  nimmt  die  Pieve  S.  Ägatä  zu  Asciano  in  den 
apostolischen  Schutz  und  bestätigt  die  Besitzungen  und  Rechte. 

Lateran  1178  April  22. 

Orig.  Asciano  Arch.  della  Frepositura. 

J-L.  13053  nach  Wiener  SB.  XCIV  675  n.  8588  a.  Vgl.  Italia 
pontif.  III  195  n.  1.     Bas  Original  'kopierte  Br.  F.  Schneider. 

ALEXANDER  EPISCOPVS  SERVVS  SERVORVM  DEI.  DILECTO 
FILIO  RODVLFO  PLEBANO  PLEBIS  SANCTE  AGATHE  EIVSQVE 
SVCCESSORIBVS  CANONICE  SVBSTITVENDIS  IN  PERPETYVM.  | 
EiFectum  insta  postnlantibus  indujgere  et  uigor  equitatis  et  ordo 
exigit  rationis ,  presertim  quando  petentium  uoluntatem  pietas 
adiuuat  et  ueritas  |  non  relinqnit.  Quocirca,  dilecte  in  Domino 
fili  plebane,  tuis  iustis  postulationibns  clementer  annuimns  et  pre- 
fatam  plebem,  cui  Deo  anctore  preesse  |  dinosceris,  sub  beati  Petri 
et  nostra  protectione  suscipimns  et  presentis  scripti  priuilegio 
communirnns.  Statuentes,  ut  quascumque  possessiones,  quecnmque 
bona  I  eadem  plebs  impresentiarum  iuste  et  canonice  possidet  aut 
in  futurum  concessione  pontificum,  largitione  regum  uel  principum, 
oblatione  fidelium  seu  |  aliis  iustis  modis  prestante  Domino  poterit 
adipisci,  firma  tibi  tuisque  successoribus  et  illibata  permaneant. 
In  quibus  hec  proprüs  duximus  exprimenda  uoca|bulis:  ecclesiam 
sancti  Bartholom[ei],  ecclesiam  sancti  Saluatoris,  quas  babetis  in 
castello  de  Sciano ,  ecclesiam  sancti  Leonardi ,  Oratorium  sancti 
Nicbolai,  ecclesiam  |  sancti  Ypoliti,  ecclesiam  sancti  Angeli  de  coUe 
Daujeno,  ecclesiam  sancti  Petri  de  Fontodori,  ecclesiam  sancte 
Marie  de  Monte  Mori,  ecclesiam  sancti  lobannis  de  Monte  |  Grun- 
teri,  ecclesiam  sancti  lusti,  ecclesiam  sancti  Tbome  de  Retessa, 
ecclesiam  de  Monte  Fianci,  ecclesiam  sancti  Andree  de  Fabro,  ec- 
clesiam sancte  Majrie  de  Grossennano,  ecclesiam  de  Bacoleno,  eccle- 
siam sancte  Marie  de  Finerri,  ecclesiam  sancti  Prosperi,  ecclesiam 
sancti  Petri  in  Guarazano,  ecclesiam  sancti  Seuejri,  ecclesiam  sancti 
Andree,  ecclesiam  sancti  Laurentii,  ecclesiam  de  castello  de  Serris, 
ecclesiam  sancti  Geminiani  de  Castello  ueteri,  ecclesiam  sancte 
Ma|rie,  ecclesiam  sancti  Fabiani  de  castello  Rodulfi,  ecclesiam  sancte 
Marie  de  Gagio,  ecclesiam  sancti  Angeli  de  Terentino  cum  perti- 
nentiis  earum,  ius,  quod  babetis  |  in  ecclesia  et  in  populo  de  Monte 
[u]eco,  molendinum,  quod  babetis  in  flumine  Buceri,  et  omnes  terras 
et  uineas  et  siluas,  quas  rationabiliter  babetis  in  toto  |  pleberio 
uestro.      Sepulturam    quoque    parrocbianorum    uestrorum   liberam 

18* 


264  P.  Kehr, 

uobis  esse  concedimus,  ut  eorumdem  parrochianorum  deuotioni  et 
extreme  uoluntati,  |  qui  apud  plebem  uestram  elegerint  sepeliri, 
nisi  excommunicati  uel  interdicti  sint,  nullus  obsistat,  salua  tarnen 
iustitia  illanim  |  capellarum,  a  quibus  mortnorum  corpora  assumun- 
tur.  Preterea  ordinationes  ecclesiarum  uestrarum  et  decimas  ple- 
banatus  uestri,  ut  eas  rationabiliter  possidetis,  uobis  et  |  ecclesie 
uestre  auctoritate  ap[ostoli]ca  confirmamus.  Decemimus  ergo,  ut 
nuUi  o[imim]o  hominum  liceat  supradictam  plebem  temere  pertur- 
bare  aut  eius  pos|sessiones  auferre  uel  ablata  retinere,  minuere 
seu  quibuslibet  uexationibus  fatigare,  sed  illibata  omnia  et  integra 
conseruentur,  eorum,  pro  quorum  gubematione  |  et  substentatione 
concessa  sunt,  usibus  omnimodis  profutura,  salua  sedis  apostolice 
auctoritate  et  dyocesani  episcopi  canonica  iustitia.  Si  qua  igitur 
in  futurum  |  ecclesiastica  secularisue  persona  hanc  nostre  constitu- 
tionis  paginam  sciens  contra  eam  temere  uenire  temptauerit,  se- 
cundo  tertioue  commonita,  nisi  presumptionem  suam  |  congrua  sa- 
tisfactione  correxerit,  potestatis  honorisque  sui  dignitate  careat 
reamque  se  diuino  iudicio  existere  de  perpetrata  iniquitate  cogno- 
scat  et  a  sa|cratissimo  corpore  ac  sanguine  Dei  et  domini  redemp- 
toris  nostri  lesu  Christi  aliena  fiat  atque  in  extremo  examine  di- 
stricte  ultioni  subiaceat.  Cunctis  autem  eidem  loco  |  sua  iura  ser-' 
uantibus  sit  pax  domini  nostri  lesu  Christi,  quatinus  et  hie  fructum 
bone  actionis  percipiant  et  apud  districtum  iudicem  premia  eteme 
pacis  I  inueniant.     AMEN.     AMEN.     AMEN.  \ 

E,.    Ego  Alexander  catholice  ecclesie  episcopus  ss.     BV. 
f  Ego  Hubaldus  Hostiensis  episcopus  ss. 
f  Ego  Johannes  presb.   card.  sanctorum  lohannis  et  Pauli  tit.  Pa- 

machii  ss. 
f  Ego  Boso  presb.  card.  sancte  Pudentiane  tit.  Pastoris  ss. 
f  Ego  Petrus  presb.  card.  tit.  sancte  Susanne  ss. 
t  Ego  Viuianus  presb.  card.  tit.  sancti  Stephani  in  Celio  monte  ss. 
f  Ego  lac(inctus)  diac.  card.  sancte  Marie  in  Cosmidyn  ss. 
f  Ego  Ardicio  diac.  card.  sancti  Theodori  ss. 
f  Ego  Cinthjnis  diac.  card.  sancti  Adriani  ss. 

f  Ego  Laborans  diac.  card.  sanct^  Mari^  in  Porticu  ss. 

f  Ego  Rainerius  diac.  card.  sancti  Greorgii  ad  Velum  aureum  ss. 

Dat.  Lateran,  per  manum  Alberti  sancte  Romane  ecclesie  pres- 

byteri  cardinalis  et  cancellarii,   X  kal.  maii,   indictione  XI,   incar- 

nationis  dominice   anno  M.C.LXX^VIII^,   pontificatus  uero   domini 

ALEXANDRI  pape  IH  anno  XVim. 

B.  dep. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  265 

33. 

Alexander  III.  erJclärt  die  ürhinden ,  durch  welche  die  Parro- 
chianen  der  Kirche  S.  Stefano  in  Prato  hei  Gelegenheit  von  Land- 
Verpachtungen  sich  den  benachbarten  Klöstern  verpflichten  mußten^ 
sich  daselbst  begraben  zu  lassen^  für  ungültig. 

Lateran  (1166—79)  März  17. 

Kopie  im  Ms.  Bolle  e  indidti  pontificii;  decreti  vescovili  s.  XVI sq. 
Prato  Arch.  capitolare. 

Ed.  Carlesi  Origini  di  Prato  p.  152  n.  12  {mit  X  kal.  aprilis). 
—  Reg.  bei  Ughelli  ^  III  333.     Vgl.  Italia  pontif  III 139  n.  21. 

ALEXANDER  episcopus  seruus  seruomin  Dei.  Dilecto  filio 
Pratensi  preposito  salutem  et  apostolicam  benedictionem.  Signi- 
ficatum  est  nobis  ex  parte  tua,  quod  per  monasteriorum  circuin- 
stantium  circa  terras  tuas  parrochianis  tuis  aliquo  locationis  titulo 
concedat''^  ab  eis  instrumentiiin  exigunt  et  reeipiunt,  quo  idem 
parrocbiani  obligantur  apud  prescripta  monasteria  sepeliri.  Ideoque 
postulasti  ecclesi^  tu^  contra  buiusmodi  grauamina  prouideri,  Nos 
itaqne  attendentes,  indignum  esse  et  rationi  omnino  contrarium,  ut 
sepultur^  taliter  comparentur,  tuis  iustis  postulationibus  benignius  in- 
clinati,  similia  instrumenta,  ne  de  cetero  fiant,  districte  probibemus 
et  facta  auctoritate  apostolica  irritamus.  Nulli  ergo  omnino  bo- 
minum  etc.    Dat.  Lateran.  XVI  kalen.  aprilis. 


a)  die  Stelle  ist  ganz  verderbt. 

34. 

Alexander  IIL  nimmt  das  Kloster  San  JBartolom£o  di  Sestinga 
unter  dem  Abt  Panerius  in  den  apostolischen  Schutz  und  bestätigt  ihm 
die  Besitzungen  und  Rechte,  vornehmlich  die  Exemption,  gegen  einen 
Jahreszins  von  1  Byzantier.  Lateran  1179  April  24. 

Kopie  saec,  XIII  Siena  Arch.  di  stato  (S.  Agostino  di  Siena). 

Die  Urkunde  ist  bereits  in  der  Schrift  von  St.  Bertolini  Esame 
di  un  libro  sopra  la  Maremna  Senese  p.  218  gedruckt,  doch  tvieder- 
hole  ich  sie ,  da  jene  selten  ist.  Umsomehr  als  das  Regest  bei  Jaffe- 
Loewenfeld  13168  nach  Kaltenhrunner  in  Wiener  SB.  XCIV  675 
n.  8630  a  sie  irrig  dem  bekannten  Kloster  S.  Bartolomeo  in  der  Diö- 
zese Penne  zuschreibt,  während  es  sich  um  das  Kloster  S.  Bartolomeo 


266  P-  Kehr, 

di  Sestinga  in  der  Diözese  Grosseto  handelt.  Das  Privileg  ist  eines 
der  umfayigreichsten  Klosterprivilegien  und  auch  Urchenrechtlich  wichtig. 
Vgl.  Italia  pontif.  III 264:  n.  2. 

Alexander  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis  Ra- 
nerio  abbati  sancti  Bartolomei^^'de  Sextinga  eiusque  fratribus  tarn 
presentibus  quam  futuris  regulärem  uitam  professis  in  perpetuum. 
Quotiens  illud  a  nobis  petitur,  quod  religioni  et  honestati  conuenire 
dignoscitur,  animo  nos  decet  libenti  concedere  et  petentium  desi- 
deriis  congruum  suffragium  impertiri.  Eapropter,  dilecti  in  Domino 
filii,  uestris  iustis  postulationibus  clementer  annuimus  et  ecclesiam 
sancti  Bartolomei'*^  de  Sextinga,  in  qua  diuinis  estis  obsequiis  man- 
cipati,  sub  beati  Petri  et  nostra  protectione  suscipimus  ^^  et  pre- 
sentis  scripti  priuilegio  communimus.  Statuentes,  ut  quascumque 
possessioneSj  quecumque  bona  idem  monasterium  in  presentiarum 
iuste  et  canonice  possidet  aut  in  futurum  concessione  pontificum  <^^, 
largitione  regum  uel  principum,  oblatione  fidelium  seu  aliis  iustis 
modis  prestante  Domino  poterit  adipisci,  firma  uobis  uestrisque 
successoribus  et  illibata  permaneant.  In  quibus  hec  propriis  duxi- 
mus  exprimenda  uocabulis :  locum  ipsum,  in  quo  prefatum  monaste- 
rium situm  est  cum  omnibus  pertinentiis  suis,  sancti  Martini  et 
sancti  Cerbonii  de  Caldana  cum  omnibus  pertinentiis  suis,  sancte 
Marie  de  Cese  cum  omnibus  pertinentiis  suis  et  ecclesiam  sancti 
Simonis  et  lüde  de  Colonna  cum  suis  pertinentiis,  sancte  Reparate 
de  Tosi  cum  omnibus  pertinentiis  suis,  sancti  Supercii  cum  perti- 
nentiis earundem.  Ut  autem  iuxta''^  normam  uestre  professionis 
diuinis  obsequiis  liberius  uacare  possitis,  simili  modo  sancimus,  ut 
cuiuslibet  ecclesie  sacerdoti  nuUam  iurisdictionem,  nuUam  potesta- 
tem  aut  auctoritatem ,  excepto  dumtaxat  Romano  pontifice,  in 
uestro  monasterio  liceat  uendicare,  adeo  quod  ut,  nisi  ab  abbate*> 
eiusdem  monasterii  fuerit  inuitatus,  nee  etiam  missarum  soUemnia 
ibidem  audeat  celebrare.  Interdicimus  etiam,  ut  nulli'')  episcopo 
licentia^)  pateat,  sacerdotes  eiusdem  cenobii*^  monachos*)  siue  con- 
uersos*^  distringere  uel  excommunicare  aut  diuinum  eis  officium 
prohibere;  quos  etiam  ab  omni  pontificali  sinodo  liberos  et  abso- 
lutes manere  decemimus.  Omne  preterea,  quod  Albertus  prede- 
cessor  tuus  a  Johanne  ^^  abbate  sancti  Pancratii  de  Luto  rationa- 
biliter  permutando  accepit  et  possidet,  eidem  monasterio  auctori- 
tate  apostolica  confirmamus  et  presentis  scripti  pagina  communimus. 

o)  Bartalomei.      \h)  subscipimus.       c)  principium.        d)  iusta.        c)  abate. 
f)  nullum.  g)  licentiam.  K)  vorher  getilgt  monasterii.  i)  monacos. 

k)  canonicos.  /)  louanne.  , 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  IL  267 

Porro  locum  ipsum  ab  omni  iugo  quarumlibet  potestatum  tarn  epi- 
scoporum  quam  marchionum,  comitum  quoque  aut  uicecomitum,  ca- 
staldionum  ceterorumque  Longobardorum  uolumus  omnino  esse 
quietnm,  nullusque  eorum  in  possessionibus  prefato  cenobio  perti- 
nentibus  iudicium  aliquod  placitumue  tenere  aut  districtionem*"^ 
facere  qualibet  occasione  presumat"^,  sed  potius  tam  hec  quam 
alia,  que  ad  ius  eiusdem  monasterii  spectare  noscuntur,  in  tua  suc- 
cessorumque  <*)  tuorum  libera  potestate^^  ac  dispositione  consistant. 
Concedimus  insuper  eidem  uenerabili  loco  decimationes  atque  pri- 
mitias  de  suis  omnibus  siue  de  preceptalibus  siue  de  aliis,  que 
nunc  habet  uel  inantea  poterit  adipisci.  Liceat  quoque  uobis  cle- 
ricos  et  laicos*?^  e^"^  seculo  fugientes  liberos  et  absolutos  absque 
alicuius  contradictione  ad  conuersionem  recipere  et  in  uestra  eccle- 
sia  retinere.  Obeunte  uero  te  nunc  eiusdem  loci  abbate  uel  tuo- 
rum  quolibet  successorum*^,  nuUus  ibi  qualibet  subreptionis'^  astutia 
seu  uiolentia  preponatur,  nisi  quem  fratres  communi  consensu«)  uel 
fratrum  pars  consilii  sanioris  secundum  Dei  timorem  et  beati  Be- 
nedicti  regulam  prouiderint  eligendum;  electus  autem  ad  Romanum 
pontificem  benedicendus  accedat.  Crisma  uero,  oleum  sanctum,  con- 
secrationes  altarium  seu  basilicarum,  ordinationes  "^  presbyterorum, 
diaconorum  aut  aliorum  tam  de  monacbis"'^  quam  de  conuersis*\  qui 
ad  sacros  gradus  fuerint  promouendi,  siue  a  sede  apostolica  siue 
ab  aliquo  catholico  suscipietis  episcopo,  qui  nostra  fultus  auctori- 
tate  quod  postulatar  indulgeat.  Et  si  aliquando  quempiam  de 
nostris  episcopis  siue  de  aliis,  prout  uobis  congraentius  uisum  fue- 
rit,  ad  sacrum  ministerium  celebrandum  uel  consecrationem  aliquam 
exbibendam  inuitare  ad  uestrum  monasterium  uolueritis,  absque*') 
alicuius  contradictione '^  id  ipsum  faciendi  habeatis  liberam  facul- 
tatem.  Sepulturam  insuper  ipsius  loci  liberam  esse  decernimus  "^ 
ut  eorum  deuotioni  et  extreme  uolnntati,  qui  se  illic  sepeliri  deli- 
berauerint,  nisi  forte  excommunicati  uel  interdicti^)  sint,  nuUus 
obsistat.  Decernimus")  ergo,  ut  nulli  omnino  hominum  liceat  pre- 
fatam  ecclesiam  temere  perturbare  aut  eins  possessiones  auferre 
uel  ablatas  retinere,  minuere  seu  quibuslibet  uexationibus  fatigare, 
sed  illibata'^)  omnia  et  integra  conseruentur,  eorum,  pro  quorum 
gubernatione  ac  sustentatione  concessa  sunt,  usibus  omnimodis  pro- 
futura,    salua    nimirum    in    omnibus    apostolice    sedis    auctoritate. 

m)  dixtrictionem.  n)  presumit.  o)  successorum.  p)  potestatem. 

q)  folgt  getilgt  nochmals  et  laicos.  r)  et.  s)  subcessorum.  t)  sub- 

rectionis.  u)  consensu  fehlt.  v)  folgt  etiam,  w)  monacis.  x)  cano- 

nicis.  y)  asque.  z)  contradictionem.  a)  decreuimus.  b)  interdictu. 

c)  illibatus. 


268  P-  Kehr, 

Ad  indicium  autem  percepte  huius  a  sede  apostolica  protectione 
bizantium  unmn  annis  singnlis  nobis  nostrisque  successoribus  per- 
soluetis.     Si  qua   etc.     Cunctis   autem   etc.     Amen.     Amen.     Amen. 

R.  Ego  Alexander '^^  catbolice  ecclesie  episcopns  ss.'^ 
f  Ego  Hubaldus  Hostiensis  episcopns  ss. 
f  Ego  lobannes  presb.  card.   sanctomm  lohannis  et  Pauli  tit.  Pa- 

machii-^)  ss. 
f  Ego  Petrus  presb.  card.  tit.  sancte  Susanne  ss. 
f  Ego  Petrus  presb.  card.  tit.  sancti  Grrisogoni^)  ss. 
f  Ego  Cintius  presb.  card.  tit.  sancte  Cecilie'*^  ss. 
f  Ego  Arduinus'2  presb.  card.    tit.  sancte  Crucis  in*)  lerusalem  ss. 
f  Ego  lacintus  diac.  card.  sancte  Marie  in  Cosmidin^  ss. 
f  Ego  Ardicio"*)  diac.  card.  sancti  Theodori**)  ss. 
f  Ego  Laborans  diac.  card.  sancte  Marie  in  Porticu  ss. 
f  Ego   Gratianus   diac.   card.   sanctorum   Cosme   et"^  Dami- 

ani  ss. 
f  Ego  Johannes  diac.  card.  sancti  Angeli  ss. 
t  Ego  Matheus  diac.  card.  sancte  Marie  Noue  ss. 

Dat.^)  Lateran,  per  manum  Alberti  sancte  Romane  ecclesie 
presbyteri  cardinalis  et  cancellarii,  octauo  kal.  madii,  indictione 
XII,  incarnationis  dominice  anno  M.C.LXX.VIIII,  pontificatus  uero 
domni  Alexandri  pape  III  anno  XX. 


d)  Alexader.  e)  ss.  fehlt.  f)  Pamachii  fehlt.  g)  Crisocconi. 

Ä)  Cicilie.  t)  Arduuinus.  k)  in  fehlt.  l)  Cosmidum.  m)  Ardignus. 

n)  Teoddoni.  ö)  et  fehlt.  p)  data. 


35. 

Alexander  III.  nimmt  die  Kirche  S.  Christina  in  Pisa  unter 
dem  Presbyter  Rainer  nach  dem  Vorgang  Eadrians  IV.  in  den  apo- 
stolischen Schutz,  bestätigt  ihr  die  Besitj^ungen  j  namentlich  die  von 
seinem  Vorgänger  Hugo  gebaute  Kirche  der  h.  Maria  Magdalena  und 
verleiht  das  Begräbnisrecht  für  ihre  Parrochianen. 

Lateran  1179  Juni  18. 

Abschrift  von  Franc.  Bonaini  in  dessen  Copie  di  diplmni  Pisanij 
Pisa  Arch.  di  staio. 

Bonaini  fand  die  Urkunde  im  Archivio  Eoncioni  in  Pisa,  wo 
überhaupt  Materialien  aus   dem  Kapitelarchiv  von  Pisa    hingekommen 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  269 

sind.  Denn  S.  Christina  in  Kinzica  gehörte  dem  Kapitel,  wie  aus 
dessen  Privilegien  und  aus  der  Bulle  Alexanders  III.  selbst  hervorgeht. 
Die  Abschrift  verdanke  ich  Prof.  Cl.  Lupi.    Vgl.  Italia  pontif.  III 352. 

'  Alexander  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilecto  filio  Rai- 
nerio  presbitero  sancte  Christine,  que  in  ripa  fluminis  Arni  in  ci- 
uitate  Pisana  sita  est,  eiusque  successoribus  canonice  substituendis 
in  perpetuum.  Quotiens  illud  a  nobis  petitur,  quod  religioni  et 
honestati  conuenire  dinoscitur,  animo  nos  decet  libenti  concedere 
et  petentium  desideriis  congruum  impertiri  suffraginm.  Eapropter, 
dilecte  in  Domino  fili,  precibus  dilectorum  filiorum  nostrorum  ca- 
nonicorum  Pisane  ecclesie ,  ad  quorum  ins  et  proprietatem  com- 
missa  tibi  ecclesia  beate  Christine  pertinere  dinoscitur,  inclinati, 
ad  exemplar  felicis  memorie  predecessoris  nostri  Adriani  pape, 
eandem  sub  beati  Petri  et  nostra  protectione  suscipimus  et  pre- 
sentis  scripti  priuilegio  communimus.  Statuentes,  ut  quascumque 
possessiones ,  quecumque  bona  eadem  ecclesia  in  presentiarum 
inste  et  canonice  possidet  ant  in  futurnm  concessione  pontificum, 
largitione  regum  uel  principum,  oblatione  fidelinm  seu  aliis  instis 
modis  Deo  propitio  poterit  adipisci,  firma  tibi  tuisque  successoribus 
et  illibata  permaneant.  Preterea  supradictorum  filiorum  nostro- 
rum postulationibus  annuentes,  rationis  etiam  intuitu  prouocati, 
ecclesiam  beate  Marie  Magdalene,  quam  in  proprio  fundo  commisse 
tibi  ecclesie  atque  in  ipsius  parrochia  propriis  expensis  bone  me- 
morie Hugo,  predecessor  tuus,  construxisse  dinoscitur,  tibi  et  per 
te  memorate  ecclesie  beate  Christine  ac  tuis  successoribus,  qui  pro 
tempore  regimen  ecclesie  sancte  Christine  a  supradictis  filiis  nostris 
canonicis  habuerint,  auctoritate  apostolica  confirmamus,  et  eandem 
capellam  sancte  Marie  ad  ecclesiam  beate  Christine,  tamquam  ad 
matrem  filia,  decernimus  pertinere,  salua  Pisani  archiepiscopi  ca- 
nonica  reuerentia  et  canonicorum  Pisane  ecclesie  iustitia  et  obe- 
dientia.  Porro  sepulturam  sepedicte  ecclesie,  uidelicet  sancte 
Christine,  liberam  esse  sancimus,  ut  quicumque  parochianorum  tu- 
omm  illic  sepelliri  deliberauerint,  eorum  deuotioni  et  extreme  uo- 
luntati,  nisi  forte  excommunicati  uel  interdicti  sint,  nullus  ob- 
sistat,  salua  nimirum  iustitia  matricis  ecclesie.  Decernimus  ergo, 
ut  nulli  omnino  hominum  liceat  prefatam  ecclesiam  temere  per- 
turbare  aut  eins  bona  uel  possessiones  auferre  seu  ablatas  retin ere, 
minuere  aut  aliquibus  uexationibus  f atigare ,  set  omnia  integra 
conseruentur,  eorum,  pro  quorum  gubernatione  et  sustentatione 
concessa  sunt,  usibus  omnimodis  profutura,  salua  nimirum  apostolice 
sedis  auctoritate  et  predicti  archiepiscopi  canonica  iustitia.    Si  qua 


270  P.  Kehr, 

igitur  in  futurum  ecclesiastica  secularisue  persona  hanc  nostre 
constitutionis  paginam  sciens  contra  eam  temere  uenire  tempta- 
uerit,  secundo  tertioue  commonita,  si  non  satisfactione  congrua 
emendauerit,  potestatis  honorisque  sui  dignitate  careat  reamque 
se  diuino  iudicio  existere  de  perpetrata  iniquitate  cognoscat  et  a 
sacratissimo  corpore  ac  sanguine  Dei  et  domini  redemptoris  nostri 
lesu  Christi  aliena  fiat  atque  in  extremo  examine  districte  ultioni 
subiaceat.  Cunctis  autem  eidem  loco  sua  iura  seruantibus  sit  pax 
domini  nostri  lesu  Christi,  quatinus  et  hie  fructum  bone  actionis 
percipiant  et  apud  districtum  iudicem  premia  eterne  pacis  inueniant. 
Amen.     Amen.     Amen. 

E,.    Ego  Alexander  catholice  ecclesie  episcopus  ss.     BV. 

f  Ego  Hubaldus  Hostiensis  episcopus  ss. 

f  Ego  Theodinus  Portuensis   et   sancte  ßufine  episcopus  ss. 

f  Ego  Petrus  Tusculanus  episcopus  ss. 

t  Ego  Berner edus  Prenestinus  episcopus  ss. 
f  Ego  Johannes  presb.  card.  sanctorum  lohannis  et  Pauli  tit.  Pa- 

machii  ss. 
f  Ego  Johannes  presb.  card.  tit.  sancte  Anastasie  ss. 
t  Ego  Johannes  presb.  card.  tit.  sancti  Marci  ss. 
f  Ego  Petrus  presb.  card.  tit.  sancte  Susanne  ss. 
t  Ego  Viuianus  presb.  card.  tit.  sancti  Stephani  in  Celio  monte  ss. 
f  Ego  Cinthius  presb.  card.  tit.  sancte  Cecilie  ss. 
f  Ego  Hugo  presb.  card.  tit.  sancti  Clementis  ss. 
f  Ego  Arduinus  presb.  card.  tit.  sancte  Crucis  in  Jerusalem  ss. 
f  Ego  Matheus  presb.  card.  tit.  sancti  Marcelli  ss. 

t  Ego  lacintus  diac.  card.  sancte  Marie  in  Cosmidin  ss. 

f  Ego  Ardicio  diac.  card.  sancti  Theodori  ss. 

f  Ego  Laborans  diac.  card.  sancte  Marie  in  Porticu  ss. 

t  Ego  Grratianus  diac.  card.  sanctorum  Cosme  et  Damiani  ss. 

t  Ego  Johannes  diac.  card.  sancti  Angeli  ss. 

t  Ego  Rainerius  diac.  card.  sancti  Adriani  ss. 

t  Ego  Matheus  sancte  Marie  Noue  diac.  card.  ss. 

f  Ego  Bemardus  diac.  card.  sancti  Nicolai  in  carcere  Tulli- 
ano  SS. 

Dat.  Laterani  per  manum  Alberti  sancte  Romane  ecclesie 
presbiteri  cardinalis  et  cancellarii.  XJIJJ  kal.  iulii,  indictione  XU*, 
incamationis  dominice  anno  MCLXXVJIJJ^,  pontificatus  uero  do- 
mini Alexandri  pape  JII  anno  XX°. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  271 

26. 

Alexander  III.  verleiht  der  Kirche  S,  Stefano  in  Prato  nach 
dem  Beispiel  seiner  Vorgänger  die  Befugnis,  von  den  Einwohnern 
des  Territoriums  von  Prato  alle  Pfarrrechte  zu  verlangen  und  be- 
stätigt ihr  die  genannten  Kapellen  und  die  alten  Gewohnheiten. 

Tusculanum  (1170 — 80)  Oktober  1. 

Kopie  im  Ms.  Concessioni  giurisdizionali  dei  sommi  pontefid  etc. 
s.  XIV  ex.  n.  1  Prato  Arch.  capitolare.     Der  Anfang  fehlt. 

Ed.  Carlesi  Origini  di  Prato  p.  145  n.3  als  Urkunde  Innocenz'  II. 
zu  1138—1142.     Vgl.  Italia  pontif.  III 139  n.  22. 


ecclesiastica  sacramenta  et  spiritualia  benefitia  suscipiunt,  decimas 
Tiel  oblationes  seu  publicas  penitentias  circumposite  ecclesie  non 
recipiant  nee  de  hiis,  que  ad  ius  parrocbiale  eiusdem  plebis  uestre 
pertinent,  se  intromittere  audeant;  id  ipsum  ad  exemplar  eoram 
anctoritate,  qua  fungimur,  prohibemns  et  uobis  et  plebi  uestre  de 
consueta  apostolice  sedis  dementia  concedimus  et  indulgemus,  ut 
uniuersi,  qui  in  territorio  uestro  babitationem  continuam  babent 
et  a  uobis  ecclesiastica  sacramenta  et  spiritualia  benefitia  iugiter 
suscipiunt,  uobis  de  iure  parrocbiali  respondere  debeant  et  decimas 
et  oblationes  suas  et  cetera  ad  ius  parrochiale  pertinentia  in  in- 
tegrum soluant.  Dignum  namque  est,  ut  iuxta  Apostolum  quibus 
spiritualia  seminatis,  ab  eisdem  camalia  metatis.  Ad  hec  uniuer- 
sas  cappellas  ecclesie  uestre  subiectas  cum  omni  iure  et  integri- 
tate,  in  qua  eas  habetis,  uobis  et  eidem  ecclesie  uestre  auctoritate 
apostolica  confirmamus.  Quas  uidelicet  propriis  duximus  expri- 
mendas  uocabulis :  cappellam  sancte  Marie  de  Castello,  cappellam 
sancte  Trinitatis,  cappellam  sancti  Petri,  cappellam  sancti  Salua- 
toris,  cappellam  sancti  Marci"),  cappellam  sancti  Tome,  cappellam 
sancti  Petri  de  Insula,  cappellam  sancte  Lucie,  cappellam  sancti 
Bartolomei,  cappellam  sancti  Petri  de  Figbine ,  cappellam  sancti 
Vincentii ,  cappellam  sancte  Marie  de  Ribaldo ,  cappellam  sancti 
Martini  de  Paparino,  et  quidquid  iuris  et  reuerentie  in  cappella 
sancti  Martini  de  Surgnian(o)  et  in  cappella  sancti  Michaelis  de 
Cerreto  habetis.  Antiquas  uero  et  rationabiles  ^)  consuetudines, 
quas  hactenus  habuistis,  uobis  nichilominus  auctoritate  apostolica 
confirmamus.     Decemimus    ergo,   ut   nulli   omnino  hominum  liceat 


a)  Marcii.  h)  honorabiles. 


272  P-  Kehr, 

hanc  paginam  nostre  protectionis  et  confirmationis  infringere  nel 
ei  aliquatenus  contraire.  Si  quis  autem  hoc*^)  attemptare  presum- 
pserit,  indignationem  omnipotentis  Dei  et  beatorum  Petri  et  Pauli 
apostolorum   eius   se   nouerit   incursurum.  Dat.    Tusculan.   kal. 

octubris. 


c)  hec. 

27. 

Lucius  III.  verbietet  nach  dem  Beisxnel  Alexanders  III.  den 
Bau  einer  Kirche  oder  eines  Oratoriums  im  Kastell  von  Frato  ohne 
ErJauhnis  des  Diözesanhischofs  und  des  Propstes  und  der  Kanoniker 
von  Frato.  Velletri  (1182)  November  26. 

Oriy.  Frato  Arch.  capitolare. 

Ed.  Carlesi  Origini  di  Frato  p.  153  n.  13.  Vgl.  Italia  pontificia 
III 140  n.23. 

LVCrVS  episcopns  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis  . .  pre- 
posito  et  canonicis  Pratensibus  salutem  et  apostolicam  bene- 
dictionem.  |  Ex  autentico    scripto  felicis   recordationis  Adriani 

pape  predecessoris  nostri  nobis  innotuit ,  quod  priiuilegium  mo- 
nasterio  de  Gargnano  ab  eo  collatum  reuocans  auctoritate  aposto- 
lica  interdixit,  ne  quis  monasterium  transferret  aut  etiam  capellam 
sine  conscientia  et  assensu  abbatis  Vallembrosani  conjstrueret  infra 
castrum.  Clericis  quoque  Pratensibus,  qui  tunc  erant,  per  aposto- 
lica  scripta  mandauit,  ut,  si  quis  |  monasterium  in  alium  locum 
transferret  uel  capellam  in  castro  predicto  construeret  et  ammo- 
nitus  non  cessajret,  a  diuinorum  ofj&cio[rum  celejbratione  desisterent 
nee  diuina  in  castro  permitterent  celebrari.  Inde  est,  quod  |  eius 
uestigüs  inherentes,  prohibitionem  iam  dicti  predecessoris  nostri 
auctoritate  apostolica  innouajmus  et  auctoritate  presentium  inhi- 
bemus,  ne  quis  ecclesiam  uel  Oratorium  infra  castrum  |  predictum 
sine  assensu  episcopi  diocesani  et  uestro  de  nouo  construere  aliqua 
occasione  presumat.  |  NuUi  ergo  omnino  hominum  liceat  hanc  pa- 
ginam nostre  prohibitionis  infringere  uel  ei  |  ausu  temerario  con- 
traire. Si  quis  autem  hoc  attentare  presumpserit,  indignationem 
omni  Ipotentis  Dei  et  beatorum  Petri  et  Pauli  apostolorum  eius  se 
nouerit  incursurum.         Dat.  Velletr.  VI  kal.  decembris. 

B.  dep. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  IL  273 

38. 

Lucius  III.  bestätigt  dem  Propst  Freslyter  und  dem  Kapitel  von 
Areszo  die  Schenkungen  tind  Verleihungen  der  Bischöfe  Theohald, 
Helmpert,  Arnold  und  Constantin,  die  Freiheiten,  Immunitäten  und 
Hechte.  VeUetri  (1182—83)  April  4. 

Orig.  Arezso  Ar  eh.  capitolare  (fi.  455).  —  Vgl.  Italia  pontif. 
III 159  n.  9. 

J-L.  14747  nach  dem  Citat  hei  Kaltenhrunner  in  Wiener  SB. 
XCIV679  n.  9509  a  und  Fflugh-Harttung  Iter  p.  296  n.  760.  —  Der 
Text  eeigt  AnUänge  an  die  Urkunde  Anastasius'  IV.  J-L.  9815. 

LYCIVS  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis  Pre- 
sbitero  preposito  et  capitulo  Aretino  salutem  et  apostolicam  bene- 
dictionem.  Ea,  que  a  prelatis  |  ecclesiarum  prouisione  rationabili 
statuuntur,  sedis  apostolice  conuenit  auctoritate  firmari,  ne  super 
bis  materia  contenjtioiiis  emergat,  que  a  bono  caritatis  initmm  ba- 
buerunt.  Eapropter,  dilecti  in  Domino  filii,  uestris  iustis  postn|- 
lationibus  grato  concurrentes  assensu,  donationes,  concessiones,  con- 
firmationes  etiam  super  ecclesiis  et  aliis  rebus,  sicut  antecesisoribus 
uestris  a  bone  memorie  Tbeobaldo,  Helperto,  Alberto,  Arnaldo  et 
Constantino  episcopis  Aretinis  rationabiliter  "^  concesse  sunt,  |  et 
que  in  priuilegio  bone  memorie  leronimi  quondam  episcopi  uestri 
legittime  continentur,  libertates  preterea  et  immunitates  ab  |  impe- 
ratoribus  seu  marchionibus  ecclesie  uestre  indultas,  antiquas  et  ra- 
tionabiles  consuetudines  uestras  hactenus  obseruatas,  uobis  uestris- 
que  I  successoribus  auctoritate  apostolica  confirmamus  et  perpetuo 
manere  decernimus  illibatas.  Decimationes  etiam  ex  terra  illa, 
quam  uos,  |  canonica  sancti  Donati,  ex  donatione  imperatorum, 
marcbionum  et  alioram  Dei  fidelium  iuste  et  sine  controuersia  pos]- 
sidetis  aut  in  futurum  iustis  modis  prestante  Domino  poteritis 
adipisci,  presentis  scripti  patrocinio  roboramus.  |  Ordinationem  in- 
super,  custodiam  et  alia,  que  predecessores  tui,  fili  preposite,  a 
tempore  locundi  prepositi  in  plebibus,  |  monasteriis,  canonicis  et 
capellis  de  Scianinga,  Berardinga  et  Berardisca  et  aliis  Aretine 
diocesis  canonice  babu|erunt ,  oblationem  etiam  altarium  ecclesie 
sancti  Donati  letaniarum,  sicut  in  scripto  Arnaldi  et  Constantini 
Aretinorum  episcopo|rum  rationabiliter  continetur,  electionem  quo- 
que  archidiaconi  et  primicerii,   sicut  a  prefato  ler(onimo)  quondam 


a)  corr.  aus  rationabiliter  Aretinis. 


274  P-  Kehr, 

episcopo  I  uestro  canonice  statTitmn  fxiisse  dinoscitur  et  in  scriptis 
eins  continetur  expressum  et  hacteims  est  obser|natiiiii,  donationem 
etiam,  quam  Willielminiis  de  Subiano  et  filius  eius,  uxoribus  eorum 
assensum  prebentibus,  et  quantum  ad  |  eorum  iura  spectauit,  ex  in- 
tegro  largientibus,  de  Tum,  de  Subiano  et  alüs  eorum  possessio- 
nibus  uniuersis  in  eodem  Castro  et  |  eins  curte,  in  Nussa,  Castellione 
et  eorum  pertinentiis  et  alüs  locis  fecerunt ,  cum  Deo  et  ec- 
clesie  uestre  sua  et  se  obtulerunt,  |  sicut  in  instrumentis  exinde 
confectis  legittime  continetur,  castrum  preterea,  quod  Saxetum 
uulgariter  nominatur,  |  sicut  ipsum  rationabiliter  et  sine  contro- 
uersia  possidetis,  cum  eins  curte,  ecclesiam  de  Radicata  cum  Om- 
nibus pertinentiis  eins,  |  ecclesiam  de  Cruci  cum  omnibus  perti- 
nentiis eins,  castrum  insuper,  quod  Toppole  dicitur,  cum  ecclesia 
et  uilla  de  Varrazano  et  |  omnibus  pertinentiis  eorum,  sicut  ex 
concambio  et  transactione  pro  Modiona  uobis  a  Camaldulensi  uenit, 
sicut  instrumenta  |  legittime^)  continent  et  bactenus  est  obseruatum, 
uobis  uestrisque  successoribus  auctoritate  apostolica  confirmamus. 
Nulli  ergo  omnino  bomijnum  liceat  banc  paginam  nostre  confir- 
mationis  infringere  uel  ei  ausu  temer ario  contraire.  Si  quis  autem 
hoc  attemptare  |  presumpserit,  indignationem  omnipotentis  Dei  et 
beatorum  Petri  et  Pauli  apostolorum  eins  se  nouerit  incursurum. 
Dat.  Velletri  II  non.  aprilis. 

B.  dep. 

b)  le  I  legittime. 

39. 

Lucius  111.  nimmt  das  Kloster  S.  Salvadore  di  Spugna  unter 
dem  Äbt  Maurus  in  den  apostolischen  Schute,  bestätigt  die  Regel 
'S.  Benedicts,  die  genannten  Besitzungen  und  die  bereits  von  Leo  IX. 
und  Alexander  II.  bestätigten  Zehnten,  das  Präsentationsrecht  und 
andere  Rechte.  Anagni  1183  November  23. 

Kopie  s.  XVII  in  Carlo  sen.  Strozzi  Spoglio  SS  1240  p.  230 
Florenz  Bihl.  nazionale  Magliah,  XXXVII  307. 

Ed.  F.  Morozzi  Memorie  di  istoria  ecclesiastica  civile  e  letteraria 
di  Colle  di  Valdelsa.  Sezione  I:  Istoria  della  badia  di  S.  Salvadore 
di  Spugna  (In  Firenze  1775)  p.  55  n.  1  „da  tin  manoscrUto  antico 
di  un  Ser  Gio.  Bardi  da  Colle,  la  quäle  egli  la  trascrisse  in  fondo 
di  un  Libro  di  statuti  di  detta  cUtä  di  Colle,  e  che  di  presente  esiste 
presse  i  Sigg.  Bardi  di  Colle  da  S.  Caterina."  Danach  cUiert  von 
Bavidsohn  Forschungen   zur  älteren   Geschichte   von  Florenz  I  185 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  IL  275 

n.  74.  —  Da  diese  Schrift  von  Morozzi  sehr  selten,  in  Deutschland 
wohl  ganz  unbeJcannt,  sein  Äbdruch  auch  recht  schlecht  ist,  die  Ur- 
kunde aber  andererseits  einige  Wichtigkeit  hat  —  leider  sind  die  im 
Text  erwähnten  Privilegien  Leos  IX.  und  Alexanders  II.  nicht  auf 
uns  gekommen  — ,  so  gehe  ich  sie  nach  der  Abschrift  Strozzi's  und 
dem  Druck  von  Morozzi,  dessen  Quelle  wir  vergeblich  gesucht  haben, 
neu  heraus.     Vgl,  Italia  poniif.  III  309  n.  4. 

Lücius  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis  Mauro  ab- 
bat! monasterii  sancti  Saluatoris  in  Spongia,  quod  in  Volaterranensi 
episcopatu  apud  Else  flnuium  sitnm  est,  eiusqiie  successoribus  re- 
gulariter  substituendis  in  perpetuum.  Religiosam  uitam  eligen- 

tibus  apostolicnm  conuenit  adesse  presidium,  ne  forte  cuiuslibet 
temeritatis  incursus  aut  eos  a  proposito  reuocet  ant  robur,  quod 
absit,  sacr^  religionis  infringat.  Eapropter,  dilecti  in  Domino  filii, 
uestris  iustis  postnlationibns  clementer  annuimus  et  prefatnm  mo- 
nasterium,  in  quo  dinino  estis  obs^qiiio  mancipati,  snb  beati  Petri 
et  nostra  protectione  suscipimus  et  presentis  scripti  prinilegio  com- 
munimus.  Inprimis  siqnidem  statuentes ,  ut  ordo  monasticus ,  qui 
secnndnm  Deum  et  beati  Benedicti  regulam  in  eodem  monasterio 
institntus  perpetuis  ibidem  temporibus  inuiolabiliter  obseruetur; 
preterea  quascumque  possessiones,  quecnmque  bona  idem  monaste- 
rium  in  presentiarum  iuste  et  canonice  possidet  aut  in  futurum 
concessione  pontificum,  largitione  [regum  uel  prineipum,  oblatione 
fidelium  seu  alüs  iustis  modis  prestante  Domino  poterit  adipisci, 
firma  uobis  uestrisque  successoribus  et  illibata  permaneant.  In 
quibus  hec  propriis  duximus  exprimenda  uocabulis:  In  episcopatu 
Vulterranensi  ecclesiam  sanct^  Mari^,  que  est  iuxta  monasterium, 
castellum  Piticcianum,  quod  CoUe  uocatur,  cum  ecclesiis  et  suis 
appenditiis,  cappellam  sancti  Martini,  que  est  in  fundo  monasterii, 
de  qua  quinque  solidos  percipitis  annuatim,  ecclesiam  sancti  Mar- 
tialis,  salua  iustitia  plebis  Els^,  ecclesiam  sancte  Mari§  in  Monza- 
nello,  ecclesiam  sancti  Nicolai  in  Lano,  et  quicquid  habes  in  curte 
de  Castro  Stagi^ ,  ecclesiam  sancti  Laurentii  in  Cerreto,  ecclesiam 
sanctorum  loannis  et  Pauli,  ecclesiam  sancti  Cerboni  in  Cemiano, 
castrum  Falsini  cum  ecclesia,  quod  translatum  est  in  castrum  Bel- 
forte,  ecclesiam  sanct^  Mari§  in  Comacle,  possessiones,  qu^  sunt 
iuris  monasterii  in  curte  de  Vlignano;  in  episcopatu  Pistoriensi 
monasterium  sancti  Fabiani  cum  omnibus  pertinentiis  suis,  ecclesiam 
sancti  Martini  in  Sorniac,  ecclesiam  sancti  Andrej  in  Grello ;  in 
Florentino  episcopatu  ecclesiam  sancti  Laurentii  in  Sabiano,  eccle- 
siam  sanct^    Mari^   in   Curte    noua',    ecclesiam   sanct^    Martin^   in 


276  P-  Kehr, 

Ponte  Ormo;  in  episcopatu  Senensi  qnartam  partem  de  curte  de 
Siticclo ;  in  episcopatu  Grossetano  ecclesiam  sanct^  Sicntere  *),  eccle- 
siam  sancti  lacobi  et  sancti  Filippi  .  .  .,  ecclesiam  sancte  Luci^  in 
Grosseto ;  in  Suanensi  episcopatu  ecclesiam  sancti  Cipriani,  eccle- 
siam sancti  Saluatoris,  ecclesiam  sancti  Reguli  in  Malliano,  eccle- 
siam beati  Abrae  patriarche  iuxta  Marta  cum  omnibus  pertinentiis 
earum.  Decimas  etiam,  primitias  et  oblationes,  quas  felicis  recor- 
dationis  Leo  et  Alexander  pape,  predecessores  nostri,  uobis  et  mo- 
nasterio  uestro  scripti  sui  munimine  confirmarunt,  ad  exemplar  ip- 
sorum  uobis  et  ei  dem  monasterio  confirmamus.  Liceat  etiam  uobis 
in  parrochialibus  ecclesiis,  quas  tenetis,  sacerdotes  eligere  et  epi- 
scopis,  in  quorum  parrochiis  site  sunt,  presentare,  quibus,  si  ido- 
nei  fuerint,  episcopi  curam  animarum  committant;  huiusmodi  sacer- 
dotes de  plebis  quidem  cura  eis  respondeant,  uobis  autem  pro  rebus 
temporalibus  debitam  subiectionem  exhibeant.  Prohibemus  quoque, 
quod  in  Castro  de  Colle  aut  in  aliis  fundis  ipsius  monasterii  nul- 
lus  ecclesiam  uel  Oratorium  construere  uel  cimiterium  facere  abs- 
que  uestro  assensu  presumat.  Interdicimus  etiam,  ut  nee  tibi  nee 
alicui  successorum  tuorum  castrum  ipsum  de  Colle,  quod  etiam 
antiquitus  Piticcianum  uocatum  est,  fas  sit,  absque  Romani  ponti- 
ficis  licentia  dare,  uendere,  commutare  seu  quolibet  modo  ab  eo- 
dem  monasterio  alienare.  Obeunte  uero  te  nunc  eiusdem  loci  ab- 
bate  uel  tuorum  quolibet  successorum,  nullus  ibi  qualibet  subrep- 
tionis  astutia  seu  uiolentia  preponatur,  nisi  quem  fratres  communi 
consensu  uel  fratrum  pars  consilii  sanioris  secundum  Dei  timorem 
et  beati  ßenedicti  regulam  prouiderint  eligendimi.  Crisma  quoque, 
oleum  sanctum,  consecrationes  altarium,  benedictionem  abbatis  seu 
monachorum  ordinationes,  qui  ad  sacros  ordines  fuerint  promouendi, 
a  diocesano  episcopo  suscipiatis,  siquidem  catholicus  fuerit  et  abs- 
que prauitate  seu  exactione  aliqua  uoluerit  exhibere;  alioquin  ca- 
tholicum  quemeumque  malueritis  episcopum  adeatis ,  qui  nimirum 
nostra  fultus  auctoritate  quod  postulatur  indulgeat.  Sepulturam 
preterea  ipsius  loci  liberam  esse  decernimus ,  ut  quicumque  se 
illic  seppeliri  deliberauerit,  nisi  forte  excommunicati  uel  interdicti 
fuerint,  eorum  deuotioni  nullus  obsistat.  Monasterio  etiam  sancti 
Fabiani  de  Prata,  quod  uestro  monasterio  subiacet,  sepulturam 
concedimuSj  sicut  iam  hactenus  habuisse  dignoscitur,  salua  in  utro- 
que'')  iustitia  matricis  ecclesi^.  Addentes  etiam  prohibemus,  ut  nulli 
episcopo  liceat  in  uestro  monasterio  preter  abbatis  assensum  mis- 
sas  publicas   celebrare,  ne   fratrum  quieti  et   religioni  officiat   po- 


a)  sie.  b)  utraque. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  277 

pularis  accessus.  Decernimus  ergo,  ut  nulli  omnino  hominum  liceat 
prefatmn  monasterimn  aut  ecclesias  uestras  indebitis  exactionibus 
fatigare  seu  uestras  possessiones  auferre  uel  ablatas  retinere,  mi- 
nnere  aut  quibuslibet  uexationibus  perturbare "),  sed  omnia  integra 
conseruentur,  eorum,  pro  quorum  gubernatione  ac  substentatione 
concessa  sunt  usibus  omnimodis  profutura,  salua  sedis  apostolicae 
auctoritate  et  diocesanorum  episcoporum  canonica  iustitia  et  re- 
uerentia.  Si  qua  igitur  in  futurum  ecclesiastica  secularisue  per- 
sona hanc  nostram  constitutionis  paginam  scienter  contra  eam  te- 
mere  uenire  tentauerit,  secundo  tertioue  commonita,  nisi  reatum 
suum  congrua  satisfactione  correxerit,  potestatis  honorisque  sui 
careat  dignitate  reamque  se  diuino  iudicio  existere  de  perpetrata 
iniquitate  cognoscat  et  a  sacratissimo  corpore  ac  sanguine  Dei  et 
domini  redemptoris  nostri  lesu  Christi  aliena  fiat  atque  in  extremo 
exaniine  districtae  ultioni  subiaceat.  Cunctis  autem  eidem  loco 
sua  iura  seruantibus  sit  pax  domini  nostri  lesu  Christi,  quatenus 
et  hie  fructum  bone  actionis  percipiant  et  apud  districtum  iudicem 
praemia  aeternae  pacis  inueniant.     Amen.     Amen.     Amen. 

R.     Ego  Lucius  catholicQ  ecclesi^  episcopus  ss. 

Ego    Theodinus    Portuensis    et    sanctf^    Rufin§   sedis   epi- 
scopus SS. 
Ego  Henricus  Albanensis^^  episcopus  ss. 
Ego  Joannes  presb.  card.  tit.  sancti  Marci  ss. 
Ego  Petrus  presb.  card.  tit.  sancte  Susann^  ss. 
Ego  Viuianus   tit.  sancti  Stephani  in  Celio  monte  presb.  card.  ss. 
Ego   Laborans    presb.    card.    sancte   Mari^    Transtiberim   tit.    Ca- 
lixti  SS. 

Ego  lac(intus)''^  diac.  card.    sancte  Mari^   in  Cosmedin  ss. 
Ego  Ardicio  diac.  card.  sancti  [Theodori]  ss. 
Ego  Gratianus  sanctorum  Cosme  et  Damiani  diac.  card.  ss. 
Ego  Gerardus  sancti  Adriani  diac.  card.  ss. 

Dat.  Anagni^  per  manum  Alberti  sanct^  ßoman^  ecclesi^  pre- 
sbiteri  cardinalis  et  cancellarii,  Villi  kal.  decembris,  indict.  II, 
incamationis  dominic^  anno  MCLXXXIII,  pontificatus  uero  domni 
Lucii  pape  III  anno  III. 


d)  Von  hier  bis  amen  folge  ich  Morozzi's  Text.  b)  Albanus.  c)  la- 

cobus. 


KgU  Ges.  d.|Wi88.    Nachrichten.    PhUolog.-hist.  Klasse.    1908.    Heft  2.  19 


278  P-  Kehr, 


30. 


Lucius  111.  bestätigt  die  Entscheidung  Alexanders  III.  in  der 
StreitsacJie  zwischen  dem  Propst  und  den  Kanonikern  von  Prato  und 
dem  Plehan  der  Kirche  des  h.  Justus  über  die  Kappelle  des  h.  Ja- 
cobus.  Verona  1184  Juli  25. 

Kopie  im  Ms.  Concessioni  giurisdizionali  dei  sommi  pontefici  etc. 
s.  XIV  ex.  n.  6  Prato  Ar  eh.  capitolare. 

Ed.  Carlesi  Origini  di  Prato  p.  154  n.  14.  —  Vor  Urkunde  ist 
Alexanders  IIL  Privileg  von  1171  Oktober  22  J-L.  11907.  Vgl. 
Italia  pontif.  UI 140  n.  25. 

LVCIYS  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis  Plebano 
preposito  et  canonicis  Pratensibus  salntem  et  apostolicam  bene- 
dictionem.  Quemadmodum  equitatis  uigor  expostulat  et  iustitie 
integritas  persuadet,  quod  prolate'')  ad  sedem  apostolicam  contro- 
uersie  rationabili  iudicio  terminentur,  ita  quoqne  necessarium  est 
et  accommodum  rationi,  ut  postquam^^  terminate  fuerint  ac  decise, 
ne  uel  processu  temporis  dilabantur  a  memoria  posterorum  uel 
pro  instrumentorum  defectu  in  recidiue  contentionis  scrupulum 
ualeant  postmodum^)  deuenire ,.  litterarum  iidei  commendentur. 
Dignum  namque  est,  ut,  si  forte  ullo  tempore  per  calumpnantium 
insidias  aliqrdd  motum  fuerit  questionis,  secutura  posteritas  pre 
manibus  babeat  quod  requirat.  per  quod  uidelicet  aduersariorum 
calumpnias  et  questiones  excludat.  Ex  priuilegio  sane  felicis  me- 
morie  Alexandri  predecessoris  nostri  comperimus,  quod,  cum  Ro- 
landus  et  Ubaldus  concanonici  uestri  et  0.  plebanus  sancti  lusti 
pro  controuersia,  que  uertebatur  inter  uos  et  plebanum  ipsum  super 
cappella  sancti  lacobi  in  territorio  '^^  uestro  fundata,  in  eins  fuissent 
presentia  constituti,  predicti  concanonici  uestri  iudicialem  senten- 
tiam  allegarunt,  quam  sancte  recordationis  predecessor  noster  Inno- 
centius  super  ipsa  controuersia  dederat,  et  confirmationem  etiam, 
quam  pie  memorie  predecessor  noster  Eugenius  papa  fecerat,  alle- 
garunt. Plebanus  uero,  quod  eadem  cappella  in  fundo  plebis  sue 
coDstructa  fuerit,  et  quod  ad  ordinationem  suam  specialiter  perti- 
neret,  ex  sententia  maxime  bone  memorie  Attonis  quondam  Piste- 
riensis  episcopi  constantius  allegauit.  In  fundo  siquidem  ipsius 
plebis  eam  esse  constructam  recognouerunt  idem  concanonici  uestri, 
set  dixeront,  quod  esset  eadem  cappella  in  plebis  uestre  territorio*'^ 


a)  perlate.  6)  posquam;  posmodum.  c)  teritorio. 


Nachträge  zu  den   Papsturkunden  Italiens  II.  279 

sita.  Unde  predictus  A.  predecessor  noster,  rationibus  Line  inde 
anditis  et  cognitis,  sententiam  Innocentii,  sicut  a  prefato  prede- 
cessore  nostro  Eugenio  confirmata  fuerat,  de  fratrum  suorum  con- 
silio  confirmauit  et  tarn  eidem  plebano  qnam  successoribus  eins  et 
plebi  super  hoc  duxit  silentium  imponendum,  hoc  eis,  secundum 
quod  canonum  statuta  precipiunt,  reseruato,  ut  uacante  predicta 
cappella  sacerdotem  inueniant  et  uobis  representent,  qui,  si  idoneus 
fnerit,  inuestituram  cappelle  et  curam  animarum  de  manu  uestra 
recipiat  et  uobis  de  spiritualibus  obedientiam  et  reuerentiam,  sicut 
faciunt  cappellarum  uestrarum  ceteri  cappellani,  promittat  et  in 
Omnibus  deuote  exibeat;  illis  uero  de  temporalibus  debeat  respon- 
dere,  et  eadem  cappella,  quemadmodum  statutum  est,  plebi  uestre 
tamquam  matrici  ecclesie  in  omni  iure  parrochiali,  sicut  relique 
cappelle  uestre,  subiecta  permaneat.  Nos  igitur  ipsius  Alexandri 
predecessoris  nostri  uestigiis  inherentes,  conti rmationem  et  diffi- 
nitionem  eins,  sicut  in  suo  priuilegio  continetur,  ratam  habemus 
eamque  auctoritate  apostolica  confirmantes,  presentis  scripti  patro- 
cinio  communimus.  Decernimus  ergo,  ut  nulli  omnino  hominum 
liceat  hanc  paginam  nostre  confirmationis  infringere  uel  ei  ausu 
temerario  contraire.  Si  qua  igitur  in  futurum  ecclesiastica  secu- 
larisue  persona  hanc  nostre  confirmationis  paginam  sciens  contra 
eam  temere  uenire  tentauerit,  secundo  tertioue  commonita,  nisi 
presumptionem '^)  suam  digna  satisfactione  correxerit,  potestatis 
honorisque  sui  dignitate  careat  reamque  se  diuino  iudicio  existere 
de  perpetrata  iniquitate  cognoscat  et  a  sacratissimo  corpore  ac 
sanguine  Dei  et  domini  redemptoris  nostri  lesu  Christi  aliena  fiat 
atque  in  extremo  examine  districte  ultioni  subiaceat.  Cunctis*) 
autem  uobis  iusta  seruantibus  sit  pax  domini  nostri  lesu  Christi, 
quatinus  et  hie  fructum  bone  actionis  percipiant  et  apud  districtum 
iudicem  premia  eterne-^  pacis  inueniant.     Amen.     Amen.     Amen. 

R.     Ego  Lucius  catholice  ecclesie  episcopus  ss.     BY. 

t  Ego  Henricus  Albanensis  episcopus  ss. 

f  Ego  Theobaldus^^   Hostiensis  et  Velletrensis  episcopus  ss. 
f  Ego  Johannes  tit.  sancti  Marci  presb.  ca^d.  ss. 
t  Ego  Laborans   presb.   card.    sancte  Marie  Transtiberim  tit.  Ca- 

lixti  ss. 
f  Ego  Hubertus  presb.  card.  tit.  sancti  Laurentii  in  Damaso  ss. 
t  Ego  Pandulfus  presb.  card.  tit.  basilice  XII  Apostolorum  ss. 

t  Ego  Ard(icio)  sancti  Teodori  diac.  card.  ss. 

f  Ego  G-ratianus  sanctorum  Cosme  et  Damiani  diac.  card.  ss. 

d)  presuntionem.  e)  cuntis.  f)  ecterne.  g)  Leobaldus. 

19* 


280  P.  Kehr, 

f  Ego  Soffredus  sancte  Marie  in  Via  lata  diac.  card.  ss. 
f  Ego  Albinus  sancte  Marie  Noue  diac.  card.  ss 

Dat.  Yerone  per  manum  Hugonis  sancte  Romane  ecclesie  no- 
tarii,  VIII  kal.  angnsti*\  indictione  secunda,  incamationis  dominice 
anno  M^CMiXXXTIII,  pontificatus  uero  domni  Lucii  pape  III 
anno  III®. 


h)  agusti. 


31. 


TJrhan  III.  bestätigt  das  Abkommen  in  der  Streitsache  /zwischen 
dem  Propst  und  den  Kanonikern  der  Pieve  S.  Stefano  in  Prato  und 
dem  Kloster  S.  Maria  di  Grignano  über  den  Bau  einer  Kirche. 

Verona  (1186—87)  Mai  21. 

Kopie  im  Ms.  Bolle  e  indulti  pdntificii;  decreti  vescovili  s.  XVIsq, 
Prato  Arch.  capitolare. 

Ed,  Carlesi  Origini  di  Prato  p.  156  n.  15,  Vgl,  Italia  pontif, 
III 140  n.  26. 

Urbanus  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis  prepo- 
sito  et  canonicis  plebis  sancti  Stephani  de  Prato  salutem  et  apo- 
stoHcam  benedictionem.  Ea,  qu^  super  ecclesiarmn ")  litigiis  con- 
cordia  uel  iudicio  statuuntur,  firma  uolmnns  et  inconcussa  manere 
et,  ne  processu  temporis  in  recidiu^  contentionis  scrupnlum  quali- 
cmnque*^  temeritate  deueniant,  mandari  scriptur^  et  apostolic^ 
bullQ  munimine  roborari.  Intelleximus  autem  ex  quoÜam  scripto 
autentico,  quod  nobis*^  foit  ex  parte  uestra  exhibitum,  quia,  cum 
inter  uos  et  monasterium  sancte  Mari^  de  Grignano  super  fanda- 
tione  cuiusdam  ecclesi^  et  quibusdam  aliis  controuersia  uerteretur, 
ea  fuit  postmodum,  arbitris  concorditer  ab  utraque  parte  electis, 
amicabili  transactione  finita,  quam  compositionem,  sicut  rationa- 
biliter  facta  est  et  ab  utraque  parte  recepta  et  suprascripto ''^  au- 
tentico continetur,  ratam  habentes  auctoritate  apostolica  confirma- 
mus.    Nulli  igitur  etc. 

Dat.  Verone  XII  kal.  iunii. 


a)  cartarum.  h)  quali.  c)  notom.  d)  infrascripto. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  281 

33. 

Urhan  JH.  bestätigt  die  Entscheidung  Alexanders  111.  in  der 
Streitsache  zwischen  dem  Propst  und  den  Kanonikern  von  Prato  und 
dem  Pleban  der  Kirche  des  h.  J^istiis  über  die  Kapelle  des  h.  Jacohus. 

Verona  1187  Februar  26. 

Kopie  im  Ms.  Bolle  e  indidti  pontificii;  decreti  vescovili  s,  XVlsq. 
Prato  Ärch,  capitolare. 

Regg.  bei  Ughelli  ^  111 335  und  bei  Carlesi  Origini  di  Prato 
p.  166  n.  16.  —  Gan^  nach  der  Voriirhmde  Lucius'  111.  von  1184. 
Juli  25  (Nr,  30).     Vgl.  Italia  pontif.  111  141  n.  28. 

Urbanus  episcopus  semus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis  Ple- 
bano  preposito  et  canonicis  Pratensibus  salutem  et  apostolicam 
benedictionem.  Quemadmodum    eqnitatis    uigor    expostnlat    et 

institi^  integritas  persuadet,  quod  prolat^  ad  sedem  apostolicam 
controuersi^  rationabili  indicio  terminentur,  ita  quoque  necessarium 
est  et  accommodum  rationi,  ut  postquam  terminat^  faerint  ac  decisQ, 
ne  uel  processu  temporis  dilabantur  a  memoria  posterorum  uel 
pro  instrxunentorum  defectn  in  recidiu^  contentionis  scrupulum 
ualeant  postmodum  deuenire,  literamm  fidei  commendentur.  Dignum 
namque  est,  ut,  si  forte  nllo  tempore  per  calumnantium  insidias 
aliquid  motum  fuerit  questionis,  secntura  posteritas  pr^  manibus 
habeat  quod  requirat,  per  quod  uidelicet  aduersariorum  calumnias 
et  qnestiones  excludat.  Ex  prinilegiis  sane  felicis  memoria  Ale- 
xandri  et  Lucii  pape,  pr^decessorum  nostrorum,  comperimus,  quod, 
cum  Eolandus  et  Ubaldus  concanonici  uestri  et  0.  plebanus  sancti 
lusti  pro  controuersia,  qu^  uertebatur")  inter  uos  et  plebanum 
ipsum  super  cappella  sancti  lacobi  in  territorio  uestro  fundata,  in 
eins  fuissent  presentia  constituti,  predicti  concanonici  uestri  iudi- 
cialem  sententiam  allegarunt,  quam  sancte  recordationis  predecessor 
noster  Innocentius  papa  super  ipsa  controuersia  dederat,  et  confir- 
mationem  etiam,  quam  pi^  memorie  predecessor  noster  Eugenius 
papa  postmodum  fecerat,  allegarunt.  Plebanus  uero,  quod  eadem 
cappella  in  fundo  plebis  su§  constructa  fuerit,  et  quod  ad  ordina- 
tionem  suam  specialiter  pertineret,  ex  sententia  maxime  bon^  me- 
morie Attonis  quondam  Pistoriensis  episcopi  constantius^^  allegauit. 
In  fundo  siquidem  ipsius  plebis  eam  esse  constructam  recognouerunt 
iidem  canonici  uestri,   sed  dixerunt,   quod  esset   eadem  cappella  in 


a)  uertebat.  h)  constatius. 


282  P.  Kehr, 

plebis  uestr^  territorio  sita.  Unde  pr^dictus  Alexander  predecessor 
noster,  rationibus  hinc  inde  auditis  et  cognitis,  sententiam  Inno- 
centii,  sicut  a  prefato  predecessore  nostro  Eugenio  confirmata  fu- 
erat,  de  fratrum  suorum  consilio  confirmauit  et  tarn  eidem  plebano 
quam  successoribus  eius  et  plebi  super  hoc  duxit  silentium  impo- 
nendum,  hoc  eis,  secundum  quod  canonum  statuta  pr^cipiunt,  re- 
seruato,  ut  uacante  predicta  cappella  sacerdotem  inueniant^^  et 
uobis  representent,  qui,  si  idoneus  fuerit,  inuestituram  cappelle  et 
curam  animarum  de  manu  uestra  recipiat  et  uobis  de  spiritualibus 
obedientiam  et  reuerentiam,  sicut  faciunt  cappellarum  uestrarum 
cfteri  cappellani,  promittat  et  in  omnibus  deuote  exibeat;  Ulis 
uero  de  temporalibus  debeat  respondere  et  eadem  cappella,  quem- 
admodum  statutum  est,  plebi  uestr^  tamquam  matrici  ecclesi^  in 
omni  iure  parrochiali,  sicut  reliqu^  cappell?  uestr^,  subiecta  per- 
maneat.  Nos  itaque  ipsorum  Alexandri  et  Lucii  pr^decessorum 
nostrorum  uestigiis  inherentes,  confirmationem  et  diffinitionem 
ipsam,  sicut  in  eorum  priuilegiis*')  continetur,  ratam  habemus  eam- 
que  auctoritate  apostolica  confirmantes,  presentis  scripti  patrocinio 
communimus.  Decernimus  ergo  etc.  Si  qua  igitur  etc.  Cunctis 
autem  etc. 

R.     Ego  Urbanus  cathoKc^  ecclesie  episcopus  ss.  "^ 
Sequuntur  suhscriptiones  cardinalmm. 

Dat.  Verona  per  manum  Alberti  sancte  Roman^  ecclesie  pre- 
sbiteri  cardinalis  et  cancellarii,  quarto  kal.  martii,  indictione^^  quinta, 
incamationis  dominic^  anno  M^.C^LXXX^.VI^,  pontificatus  uero 
domni  Urbani  pap^  tertii  anno  secundo. 


c)  inueniat.  d)  priuilegio.  e)  ss.  fehlt.  f)  inditione. 


33. 

Urhan  III.  bestätigt  dem  Bischof  Hildebrand  von  Volterra  nach 
dem  Vorgänge  Innocenz'  IL  und  Alexanders  III.  die  Besitzungen, 
die  Kirchen  und  die  Grenzen  des  Bistums. 

Verona  1187  September  21. 

Orig.   Volterra  Arch.  vescovile. 

Die  Urkunde  ist  oft  cUiert  (vgl.  J.  9973.  J-L.  16002).  Den 
vollen  Text  verdanke  ich  der  Güte  des  Kanonikus  Mariani  in  Vol- 
terra.    Vgl.  Italia  pontif  III  286  n.  29. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  283 

Urbanus  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Yenerabili  fratri 
Hildebrando  Vulterrano  episcopo  eiusque  successoribus  canonice 
substituendis  in  perpetuum.  Cum  omnibus  ecclesiis  et  personis 

ecclesiasticis  debitores  ex  apostolice  sedis  auctoritate  ac  beniuo- 
lentia  existere  debeamus,  illis  tarnen  personis,  que  beato  Petro  et 
sancte  Romane  ecclesie  specialius  adherere  noscuntur,  propensiori 
nos  connenit  affectionis  studio  prouidere  et  ecclesiis  sibi  a  Deo 
commissis  suam  iusticiam  conseruare.  Eapropter,  uenerabilis  in 
Christo  Hildebrande  frater  episcope,  tuis  iustis  postulationibus 
clementer  annuimus  et  predecessoris  nostri  felicis  memorie  Inno- 
centii  et  Alexandri  Romanorum  pontificum  uestigiis  inherentes, 
ecclesiam  Yulterranam,  in  qua  auctore  Deo  preesse  dinosceris,  sub 
beati  Petri  et  nostra  protectione  suscipimus  et  presentis  scripti 
priuilegio  communimus.  Statuentes,  ut  quascunque  possessiones, 
quecunque  bona  in  monasteriis,  ecclesiis,  castris,  uiljis,  siluis,  ui- 
neis,  terris  cultis  et  incultis,  domibus  seu  aliis  rebus  eadem  Yul- 
terrana  ecclesia  in  presentiarum  iuste  et  canonice  possidet  aut  in 
futurum  concessione  pontificum,  largitione  regum  uel  principum, 
oblatione  fidelium  seu  aliis  iustis  modis  prestante  Domino  poterit 
adipisci,  firma  tibi  tuisque  successoribus  et  illibata  permaneant. 
In  quibus  hec  propriis  duximus  exprimenda  uocabulis :  cenobium 
scilicet  sancti  lusti,  monasterium  de  Cerreto,  monasterium  de  Pu, 
liciano  cum  ecclesia  sancti  Mariani,  Muccbium,  Spongiam,  Coneum, 
Serenam,  Masium,  Sarium,  ecclesiam  sancti  Dalmatii,  ecclesiam  sancte 
Marie  de  Monte  Scudario,  Corniam,  Morronam,  monasterium  sancti 
Cassiani  in  Carisio,  plebem  sancti  Greminiani  et  capellam  sancti  Ste- 
phani,  plebem  de  Nera,  plebem  Montis  Vultrarii,  plebem  sancti  Yppo- 
liti,  plebem  de  castello  Scodepernine,  plebem  sancti  lusti,  plebem  de 
Molli,  de  Monte,  de  Tocle,  de  Multiciano,  de  Lugriano,  de  Cluslino, 
plebem  sancti  Pauli,  de  Lame,  de  Yto,  de  Sorsciano,  ecclesiam  Montis 
Scalocchi,  de  Monte  Donico,  de  Casula,  de  Publico,  de  Morba,  de 
Comessano,  de  Lustiniano,  de  Micciano,  de  Silano,  de  Querceto,  de 
Caselle,  de  Yslaito,  de  Casale  lustuli,  de  Paratino,  de  Casallia, 
de  Strido,  de  Paterno,  de  Riuo  alto,  capellam  de  Rocha,  plebem 
de  Paua,  de  Urciatico,  de  Gabreto,  de  Fabrica,  de  Pezzola,  de 
Pino,  de  Yillamagna,  de  Rignano,  de  Toiano,  de  Coiano,  de  sancto 
Regulo,  de  Clanne,  ecclesiam  sancti  Yictoris,  plebem  de  Piscignano 
et  de  CoUe.  Quas  nimirum  plebes  cum  capellis  et  rebus  ad  ipsas 
pertinentibus ,  quemadmodum  Yulterrane  ecclesie  iuris  esse  no- 
scuntur ,  tibi  tuisque  successoribus  confirmamus.  Insuper  etiam 
confirmamus  tibi  et  successoribus  tuis  Casalliam  de  ualle  Else, 
Monte  Grabrum,   Rucignanum  cum  tota  curia  sua,   Montem  Castel- 


284  P-  Kehr, 

lum,  medietatem  Agnani.  Nichilominus  confirmamus  tibi  tuisque 
successoribus  ciuitatem  VTilterranam  cum  pertinentiis  suis,  Montem 
Vultrarium,  sanctum  Geminianum,  Ulignanum,  Pulicianum,  Cati- 
gnanum,  Gambassum,  Colle  Musculi,  Montem  acutum  cum  capella 
intus  posita,  Casulam,  Mentianum,  Montem  Alcinum,  Frosinam^ 
Cluslinum,  Monterium,  Fosinam,  Saxum,  Montem  Cerbuli  et  quic- 
quid  iuste  possidetis  in  locis  inferius  positis,  uidelicet  Gerfalc, 
Trauali,  Stagia,  Castilione,  Montecastelli,  Licia,  Silano,  Rignanum. 
Villam,  Sarazano,  Libiano,  Micciano,  Bibone,  Casalliam,  Gellum, 
Gabretum,  Lanera,  Lemele.  Termini  autem  ipsius  episcopatus  bis 
finibus  distinguntur:  ab  Elsa  usque  ad  mare  et  a  termino,  qui  est 
iuxta  Siticchium,  et  ab  alio,  qui  est  prope  Sofficillum,  et  ab  alio, 
qui  est  prope  Tocchi  et  Sancta,  sicut  erat  usque  ad  sanctum  Cas- 
sianum  in  Carisi.  Adicimus  etiam,  ut  in  ecclesiis,  in  quibus  ius 
optines  patronatus,  contra  rationabilem  consuetudinem  absque  con- 
scientia  tua  nullus  eligi  debeat  in  prelatum,  neque  in  episcopatu 
tue  sine  tua  uel  tui  catholici  successoris  assensu  de  nouo  ecclesia 
seu  Oratorium  fabricetur,  priuilegiis  dilectis  filiis  nostris  Hospi- 
talariis  et  Templariis  ab  apostolica  sede  indultis  suam  obtinentibus 
firmitatem.  Decemimus  ergo,  ut  nulli  omnino  hominum  liceat  pre- 
fatam  ecclesiam  temere  perturbare  aut  eius  possessiones  auferre 
uel  ablatas  retinere,  minuere  seu  quibuslibet  uexationibus  fatigare, 
sed  omnia  integra  conseruentur,  eorum,  pro  quorum  gubematione 
ac  sustentatione  concessa  sunt,  usibus  omnimodis  profutura,  salua 
sedis  apostolice  auctoritate.  Si  qua  igitur  in  futurum  ecclesiastica 
secularisue  persona  hanc  nostre  constitutionis  paginam  sciens  contra 
eam  temere  uenire  temptauerit,  secundo  tertioue  commonita,  nisi 
reatum  suum  congrua  satisfactione  correxerit,  potestatis  honorisque 
sui  dignitate  careat  reamque  se  diuino  iudicio  existere  de  perpe- 
trata  iniquitate  cognoscat  et  a  sacratissimo  corpore  ac  sanguine 
Dei  et  domini  redemptoris  nostri  lesu  Christi  aliena  fiat  atque  in 
extremo  examine  diuine  ultioni  subiaceat.  Cunctis  autem  eidem 
loco  sua  iura  seruantibus  sit  pax  domini  nostri  lesu  Christi,  qua- 
tenus  et  hie  fructmn  bone  actionis  percipiant  et  apud  districtum 
iudicem  premia  eteme  pacis  inueniant.  Amen.  Amen.  Amen. 
R.     Ego  Urbanus  catbolice  ecclesie  episcopus  ss.     BV. 

f  Ego  Henricus  Albanensis  episcopus  ss. 

t  Ego  Paulus  Prenestinus  episcopus  ss. 

t  Ego  Theobaldus  Hostiensis  et  Velletrensis  episcopus  ss. 
I  Ego  Petrus  de  Bono  presbiter  cardinalis  tit.  sanote  Susanne  ss. 
I  Ego  Laborans  presbiter  cardinalis  sancte  Marie  Transtiberim  tit. 
Calixti  ss. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  285 

-j-  Ego  Melior  presbiter  cardinalis  sanctorum  lohannis  et  Pauli  tit. 

Pamachii  ss. 
t  Ego^Adelardus  tit.  sancti  Marcelli  presbiter  cardinalis  ss. 

f  Ego  lac(intus)   sancte  Marie  in  Cosmidyn   diaconiis  cardi- 
nalis SS. 

t  Ego    Grratiamis    diaconus   cardinalis    sanctorum   Cosme   et 
Damiani  ss. 

f  Ego  Octauianus   sanctorum  Sergii  et  Bacbi   diaconus  car- 
dinalis SS. 

f  Ego  Eollandus   sancte   Marie  in   Porticu   diaconus   cardi- 
nalis SS. 

f  Ego  Petrus    sancti   Nicolai  in   carcere   Tulliano   diaconus 
cardinalis  ss. 

f  Ego  Radulfus   sancti  Georgii   ad  Velum   aureum  diaconus 
cardinalis  ss. 

Dat.  Yeron.  per  manum  Alberti  [sancte  Romane  ecclesie  pre- 
sbyteri  cajrdinalis  et  cancellarii,  XI™*>  kal.  octobr.,  indictione  sexta, 
incarnationis  dominice  anno  M^.C^.LXXXVII"'*' ,  pontificatus  uero 
domni  Urbani  pape  III  anno  secundo. 

ß. 


34. 

Clemens  III.  nimmt  die  Kirche  S.  Niccolö  dt  Montieri  unter  dem 
Prior  Suauizo  in  den  päpstlichen  Schidz  und  bestätigt  die  Besitzungen, 

Pisa  1188  Januar  20. 

Siena  Bihl.  comunale  cod,  C  IV  3  f.  87 :  Kopie  von  der  Hand 
JBenvoglientis,  nach  dessen  Angabe  sich  das  Original  damals  im  Besitz 
des  Colonello  Citerni  befand.  J-L.  16138  nach  v.  Pfhtgk-Harttung  Iter 
p.  313  n.  864.     Vgl.  Itcdia  pontif.  III  297  n.  5. 

Clemens  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis  Suauizo 
priori  ecclesie  sancti  Nicholai  de  Monterio  eiusque  fratribus  tarn 
presentibus  quam  futuris  canonice  instituendis  in  perpetuum. 
Quotiens  a  nobis  petitur,  quod  religioni  et  honestati  conuenire  ui- 
detur,  animo  nos  decet  libenti  concedere  et  petentium  desideriis 
apostolicum  sufFragium  impertiri.  Eapropter,  dilecti  in  Domino 
filii,  uestris  iustis  postulationibus  clementer  annuimus  et  ecclesiam 
beati  Nicholai,  in  qua  diuino  estis  obsequio  mancipati,  predecessorum 
nostrorum  sanct^  recordationis  patris  et  predecessoris  nostri  Eu- 
genii,    Anastasii,   Adriani    et   Alexandri    Romanorum    pontificum 


286  P-  Kehr, 

uestigiis  inherentes,  sub  beati  Petri  et  nostra  protectione  snscipi- 
mus  et  prqsentis  scripti  priuilegio  communimus.  Statuentes ,  ut 
quascmnque  possessiones,  quecumque  bona  eadem  ecclesia  in  presen- 
tiarum  iuste  et  canonice  possidet  aut  in  futurum  concessione  pon- 
tificum ,  largitione  regum  uel  principum .  oblatione  fidelimn  seu 
aliis  iustis  modis  prestante  Domino  poterit  adipisci,  firma  uobis 
Tiestrisque  successoribus  et  inlibata  permaneant.  In  quibus  h^c 
propriis  duximus  exprimenda  uocabulis :  apud  Trauale  capellam 
sancti  Michaelis  et  capellam  sancti  Siluestri  cum  pertinentiis  suis, 
capellam  sancti  Michaelis  de  Bolago  cum  pertinentiis  suis,  capellam 
sancti  Nicholai  de  Viniali  cum  pertinentiis  suis,  capellam  sancti 
Andree  de  Rocca  cum  pertinentiis  suis,  quicquid  contingit  uos  de 
Castro  Girfalci  in  curte  et  in  omnibus,  quae  sub  terra  uel  super 
terram  sunt  ex  dono  Ranieri  comitis,  medietatem  quoque  deci- 
marum  eiusdem  loci,  quam  bone  memoria  Rogerius  quondam  Vul- 
terranus  episcopus  pia  uobis  donatione  concessit  scriptique  sui 
munimine  et  assertione  firmauit,  terras  quoque  et  uineas,  quas 
habetis  apud  sanctum  Geminianum,  terras  item  et  uineas,  quas 
habetis  apud  Senam.  Prohibemus  etiam,  ne  ulli  episcopo  liceat 
eamdem  ecclesiam  illicitis  exactionibus  aggrauare.  Decernimus 
ergo,  ut  nulli  omnino  hominum  liceat  prefatam  ecclesiam  temere 
perturbare  aut  eins  possessiones  auferre  uel  ablatas  retinere,  min- 
uere  seu  quibuslibet  uexationibus  f atigare,  sed")  illibata  et  integra 
conseruentur,  eorum,  pro  quorum  gubernatione  ac  sustentatione 
concessa  sunt,  usibus  omnimodis  profutura,  salua  sedis  apostolice 
auctoritate  et  diocesani  episcopi  canonica  iustitia.  Ad  indicium 
autem  hnius  a  sede  apostolica  percept§  protectionis  uos  uestrique 
successores  nobis  nostrisque  successoribus  aureum  unum  annis  sin- 
gulis  persoluetis.  Si  qua  igitur  in  futurum  ecclesiastica  secularisue 
persona  hanc  nostre  constitutionis  paginam  sciens  contra  eam  te- 
mere uenire  temptauerit,  secundo  tertioue  commonita,  nisi  presum- 
tionem  suam  congrua  satisf actione  correxerit,  potestatis  honoris que 
8ui  dignitate  careat  reamque  se  diuino  iudicio  existere  de  perpe- 
trata  iniquitate  cognoscat  atque  a  sacratissimo  corpore  ac  sanguine 
Dei  et  domini  redemptoris  nostri  lesu  Christi  aliena  fiat  atque  in 
extremo  examine  diuine  ultioni  subiaceat.  Cunctis  autem  eidem 
loco  sua  iura  seruantibus  sit  pax  domini  nostri  lesu  Christi,  qua- 
tinus  et  hie  fructum  bone  actionis  percipiant  et  apud  districtum 
iudicem  premia  eteme  pacis  inueniant.     Amen,    Amen.     Amen. 


a)  sed  fehlt. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  287 

R.     Ego  Clemens  catholice  ecclesie  episcopus  ss.^^ 

f  Ego  Theobaldus  Hostiensis   et  Velletrensis  episcopus  ss.  ^> 
f  Ego  Laborans   presb.  card.    sancte  Marie^  Transtiberim   tit.  "^  Ca- 

lixti  ss.  ^) 
-j-  Ego  Melior   presb.   card.   sanctorum  lohannis   et   Pauli   tit.   Pa- 
macbii  ss.  *^ 

f  Ego  lacinctus  sancte  Marie  in  Cosmidin  diac.  card.  ss. 

f  Ego  Gratianus  sanctorum  Cosme  et  Damiani  diac.  card.  ss. 

f  Ego  Octauianus  sanctorum  Sergii  et  Baccbi  diac.  card.  ss. 

f  Ego  Petrus  sancti  Nicholai  in  carcere  Tulliano  diac.  card.  ss. 

f  Ego  ßadulfus  sancti  Georgii  ad  Velum^^  aureum  diac.card.  ss. 

Datum  Pisis  per  manum  Moisis  Lateranensis  canonici  uicem 
agentis  cancellarii,  XIII  kal.  februarii,  indictione  VI,  incarnationis 
dominice  anno  MCLXXXVII,  pontificatus  uero  domini  Clementis 
anno  primo. 


h)  SS.  fehlt.  c)  titulo.  d)  Vellura. 

35. 

Clemens  III.  bestätigt  dem  Bistum  Arezzo  unter  dem  Bischof 
Amedeus  nach  dem  Vorgange  Paschais  II.  und  Iladrians  IV.  die 
Besitzungen  und  Bechte.  (1188  März  21). 

Kopie   s.  XIII   in.    Florenz  Ar  eh.   di   stato  (Camaldoli   s.  XII 

n.  8). 

Die  Kopie  ist  unvollständig.  Von  den  Vorurhunden  ist  die  Pa- 
schals  II.  J-L.  6477  erhalten^  die  Hadrians  IV.  aber  verloren.  Dieses 
und  ein  ebenfalls  verlorenes  Privileg  Celestins  III.  tviederholte  Inno- 
cenz  IIL  1198  März  16.  Die  Datierung  1188  März  21  fand  U. 
Pasqui  in  einem  Katalog  von  1535.  —  Vgl.  Itcdia  pontificia  III  156 
n.  49. 

Clemens  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Venerabili  fratri 
Amedeo  Aretino  episcopo  eiusque"^  successoribus  *).  In  eminenti 
apostolice  sedis  disponente  Domino  specula  constituti  etc.  Eapropter, 
uenerabilis  in  Christo  frater  Amadee  episcope,  rationabilibus  tuis 
postulationibus  gratum  impertimur  consensum  et  Aretinam  eccle- 
siam,  in  qua  beati  martyris  Donati  sacrosanctum*^)  corpus^)  requie- 


ä)  suisque.  b)  zu  ergänzen  etwa  canonice  substituendis  in  perpetuum. 

<j)  sacrasanctum.  d)  corpus  fehlt 


288  P-  Kehr, 

scere  creditnr,  cui  Deo  auctore  preesse  dinosceris ,  ad  exemplar 
predecessorum  nostrorum  Pascalis  pape  secundi  et  Adriani  pape  IIII*) 
sub  beati  Petri  et  nostra  protectione  suscipimus  et  apostolice  sedis 
priuilegio  communimus.  Statuentes ,  ut  quascuinque  possessiones, 
quecmnque  bona  eadem  ecclesia  impresentiarum  iuste-''^  et  canonice 
possidet  aut  in  futurum  concessione  pontificum,  largitione  regum 
seu  aliis  iustis  modis  prestante  Domino  poterit  adipisei,  firma  tibi 
tuisque  successoribus  et  illibata  permaneant.  In  quibus  hec  pro- 
priis  duximus  exprimenda  uocabulis:  monasterium  saneti  Saluatoris 
Camaldulensis ,  monasterium  de  Pratalia ,  monasterium  de  Rota, 
monasterium  Berardingorum^^,  monasterium  Siluemunde  etc,  et 
omnes  ecclesias,  quas  dicta  monasteria  possident*)  in  diocesi  Are- 
tina.  In  uniuersa  igitur  Aretini  episcopatus  parrochia  episcopalis 
officii  debita  exhibenda  uobis  et  exigenda  concedimus,  ut  in  eccle- 
siis  seu  monasteriis  correctiones  seu  dispositiones  iuxta*)  mode- 
ramen  canonice  sanetionis  et  regularis  institutionis  exhibeatis. 
Prohibemus  quoque,  ne  uUi  fas  sit  intra  diocesim  Aretine  ecclesie 
ecclesiam  seu  Oratorium  sine  tuo  uel  successorum  tuorum  assensu 
de  nouo  construere,  saluis  priuilegiis  apostolice  sedis.  Decernimus*) 
ergo,  ut  nulli  omnino  hominum  liceat  prefatam  ecclesiam  temere 
perturbare  uel  eius'^  possessiones  auferre  uel  ablatas  retinere, 
minuere  seu  quibuslibet  uexationibus  f atigare,  salua  in  omnibus 
sedis  apostolice  auctoritate. 


e)  HI.  /■)  iuste  impresentiarum.  g)  Berendigorum.  K)  possedent. 

i)  iusta.  Ti)  decernibus.  l)  eas. 


36. 

Clemens  III.  nimmt  die  Kirclie  von  Sovana  unter  dem,  Prior 
Bainer  in  den  apostolischen  Schutz,  bestätigt  ihr  die  Besitzungen^ 
und  verbietet  dem  Bischof  von  Sovana  und  seinen  Nachfolgern,  ohne 
offenkundigen  und  triftigen  Grund  die  Kirche  und  die  Kleriker  zu 
exkommunizieren  oder  mit  dem  Interdikt  zu  belegen, 

Lateran  1188  April  5, 

Orig.  Siena  Ärchivio  di  stato  (Riformagioni  Balzana). 

Vgl.  Italia  pontif.  III 354  n.  2. 

CLEMENS  EPISCOPVS  SERVVS  SERVORVM  DEL  DILECTIS 
FILIIS  RANERIO  PRIORI  SOANENSIS  ECCLESIE  EIVSQVE  FRA- 
TRIBVS  TAM  PRESENTIBVS  QVAM  FVTVRIS  CANONICE  SVB- 
STITVENDIS  IN  PERPETVVM.  |     Monet   nos  apostolice  sedis,   cui 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  IL  289 

licet  immeriti  deseruimus,  auctoritas,  pro  statu  omnium  ecclesiarum 
pronida  circmnspectione  satagere  et,  ne  malignorum  rapinis  uel  mole- 
stiis  exponantur,  apostolicum  ipsis  patrocinium  impertiri.  Eapropter,  | 
dilecti  in  Domino  filii,  uestris  iustis  postulationibus  clementer  annui- 
mus  et  prefatam  Soanensem  ecclesiam,  in  qua  diuino  estis  obsequio 
mancipati,  sub  beati  Petri  et  nostra  protectione  suscipimus  et  presentis 
scripti  priuüegio  |  communimus.  Statuentes,  ut  quascumque  possessi- 
ones,  quecumque  bona  eadem  ecclesia  in  presentiarum  iuste  et  cano- 
nice  possidet  aut  in  futurum  concessione  pontificum,  largitione  regum 
uel  principum,  oblatione  fidelium  seu  aliis  iustis  |  modis  prestante 
Domino  poterit  adipisci,  firma  uobis  uestrisque  successoribus  et 
illibata  permaneant.  In  quibus  hec  propriis  duximus  eiq)rimenda 
uocabulis:  locum  ipsum,  in  quo  prefata  ecclesia  sita  est,  cum  Om- 
nibus pertinentiis  suis,  plebem  Soanensem  |  cum  omnibus  pertinen- 
tiis  et  redditibus  suis  tam  in  decünis  quam  in  aliis,  ecclesiam 
sancte  Christine,  que  est  iuxta  ciuitatem,  molendina  de  Calesina, 
molendinum  Ariminis  fluminis,  uineam  de  Altaiola,  et  quicquid  in 
ciuitate  uel  extra  habetis,  plebem  in  Pitiliano  sitam  cum  terris,  | 
uineis,  decimis  et  redditibus  omnibus  et  pertinentiis  suis,  et  decimas 
eiusdem  castri,  terras,  quas  dedit  uobis  Iffo  pro  anima  sua,  terras, 
quas  dedit  uobis  Gaidolfus  in  Baranello  et  Olliano,  terras,  quas 
dedit  uobis  Gotifredus  citra  Calesinam  fluuium,  terras,  |  quas  dedit 
uobis  Anseimus  Rainerii,  terras,  quas  dedit  uobis  Bonizo  in  Supano, 
terras,  quas  dedit  uobis  Eurardus  notarius,  terram,  quam  dioce- 
sani  episcopi  iuxta  eandem  ciuitatem  uestre  ecclesie  concesserant, 
ecclesiam  sancti  Martini  in  Coronzano  cum  omnibus  pertinentiis  | 
et  redditibus  suis,  ecclesiam  sancti  Georgii  in  Perticie  sitam  cum 
omnibus  pertinentiis  suis,  possessiones,  quas  Gezo  pater  lohannis 
episcopi  cum  una  domo  in  ciuitate  dedit  ecclesie  uestre,  duos 
mansos  in  Ilci,  uineam  et  terram  in  Piano  Soanensi,  ecclesiam 
sancte  Crucis  de  |  Meleto  cum  omnibus  pertinentiis  et  redditibus 
suis,  et  quicquid  habetis  in  plebeio  de  Corano,  ecclesiam  sancte 
Crucis  de  Monte  Ventozo  ^)  cum  omnibus  pertinentiis  et  redditibus 
suis,  arcem  Tedulam  cum  ecclesia  et  omnibus  pertinentiis  et  reddi- 
tibus suis  I  tam  iu  decimis  quam  in  aliis,  ecclesiam  sancte  Crucis 
de  sancto  Prognano  cum  omnibus  pertinentiis  et  redditibus  suis, 
et  quicquid  habetis  in  eodem  Castro,  tertiam  partem  castri  Montis 
Marani,  quicquid  habetis  in  ecclesia  sancti  Laurentii  |  eiusdem 
castri,  et  quicquid  habetis  in  ecclesia  sancti  Blasii,  ecclesiam  sancte 
Barbare  cum  omnibus,  que  in  Castro  et  extra  castrum  habetis  tam 


1)  Monte-Vitozzo,  vgl.  Eepetti  Dizionario  III  557. 


290  ^-  Ke^^' 

in  ecclesiis  quam  in  omnibus  aliis  possessionibus  et  decimis  et  red- 
ditibus  suis,  bospitale  de  balneo  Su|anensi  cum  omnibus  pertinen- 
tiis  suis,  plebem  de  Monte  Paonis  cam  capella  et  omnibus  perti- 
nentiis  et  redditibus  suis  et  eiusdem  castri  decimas,  decimas  de 
Vicerano,  decimas  de  Monte  Orzari,  et  quidquid  habetis  in  plebe 
et  capella  eiusdem  castri  |  et  in  omnibus  pertinentiis  de  curte 
Montis  Paonis,  ecclesiam  sancti  Martini  de  Malliano  cum  omnibus 
pertinentiis  et  redditibus  suis,  tres  albergarias  in  ecclesia  sancti 
Saluatoris  de  Malliano  cum  omni  iure,  quod  ibidem  habetis,  plebem 
de  Tricosto  |  cum  capella  et  omnibus  pertinentiis  et  redditibus  suis 
tarn  in  decimis  quam  in  aliis  et  quicquid  in  Castro  et  extra  habetis, 
ecclesiam  sancti  Sixti  in  campo  Albignano  cum  omnibus  pertinen- 
tiis suis,  ecclesiam  sancti  Saluatoris  de  Massiliano  cum  omnibus  | 
pertinentiis  et  redditibus  suis,  ecclesiam  sancti  Andree  de  Manzi- 
ano  cum  pertinentiis  suis  et  ecclesiam  sancti  Angeli  iuxta  idem 
castrum  cum  pertinentiis  suis,  et  quicquid  infra  et  extra  castrum 
habetis,  plebem  de  Saturnia  cum  omnibus  pertinentiis  suis,  mo- 
lendi|num  de  balneo  Suanensi ,  piscariam ,  quam  habetis  apnd 
Orbetellum,  molendinum  in  aqua  predicti  balnei,  quod  dedit  uobis 
Dosiuna  de  Monte  Morilli  et  possessiones  alias  pro  anima  sua  et 
uiri  sui  et  filiorum  et  parentum  suorum  in  Soana,  in  Piano  Soa- 
nensi,  in  Monte  Marano,  |  in  Genesta  et  aliis  locis,  et  quicquid 
habetis  in  Piano  Soanensi  et  in  plebeio  eiusdem  Plani  et  in  Atri- 
ana, in  Catabio,  in  ualle  Pratali,  in  Camplano,  in  Contenzosa,  in 
Casale,  in  Bovecano,  in  ripa  G-rondinaria,  in  Celasano,  in  Genesta 
et  in  Scanzano  |  et  in  plebeio  de  Ballatori,  et  quicquid  in  aliis 
locis  habetis.  Antiquas  quoque  et  rationabiles  consuetudines  et 
libertates,  quas  hactenus  habuistis  tarn  in  electione  clericorum 
quam  in  aliis,  ratas  habemus,  easque  perpetuis  temporibus  |  illi- 
batas  permanere  censemus.  Interdicimus  etiam ,  ut  non  liceat 
Suanensi  episcopo  eiusque  successoribus  in  uos  uel  ecclesias  aut 
clericos  seu  deuotos  uestros  excommunicationis,  suspensionis  aut 
interdicti  sententiam  sine  |  manifesta  et  rationabili  causa  proferre. 
Decernimus  ergo,  ut  nulli  omnino  hominum  liceat  prefatam  eccle- 
siam temere  perturbare  aut  eius  possessiones  auferre  uel  ablatas 
retinere,  |  minuere  seu  quibuslibet  uexationibus  fatigare,  sed  omnia 
integra  illibataque  seruentur ,  eorum,  pro  quorum  gubematione 
ac  sustentatione  concessa  sunt,  usibus  omnimodis  profutura,  salua 
sedis  apostolice  |  auctoritate  et  diocesani  episcopi  canonica  iustitia. 
Si  qua  igitur  in  futurum  ecclesiastica  secularisue  persona  hanc 
nostre  constitutionis  paginara  sciens  contra  eam  temere  uenire 
temptauerit,  ]  secundo   tertioue  commonita,  nisi  reatum   suum  con- 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  IL  291 

grua  satisfactione  correxerit,  potestatis  honorisque  sui  careat  digni- 
tate  reamque  se  diuino  iudicio  existere  de  perpetrata  iniquitate 
cognoscat  et  a  sacratissi;ino  corpore  ac  sanguine  Dei  et  domini 
redemptoris  nostri  lesu  Christi  aliena  fiat  atque  in  extremo  exa- 
mine  districte  ultioni  siibiaceat.  Cunetis  autem  eidem  loco  sna 
iura  seruantibus  sit  pax  domini  nostri  lesu  Christi,  |  quatinus  et 
hie  fruetum  bone  actionis  percipiant  et  apud  districtum  iudicem 
premia  eterne  pacis  inueniant.     AMEN.     AMEN.     AMEN.  | 

E.     Ego  Clemens  catholice  ecclesie  episcopus  ss.     BV. 
f  Ego  Theobaldus  Hostiensis  et  Yelletrensis  episcopus  ss. 
[f]  Ego  lohannes  presb.  card.  tit.  sancti  Marci  ss. 
[t]  Ego  Laborans  presb.  card.  sancte  Marie  Transtiberim  [tit.]"^ 

Calixti  ss. 
f  Ego  Albinus  tit.  sancte  Crucis  in  Jerusalem  presb.  card.  ss. 
f  Ego  Melior   presb.    card.    sanctorum  lohannis   et  Pauli   tit.    Pa- 

machii  ss. 
f  Ego  Petrus  presb.  card.  tit.  sancte  Cecilie  ss. 

f  Ego  Petrus  tit.  sancti  Clementis  presb.  card.  ss. 
t  Ego  Rodulfus  tit.  sancte  Praxedis  presb.  card.  ss. 
f  Ego  Alexius  tit.  sancte  Susanne  presb.  card.  ss. 

f  Ego  Petrus  presb.  card.  tit.  sancti  Petri  ad  Vincula  ss. 

f  Ego  lacinctus  diac.  card.  sancte  Marie  in  Cosmydyn  ss. 
t  Ego  Gratianus  sanctorum  Cosme  et  Damiani  diac.  card.  ss. 
f  Ego  Oct(auianus)  sanctorum  Sergii  et  Bachi  diac.  card.  ss. 
f  Ego  Soffredus  sancte  Marie  in  Via  lata  diac.  card.  ss. 
f  Ego  Bobo  sancti  Greorgii  ad  Velum  aureum  diac.  card.  ss. 

f  Ego    lohannes   Felix    diac.    card.    sancti  Eustachii    iuxta 

templum  Agrippe  ss. 
t  Ego  lohannes  sancti  Theodori  diac.  card.  ss. 
f  Ego  Bernardus  sancte  Marie  Nou^  diac.  card.  ss. 
f  Ego  Grregorius  sancte  Marie  in  Aquiro  diac.  card.  ss. 

Dat.  Lateran,  per  manum  Moysi  sancte  Romane  ecclesie  sub- 
diaconi  uicem  agentis  cancellarii,  non.  aprilis,  indictione  sexta,  in- 
carnationis  dominice  anno  M^.C^.LXXXVIII^,  pontificatus  uero  do- 
mini CLEMENTIS  pape  III  anno  primo. 

B.  dep. 

a)  Der  Schreiber  vergaß  tit.,  setzte  aber  die  Abkürzungszeichen  darüber. 


292  !*•  Kehr, 

87. 

Clemens   III.   nimmt   den    Ärchipresbyter   Emnanus   von    Civita 
Castellana   in   den  apostolischen   Schutz  und  verleiht  ihm  das  RecJU 
an  den  apostolischen  Stuhl  zu  appellieren. 
•  Lateran  1189  September  13. 

Summarium  a,  1759  feb.  1  mim.  XIV:  Restrictus  facti  et  iuris 
(de  Ute  inter  capitulum  Civitatis  Castellanae  et  capitulum  Hortae). 
(Eomae  typis  Bernabo  1759), 

Die  üeberlieferung  von  Civita  Castellana  ist  bekanntlich  ganz  zu 
Grunde  gegangen;  vgl.  Itdlia  pontif.  II  184 sq.  Besser  steht  es  mit 
der  Üeberlieferung  des  benachbarten  Orte,  mit  dessen  Diözese  Civita 
Castellana  durch  Eugen  IV.  1437  vereinigt  wurde,  was  zu  einer 
großen  Fehde  über  die  Präcedenz  zwischen  den  Kapiteln  der  beiden 
Katliedralkirchen  Anlaß  gab.  Aus  diesem  Frozeß  stammt  die  oben 
angeführte  Prozeßschrift  von  1759,  der  wir  die  einzige  ältere  Papst- 
urkunde  für  Civita  Castellana  verdanken.  Unser  Gönner  Comm. 
Giocondo  Pasquinangeli  hat  das  Original  Clemens'  III.  an  Ort  und 
Stelle  vergeblich  gesucht. 

Clemens  episcopus  seruns  semorum  Dei.  Dilecto  filio  Romano 
archipresbytero  Cinitatis  Castellanae  salutem  et  apostolicam  bene- 
dictionem.  Sacrosancta  Eomana  ecclesia  deuotos  et  humiles  filios 
ex  assuetae  pietatis  officio  propensius  diligere  consueuit  et,  ne 
pranorum  hominum  molestiis  agitentnr,  eos  tamqnam  pia  mater 
protectionis  suae  mnnimine  confouere.  Qaapropter,  dilecte  in  Do- 
mino fili,  deuotionem,  quam  erga  beatum  Petrum  et  nos  ipsos  ha- 
bere dignosceris,  attendentes,  personam  tuam  cum  omnibus  bonis 
tam  ecclesiasticis  quam  mundanis,  quae  in  praesentiarum  rationa- 
biliter  possides  aut  in  futurum  iustis  modis  praestante  Domino 
poteris  adipisci,  sub  beati  Petri  et  nostra  protectione  suscipimus 
et  praesentis  scripti")  patrocinio  communimus.  Statuentes,  ut,  si  in 
aliquo  te  grauatum  persenseris,  libere  tibi  liceat  sedem  apostolicam 
appellare.  NuUi  ergo  etc.  Si  quis  autem  etc.  Dat.  Lateran,  id. 
sept.  pontificatus  nostri  anno  secundo. 

a)  praesentibus  scriptis. 

88. 

Clemens  III.  nimmt  da^s  Kloster  in  Ripoli  nach  dem  Vorgange 
Paschais  IL  in  den  apostolischen  Schutz,  bestätigt  die  Regel  des  h. 
Benedikt  und  die  namentlich  aufgeführten  Besitzungen  und  Rechte. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  293 

Orig.  Florenz  Arch.  arcivescovile. 

Die  Kopie  verdanJce  ich  Prof.  Luigi  SchiapareUi  in  Florenz,  der 
das  Stück  trotz  seiner  Irregularitäten  als  ein  sicheres  Original  he- 
zeichnet.  Jedenfalls  ist  es  ein  unausgefertigt  gebliebenes  Stück,  wie 
wir  solche  mehrfach  haben.  Es  fehlen  sowohl  die  Unterschriften  der 
Kardinäle  und  die  Datierung  ivie  die  Bidle.  Der  Grund  ist  ziemlich 
deutlich.  1188  ivar  das  Kloster  S.  Bartolomeo  a  Ripoli  an  Vallom- 
brosa  übergeben  worden,  während  der  Abt  sich  i7i  Born  ein  nach  dem 
Vorgange  Faschals  IL  die  Benediktinerregel  und  damit  die  Unab- 
hängigkeit bestätigendes  Privileg  zu  holen  versuchte.  Dies  blieb  dann 
aber  unatis gefertigt.  Später  ivurde  das  Stück  einer  Durchkorrigier ung 
unteru'orfen,  wahrscheirdich  um  als  Konzept  für  ein  neues  Privileg 
zu  dienen.     Zu  Bipoli  vgl.  Italia  pontif.  III  41  sq. 

CLEMENS  EPISCOPVS  SERVVS  SERVORVM  DEI.  DILECTIS 
FILIIS  ABBATI  RIPVLENSIS  MONASTERII  QVOD  SECVS  FLO- 
RENTIAM  SITVM  EST  EIVSQVE  ERATRIBVS  TAM  PRESENTIBVS 
QVAM  FVTVRIS  REGVLAREM  VITAM  PROFESSIS  IN  PERPE- 
TVVM.  I  Quotiens  a  nobis  petitur  quod  relig[io]iii  et  honestati 

conuenire  dinoscitur,  animo  nos  decet  libenti  concedere  et  peten- 
titim  desideriis  effectam  congruum  impertiri.  Eapropter«),  dilecti 
in  Domino  |  filii,  uestris  iustis  postulation[ibu]s  clementer  annuimus 
et  predietnm  monasterium  Ripulense,  in  quo  diuino  estis  obsequio 
mancipati,  ad  exemplar  felicis  recordationis  PASCHALIS  pape  pre- 
de|cessoris  nostri^^  snb  beati  Petri  et  nostra  protectione  suscipi- 
mus*^^  et  presentis  scripti  priuilegio  commnnimus.  Inprimis  si- 
quidem  statu entes,  ut  ordo  monasticus,  qui  secundum  Deum  et 
beati  |  Benedicti  regulam  in  eodem  monasterio  noscitur  institutus, 
perpetuis  ibidem  temporibus  inuiolabiliter  obseruetur.  Preterea 
quascumque  possessiones,  quecumque  bona  idem  monasterium  in 
presentiarum  |  iuste  et  canonice  possidet  aut  in  futurum  concessione 
pontificum,  largitione  regum  uel  principum,  oblatione  fidelium  seu 
aliis  iustis  modis  prestante  Domino  poterit  adipisci,  firma  uobis  | 
uestrisque  successoribus  et  illibata  permaneant.  In  quibus  bec 
propriis  duximus  exprimenda  uocabulis :  castrum  Ripulense,  in  quo 


a)  Effepropter  Or. ;  p  ist  corr.  aus  c ;    der  Schreiher  begann  also  mit  Effec- 
(tum),  vergaß  aber  Effe  in  Ea  zu  corrigiren.  b)  ad  exemplar  —  nostri  ist 

von  der  zweiten  Hand  durch  Punktierung  getilgt.  c)  dazu  von   der  zweiten 

Hand  über  der  Zeile  et  ab  omni  inpetitione  et  requisitione  diocesani  episcopi  cum 
Omnibus  ad  eundem  monasterium  pertinentibus  capeilis  necnon  [nenn]  et  cuntis 
pertinentiis  eximimus. 

Kgl.  Qea.  d.  Wiss.   Nachrichten.    Philolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft  2.  20 


294  P-  Kehr, 

prefatum  monasterium  sitmn  est  cum  omnibus  pertinentiis  |  suis, 
ius  patronatus,  quod  habetis  in  ecclesia  sancti  Donati  in  Citille 
et  in  ecclesia  sancti  Stephani  de  Vntignano,  ecclesiam  sancti  Mar- 
cellini cum  omnibus  pertinentiis  suis,  curtem  de  Grigoro,  curtem 
de  Grello*'^,  curtem  de  |  Sala  iuxta  plebem  sancte  Marie  de  Anti- 
nula  cum  pertinentiis  earum,  curtem*)  de  CoUina,  que  dicitur  Lu- 
zuli,  cum  Platano  et  Quintulo  et  cum  omnibus  earum  pertinentiis*), 
curtem  de  Vzano  |  cum  ecclesia  sancti  Martini  et  omnibus  perti- 
nentiis suis,  curtem  de  Clanti,  curtem  de  Campi  cum  omnibus  per- 
tinentiis earum,  curtem  de  Pagnano  et  terram  de  Sinea  cum  om- 
nibus earum  [  pertinentiis,  curtem'^  de  Monte  Morello,  curtem  de 
Somaria  et  de  loco  Faito  cum  omnibus  pertinentiis  earum-'^,  curtem 
de  Tribio,  curtem  de  Paterno  cum  omnibus  earum  pertinentiis, 
possessionem  |  de  Fiessa  cum  appenditiis  suis''^.  Et  quecumque 
iura  et  consuetudines  rationabiles  in  ecclesia  sancti  Petri  de  Palco 
a  quadraginta  annis  hactenus  habuistis,  uobis  nichilominus  confir- 
mamus.  Liceat  quoque  uobis  |  clericos  uel  laicos  e  seculo  fugientes 
liberos  et  absolutes  ad  conuersionem  recipere  et  eos  absque  con- 
tradictione  aliqua  retinere.  Sane  decimationem  de  proprietatibus 
et  possessionibus  |  monasterii,  sicut  hactenus  per  Florentinum  et 
Fesulanum  episcopos  habuistis,  etiam  in  posterum  uos  habere  con- 
cedimus.  Cum  autem  generale  interdictum  terre  fuerit ,  liceat 
uobis  I  clausis  ianuis,  non  pulsatis  campanis,  exclusis  excommuni- 
catis  et  interdictis,  suppressa  uoce  diuina  officia  celebrare*).  Se- 
pulturam  preterea  ipsius  monasterii  liberam  esse  |  concedimus.  ut 
eorum  deuotioni  et  extreme  uoluntati,  qui  se  illic  sepeliri  delibe- 
rauerint,  nisi  forte  excommunicati  uel  interdicti  sint,  nullus  ob- 
sistat,  salua  tamen  iustitia  illarum  ecclesiarum,  |  a  quibus  mortu- 
orum  Corpora  assumuntur.  Crisma  quoque,  oleum  sanctum,  conse- 
crationes  altarium  seu  basilicarum,  ordinationes  monachorum  uel 
clericorum,  qui  ad  sacros  fuerint  ordines  promouendi,  liceat  uobis  | 
a  Florentino  suscipere*)  episcopo,  siquidem  catholicus  fuerit  et 
gratiam  atque  communionem  apostolice  sedis  habuerit  et  ea  gratis 
et  absque  prauitate  aliqua  uobis  uoluerit  exhibere;  alioquüi  liceat 
uobis,  quemcumque  |  malueritis,  adire  antistitem,  qui  nostra  fultus 


d)  curtem  de  Gello  von  der  zweiten  Hand  durchstrichen.       e)  ebenso  curtem 
—  pertinentiis.  f)  ebenso  curtem  —  pertinentiis  earum.  g)  dazu  von 

der  zweiten  Hand  über  der  Zeile  et  portum  de  Arno.  h)  hier  fügte  die  zweite 

Hand  über  der  Zeile  hinzu  Libertates  etiam  et  inmunitates  antiquas  et  rationa- 
biles consuetudines  in  uestro  monasterio  actenus  obseruatas  ratas  habemus  easque 
perpetuis  temporibus  illibatas  permanere  sancimus.  i)  liceat  —  suscipere  auf 

Basur. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  IL  295 

auctoritate  quod  postulatur  impendat  *).  Obeunte  uero  te  nunc 
eiusdem  loci  abbate  uel  tuorum  quolibet  snccessorum,  nuUus  ibi 
qualibet  |  subreptionis  [a]st[utia]  seu  niolentia  preponatur,  nisi 
quem  fratres  communi  consensu  uel  fratrum  pars  consilii  sanioris 
secundam  Bei  timorem  et  beati  Benedict!  regulam  prouiderint  | 
eligendum.  Pa[ci  quoque  et  trjanquillitati  uestre  paterna  in  po- 
sterum  sollicitudine  prouidere  uolentes,  auctoritate  apostolica  pro- 
hibemus ,  ne  quis  infra  fines  domorum  uestrarum  furtum  rapi- 
namue  comjmittere,  ignem  [apponere],  hominem  capere  uel  inter- 
ficere  seu  aliquam  uiolentiam  temere  audeat  exercere.  Decernimus 
ergo  etc.  Si  qua  igitur  etc.  Cunctis  autem  etc.  AMEN.  AMEN. 
AMEN.  1 

R.     Ego  Clemens  catholice  ecclesie  episcopus  ss.     BV. 


k)  hier  schaltet  die  zweite  Hand  ein  Ad  hec  nulli  episcopo  fas  sit  in  uos 
excommunicationis  uel  interdicti  sententiam  promulgare,  ut  qui  in  filios  speciales 
Eomane  sedis  estis  assumpti,  nullius  alterius  iudicium  temere  subbeatis. 


39. 

Celestin  III.  nimmt  nach  dem  Vor  gange  Gregors  VII.,  Urbans  II., 
Füschals  IL,  Innocenz^  IL,  Alexanders  III.  das  Kloster  des  h. 
Michael  in  Passignano  unter  dem  Alt  Albert  in  den  apostolischen 
Schutz  und  bestätigt  die  namentlich  aufgeführten  Besitzungen ,  die 
Wahl  des  Bischofs  für  die  bischöflichen  Leistungen,  das  Aufnahmerecht, 
die  freie  Septdtur  und  das  Wahlrecht. 

Rom  S.  Peter  1191  Juli  26. 

Kopie  s.  XIV  Florenz  Arch.  di  stato  (Badia  di  Ripoli)  [B]  = 
Chartular  von  Ripoli  s.  XVLLI  ebenda  (Conv.  soppr.  224  cod.  211) 
p.  205.  —  Cornelii  Margarini  Thesaurus  historicus  Vol.  III  f.  519 
Rom  Vat.  Arch.  Arm.  LIV  t.  3  aus  dem  verlorenen  Registrum  Vallis 
Umbrosae  f.  174,  ehemals  im  Archiv  von  S.  Prassede  [M]  =  Kop. 
s.  XVII— XVIII  im  cod.  Vat.  lat.  7157  f  66.  -  (G.  Nannini) 
Bullarium  Vallumbrosanum  t.  I  s.  XVIII  f.  263  Pescia  Collegio  di 
San  Giuseppe;  Genovini  Liber  bullarum  a.  1704  f.  130  ebenda;  Pri- 
vilegia  congregationis   Vallumbrosanae  s.  XVIII  f.  48  ebenda. 

Ed.  Nardi  Bull.  Vallumbr.  p.  77.  —  Regg.  Kaltenbrunner  in 
Wiener  SB.  XCIV  691  n.  10310a.  Pflugk - Harttimg  Iter  p.  323 
n.  924.  J-L.  16732.  —  Bie  Urkunde  folgt  wörtlich  dem  Privileg 
Alexanders  III.  J-L.  14053  (ed.  Gott.  Nachr.  1904  S.  177  Nr.  24). 
Vgl.  Italia  pontif.  III  113  n.  42. 


296  P-  l^ehr, 

Celestinus  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis  Al- 
berto abbati  monasterii  sancti  IVIichaelis  archangeli  de  Passiniano'*^ 
qnod  est  sitmn  in  loco,  qui  dicitnr  Passinianus  *^,  eiusque  fratribus 
tarn  presentibus  quam  futuris  regulärem  uitam  professis  in  perpe- 
tuum.        Officii  nostri  nos  admonet. 

Ego  Celestinus  catholice  ecclesie  episcopus  ss.    BV. 

f  Ego  Albinus  Albanensis  episcopus  ss. 

f  Ego  Octauianus  Hostiensis   et  Velletrensis ''^  episcopus  ss. 

f  Ego  Johannes  Penestrinus '^^  episcopus  ss. 
f  Ego  Pandulfus  presb.  card.  basilice  XII  Apostolorum  ss. 
t  Ego  Petrus  presb.  card.  sancti  Petri  ad  Vincula  tit.  Eudoxie*^  ss. 
f  Ego  lordanus'^  presb.  card.  sancte  Pudentiane   tit.  Pastoris  ss. 
f  Ego  lohannes  tit.  sancti  Clementis  card.,  Tuscanensis  episcopus  ss. 
t  Ego  Rufinus^^  tit.  sancte  Praxedis  card.,  Ariminensis  episcopus  ss. 
f  Ego  Romanus  tit.  sancte  Anastasie  presb.  card.  ss. 
t  Ego  Gruido    presb.    card.    sancte  Marie   Transtiberim*>   tit.   Ca- 

listi*^  SS. 
t  Ego  lohannes  tit.  sancti  Stephani  in  Celio  monte  presb.  card.  ss. 

f  Ego  Gregorius  sancte  Marie  in  Porticu  diac.  card.  ss. 

f  Ego  Grregorius  sancte  Marie  in  Aquiro  diac.  card.  ss. 

f  Ego   Grregorius    sancti   Greorgü   ad   Velum   aureum   diac. 
card.  SS. 

t  Ego  Nicholaus*^  sancte  Marie  in  Cosmidin'^  diac.  card.  ss. 

f  Ego  Gregorius  sancti  Angeli  diac.  card.  ss. 

Dat.  Rom.  apud  sanctum  Petrum  per  manum  Egidii  sancti 
Nicolai  in  carcere  Tulliano  diaconi  cardinalis,  VII  kal.  augusti"»), 
indictione  Villi,  incarnationis  dominice  anno  millesimo  centesimo 
nonagesimo  primo"^  pontificatus  uero  domini  Celestini  pape  III 
anno  primo. 


a)  Pasingano  B.        b)  Passingnanum  B.        c)  Valetren  B.        d)  Praenesti- 
nus  M.  e)  Teudoxi^  M.  f)  Joannes  M.  g)  Refinus  B\  Rofinus  M. 

h)  Trastiber  B.  i)  tit.  Calisti  fehlt  in  M.  k)  Nicolaus  M.  l)  Cos- 

medin  M.  m)  agusti  B.  n)  MCCXI,  der  Rest  fehlt  in  M. 


40. 

Celestin  III.  nimmt  die  Kirche  S.  Stefano  in  Prato  nach  dem 
Vorgange  Innocene'  II.  und  Lucius'  HL  in  den  apostolischen  Schutz 
und  bestätigt  die  namentlich  aufgeführten  Besitzungen,  Zehvten  und 
Hechte.  Rom  S.  Feter  1191  August  31. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  297 

Kopie  im  Ms.  Concessioni  giurisdizionali  dei  smmni  pontefici  etc, 
s.  XIV  ex.  [B]  und  Kopie  im  Ms.  Bolle  e  indidti  pontificii;  de- 
creti  vescovili  s.  XVI  sq.  [CJ,  beide  Prato  Ar  eh.  capitolare. 

Ed.  Carlesi  Origini  di  Prato  p.  157  n.  17.  —  Reg.  bei  üghelli  ^ 
III  335.  —  Die  angezogenen  Vorurhunden  sind  Innocenz'  II.  Pri- 
vileg von  1133  Mai  21  J-L.  7618  und  Lucius'  III.  Bidle  von  1183 
Februar  12  J-L.  14839.  —   Vgl.  Italia  pontif.  III  141  n.  29. 

Celestinus  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilectis  filiis  . . 
preposito  ecclesie  sancti  Stephani  de  Prato  eiusque  fratribus  tarn 
presentibus  quam  futuris  canonice  substituendis  in  perpetuum. 
Effectum  iusta''^  postulantibus  indulgere  et  uigor  equitatis  et 
ordo  exigit  rationis,  presertim  cum  petentium  uoluntatem  et  pietas 
adiuuat  et  ueritas  non  relinquit.  Eapropter,  dilecti  in  Domino 
filii,  uestris  iustis  postulationibus  clementer  annuimus  et  felicis 
recordationis  Innocentii  et  Lucii  predecessorum  nostrorum  E-oma- 
norum  pontificum  uestigiis  inberentes,  prefatam  ecclesiam  sancti 
Stephani  de  Prato,  in  qua  diuino  mancipati  estis  obsequio,  sub 
beati  Petri  et  nostra  protectione  suscipimus  et  presentis  scripti 
priuilegio  communimus.  Statuentes,  ut  quascumque  possessiones, 
quecumque  bona  eadem  ecclesia  in  presentiarum  iuste  et  canonice 
possidet  aut  in  futurum  concessione  pontificum,  largitione  regum 
uel  principum,  oblatione  fidelium  seu  aliis  iustis  modis  prestante 
Domino  ^^  poterit  adipisci,  firma  uobis  uestrisque  successoribus  et 
illibata  permaneant.  In  quibus  hec  propriis  duximus  exprimenda 
uocabulis :  ecclesiam  sancte  Marie  in  Castello  cum  suis  pertinen- 
tiis,  ecclesiam  sancte  Trinitatis  cum  suis  pertinentiis,  ecclesiam 
sancti  Petri  in  porta  Fura  ^^  cum  suis  pertinentiis,  ecclesiam  sancti 
Yincentii,  ecclesiam  sancti  lacobi ,  ecclesiam  ^'^  sancti  Tome  cum 
pertinentiis  suis,  ecclesiam  sancti  Marci  cum  suis  pertinentiis ''^ 
ecclesiam  sancti  Saluatoris  cum  suis  pertinentiis,  ecclesiam  sancte 
Marie  de  Ribaldo  cum  suis  pertinentiis,  ecclesiam  sancti  Martini 
cum  suis  pertinentiis,  monasterium  sancti  Martini  de  Coiano  cum 
suis  pertinentiis ,  ius  quod  habetis  in  monasterio  sancti  Fabiani, 
ecclesiam  sancti  Bartholomei  de  Coiano  cum  suis  pertinentiis,  ec- 
clesiam sancte  Lucie  cum  pertinentiis  suis,  ecclesiam  sancti  Petri 
de  Figlino  cum  suis  pertinentiis,  ius  quod  habetis  in  ecclesia  sancti 
Michaelis  *)  de  Cerreto,  ius  quod  habetis  in  ecclesia  sancti  Petri  de 


a)  iuxta  BC.  h)  Deo  C.  c)  in  B  korr.  in  Fuia  oder  Furia? 

d)  ecclesiam  —  pertinentiis  fehlt  in  C.  e)  Michelis  B;  Micheliis  C. 


298  P-  Kehr, 

Insnla,  ius  quod  habetis  in  ecclesia  sancti  Martini  de  Sorniana, 
ins  quod  habetis  in  ecclesia  de  Fabbio-'^,  ius  quod  habetis  in  eccle- 
sia sancti  lohannis  de  Pistoria.  Presenti  quoque  priuilegio  duxi- 
mus  statuendum,  ut  nulli  parrochianos  uestros  ad  officia  dinina 
recipere  liceat ,  qnamdiu  a  uobis  fuerint  excommnnicationis  nel 
interdicti  sententia  condempnati.  Statnimus  insuper,  ut  in  parro- 
chia  eiusdem  ecclesie,  uobis  inuitis  et  contradicentibus,  nulli  om- 
nino  hominum  liceat  ecclesiam  construere  aut  aliquam  super  hoc 
iniuriam  inrogare,  saluis  tarnen  priuilegüs  Romanorum  pontificum. 
Decimas  itaque  eorum,  qui  ad  uestram  ecclesiam  iure  parrochiali 
pertinent,  absque  alicuius  contradictione  uobis  haberdas  concedimus. 
Prohibemus  etiam,  ut  nullus  interdicti  seu  excommunicationis  sen- 
tentiam  absque  iusta^)  et  rationabili  causa  in  uos  uel  ecclesiam 
uestram  audeat  promulgare.  Crisma  uero,  oleum  sanctum,  conse- 
crationes  altarium  seu  basilicarum,  ordinationes  clericorum,  qui 
ad  sacros  ordines  fuerint  promouendi,  a  diocesano  suscipiatis  epi- 
scopo,  siquidem  catholicus  fuerit  et  gratiam  atque  communionem 
apostolice  sedis  habuerit  et  ea  uobis  gratis  et  absque  prauitate 
aliqua  uoluerit  exibere;  alioquin  catholicum,  quem  malueritis,  ad- 
eatis  antistitem,  qui  nostra  fretus  auctoritate  quod  postulatur  in- 
dulgeat.  Sepulturam  preterea  ipsius  loci  liberam  esse  decernimus, 
ut  eorum  deuotioni  et  extreme  uoluntati,  qui  parrochiani  uestri 
censentur  et  se  illic  sepelliri  deliberauerint,  nullus  obsistat;  quam 
utique  uobis  et  ecclesie  uestre  auctoritate  apostolica  confirmamus, 
ita  quidem  quod,  si  ad  aliquam  religiosam  ecclesiam  elegerint  se- 
pelliri, canonica  uobis  in  testamento  portio  reseruetur.  Decernimus 
ergo,  ut  nulli  omnino  hominum  liceat  prefatam  ecclesiam  temere 
perturbare  aut  eins  possessiones  auferre  uel  ablatas  retinere,  min- 
uere  seu  quibuslibet  uexationibus  fatigare,  set  omnia  integre  con- 
seruentur*\  eorum,  pro  quorum  gubernatione  ac  sustentatione  con- 
cessa  sunt,  usibus  omnimodis  profutura,  salua  sedis  apostolice  auc- 
toritate et  diocesani  episcopi  canonica  iustitia.  Ad  uestre  autem 
deuotionis  inditium  et  percepte  huius  ab  apostolica  sede  protectio- 
nis  uos  unum  aureum  nobis  nostrisque  successoribus  statuistis 
annis  singulis  soluturos.  Si  qua  igitur  in  futurum  ecclesiastica 
secularisue  persona  hanc  nostre  constitutionis  paginam  sciens  con- 
tra eam  temere  uenire  tentauerit ,  secundo  tertioue  commonita, 
nisi  reatum  suum  condigna  satisfactione  correxerit,  potestatis  ho- 
norisque  sui  dignitate  careat  reamque  se  diuino  iudicio  de  perpe- 
trata  iniquitate  cognoscat  et   a  sacratissimo   corpore  ac  sanguine 


f)  Fabio  C.  g)  iuxta  BC.  h)  reseruentur  BC. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  299 

Dei  ac  domini  redemptoris  nostri  lesu  Christi  aliena  fiat  atque  in 
extremo  examine  districte  ultioni  subiaceat.  Cunctis  autem  eidem 
loco  sua  iura  seruantibus  sit  pax  domini  nostri  lesu  Christi,  qua- 
tinus  et  hie  fructum  bone  actionis  percipiant  et  apud  districtum 
iudicem  premia  eterne  pacis  inueniant.     Amen.     Amen.     Amen. 

R.     Ego  Celestinus  catholice  ecclesie  episcopus  ss.     BV. 

f  Ego  Albinus  Albanensis  episcopus  ss. 

t  Ego  Octauianus  Hostiensis   et  Velletrensis  episcopus  ss. 

f  Ego  Johannes  Prenestinus  episcopus  ss. 

f  Ego  Petrus  Portuensis  et  sancte  ßuffine  episcopus  ss, 
f  Ego  Johannes  Felix  presb.  card.  tit.  sancte *)  Susanne  ss. 
f  Ego  Romanus  tit.  sancte  Anastasie  presb.  card.  ss. 
f  Ego  Guido    presb.    card.    sancte   Marie   Transtiberim  *)   tit.    Ca- 

lixti  SS. 
f  Ego  Hugo  presb.  card.  sancti  Martini  tit.  Equitii  ss. 
f  Ego  Cinthius  tit.  sancti  Laurentii  in  Lucina  presb.  card.  ss. 

f  Ego  Grherardus  sancti  Adriani  diac.  card.  ss. 

f  Ego  Grregorius  sancte  Marie  in  Porticu  diac.  card.  ss. 

f  Ego  Grregorius  sancte  Marie  in  Aquiro^^  diac.  card.  ss. 

f  Ego    Gregorius    sancti    Georgii   ad   Velum    aureum    diac. 
card.  ss. 

f  Ego  Lotarius  sanctorum  Sergii  et  Bachi  diac.  card.  ss. 

f  Ego  Nicolaus  sancte  Marie  in  Cosmydyn  diac.  card.  ss. 

f  Ego  Gregorius  diac.  xiard.  sancti  Angeli  ss. 

Dat.  Rome  apud  sanctum  Petrum  per  manum  Egidü  sancti 
Nicolai  in  carcere  Tulliano  diac.  card.,  11  kal.  septembris,  indictione 
nona,  incamationis  dominice  anno  M^.C^.XC^.I^,  pontificatus  uero 
domni  Celestini  pape  III  anno  primo. 


i)  sancte  fehlt  in  B.  1c)  Trastibi  B.  l)  Agurro  B. 


41. 

Celestin  111.  nimmt  das  Kloster  S.  Lorenso  delV Ardenghesca 
unter  dem  AU  Stramho  in  den  apostolischen  Schutz  und  bestätigt  ihm 
die  Besitzungen  und  Rechte.  Lateran  1194  April  17. 

Orig.  Siena  Arch.  di  stato  (S.  Maria  degli  Angeli). 

J-L.  17086  nach  Wiener  SB.  XCIV  698  n.  10461a.  Vgl.  Italia 
pontif.  III 267  n.  7, 


300  P-  Kehr, 

CELESTINVS  EPISCOPVS  SERVVS  SERVORVM  DEI.  DI- 
LECTIS  FILIIS  STKAMBO  ABBATI  MONASTERII  SANCTI  LAV- 
RENTII IVXTA  FLVVIVM  QVOD«)  ANSO  DICITVR  SITVM  EIVSQVE 
FRATRIBVS  TAM  PRESENTIBVS  QVAM  FVTVRIS  REGVLAREM 
VITAM  PROFESSIS  IN  PERPETVVM.  |  Quotiens  ülud  a  nobis 

petitur,  quod  rationi  et  honestati  conuenire  uidetur,  animo  nos 
decet  libenti  concedere  et  petentium  desideriis  congruum  impertiri 
suffragium.  Eapropter,  dilecti  in  Domino  filii,  uestris  |  iustis 
postulationibus  dementer  annuimus  et  predecessorum  nostrorum 
felicis  memorie  EVGENII,  ADRIANI,  ALEXANDRI  et  LVCII  Eoma- 
norum  pontificum  uestigiis  inherentes,  prefatum  monasterium,  in 
quo  diuino  |  mancipati  estis  obsequio,  quod  specialiter  beati  Petri 
iuris  existit,  sub  eiusdem  beati  Petri  et  nostra  protectione  susci- 
pimus  et  presentis  scripti  priuilegio  communimus.  Inprimis  siqui- 
dem  statuentes,  ut  |  ordo  monasticus,  qui  secundum  Deum  et  beati 
Benedicti  regulam  in  eodem  monasterio  institutus  esse  dinoscitur, 
perpetuis  ibidem  temporibus  inuiolabiliter  obseruetur.  Preterea 
quascumque  possessio|nes,  quecumque  bona  idem  monasterium  in 
presentiarum  iuste  et  canonice  possidet  aut  in  futurum  concessione 
pontificum,  largitione  regum  uel  principum,  oblatione  fidelium  seu 
aliis  iustis  modis  pre|  staute  Domino  poterit  adipisci,  firma  uobis 
uestrisque  successoribus  et  illibata  permaneant.  In  quibus  bec 
propriis  duximus  exprimenda  uocabulis :  ecclesiam  sancte  Trinitatis 
de  Orgia  et  hospitalem  domum  |  eiusdem  loci  cum  omni  iure  suo^ 
ecclesiam  de  Monte  Sitii  cum  omni  iure  suo,  et  ins,  quod  habetis 
in  ecclesia  de  Stilliano,  ecclesiam  de  Modani  cum  omni  iure  suo, 
castrum  de  Ciuitella  cum  suis  appenditiis  et  cum  tri|bus  ecclesiis 
in  ipso  constructis,  ecclesiam  uidelicet  sancti  Sebastiani  infra 
castrum  positam  cum  omni  iure  suo,  plebem  sancte  Marie  de  Monte, 
quam  uenerabilis  frater  noster  Bonus  Senensis  episcopus  uobis 
concessit,  sicut  in  |  instrumento  eiusdem  episcopi  continetur,  eccle- 
siam sancti  Materni  extra  castrum  sitam,  duas  portiones  de  castello 
et  curte  Montis  Viridis  cum  ecclesia  ibidem  posita,  ecclesiam  de 
Signano  et  tres  portiones  ipsius  uil|le,  ecclesiam  sancti  Donati 
cum  omni  iure  suo,  quicquid  iuris  habetis  in  ecclesia  de  Brenna 
et  in  hiis,  que^^  ad  ipsam  ecclesiam  spectant,  ecclesiam  sancti 
Bartholomei  de  Lampugnano  cum  ipsa  uilla,  castrum  de  Balagaio 
cum  1  ecclesia  ibidem  posita,  ecclesiam  sancti  Anastasii  et  ipsius 
castri  tertiam  partem,  ecclesiam  de  Litiano  cum  omni  iure  suo, 
ecclesiam    sancti   Andree   de    Suuarella   cum   ipsa   uilla,    ecclesiam 


a)  sie.  b)  quicquid  —  hiis  que  auf  Rasur. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  II.  301 

sancti  Laurentii  et  eiusdem  castelli  |  duas  partes,  ius,  quod  habetis 
in  plebe  Montis  Godani  cum  medietate  eiusdem  castri,  decimationem 
omnem  totius  allodii,  quam  idem  monasterium  iuste  et  rationabi- 
liter  habet  tarn  in  episcopatu  Se|nensi  quam  in  Vulterrano  et  Gros- 
setano,  uobis  etiam  concedimus  et  confirmamus.  Sane  ordinationes 
monachorum  uel  clericorum,  dedicationes  ecclesiarum  et  conse- 
crationes  altarium  a  diocesano  suscipietis  episcopo,  siqui|dem  catho- 
licus  fuerit  et  gratiam  atque  communionem  apostolice  sedis  habuerit 
et  ea  gratis  et  absque  prauitate  aliqua  uobis  uoluerit  exhibere; 
alioquin  liceat  uobis,  quemcumque  malueritis,  adire  antistitem, 
qui  I  nimirum  nostra  fretus  auctoritate  quod  postulatur  indulgeat. 
Liceat  quoque  uobis  clericos  uel  laicos  e  seculo  fugientes  liberos 
et  absolutes  ad  conuersionem  recipere  et  in  uestro  monasterio  abs- 
que con|tradictione  aliqua  retinere.  Prohibemus  insuper,  ut  nulli 
fratrum  uestrorum  post  factam  in  loco  uestro  professionem  fas  sit 
de  claustro  absque  licentia  abbatis  sui,  nisi  obtentu  artioris  reli- 
gionis,  discejdere;  discedeintem  uero  sine  communium  litterarum 
uestrarum  cautione  nullus  audeat  retinere.  Sepulturam  quoque 
ipsius  loci  liberam  esse  concedimus,  ut  eorum  deuotioni  et  extreme 
uoluntati,  qui  se  illic  se|peliri  deliberauerint ,  nisi  forte  excom- 
municati  uel  interdicti  sint,  nullus  obsistat,  salua  tarnen  iustitia 
illarum  ecclesiarum,  a  quibus  mortuorum  corpora  assumuntur.  Ad 
hec  presenti  pagina  inbibemus,  ut  |  nullus  infra  parrocbias  ecclesi- 
arum uestrarum  ecclesiam  uel  Oratorium  eine  uestro  et  diocesani 
(piscopi  assensu  de  nouo  hedificare  presumat,  saluis  priuilegiis 
Romanorum  pontificum.  Obeunte  uero  te,  nunc  eiusdem  |  loci  ab- 
bate  uel  tuorum  quolibet  successorum,  nullus  ibi  qualibet  subrepti- 
onis  astutia  seu  uiolentia  preponatur,  nisi  quem  fratres  communi 
consensu  uel  fratrum  pars  consilii  sanioris  secundum  Dei  timorem 
et  beati  Bene|dicti  regulam  prouiderint  eligendum.  Prohibemus 
autem,  ut  nullus  episcoporum  illicitas  exactiones  eidem  monasterio 
de  ecclesiis  pertinentibus  ad  ipsum  imponat  uel  noua  et  indebita 
grauamina  ei  uel  ecclesiis  suis  |  audeat  irrogare.  Decernimus  ergo, 
ut  nulli  omnino  hominum  liceat  prefatum  monasterium  temere 
perturbare  aut  eins  possessiones  auferre  uel  ablatas  retinere, 
minuere  seu  quibuslibet  uexationibus  fatigajre,  sed  omnia  integra 
conseruentur,  eorum,  pro  quorum  gubernatione  ac  sustentatione 
concessa  sunt,  usibus  omnimodis  profutura,  salua  sedis  apostolice 
auctoritate  et  in  supradictis  ecclesiis  diocesanorum  episcoporum 
canonica  |  iustitia.  Ad  indicium  autem  percepte  huius  a  sede  aposto- 
lica  libertatis  duos  solidos  Lucenses  nobis  nostrisque  successoribus 
annis   singulis   persoluetis.     Si  qua  igitur  in  futurum  ecclesiastica 

Kgl,  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Philolog.-histor.  Kl.    1903.    Heft  2.  21 


302  P-  Kehr, 

seculariöTie  persona  haue  |  nostre  constitutionis  paginam  sciens 
contra  eam  temere  uenire  temptauerit,  secundo  tertione  commonita, 
nisi  reatum  sunm  congrua  satisfactione  correxerit,  potestatis  hono- 
risque  sui  dignitate  careat  reamque  |  se  diuino  iudicio  existere  de 
perpetrata  iniquitate  cognoscat  et  a  sacratissimo  corpore  et  sanguine 
Dei  et  domini  redemptoris  nostri  lesu  Christi  aliena  fiat  atque  in 
extremo  examine  districte  ultioni  subiaceat.  |  Cunctis  antem  eidem 
loco  sua  iura  seruantibus  sit  pax  domini  nostri  lesu  Christi,  qua- 
tinus  et  hie  fructum  bone  actionis  percipiant  et  apud  districtum 
iudicem  premia  eterne  pacis  inueniant.     AMEN.     AMEN.     AMEN.  | 

R.     Ego  Celestinus  catholice  ecclesie  episcopus  ss.     BV. 

f  Ego  Albinus  Albanensis  episcopus  ss. 
•  f  Ego  Octauianus  Hostiensis  et  Velletrensis  episcopus  ss. 
f  Ego  Johannes  Prenes tinus  episcopus  ss. 
f  Ego  Petrus  Portuensis  et  sancte  Rufine  episcopus  ss. 
f  Ego  Pandulfus   basilice  XII  Apostolorum  presb.  card.  ss. 
f  Ego  Petrus  tit.  sancte  Cecilie  presb.  card.  ss. 

f  Ego  Johannes  tit.  sancti  Clementis  card.,  Viterbiensis  et  Tusca- 

nensis  episcopus  ss. 
f  Ego  Hugo  sancti  Martini  tit.  Equitii  presb.  card.  ss. 
f  Ego    Johannes     tit.    sancti     Stephani    in    Celio     monte     presb. 

card.  SS. 

f  Ego  Soffredus  tit.  sancte  Praxedis  presb.  card.  ss. 

t  Ego  Bemardus   sancti  Petri   ad   Vincula  presb.    card.    tit.   En- 

doxie  SS. 
f  Ego  Johannes  tit.  sancte  Prisce  presb.  card.  ss. 

f  Ego  Grratianus  sanctorum  Cosme  et  Damiani  diac.  card.  ss. 
f  Ego  Grregorius  sancte  Marie  in  Porticu  diac.  card.  ss. 

f  Ego    Gregorius    sancti   G-eorgii  ad    Velum   aureum   diac. 

card.  SS. 
f  Ego  Lotarius  sanctorum  Sergii  et  Bachi  diac.  card.  ss. 
f  Ego  Bobo  sancti  Theodori  diac.  card.  ss. 
t  Ego  Petrus  sancte  Marie  in  Via  lata  diac.  card.  ss. 
f  Ego  Cencins  sancte  Lucie  in  Orthea  diac.  card.  ss. 

Dat.  Lateran,  per  manum  Egidii  sancti  Nicolai  in  carcere 
Tulliano  diac.  card.,  XV  kal.  maii,  indictione  duodecima,  incar- 
nationis  dominice  anno  M^.C^.XC^.IJIJ^,  pontificatus  uero  domni 
CELE8TINI  pape  JII  anno  quarto. 

B.  dep. 


Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  IL  303 

43. 

Celestin  III.  überträgt  dem  Bischof  von  Florenz  die  zwiscJien 
dem  Bischof  von  Arezzo  und  den  Hospitalitern  von  Ponte  Volle 
schwebende  Streitfrage.  Lateran  1195  April  27. 

Kopie  von  1197  Februar  17  Arezzo  Arch.  capitolare  (n.  467). 

J-L.  17 225  nach  dem  Zitat  von  Kaltenbrunner  in  Wiener  SB. 
XCIV694  n.  10528a.  —  Zur  Sache  vgl.  auch  J-L.  17312  und  Italia 
pontif  III  157  n.  53  und  III  167  n.  4. 

Celestinus"^  episcopus  seruus  seniorum  Dei.  Venerabili  fratri 
Florentino  episcopo  salntem  et  apostolicam  benedictionem.  Vene- 
rabilis  frater  noster  Aretinus  episcopus  transmissa  nobis  queri- 
monia  demonstranit,  qnod  olim  Fesulanus  ^^  episcopus  ad  presentiam 
nostram  accedens,  litteras  a  nobis  ueritate  tacita  nomine  bospitalis 
de  Ponte  Vallis  in  suum  graue  preiudicium  inpetrauit,  ut  uidelicet 
ipsis  bospitalariis  fabricandi  ecclesiam  in  proprio  fundo  facultatem 
liberam  preberemus  et  tarn  hospitale  quam  ipsam  ecclesiam  sub 
speciali  protectione  Romane  ecclesie,  duos  solides  Luccane  monete 
ad  indicium  libertatis  percepte  nobis  et  Romane  ecclesie  annis 
singulis  persoluendo,  recipere  ^eberemus.  Verum  quia  ex  eo  non 
credebamus,  quod  Aretina  ecclesia  sui  iuris  dispendium  sustineret, 
intellecto  postmodum  per  iam  dictum  episcopum,  quod  idem  hospi- 
tale a  prima  sui  fundatione  in  diocesi  sit  Aretina  constructum  et 
ei  diocesana*')  lege  subiectum  et  ecclesiam  habet  antiquam,  a  qua 
consueuerunt  habitatores  illius  ecclesiastica  recipere  sacramenta, 
cognoscentes  nos,  si  que  dicnntur  uera  sunt,  circumuentos '^^  uene- 
rabili  fratri  nostro  Castellano  episcopo  causam  ipsam  duximus*^ 
committendam.  Sed  idem  episcopus,  sicut  ex  litteris  eins  accepimus, 
circa  plurima  occupatus,  causae  decisioni  non  potuit  intendere 
memorate.  Inde  est  quod  fraternitati  tue  per  apostolica  scripta 
precipiendo  mandamus,  quatinus  inquiras  de  propositis  sollicite 
ueritatem  et,  si  tibi  de  assertione  pre[f]ati  episcopi-^  Aretini  suffi- 
cienter  constiterit,  non  obstante  quod  per  huiusmodi  circumuenti- 
onem  auctoritate  illarum  litterarum  circa  constructionem  noui  ora- 
torii  et  hospitalis  exemptionem  factam^)  cognoueris,  hospitalarios 
illos  episcopo  Aretino  et  ecclesie  baptismali  *),  sicut  ab  antiquo, 
subiacere  decemas  et  sibi  ut  hactenus  debere  in  spiritualibus  et 
temporalibus  respondere.  Nichilominus  quicquid  in  iuris  preiudi- 
cium eiusdem  Aretini  episcopi  circa  ipsum  Oratorium  attemptatum 

a)  Celestinus  seruus,  b)  Fesolanus.  c)  diocesiana.  d)  cir- 

cumuentus.         e)  diximus.         f)  episcopi  fehlt.         g)  factum.  h)  batismali. 


304  P-  Kehr,  Nachträge  zu  den  Papsturkunden  Italiens  n. 

reppereris,  auctoritate  apostolica  sine  appellationis  obstaculo  non 
differas  vacuare  et  facias  qnod  super  his  auctoritate  nostra  sta- 
tueris,  per  censuram  ecclesiasticam  inuiolabiliter  obseruari,  nullis 
litteris  obstantibus  harum  mentione  non  habita  a  sede  apostolica 
impetratis. 

Dat.  Lateran.  V  kal.  maii  pontificatus  nostri  anno  quinto. 

48. 

Celesün  III.  bestätigt  das  Abkommen  in  der  Streitsache  ^ivischen 
dein  Abt  Martin  von  Vallmnbrosa  und  dem  Abt  Bonitius  von  S.  Be- 
nedetto  in  Piacenza  über  das  Kloster  des  h.  Jacobus  in  Turin, 

Lateran  1196  Januar  13. 

Cornelii  Margarini  Tliesaurus  historicus  Vol.  III  f.  564  Renn 
Vat.  Ar  eh.  Arm.  LIV  t.  3  aus  dem  verlorenen  Begistrum  ValUs  Unv- 
h'osa£  f.  200 j  ehemals  im  Archiv  von  S.  Prassede  in  Born. 

Bas  BesJcript  steht  auch  in  den  Manushripten  von  Nannini,  Ge- 
novini  und  Nardi  und  ist  gedruckt  von  F.  Nardi  im  Bull.  Vallumbr, 
1).  82.     Vgl.  Italia  pontif.  III  96  n.  37. 

Celestinus  episcopus  seruus  seruorum  Dei.  Dilecto  filio  Mar- 
tino  abbati  Vallis  umbrosae  salutem  et  apostolicam  benedictionem. 
Frustra  imponeretur  litibus  finis  et  emergentium  negociorum  iurgia 
sopirentur,  si  qu^  bene  decisa  sunt  negocia  et  iudicio  uel  concordia 
proinde  terminata,  alicui  de  facili  reuocare  liceret  et  questionum 
decisiones  rationabiles  irritare.  Peruenit  siquidem  ad  audientiam 
nostram,  quod,  cum  inter  te  nomine  Yallisumbrosani  monasterii 
et  dilectum  filium  B.  abbatem  sancti  Benedicti  de  Placentia  super 
monasterio  de  Taurino  questio  uerteretur;  et  fuit  per  dilectos  filios 
magistrum  Gualzonem  canonicum  ecclesi^  Cremonensis  et  magistrum 
Aliotbum  de  uoluntate  partium  compositione  amicabili  terminata 
et  ad  petitionem  dicti  abbatis  de  Placentia  sedis  apostolicae  literis 
communita.  Verum  quoniam  super  eadem  compositione  literas 
confirmatorias,  sicut  dicto  abbati  sancti  Benedicti  concessQ  sunt, 
tibi  postulas  assignari,  ipsam,  sicut  sine  prauitate  qualibet  facta 
est  et  ab  utraque  parte  recepta,  auctoritate  presentium  confir- 
mamus  et  presentis  scripti  patrocinio  communimus.  Nulli  ergo 
hominum  liceat  hanc  paginam  nostrQ  confirmationis  infringere  uel 
ei  ausu  temerario  contraire.  Si  quis  autem  hoc  attentare  pr^- 
sumpserit,  indignationem  omnipotentis  Dei  et  beatorum  Petri  et 
Pauli  apostolorum  eins  se  nouerit  incursurum. 

Dat.  Laterani  idus  ianuarii  pontificatus  nostri  anno  quinto. 


Zur  Geschichte  des  Athanasius 
VII 

Vop 
E.  Schwartz 

Mit  einer  Tafel 
Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  30.  Mai  1908 

Im  Winter  1904/5  habe  ich  in  diesen  Nachrichten  eine  Reihe 
von  Mitteilungen  veröfFentlicht ,  in  denen  ich  mich  bemühte  das 
Fundament  für  die  Greschichte  der  kirchlichen  und  kirchenpoli- 
tischen Streitigkeiten  des  4.  Jahrhunderts  neu  zu  legen  und  die 
Ueberlieferungsgeschichte  der  zahlreichen  und  ausgiebigen  Urkunden 
aufzuhellen,  welche  jene  Geschichte  zu  einem  historischen  Object 
von  einzigem  Reiz  machen.  Trotz  den  Schwierigkeiten  die  das 
mangelhaft  veröffentlichte,  einer  philologischen  Behandlung  noch 
nicht  unterzogene  Material  bereitete  und  obgleich  mir  die  Zeit 
fehlte  zu  reisen  und  die  Hss.  persönlich  zu  durchforschen,  hoben 
sich  die  Reste  der  litterarischen  Polemik,  denen  der  größte  Teil 
jener  Urkunden  die  Erhaltung  verdankt,  und  die  ungemeine  Wich- 
tigkeit der  großen  und  alten  Sammlung  der  Concilskanones  deut- 
lich heraus.  So  ließ  sich  wenigstens  ein  Arbeitsprogramm  für 
den  oder  besser  die  Forscher  entwerfen ,  denen  die  bis  zum 
Ueberdruß  discutierten  dogmengeschichtlichen  Speculationen  nichts 
sagen  und  die  danach  verlangen  unmittelbar  aus  den  Documenten 
die  Mächte  kennen  zu  lernen,  die  in  der  lebendigen  Greschichte 
ihr  Spiel  getrieben  haben  und  durch  die  ja  auch  die  dogma- 
tischen Formulierungen  viel  mehr  als  durch  die  dialektische 
Entwicklung  der  Ideen  —  wenn  man  hier  von  Ideen  reden  will 
—  bestimmt  sind.  Daß  ich  mit  der  historischen  Ausdeutung  der 
Urkunden,    deren    Ueberlieferung    ich    untersuchte,    hier   und    da 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Kachrichten.    Philolog.-histor.  Klasse  1908.     Heft  3.  22 


306  E.  Schwartz 

schon  begann,  war  durch  die  philologische  Pflicht  das  zu  verstehen, 
was  man  liest,  begründet.  Nachdem  ich  in  dem  zuletzt  erschienenen 
Stück  [VI,  Nachr.  1905]  die  Documente  des  arianischen  Streits  bis 
zum  nicaeni sehen  Concil  zusammengestellt  hatte,  mußte  ich  ab- 
brechen, teils  um  anderer  Arbeiten  willen,  besonders  aber  weil  der 
Kampf  mit  dem  Mangel  an  kritisch  brauchbaren  Texten  aussichtslos 
wurde.  Ohne  eine  neue  Ausgabe  des  Gelasius,  die  es  ermöglicht 
die  Briefe  xmd  Edicte  Constantins  zu  interpretieren,  ohne  einen 
sicheren  Text  der  originalen  lateinischen  Kanones  des  oecidenta- 
lischen  Concils  von  Sardica,  ohne  eine  Vergleichung  der  Theodo- 
rethss.  wenigstens  für  die  durch  ihn  erhaltenen  Urkunden  war  in 
das  Grestrüpp  nicht  einzudringen,  das  die  Geschichte  der  nach- 
nicaenischen  Kirchenpolitik  Constantins  und  seiner  Söhne  über- 
wuchert, dank  der  modernen  Nachlässigkeit  und  Indolenz,  die  Athana- 
sius  Pamphlete  für  lautere  Wahrheit  nimmt  und  des  naiven  Glaubens 
lebt  daß  die  Distinctionen  der  Photinianer,  Homoeer,  Semiarianer, 
Macedonianer,  Eunomianer  usw.  usw.  in  dieser  Zeit  der  einzige 
Gegenstand  sei,  der  den  Schweiß  der  Edlen  verdiene.  So  habe 
ich  mich  entschließen  müssen  abzuwarten  bis  Loeschcke  seine  Aus- 
gabe des  Gelasius  vollendet  und  ich  mir  die  nöthigen  Collationen 
und  Photographien  zum  Theodoret  verschafft  habe;  durch  Turners 
liebenswürdiges  Entgegenkommen  sind  mir  die  Kanones  von  Sardica 
vor  Kurzem  zugänglich  geworden:  die  Hoffnung  daß  die  Ueber- 
lieferung  der  s.  g.  Fragmenta  historica  des  Hilarius  aufgeklärt 
wird,  ist  zu  gering,  als  daß  es  sich  lohnte  die  Fortsetzung  der 
Arbeit  von  dem  Erscheinen  der  Wiener  Ausgabe  abhängig  zu 
machen.  Nur  um  den  Artikel  Eusebius  in  der  Pauly-Wissowaschen 
Encyklopaedie  fertig  zu  stellen,  nahm  ich,  so  gut  es  gieng,  die 
Arbeit  wieder  auf  und  versuchte  ein  Bild  der  Kirchenpolitik  Con- 
stantins zu  zeichnen,  das  nicht  anders  als  skizzenhaft  ausfallen 
konnte.  Wenn  ich  jetzt  die  unterbrochene  Heihe  der  Mitteilungen 
fortsetze,  so  bin  ich  dazu  gezwungen  durch  einen  Angriff  der  die 
Methode  und  die  Problemstellung  schwer  bedroht,  ohne  die  m.  E. 
auf  diesem  Gebiet  nicht  vorwärts  zu  kommen  ist,  und  der  anderer- 
seits so  sehr  darauf  verzichtet  neues  Material  ins  Feld  zu  führen, 
daß  er  sofort  abgeschlagen  werden  kann.  Wenn  nicht  ein  autori- 
tativer Name  hinter  ihm  stände  und  es  auf  diesem  Gebiet  mehr 
urteilsfähige,  historisch  und  philologisch  geschulte  Arbeiter  gäbe, 
würde  ich  eine  Antwort  für  überflüssig  gehalten  und  dem  sach- 
kundigen Publicum  das  Urteil  über  den  von  mir  nicht  provocierten 
Angriff  überlassen  haben;    wie  nun  einmal  die  Dinge  liegen,    muß 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  307 

icli   das   Meinige   tun   um   den  Fortschritt   der    wissenschaftliclien 
Arbeit  zu  sichern. 

Der  Gregenstand  des  Streites  ist  das  nur  in  syrischer  Ueber- 
setzung  erhaltene  Schreiben  einer  Synode  von  Antiochien  an  Alex- 
ander von  Constantinopel,  das  ich  in  der  VI.  Mitteilung  zur  Ge- 
schichte des  Athanasius  [Nachr.  1905,  271  ff.]  veröffentlicht  habe. 
Am  Eingang  sind  die  Namen  von  56  Bischöfen  als  Absender  ge- 
nannt; an  der  Spitze  steht  ein  Eusebius,  der  weder  Eusebius  von 
Caesarea  noch  Eusebius  von  Nikomedien  sein  kann ;  meiner  dort 
geäußerten  Vermutung  nach  ist  Eusebius  von  Isaura  gemeint,  der 
auch  in  Nicaea  anwesend  war.  Wie  es  sich  für  ein  Synodal- 
schreiben gehört,  reden  in  der  Regel  die  Bischöfe  als  Gesammtheit 
in  der  ersten  Person  des  Plurals,  nur  in  dem  kurzen  Passus  am 
Anfang,  in  dem  erzählt  wird  wie  die  Synode  zusammenkam,  tritt 
ein  *Ich'  auf,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  jener  Eusebius,  der  an 
der  Spitze  der  Namenreihe  aufgeführt  ist.  Er  berichtet  nach 
Antiochien  gekommen  zu  sein  und  dort  eine  arge  Unordnung  ge- 
funden zu  haben ;  um  dieser  zu  steuern  habe  er  Bischöfe  der  Nach- 
barprovinzen Palaestina,  Arabien,  Phoenicien,  Coelesyrien,  Kilikien, 
Kappadokien  veranlaßt  dorthin  zu  einer  Synode  zu  kommen.  Da 
von  dem  Bischof  von  Antiochien,  der  rechtmäßiger  Weise  eine 
solche  Synode  hätte  berufen  müssen,  mit  keinem  Worte  die  Rede 
ist,  der  berufende  Bischof  vielmehr  ein  Fremder  gewesen  sein  muß, 
der  aus  eigenem  Antrieb  die  Synode  zusammenbrachte,  so  bleibt 
nur  die  Annahme  übrig,  daß  der  antiochenische  Stuhl  damals  va- 
cant  war. 

Das  'Ich'  redet  nur  so  lange  bis  die  Synode  zusammengetreten 
ist,  von  da  an  geht  die  Verantwortung  von  dem  Einzelnen  auf  die 
Synode  selbst  über.  Sie  stellt  fest  daß  sie  eine  arge  Vernach- 
lässigung des  kirchlichen  'Gesetzes'  und  der  Kanones  in  der  an- 
tiochenischen  Gemeinde  vorgefunden  hat,  weil  in  diesen  'Gegenden' 
keine  Synoden  der  Bischöfe  haben  abgehalten  werden  können.  Mit 
anderen  Worten:  die  Kirche  hatte  sich  in  Antiochien  noch  nicht 
wieder  reorganisiert,  nachdem  sie  durch  eine  heidnische  Verfolgung 
in  Unordnung  geraten  war,  und  es  war,  bis  die  Synode  berufen 
wurde,  nicht  möglich  gewesen  die  Bestimmungen  der  Kirchenzucht, 
die  besonders  eingeschärft  werden  mußten,  von  neuem  zusammen- 
zustellen. Die  Kanones  von  Ankyra  und  Neocaesarea,  ja  auch  die 
nicaenischen  führen  ja  unmittelbar  in  die  Reorganisationsarbeit 
hinein,  die  die  Bischöfe  nach  der  Verfolgung  Maximins  und  den 
Chicanen  des  Licinius  in  Angriff  nahmen.  Bei  diesen  letzten  An- 
griffen der  Kaiser  gegen  die  Kirche  war  eben  das  Wichtigste,  das 

22* 


308  ^-  Schwartz 

freilich  über  dem  blutigen  Glanz  der  Martyrien  gewöhnlich  über- 
sehen wird,  das  Bestreben  die  Gemeinden  führerlos  zu  machen  und 
zu  desorganisieren;  es  war  zunächst  durchaus  nicht  erfolglos,  schlug 
aber  nachher  ins  Gegenteil  um,  weil  der  Kampf  vom  Staat  aufge- 
geben wurde  und  die  Kirche  nach  315  oder  gar  323  ihre  Insti- 
tutionen mit  einer  Freiheit  ausbauen  konnte,  wie  nie  zuvor. 

Nach  dem  Anfang  des  Schreibens,  der  zu  den  Verhältnissen 
unmittelbar  nach  Licinius  Sturz  vortrefFKch  paßt  ^) ,  muß  man 
erwarten  daß  die  plötzlich  zusammengerufene  Synode  einige  Ca- 
pitel  des  Kirchenrechts,  die  in  Antiochien  besonders  in  Vergessen- 
heit geraten  waren,  in  Kanones  formulieren  wird.  Das  geschieht 
zunächst  nicht,  sondern  es  wird  als  erster  und  wichtigster  Gegen- 
stand die  Excommunication  die  der  alexandrinische  Bischof  Alex- 
ander über  den  Presbyter  Arius  und  Genossen  verhängt  hat,  auf 
die  Tagesordnung  gesetzt ;  daraus  daß  diese  Geschäftsordnung  aus- 
drücklich motiviert  und  beschlossen  wird,  ist  ersichtlich  daß  die 
Symode  nicht  zur  Beratung  von  Glaubens-,  sondern  von  Disciplinar- 
fragen  einberufen  war.  Nach  langer  Debatte  wird  eine  sxd-eöig 
niörecog  angenommen,  die  von  theologisch  und  dialektisch  geschulten 
Männern  aufgesetzt  ist :  sie  ist  eine,  z.  Th.  wörtlich  übereinstimmende 
Erweiterung  des  Credos  das  Alexander  von  Alexandrien  in  seiner 
Encyclika,  in  dem  tö^og  den  er  zur  Unterschrift  verschickt  hatte, 
und  in  dem  Schreiben  an  Alexander  von  Constantinopel^)  formuliert 
hatte:  wie  in  jenen,  so  fehlt  das  nicaenische  Schlagwort  öfioovöiog 
auch  hier  vollständig,  nicht  einmal  ovöia  oder  vTtoettteig  kommen 
vor.  Alle  56  im  Eingang  genannten  Bischöfe  nehmen  die  sx^eötg 
an;  hingegen  treten  drei  dagegen  auf,  Theodot  von  Laodikeia  in 
Syrien,  Narciß  von  Neronias  in  Kilikien  und  endlich  kein  ge- 
ringerer als  der  Kirchenhistoriker  Euseb  von  Caesarea.  Sie  werden 
überführt  Ajianer  zu  sein;  d.  h.  ihre  Einwände  werden  von  der 
Synode  als  Beweis  arianischer  Denkweise  angesehen ;  sie  selbst 
haben  sich  zu  den  Formeln  des  Arius  nicht  bekannt,  sonst  würde 
die  Synode  das  ausdrücklich  bemerkt,  ihr  Urteil  auch  nicht  bedingt 
ausgesprochen  haben.  Sie  kündigt  ihnen  nämlich  zwar  die  Gemein- 
schaft auf  und  fordert  auch  Alexander  auf  keine  iTtiCtokal  xolvcjvlxccl 
an  sie  zu  richten  oder  von  ihnen  anzunehmen,  hütet  sich  aber  wohl 
die  Excommunication  formell  auszusprechen,  sondern  läßt  den  drei 


1)  Constantin  im  Brief  an  Alexander  und  Arius  [Euseb.  Vit.  Const.  2,  66] : 
rbv  HOLvbv  r^f  ol-Kovfievris  ix&gbv  i^sXmv,  og  rccCg  isgais  vfiöäv  avv6doi,g  tijv  Scd-e- 
lutov  iavrov  yvAfiriv  dcvrioxricev.     Vgl.  Vit.  Const.  1,  51,  1. 

2)  Es  sind  Nr.  13—15  in  der  von  mir  Nachr.  1905,  265  ff.  aufgestellten  Liste. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  309 

Bischöfen  die  MÖgliclikeit  auf  einer  'großen'  Synode  in  Ankyra, 
die  offenbar  demnäclist  zusammentreten  soll,  Buße  zu  tun. 

Ich  habe  die  Synode  auf  den  Anfang  des  Jahres  325  gesetzt, 
in  die  Zeit  die  der  nicaenischen  unmittelbar  voraufgeht.  Licinius 
Verbot  Synoden  abzuhalten  [s.  o.]  ist  noch  in  frischer  Erinnerung, 
Der  arianische  Streit  ist  im  vollen  Gange,  aber  der  nicaenische 
Terminus  6^oov6Log  ist  noch  nicht  in  das  Credo  aufgenommen.  Daß 
die  Synode  welche  der  Kaiser  berufen  hatte  um  den  Streit  zu 
entscheiden,  erst  nach  Ankyra  geladen  und  dann  im  letzten  Augen- 
blick nach  Nicaea  umbestellt  wurde,  steht  durch  das  Schreiben 
Constantins  fest,  das  in  die  Kanonessammlungen  Aufnahme  ge- 
funden hat  und  von  mir  Nachr.  1905,  289  mitgeteilt  ist.  Endlich 
muß  grade  in  dieser  Zeit  der  Stuhl  von  Antiochien  vacant  ge- 
wesen sein.  Denn  in  dem  Exemplar  seines  to^og,  das  Alexander 
an  Melitius  den  Bischof  von  Sebastopolis  in  Pontus  schickte,  teilt 
er  am  Schluß  die  zustimmende  Unterschrift  des  antiochenischen 
Bischofs  Philogonius  mit;  in  Nicaea  unterschrieb  als  Inhaber  des 
Thronos  Eustathius,  der  frühere  Bischof  von  Beroea.  Es  muß 
also  Philogonius  kurz  vor  dem  nicaenischen  Concil  gestorben  sein ; 
da  Chrysostomos  [t.  I  p.  498*^]  als  officiell  gefeierten  Tag  seines 
Todes  oder  seiner  depositio,  was  kaum  einen  Unterschied  macht, 
den  20.  December  angiebt,  so  ist  der  20.  December  324  der  ter- 
minus  post  quem  für  die  Synode,  als  tenninus  ante  quem  ergiebt 
sich  das  Datum  der  nicaenischen  Synode,  der  19.  Juni  325  pSTachr. 
1904,  396  ff.]  von  selbst. 

Es  ist  ein  lebendiges,  farbenreiches  Bild  das  dieser  Synodal- 
bericht aufrollt.  Von  den  polemischen  Declamationen  des  Atha- 
nasius, der  grade  vom  nicaenischen  Concil  nichts  Thatsächliches 
erzählen  will  und  nur  dogmatische  Entrüstung  produciert,  sticht 
er  durch  die  actuelle  Unmittelbarkeit  ab,  und  wenn  er  hierin  mit 
den  Erlassen  Alexanders,  besonders  mit  dem  Schreiben  an  den 
Namensvetter  in  Constantinopel  zusammentrifft,  so  ergänzt  er  ihn 
in  wertvoller  Weise  dadurch  daß  er  zeigt  wie  in  den  östlichen 
Provinzen  der  orientalischen  Dioecese  die  Dinge  lagen;  vor  allem 
bietet  er  den  Schlüssel  zum  Verständniß  der  Haltung  die  Euseb 
von  Caesarea  in  Nicaea  einnahm.  Aber  man  will  sich  nun  einmal 
nicht  daran  gewöhnen  in  dem  arianischen  Streit  und  der  nicae- 
nischen Entscheidung  lediglich  einen  politischen  Kampf  um  die 
Macht  zu  sehen,  bei  dem  der  Kaiser  die  Hauptrolle  spielt,  und 
unter  dem  Druck  des  einseitig  dogmatischen  und  dogmengeschicht- 
lichen Interesses  ist  den  Kirchenhistorikem  die  Fähigkeit  abhanden 
gekommen   durch   aufmerksame   Interpretation    den  Urkunden   ge- 


310  E.  Schwartz 

schichtliches  Leben  zu  entlocken :  man  kommt  aus  dem  altgewohnten 
Jonglieren  mit  den  Grlaubensformeln  nicht  heraus  und  die  Vor- 
stellungen von  den  kirchlichen  Parteien  conser vieren  immer  noch 
die  Schemata  der  Ketzerhistorie.  So  ist  es  nicht  wunderbar  daß 
die  kirchengeschichtliche  Forschung  an  dem  Fund,  den  sie  bei 
einiger  Sorgfalt  und  Sprachkenntnis  längst  hätte  machen  können 
und  sollen,  achtlos  vorübergieng  und  von  dem  neugefundenen,  um- 
fangreichen Actenstück  nicht  weiter  die  Rede  war.  Jetzt  aber 
hat  Hr.  Harnack  es  für  nötig  gehalten  das  Stillschweigen  zu 
brechen.  In  einer  Mitteilung  der  Berliner  Akademie  vom  14.  Mai  d.  J., 
also  von  autoritativster  Stelle  aus,  erklärt  er  die  gesammte  Ur- 
kunde für  eine  Fälschung.  Sie  muß  ihm  einen  höchst  üblen  Ein- 
druck gemacht  haben,  denn  er  wird  nicht  müde  die  voll  gefüllte 
Schale  seiner  Verachtung  über  sie  auszugießen.  Gleich  im  i^nfang, 
ehe  er  irgend  einen  Beweis  vorgebracht  hat,  verkündet  er  in 
triumphirendem  Sperrdruck  [S.  478] :  das  Stück  ist  eine  grobe  Fäl- 
schung ohne  jeden  geschichtlichen  Wert,  und  nachdem  er  mit  tempe- 
ramentvoller Rhetorik  seine  Beweise  oder  das  was  er  dafür  hält, 
hat  sprechen  lassen,  bildet  ein  zweiter  Posaunenstoß,  ebenfalls 
gesperrt,  einen  eiFectvollen  Abschluß  [S.  483]:  es  ist  das  stümper- 
liafte  Machverk  eines  späten  Fälschers,  der,  selbst  geschichtlich  ganz 
unwissend ,  seinen  Lesern  alles  bieten  zu  dürfen  glaubte.  Mir  bleibt 
diesem  Lärm  gegenüber  nichts  anderes  übrig  als  an  wissenschaft- 
liche, für  die  Sensationen  der  Polemik  nicht  empfängliche  Leser 
zu  appellieren,  die  sich  durch  Hrn.  Harnack s  Vernichtendes  Urteil' 
nicht  abhalten  lassen  das  Document  gründlich  zu  studieren  und 
den  beiden  Angeklagten,  nämlich  dem  der  die  Fälschung  begangen 
haben  soll,  und  mir  der  sie  in  Curs  gesetzt  hat,  ein  unparteiisches 
Gehör  zu  schenken.  Von  einem  Neudruck  der  Urkunde  selbst 
sehe  ich  um  so  mehr  ab,  als  sie  in  der  von  Prof.  Schultheß  ver- 
anstalteten und  in  wenigen  Wochen  erscheinenden  Ausgabe  der 
syrischen  Kanonessammlungen  ohnehin  zum  zweiten  Male  publi- 
eiert  werden  wird. 

Wer  ein  Document  als  gefälscht  nachweisen  will,  hat  zunächst 
die  Ueberlieferung  zu  untersuchen;  Hr.  Harnack  beschränkt  sich 
auf  die  wegwerfende  Bemerkung  [S.  489]:  nur  in  einer  syrischen 
Handschrift  versteckt  ist  sie  (die  Fälschung)  auf  uns  gekommen.  Da 
er  unmittelbar  vorher  gesagt  hat  daß  andere  fraudes  Syrorum  mehr 
Erfolg  als  diese  gehabt  haben,  scheint  er  den  Fälscher  für  einen 
Syrer  zu  halten,  aber  doch  wohl  für  einen  der  griechisch,  nicht 
syrisch  schrieb:    wenigstens  citiert   er  stets  nur  meine  griechische 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  311 

TJebersetziing  ^) ,  nie  den  syrischen  Text.  Um  hier  keine  Unklar- 
heit zu  lassen,  stelle  ich.  zunächst  ausdrücklich  fest  daß  das  Synodal- 
schreiben mit  allem  was  daran  hängt,  aus  dem  Griechiscken  über- 
setzt ist.  Das  beweisen,  von  dem  ganzen  tenor  der  Sprache  und 
des  Satzbaus  abgesehen,  so  unsemitische  Wendungen  wie  ^äC^ 
Ji,AOÖ*,^^>,  jLojiyojJ^  woij  o6»  =  sig  Ti]v  'Avxio%8cov^  6  xi]g  AkoÖlkscov 
oder  das  häufige  K-^  =  ts:  am  Anfang  der  kritiscben  Bemerkung 
über  das  Fehlen  von  o^oovöLog  im  S3modalschreiben  [279,  8]  steht 
J^^  *l  ^j  jijj ,  deutlich  =  ^rjtriTEov  ds.  Nach  der  sxd^sötg  Ttiörscog 
wird  fortgefahren  [*277,  10] :  :  h\\\ » colli  ^^i-o  (lcn\n>ot  "^^w^o»  Jjo» 
^yiN>  iJ^o*-D  iUDOjQJaflD  oC^^o.  Äoa^fiolU  J^^t^  bedeutet  wört- 
lich 'sie  wurde  vorher  gesetzt',  kann  aber  nur  heißen  'sie  wurde 
vorgelegt':  beide  Bedeutungen  vereinigen  sich  in  TtQoersd-r}-).  Da- 
nach ist  derselbe  Ausdruck  auch  in  der  Parallelstelle  275,  10  zu 
verstehn ,  während  278,  4  rä  ngoKSifisva  mit  ^aäoH!  jo^j  ^:^ot 
wiedergegeben  ist. 

Die  Urkunde  stammt  aus  dem  Rechtsbuche  das  in  dem  be- 
rühmten Cod.  Parisin.  62  aus  dem  9.  Jahrb.  zusammengestellt  ist. 
Ueber  die  Bestandteile  der  Hs.  ausführlich  zu  handeln  ist  noch 
nicht  an  der  Zeit:  dazu  sind  die  Quellen  des  griechischen  wie  des 
von  diesem  abhängigen  syrischen  Kirchenrechts  noch  zu  wenig 
durchforscht.     Man  hat  sich  eben  immer  nur  um  die  dogmatischen 


1)  Wobei  es  nicht  ohne  Mißverständnisse  abgeht,  an  denen  mein  Griechisch 
trotz  seiner  Unvollkomraenheit  unschuldig  ist.  In  dem  Schreiben  heißt  es  [p.  274,  6] : 
)*jJLa  ioDQÄj  .^«JüDo  jooj  .'^««■iY»  )l)*,waD::ij  -ö)  '^ä  Mv-^-»  •^^*>s?°  JI^No*^  ^u«*^«,) 
iooj  lA:i^X)j  ^6^  :o^  ^\:i  |oo)  wD^jljdo  :  ^^xi^ftODj  yJÜj)  ^  |M.;oz>j  iop>  :)jQji50 
^o<  JloVJLjj  J&.*:iö*iä  |5>or>or>.2)j?  ^ojqjqqd  .«.yMi?.  Ich  übersetze  die  Stelle  so: 
svQO(isv  7ioXXr\v  atcc^iav  jw-aAtcr-ö"'  ort  iv  TtoXXoig  kniXntBv  [vgl.  Basü.  ep.  54  p.  148^ 
kmXsXoCitaöiv  Xomov  ot  xcbv  TtarsQcov  -nccvdvsg^  yial  -nurscpQOvrjd'ri  6  E-K-uXriaLa- 
üTiKOS  v6i).os  v-cu  Ol  yiccvovsg  iv  tau  ^sta^v  xqÖvchi  v%  ccv&QoiTtcüv  (oder 
ivLcov)  yioa^LTicbv  yial  Ttccvtag  yiaxaniTtccvrai ,  diori  v,Ev.mXvxo  STtioyiOTtcov  6v- 
vodov  avvax^fjvca  iv  tols  tcav  (isq&v  tovtcov  roTCoig.  Daraus  liest  Hr.  Harnack 
[S.  481]  den  Unsinn  heraus ,  daß  die  traurigen  Zustände  in  Antiochien  durch 
das  Verbot  der  Weltleute  (Welth  er r scher) ,  eine  Synode  abzuhalten, 
hervorgerufen  seien,  indem  er  ^20\:^^x>;  y^jü)  ;d  in  den  folgenden  Satz  mit  j  w.6^ 
zieht,  der  durch  einen  mit  o  eingeleiteten  Hauptsatz  deutlich  abgetrennt  ist,  und 
unter  avdgsg  'Koain'noL  Weltherrscher  versteht.  Das  ist  um  so  lustiger,  als  er 
mir  viel  eher  hätte  vorwerfen  können  daß  die  Ableitung  des  seltenen  Particips 
^xN\i^  von  Jxä^i.  nicht  sicher  ist ;  das  Ethpaal  der  Wurzel  )cl!o^  heißt  gewöhnlich 
äii(id^sLv,  rjßäv  und  unmöglich  ist  es  nicht ,  daß  im  griechischen  Text  etwas  wie 
^jr'  ivLOJV  vsaTsgiarcöv  dastand. 

2)  In  ähnlicher  Weise  ist  in  den  Kephalaia  zu  den  Osterbriefen  des  Atha- 
nasius nQ06ni(iq)d'ri  'er  wurde  geleitet'  sinnwidrig  mit  »jAonJ  )0jO  übersetzt,  vgl. 
Nachr.  1904,  343. 


312  ^-  Schwartz 

Formeln  gekümmert  und  die  historisch  viel  wichtigeren  Fragen 
des  Rechts  nnd  der  Rechtsqnellen  in  sträflicher  Weise  vernach- 
lässigt; ist  doch  über  die  griechischen  kanonischen  Hss.  so  gut 
wie  nichts  authentisches  bekannt.  Allerdings  wird  die  Unter- 
suchung dadurch  empfindlich  erschwert,  daß  die  griechischen  Texte 
wenigstens  des  Hauptteils,  der  Concilskanones,  auf  einer  jüngeren 
Redaction  beruhen  und  die  älteste  Ueb  erlief  er  ung  durch  die  la- 
teinischen und  syrischen  Uebersetzungen  vertreten  wird.  Jene 
werden  jetzt  von  Turner  in  einer  monumentalen  Ausgabe,  die 
leider  nur  langsam  voranschreiten  kann,  musterhaft  ediert;  diese, 
die  bis  jetzt  zum  größten  Teil  überhaupt  noch  ungedruckt  waren, 
sind  auf  meine  Veranlassung  mit  Unterstützung  der  Gresellschaft 
von  Prof.  Schultheß  herausgegeben  und  werden  binnen  Kurzem  der 
allgemeinen  Benutzung  zugänglich  sein.  Ich  muß  mich  hier  auf  das 
Notwendigste  beschränken,  das  aber  hinreichen  wird  um  zu  zeigen 
daß  die  Ueberlieferungsgeschichte  des  von  mir  veröffentlichten 
Synodalschreibens  auch  nicht  im  mindesten  den  Verdacht  einer 
Fälschung  nahe  legt. 

Den  Kern  der  griechischen  und  syrischen  Kirchenrechtsbücher 
bilden  die  Kanones  der  Concilien.  Es  ist  durch  Maaßens  ausge- 
zeichnete Untersuchungen  so  gut  wie  festgestellt  daß  eine  Samm- 
lung der  Kanones  von  Nicaea,  Ancyra,  Neocaesarea  und  Gangra 
durch  Hinzufügung  der  Kanones  von  Antiochien,  Laodicea  und 
Constantinopel  noch  vor  dem  chalcedonischen  Concil  zu  einem 
Corpus  canonum  ausgestaltet  wurde.  Dies  ist  schon  im  5.  Jahrh. 
ins  Syrische  übersetzt  und  zwar  mehrfach.  Die  chalcedonischen 
Kanones  sind  erst  später  hinzugewachsen,  wie  sich  schon  darin 
verrät  daß  sie  nur  einmal  übersetzt  zu  sein  scheinen.  An  diesen 
Kern  setzen  sich  zwei  Grruppen  von  Rechtsquellen  an:  erstens  die 
8.  g.  kanonischen  Briefe  und  zweitens  die  s.  g.  apostolischen  Kanones 
mit  anderen  mannigfaltigen  Compilationen ,  die  regelmäßig  durch 
die  Fiction  apostolischen  Ursprungs  legitimiert  werden;  diese 
letztere  Gruppe  ist  dann  wiederum  in  den  orientalischen  Kirchen 
zu  besonderen  Corpora  ausgestaltet  ^),  während  in  der  griechischen 
Kirche  die  junge  Ueberarbeitung  der  s.  g.  Didaskalie  und  jene 
Compilationen  zu  den  s.  g.  apostolischen  Constitutionen  vereinigt 
wurden.  Im  Ganzen  betrachtet,  ist  diese  Rechtsüberlieferung  von 
Fälschungen  frei  geblieben;  was  von  der  Art  vorkommt,  wie  die 
secundären  nicaenischen  Kanones,  ist  stets  schon  durch  die  sich 
abzweigende  und  absondernde  Ueberlieferung  verdächtig,   und  die 


1)  Ich  verweise  dafür  auf  Baumstark,  Oriens  christ.  1,  98  fF. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  313 

'apostolischen'  Kirchenordnungen  sind  so  wenig  Fälschungen  im 
eigentlichen  Sinne,  wie  die  Lehre  der  zwölf  Apostel,  die  ja  auch 
nnr  eine  Kirchen  Ordnung  ist  ^). 

Der  Cod.  Paris.  62,  den  Hr.  Harnack  am  Eingang  seiner  Mit- 
teilung mit  einigen  Trivialitäten  abfertigt,  gehört  nicht  zu  den 
ältesten  syrischen  Rechtsbüchern,  ist  aber  von  allen  das  gelehrteste. 
In  der  ältesten  syrischen  Kanoneshandschrift  [Brit.  Mus.  add. 
14528,  aus  dem  Anfang  des  6.  Jahrb.]  fehlen  die  'apostolischen' 
Bestandteile  noch  ganz ;  sie  enthält  nur  die  Kanones  von  Nicaea 
bis  Chalcedon.  Später  wachsen  jene  'apostolischen'  Bestandteile 
hinzu;  im  Cod.  Brit.  Mus.  14526.  Yat.  107.  127  [vgl.  Baumstark, 
Or.  Christ.  1,  132  f.]  findet  sich  außer  den  apostolischen  Kanones 
noch  ein  Stück  des  bekannten,  auch  griechisch  erhaltenen  Parallel- 
textes ^)  zu  Const.  apost.  8,  27 — 34.  42—46.  32  und  eine  ßecension 
der  tit^oi^)  (einer  sachlich  geordneten  Uebersicht  über  die  Ka- 
nones, die  sich  schon  in  der  ältesten  Hs.  findet),  die  die  apostolischen 
Kanones  hineingearbeitet  hat.  Die  pariser  Hs.  enthält  die  gleiche 
Recension  der  rtrAot  und  die  apostolischen  Kanones,  diese  aber  als 
achtes  Buch  der  zliaxd^sig  aito^xokcov  duä  KXrj^svTog.  Das  ist  der 
syrische  s.  g.  Oktateuch  der  'apostolischen'  Ordnungen,  eines  jener 
oben  erwähnten  orientalischen  Corpora,  über  das  ich  mich  begnügen 
muß  hier  auf  Baumstark,  Or.  christ.  1,  101  if.  nebst  der  dort  an- 
geführten Litteratur  zu  verweisen.  Von  Buch  1 — 3  und  6  dieses 
Oktateuchs  —  das  vierte,  fünfte  und  siebente*)  fehlen  ganz  — 
giebt  die  Hs.  nur  Auszüge;    sie  stehen   nicht   mit  dem  achten  zu- 


1)  Auch  die  Pastoralbriefe  und  große  Stücke  des  TIoLfiijv  müssen  so  aufge- 
faßt werden;  nur  spielen  hier  die  litterarischen  Formen  des  Briefes  und  der 
Apokalypse  modificierend  hinein.  Dagegen  ist  die  Vereinigung  der  Paraenese  mit 
den  Bestimmungen  über  die  Disciplin  und  die  Charismen  oder  die  kirchlichen 
Aemter  uralt  und  allen  Kirchenordnungen  gemeinsam. 

2)  Er  ist  am  besten  von  Funk  herausgegeben  [Didascalia  et  Constitutt. 
Apostol.  2,  72  if.].  Daß  er  darin  einen  Auszug  aus  dem  achten  Buch  der  apost. 
Constitt.  sieht,  ist  m.  E.  ein  Irrtum,  der  schon  durch  die  Sonderüberschriften 
des  Paralleltextes  widerlegt  wird.  Dagegen  wird  man  ohne  die  Annahme  nicht 
auskommen,  daß  die  orientalischen  Versionen  dieses  Textes  auf  Exemplare  zurück- 
gehn,  die  nach  den  apostolischen  Constitutionen  ergänzt  und  corrigiert  sind.  Eine 
Gesamtausgabe  der  orientalischen  Corpora  ist  ein  dringendes  Bedürfnis,  aber  in 
den  Originalsprachen,  nicht  in  Uebersetzungen. 

3)  Aus  der  Zusammenordnung  der  beiden  Stücke  erklärt  sich  daß  in  ara- 
bischen Sammlungen  die  apostolischen  Kanones  xitXol  genannt  werden  [Riedel, 
Kirchenrechtsquellen  d.  Patriarchats  Alexandrien  158.  Baumstark,  Oriens  christ. 
1,  113]. 

4)  üeber  seinen  Inhalt  vgl.  Baumstark,  Oriens  christ.  1,  120  f. 


314  ^-  Schwartz 

sammen,  worin  sich  noch  deutlich  ausprägt  daß  die  apostolischen 
Kanones  selbständig  überliefert  und  erst  nachträglich  in  jenen 
Oktateuch  aufgenommen  sind.  Außerdem  fügt  die  Hs.  von  'aposto- 
lischen' Stücken  noch  zwei  hinzu:  ein  Excerpt  aus  der  'Lehre  des 
Addai'  und  die  unschätzbare,  vornicaenische  Grundschrift  der 
apostolischen  Constitutionen,  die  s.  g.  Didaskalia.  Man  sieht  schon 
an  dieser  Grruppe,  wie  sich  der  Sammler  der  die  Hs.  zusammen- 
stellte, bemüht  hat  das  Material  zu  vermehren  und  wie  er  auf 
wertvolle  und  alte  Stücke  fahndete.  Von  Falschem  und  Spätem 
ist  nichts  darunter;  denn  wenn  auch  jener  Oktateuch  erst  im  8. 
Jahrh.  redigiert  sein  kann,  so  ist  das  Material  das  er  enthält, 
durchweg  erheblich  älter.  Endlich  ist  alles  ausnahmslos  aus  dem 
Griechischen  übersetzt. 

Dann  folgt  in  der  Hs.  der  Kern  des  Kirchenrechts,  das  Corpus 
canonum  der  Synoden  von  Nicaea,  Ankyra,  Neocaesarea,  Gangra, 
Antiochien,  Laodikea  und  Constantinopel  in  einer  besonderen,  von 
den  übrigen  syrischen  Hss.  abweichenden  Uebersetzung,  die  sich, 
im  Gegensatz  namentlich  zu  der  ältesten  Kanoneshandschrift  [Brit. 
Mus.  add.  14528],  bemüht  den  griechischen  Text  so  genau  wie 
möglich  wiederzugeben:  auch  darin  verrät  sich  der  gelehrte  Cha- 
rakter der  Hs.  Gegenüber  den  anderen  syrischen  Hs.  enthält  der 
pariser  Codex  noch  das  antiochenische  Synodalschreiben,  um  das 
es  sich  handelt,  und  einen  Bericht  über  das  nicaenische  Concil, 
der,  in  kürzerer  Fassung,  auch  bei  Gelasius  2,  27  und  in  lateini- 
schen Kanonessammlungen  ^)  [Maaßen  S.  39]  vorliegt.  Der  Bericht 
steht  nach  dem  Symbol  und  vor  den  Kanones;  mit  ihm  haben  das 
Datum  und  der  Brief  Constantins  über  die  Verlegung  der  Synode 
von  Ancyra  nach  Nicaea,  die  vor  das  Symbol  gestellt  sind,  nichts 
zu  tun. 

Da  in  den  älteren  griechischen  Hss.  des  Corpus  canonum,  wie 
sie  den  Syrern  noch  vorlagen,  die  Kanones  von  Chalkedon  fehlten,  so 
sind  schon  in  denjenigen  syrischen  Kanoneshss.,  die  damit  beginnen 
am  Anfang  apostolische  Bestandteile  hinzuzufügen,  zwischen  Con- 
stantinopel und  Chalkedon  andere  Kanones  eingeschoben,  für  die 
ich  einstweilen  auf  die  Beschreibung  des  Cod.  Mus.  Brit.  14526 
in  Wrights  Catalogue  2,  1035  verweise:  auch  in  dieser  Abteilung 


1)  Er  findet  sich  auch  in  den  koptischen  Stücken  auf  denen  Revillout  seine 
wirren  Phantastereien  über  das  alexandrinische  Concil  aufgebaut  hat  [Rev.  des 
quest.  histor.  t.  15,  329  ff.  und  Le  Concile  de  Nic^e,  ein  ebenso  weitschweifiges  wie 

inhaltloses    Buch].    Der  Schluß  des  Berichtes  über  das  Pascha  ist  griechisch  von 

Pitra,  Spicil.    Solesm.  4,  541  herausgegeben. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  315 

ist  im  Cod.  Paris.  62  das  Material  gewaltig  vermelirt,  und  zwar 
durchweg  um  alte  und  wertvolle  Stücke.  Zwischen  Constantinopel 
und  Chalkedon  sind  eingeschaltet: 

Zwei  Kanones  des  ephesischen  Concils,  nach  der  gewöhnlichen 
Zählung  der  7.  und  8.,  während  die  Grruppe  des  Cod.  Mus.  Brit. 
add.   14526  nur  den  7.  enthält. 

Das  karthagische  Concil  der  87  Bischöfe  [Cyprian.  ed.  Hartel 
1,  435ff.J  mitsammt  dem  70.  71.  und  64.  Briefe  Cyprians.  Nach 
Ausweis  der  Subscription  sind  diese  Stücke  im  Jahr  998  sei.  = 
687/8  aus  der  griechischen  Uebersetzung  des  Originals  ins  Syrische 
übertragen ;  in  griechischen  Hss.  haben  sich  von  dieser  Ueber- 
setzung nur  das  Concil  und  ep.  70  erhalten. 

Die  mit  dem  antiochenischen  Synodalschreiben  verbundenen 
Kanones,  über  die  noch  ausführlicher  zu  handeln  sein  wird. 

Ausgewählte  Aussprüche  aus  den  Ignatiusbriefen,  welche  die 
G-eltung  von  Kanones  haben.  Das  ist  ein  Versuch  die  Sitte  der 
kanonischen  Bischofsbriefe  bis  an  die  apostolische  Zeit  heranzu- 
rücken: dabei  sind,  was  wohl  zu  beachten  ist,  nur  die  echten 
Briefe  benutzt. 

Der  Brief  des  alexandrinischen  Bischofs  Petrus  über  die  lapsi^ 
eine  Reibe  von  Kanones  enthaltend.  Die  syrische ,  nur  in  der 
pariser  Hs.  erhaltene  Uebersetzung  giebt  den  Text  besser  und 
vollständiger   als    die    griechischen  Hss.     Vgl.  Nachr.  1905,  166  ff. 

Die  yäTtocpdösLg  xavoviKaC  des  alexandrinischen  Patriarchen  Ti- 
motheos  [nur  1 — ^15].  Sie  finden  sich  auch  in  der  Grruppe  des  Cod. 
Mus.  Brit.  add.  14526  und  sind  in  die  älteste  syrische  Kanones- 
handschrift [Cod.  Mus.  Brit.  add,  14528]  von  späterer  Hand,  außer- 
halb der  Reihe,  eingetragen. 

Das  Credo  des  orientalischen  Concils  von  Sardica  und  die 
Kanones  des  occidentalischen.  Die  unorganische  Verbindung  der 
beiden  Stücke  erklärt  sich  aus  der  s.  g.  Sammlung  des  Theodosius 
Diaconus,  über  die  ich  Nachr.  1904,  357  ff.  ausführlich  gehandelt 
habe.     Dort  folgen  aufeinander: 

13.  Das  Credo  der  orientalischen  Synode  von  Sardica;  der  la- 
teinische Text  stimmt  mit  dem  syrischen,  den  ich  aus  den  Cor- 
recturbogen  der  Schul theßschen  Ausgabe  kenne,  gegen  Hilar.  de 
synod.  34  und  [Hilar.]  frg.  bist.  3  über  ein. 

14.  Die,  nur  in  der  Sammlung  des  Theodosius  Diaconus  er- 
haltene, Notiz  über  die  von  den  Orientalen  aufgestellte  Ostertafel ; 
sie  kehrt  in  der  syrischen  Hs.  wieder  [Nachr.  1905,  379],  während 
die  Ostertafel  selbst,  die  ich  Abhdlg.  VIII  6,  121  ff.  herausgegeben 
und  erklärt  habe,  von  dem  Syrer  weggelassen  ist. 


316  E.  Schwartz 

15.  Das  Schreiben  des  Hosius  und  Protogenes  an  den  römischen 
Bischof  lulius :  fehlt  im  Syrer. 

16.  Die  Encyclika  des  occidentalischen  Concils :  im  Syrer  steht 
nur  die  Ueberschrift ,  in  der  die  Provinzen  aufgezählt  werden, 
deren  Bischöfe  an  der  Synode  teilnahmen. 

17.  Die  Kanones  des  occidentalischen  Concils.  Sie  waren  ur- 
sprünglich lateinisch  abgefaßt;  auch  die  Form  daß  jeder  Kanon 
als  Antrag  eines  mit  Namen  genannten  Bischofs  erscheint,  ist 
abendländisch,  wie  die  zahlreich  erhaltenen  Acten  von  afrikanischen 
Synoden  beweisen.  Wenn  nun  auch  diese  Kanones  in  das  alte 
griechische  Corpus  canonum  nicht  aufgenommen  sind,  so  müssen 
sie  doch  früh  ins  Griechische  übersetzt  sein,  und  der  Syrer  stimmt 
mit  der  Sammlung  des  Theodosius  Diaconus  darin  überein,  daß 
beide  den  griechischen,  nicht  den  originalen  lateinischen  Text  vor- 
aussetzen. 

Diese  Zusammenstellung  lehrt  unwiderleglich,  daß  im  Cod.  Par. 
62  das  griechische  Original  der  genannten ,  nur  lateinisch  er- 
haltenen Sammlung  excerpiert  ist.  Daß  diese  griechische  Acten- 
sammlung  auf  ein  Buch  zurückgeht,  das  367/8  veröffentlicht  wurde 
und  später  von  Suzomenos  benutzt  ist,  habe  ich  a.  a.  0.  bewiesen. 
Obgleich  der  Compilator  des  Rechtsbuches  den  Fehler  begangen 
hat  das  Credo  der  orientalischen  mit  den  Kanones  der  occidenta- 
lischen Synode  zusammenzukoppeln,  so  tritt  doch  auch  hier  wieder 
hervor,  ein  wie  altes  und  exquisites  Material  ihm  zu  Gebote  stand. 

Den  Abschluß  dieser  Abteilung  der  Hs.  bilden  kanonische 
Briefe  des  4.  Jahrb.,  die  auch  in  griechischen  Kanoneshss.  auf- 
treten: Athanasius  an  Amun  [Pitra,  iur.  ecclesiast.  Graec.  mon.  1, 
567  f.],  Basilius  an  Paregorios  [Pitra  1,  605  =  Bas.  ep.  55],  an  die 
Chorepiskopen  [Pitra  1,  608  =  Bas.  ep.  53],  an  Diodoros  [Pitra  1, 
602  =  Bas.  ep.  160],  und  die  ersten  drei  kanonischen  Briefe  an 
Amphilochios  [Pitra  1,  576  ff.]  in  eigentümlicher  Anordnung  [I  = 
188.  217  von  can.  56  an;  II  =  ep.  199;  III  =  ep.  217  bis  can.  55]. 

Auf  das  was  auf  die  chalcedonischen  Kanones  folgt,  brauche 
ich  hier  nicht  einzugehen :  es  hebt  sich  schon  aus  dem  was  ich 
mitgeteilt  habe,  deutlich  genug  heraus,  mit  welch  rarer  Gelehr- 
samkeit der  Compilator  das  Corpus  canonum  zu  der  eigentümlich- 
sten Kanoneshandschrift  die  wir  überhaupt  besitzen,  umgestaltet  hat. 
Es  spricht  nicht  gegen  die  Echtheit  des  antiochenischen  Synodal- 
schreibens, daß  es  nur  in  einer  syrischen  Handschrift  [S.  489]  er- 
halten i.st;  denn  diese  eine  Handschrift  ist  eben  eine  Leistung 
einzig  in  ihrer  Art  und  reich  an  Unicis.  Sie  enthält  keine  Fäl- 
schung im  echten  und  eigentlichen  Sinne   des  Wortes,    und  macht 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  317 

jedem  der  sich  ernsthaft  mit  ihr  beschäftigt,  nicht  den  Eindruck 
als  könne  sie  die  Ablage rungs statte  für  das  Product  eines  Igno- 
ranten gewesen  sein,  der,  ^selbst  geschichtlich  ganz  imtvissend,  seinen 
Lesern  alles  bieten  zu  dürfen  glaubte'.  Dinge  die  solche  Kraftworte 
verdienen,  dürften  in  den  kanonistischen  Handschriften  griechischer 
und  syrischer  Sprache  überhaupt  nicht  so  leicht  zu  finden  sein, 
am  allerwenigsten  aber  in  dem  Rechtsbuch  des  Cod.  Par.  62,  das 
ebenso  wie  die  Briefe  des  trefflichen  Araberbischofs  Greorgios  dem 
historischen  Sinn  der  Syrer  ein  glänzendes  Zeugnis  ausstellt  und 
dazu  ermuntert  der  syrischen  Ueberlieferung  ein  gewissenhafteres 
Studium  zuzuwenden,  als  Hr.  Harnack  es  für  der  Mühe  wert  zu 
halten  scheint. 

Die  Handschrift  ist  ein  Eechtsbuch:  sie  will  Ordnungen  und 
Kanones  oder  was  diesen  gleichwertig  ist,  zusammenstellen.  Wie 
sie  das  griechische  Original  der  Sammlung  des  Theodosius  Diaconus 
lediglich  um  der  Kanones  von  Sardica  willen  excerpiert,  so  teilt 
sie  auch  das  Synodalschreiben  von  Antiochien  nur  darum  mit,  weil 
im  Zusammenhang  damit  Kanones  überliefert  waren.  Auch  um 
diese  Tatsache  der  Ueberlieferungsgeschichte  hat  sich  Hr.  Harnack 
nicht  weiter  gekümmert;  wenn  er  sich  darauf  beruft  daß  die  Ka- 
nones noch  nicht  gedruckt  sind  [S.  481],  so  wußte  er  daß  ich  die 
Photographien  besitze  [Nachr.  1905,  280],  sie  hätten  ihm  selbst- 
verständlich zur  Verfügung  gestanden,  falls  er  sie  verlangt  hätte. 
Es  mußte  ihn  stutzig  machen  daß  Kanones  die  schon  Basilius  be- 
kannt sind,  mit  einer  Fälschung  die  er  ins  6.  oder  7.  Jahrh.  [S.  488] 
setzt,  durch  die  Ueberlieferung  zusammenhängen;  wenn  es  ihm 
glückte  den  Zusammenhang  zu  sprengen  oder  auch  die  Kanones 
als  gefälscht  nachzuweisen,  so  gewann  er  weitere,  schwer  für  seine 
These  ins  Gewicht  fallende  Argumente,  und  umgekehrt  hat  doch 
woh]  jeder  der  ein  unbekanntes  Actenstück  findet  und  herausgiebt, 
das  Recht,  von  seinen  Kritikern  zu  verlangen  daß  sie  alles  ohne 
besondere  Schwierigkeiten  zugängliche  Material  sorgfältig  durch- 
prüfen, ehe  sie  ihm  vorwerfen,  er  habe  sich  von  einem  unwissenden 
Fälscher  düpiren  lassen. 

Auf  den  Synodalbrief  folgen  in  der  pariser  Handschrift  zwei 
Notizen,  die  ich  Nachr.  1905,  279  mitgeteilt  habe.    Die  erste  lautet : 

{KA.»t^  \\o^  ifiD09QJa£D;  ötlo:^  o^^o  :^o)  3{  oYi^:>lo  o:»]^  ösj^\ 


318  E.  Schwartz 

jiiQJLo    ..  jLuLJt^9  JL3onnn*o>?   ^ochS '^N    ö^^t^Jl^o    :  J^JLLpli  JL^o^u^Jl^^ 

^  Griechisch  etwa:    ^Eniöxsilav   öe  tcsqI  TYjg  avtfig  vjtod'descDg  tä 

atftä  dt  itSQOv  yga^^iaTog  xal  JtQog  tovg  X7]g  'haXCag  snLdxonovg 
xovg  vno  rbv  r^g  ^syd^rfg  ''Paßrjg  d-QÖvov  aal  inoLi^öavto  xaxatvot 
TtQog  f^v  6VV080V  syyQacpov  aTtöxQLöLv  övvttd^s^Bvriv  naöi  rolg  M 
avxfig  G}Qi6^evotg  slts  tceqI  niöxsGig  ehs  negl  ixxkr}öLa6ti,xG)v  xavdvav' 
iv  ^t  xal  avtol  diatd^avteg  STts^ipav  Ttgbg  zavxriv  xf^v  ayCav  6vvodov 
xi]v  iv  ^AvxLO%eiai  6vvrid^QOL0^£vriv  xal  öl  avxf]g  TCQog  ndvxag  xovg 
xfig  \4.vaxokf}g  sitLöxonovg  xb  xavövag'  ovötvsq  xal  avxovg  ygohl^G)  601 
iv  xavxriL  xy]i  ßißkai  ^lax    bXiya^  Iva  xal  avxovg  ^dd-ricg. 

Die  Notiz  ist  nicht  von  dem  syrischen  Uebersetzer  oder  gar 
dem  Schreiber  der  Handschrift  verfaßt,  sondern  ebenso  aus  dem 
Griechischen  übersetzt  wie  das  Synodalschreiben  selbst;  das  be- 
weist schon  ^o  —  v!®  ^^  *^^^  —  *^^^'  -^^  ^^^  ^^^^  ^^°^  Griechen 
der  das  Synodalschreiben  von  Antiochien  auffand  und  der  Ver- 
gessenheit entriß,  nicht  nur  das  an  Alexander  von  Constantinopel 
geschickte  Exemplar  des  Synodalschreibens  vorgelegen,  sondern  noch 
ein  zweites  das  an  den  römischen  und  die  ihm  unterstellten  Bischöfe 
Italiens  gerichtet  war;  ich  erinnere  daran  daß  auch  Alexander 
von  Alexandrien  die  Excommunication  des  Arius  und  seiner  Ge- 
nossen dem  römischen  Bischof  anzeigte  [Nachr.  1905,  271].  Dies 
Exemplar  stimmte  mit  dem  an  Alexander  von  Constantinopel  ge- 
richteten wörtlich  überein  ^),  enthielt  aber  mehr :  es  müssen  Ka- 
nones  darin  gewesen  sein,  denen  der  römische  Bischof  mit  oder  im 
Namen  der  italischen  CoUegen  zustimmte.  Denn  außer  den  beiden 
Exemplaren  des  Synodalschreibens  lag  jenem  Griechen  noch  ein 
drittes  Actenstück  vor,  eben  die  römische,  das  Credo  und  die  Ka- 
nones  gutheißende  Antwort,  die  ebenfalls  Kanones,  25  an  der  Zahl, 
enthielt,  die  von  den  in  Antiochien  versammelten  Bischöfen  an 
alle  Collegen  in  der  Dioecesis  Oriens   mitgeteilt  werden   sollten*). 


1)  Ein  gutes  Beispiel  solcher  identischen  Exemplare  von  Synodalbriefen,  die 
trotz  wörtlicher  üebereinstimmung  neben  einander  in  Actenpublikationen  mitgeteilt 
wurden,  bietet  Athanasius  in  der  großen  Apologie  [37  ff.] :  da  teilt  er  zunächst 
das  Exemplar  der  Encyclika  mit,  das  die  occidentalische  Synode  von  Sardica  au  den 
alexandrinischen  Clerus  richtete,  und  dann  das  welches  an  die  Bischöfe  in  Aegypten 
und  Libyen  adressiert  ist. 

2)  Danach  nahmen  die  Abendländer  an  daß  die  antiochenische  Synode  länger 
zusammenbleiben  würde,  oder  sie  haben,  was  mir  wahrscheinlicher  ist,  die  Ant- 
wort auf  das  Synodalschreiben  an  die  Synode  adressiert,  aber  dem  Bischof  von 
Antiochien  geschickt  mit  der  Bitte  es  in  der  Dioecesis  Oriens  zu  verbreiten. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  319 

Wäre  der  Synodalbrief  eine  Fälschung,  so  müßte  der  stumpfsinnige 
Ignorant  dem  Hr.  Harnack  sie  zuschreibt,  nicht  nur  das  an  Alex- 
ander von  Constantinopel  adressierte  Exemplar,  sondern  ein  ganzes 
Actenfascikel  fabriciert  haben,  ohne  jede  Notwendigkeit:  denn  den 
Zweck  den  Hr.  Harnack  ihm  unterschiebt,    erreichte  er  durch  das 
Synodalschreiben  allein.     Die  Fälschung   rückt  außerdem    in  einer 
für  die  These  von  Hm.  Harnack  sehr  bedenklichen  Weise  zurück : 
sie  liegt  nicht  nur   vor   dem  syrischen  Uebersetzer,    sondern  auch 
vor  dem  Griechen  der  das  Actenfascikel  in  irgend  einer  Publication 
auftrieb  und  das  Synodalschreiben  zu  der  kanonischen  Synode  von 
Antiochien  stellte,  als  Anhang  zu  deren  Kanones.    Das  war  ein  Irr- 
tum, wie  es  ein  Irrtum  war,  wenn  in  derselben  Hs.  das  Credo  der 
orientalischen  mit  den  Kanones  der  occi dentalischen  Synode  von  Sar- 
dica  zusammengestellt  wurde;    aber   beide  Irrtümer  sind  in  völlig 
gutem  Glauben  begangen  und  rechtfertigen  nicht  im  geringsten  den 
Verdacht  der  Fälschung ;    die  in  der  Hs.  enthaltenen  Actenstücke 
der  Synoden   von  Sardica   sind  ja  von  unbezweifelbarer  Echtheit. 
Hr.  Harnack  setzt   sich  über  all   diese,   höchst   einfachen  und 
naheliegenden  Erwägungen  hinweg  [S.  485] :  unter  solchen  umstünden 
hat  es  natürlich  [!]  gor  kein  Interesse  das  zu  untersuchen,  was  in  der 
'Historischen  Notiz'    noch   hinzagefiujt    worden   ist.     Entweder   ist  der 
Fälscher   selbst  ihr  Verfasser    oder  ein  Späterer,    der    die  Fälschung 
geglaubt  hat.     In  beiden  Fällen  ist  die  ^Notiz\    die   von  einer  Korre- 
spondenz der  Synode  mit  den  italienisc/ien  Bischöfen  und  von  25  Ka- 
nones fabelt,   gleich   ivertlos.     Die  Korrespondenz   und   die   Kanones 
sind  übrigens  [!]   dem   nachgebildet ,   was    sich   auf  einer  späteren  an- 
tiochenischen  Sgnode    wirMich   zugetragen   hat   und    allgemein  bekannt 
war.     Zunächst  gilt  doch  den  gelehrten  Klerikern   gegenüber,    die 
redlich  die  Ueberlieferung  gesammelt   und    das  Ihrige   dazu  getan 
haben,    daß   sie  nicht  verloren  gieng,    die  alte  Juristenregel  quiuis 
praesunmtur  boniis,    und   es   steht    einem  Historiker  schlecht  an  da 
wo  er  auf  Spuren  von  Urkunden,    auf  Actenregesten  stößt,   diese 
in  die  Rumpelkammer  zu  werfen  ohne    sie   auch  nur  eines  Blickes 
zu  würdigen.     Wenn  das  Synodalschreiben  wirklich  eine  so  offen- 
kundige  Fälschung   wäre,    wie   Hr.  Harnack   seinen   Lesern    ein- 
zuschärfen nicht  müde  wird,    dann  wäre    es  seinem  Scharfsiifh  ein 
leichtes   gewesen    die   evidenten  Indicien    der   Fälschung    auch   in 
diesem  Regest   zu  finden   und    den  naheliegenden  Einwand   zu  be- 
seitigen,   warum   denn   der  Fälscher   auf   den   sonderbaren  Einfall 
kam    in   der   unverfänglichsten  Weise,    ohne  jede   Tendenz,    ohne 
jeden  sichtbaren  Zweck  über  ein  ganzes,  mit  dem  Synodalschreiben 
zusammenhängendes    Actenfascikel    zu   berichten.      Fälscher,    vor 


320  E-  Schwartz 

allem  ein  geschichtlich  so  unwissender  Fälscher  wie  derjenige  sein 
soll,  mit  dem  Hr.  Harnack  die  kirchenrechtliche  Litteratur  be- 
reichern möchte,  pflegen  mit  einfachen  Regesten  nicht  so  leicht 
^u  prunken,  oder  wenn  sie  es  tun,  sich  so  zu  compromittieren, 
daß  sie  sicher  zu  fassen  sind.  Ist  nun  aber  nicht  'der  Fälscher', 
sondern  einer  der  an  die  Fälschung  glaubte,  der  Verfasser  der 
Notiz,  dann  müßte  dieser  dumme  Geselle  —  und  nach  Hrn.  Harnack 
muß  er  sehr  dumm  gewesen  sein,  wenn  er  auf  die  Fälschung  hin- 
einfiel —  noch  immer  so  viel  Schlauheit  und  Bosheit  besessen  haben, 
daß  er  auf  die  Fälschung  an  die  er  glaubte,  eine  zweite  drauf 
setzte,  an  die  er  nicht  glaubte,  weil  er  sie  selbst  begieng,  eben- 
falls ohne  jeden  Sinn  und  Zweck.  Ob  solche  Möglichkeiten  einen 
wissenschaftlichen  Beweis  vertreten  können,  mögen  ruhig  denkende 
Leser,  die  sich  durch  Hrn.  Harnacks  Beispiel  nicht  verleiten  lassen 
die  Notiz  ungeprüft  zu  verdammen,  selbst  entscheiden;  sie  werden 
sich  auch  sagen,  daß  wenn  ohne  zureichenden  Beweis  so  sinnlose 
Fälschungen,  wie  sie  Hr.  Harnack  sich  construiert,  der  urkunden- 
reichen Ueberlieferung  des  4.  Jahrh.  zugetraut  werden  müssen, 
wir  am  besten  tun  die  historische  Forschung  über  diese  Zeit  über- 
haupt aufzugeben.  Von  was  für  einer  späteren  antiochenischen 
Synode  Hr.  Harnack  im  Schlußsatz  redet,  ist  mir  dunkel  geblieben, 
und  diesmal  habe  i  c  h  kein  Interesse  daran  zu  untersuchen  was 
für  ein  quid  pro  quo  hier  zu  Grunde  liegt. 

In  einer  zweiten  Notiz,  die  auf  die  erste  oben  mitgeteilte 
folgt,  werden  Bedenken  ausgesprochen,  nicht  gegen  die  Echtheit 
des  Synodalschreibens,  sondern  dagegen  ob  es  wirklich  zu  der 
kanonischen  Synode  von  Antiochien  gehöre,  also  nachnicaenisch  sei : 

OLAj^li  6i^}  yOJöt  ^  3(   r^cHiY»  ]^A^  (JL^bo   :ooof  ^o^^j  jjlnii^» 

•  ooot  ^ot>^^i 
Griechisch:  ^rjtrjtaov  dh  icag  xarä  ^AqbCov  ocal  t&v  avtai,  ö^o- 
döl^ov  ayovi^ö^svoL  ov  fis^vr^vtat  rov  o^oovöCov  dvö^atog  ovxoi  ol 
ayioi  xal  zf^g  ähfisCag  vnsQ^axoL  iTtCöxojcoL ,  xatrot  vGtsgov  iysvovto 
xf^g  ayCag  kv  NixaCai  CvvöÖov  xal  ol  7cXei6tOL  ai)tG)v  ^0av  kv  xolg 
ixsiös  öwax^-stöLv.  Daß  von  den  56  im  Anfang  des  Synodal- 
schreibens genannten  Bischöfen  die  meisten  auch  in  Nicaea  waren, 
konnte  der  bloßen  Namenreihe  nur  ein  gelehrter  Mann  entnehmen, 
der  die  nicaenischen  Subscriptionen  kannte,  und  diese  haften  in 
der  Ueberlieferung    an   den  Kanones.     Nun   enthalten  bekanntlich 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  321 

die  griechischen  Kanoneshss.  keine  Namenlisten  {mehr,  haben  sie 
aber  in  der  älteren  Zeit  gehabt,  wie  die  lateinischen  und  syrischen 
Uebersetzungen  beweisen.  Der  Verfasser  dieser  Notiz  kann  also 
so  ganz  jungen  Datums  nicht  sein.  Ob  er  aber  mit  dem  Grriechen 
identisch  ist,  der  jenes  Actenfascikel  auffand  und  in  das  Corpus 
canonum  hineinbrachte,  ist  zweifelhaft:  es  kann  hier  ebenso  gut 
die  Randbemerkung  eines  gelehrten  Lesers  vorliegen,  der  das 
Synodalscbreiben  schon  hinter  den  gewöhnlichen  antiochenischen 
Kanones  las  und  —  mit  vollem  Recht  —  das  nicaenische  o^oovöiog 
vermißte.  Er  muß  sich  trotz  seiner  Grelehrsamkeit  mit  mir  in  das 
Loos  finden,  daß  er  nach  Hrn.  Harnacks  Urteil  zu  den  Lesern  des 
Actenstücks  gehörte ,  denen  ein  unwissender  Fälscher  alles  zu 
bieten  wagte. 

In  der  oben  mitgeteilten  ersten  Notiz  verspricht  derjenige 
der  das  Actenfascikel  der  antiochenischen  Synode  in  das  Corpus 
canonum  eingefügt  hat,  die  25  abendländischen  Kanones  an  späterer 
Stelle  nachzutragen^).  Tatsächlich  erscheinen  auch  nach  den  Cy- 
prianstücken  Kanones  in  der  Hs.,  die  nach  der  lieber schrift  und 
Unterschrift  eben  jene  sein  sollen,  die  in  dem  Brief  der  italischen 
Bischöfe  an  die  Collegen  in  der  Dioecesis  Oriens  abgeschickt  waren: 

Grriechisch  etwa :  "Srt  cckXoi  xavövsg  e^  67CL0toXf}g  tfjg  jtaQ 
^ItaXCccg  TCQog  tovg  rfjg  ^AvaroXfjg  eTCiexoTCovg  yeyQa^^svrig'  oltcsq 
ine^cpd'Yi^av  vito  tßbv  hv  ^Avrio%sCai  övvrjy^svcov  67fL0KÖ^(ov: 

TsXog  ra)v  e%Kaids7ca  xavövcov  r&v  sx  rfjg  STaötolfjg  trjg  %aQ* 
''ItaXCag  ysyQa^^evrjg  TtQog  tovg  trjg  'AvatoXfjg  STtcaxoTtovg : 

Die  Kanones  aber,  die  von  dieser  Ueber-  und  Unterschrift  ein- 
gerahmt werden  ^),  können  nicht  diejenigen  sein,  die  von  Rom  nach 


1)  Die  Anrede  im  Singular  wjJL  >^o^  ^jj  jbn*)  kehrt  wieder  in  der  Einleitung 
zu  der  Uebersetzung  der  Cyprianstücke  [Lagarde,  reliqu.  iur.  ^tv>  14 ff.]:  da  ist 
es  bezeugt  daß  sie  dem  griechischen  Original  entlehnt  ist  [Lagarde  reliq.  iur.  gr. 
37,  23].  Da  die  Kanones  des  Synodalschreibens  in  der  pariser  Hs.  auf  die 
Cyprianstücke  folgen,  so  ist  es  wohl  möglich  daß  die  Ueber  lieferung  des  an- 
tiochenischen Actenfascikels  mit  dem  der  griechischen  Cyprianübersetzung  zu- 
sammenhängt, doch  muß  hier  weitere  Aufklärung  abgewartet  werden. 

2)  Sie  werden  binnen  Kurzem  in  der  Schultheßschen  Sammlung  veröffentlicht 
werden,  die  Correcturabzüge  haben  mir  schon  vorgelegen. 

Ktrl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.  Philolog.-histor.  Klasse  1908.     Heft  3.  23 


g22  E-  Schwartz 

^ntiochien  geschickt  wurden :  es  sind  nicht  25 ,  sondern  16 ,  wie 
die  Sabscription  bemerkt,  und  sie  sind  orientalischen  Ursprungs, 
denn  sie  operieren  fortwährend,  wie  ich  schon  Nachr.  1905,  280 
•bemerkte,  mit  den  Kategorien  der  TtQoöxXahytsg,  axQo&^svot,,  vtco- 
TcizTovreg,  die  dem  Occident  fremd  sind  [vgl.  über  sie  Nachr.  1905, 
171].  Da  nun  die  Ueberschrift  am  Schluß,  im  Widerspruch  mit 
sich  selbst,  behauptet  daß  die  Kanones  von  den  in  Antiochien  ver- 
sammelten Bischöfen  geschickt  seien,  so  sind  die  16  Kanones  nicht 
die  welche  von  Eom  nach  Antiochien,  sondern  die  welche  mit  dem 
Synodalschreiben  von  Antiochien  nach  Rom  geschickt  wurden:  sie 
sind  auf  derselben  Synode  festgesetzt,  die  Tbeodot,  Narciß  und 
Euseh  provisorisch  die  Gremeinschj^ft  aufkündigte.  Die  Verwirrung 
in  der  pariser  Hs.  ist  ebenso  zu  erklären,  wie  die  welche  auch 
die  Actenstücke  von  Sardica  dort  betroffen  hat:  bei  dem  Excer- 
pieren  des  Actenfascikels  der  antiochenischen  Synode  sind  dem 
Compilator  die  Rubriken  durcheinander  geraten,  die  Ueberschrift 
der  16  Kanones  zeigt  das  ja  durch  ihren  Tenor  selbst  an. 

Wie  ich  Nachr.  1905,  280  kurz  bemerkte,  haben  diese  Ka- 
nones schon  Basilius  vorgelegen,  als  er  den  dritten  kanonischen 
Brief  an  Amphilochius  [217]  schrieb^).  Der  große  Kirchenrechts - 
lehrer  will  in  diesen  Briefen  ausgesprochener  Maßen  die  Tradition 
sammeln;  was  er  selbst  hinzutut,  sind  Ableitungen  und  Correc- 
turen  nach  allgemeinen  Rechtssätzen  und  Analogien-).  Auch  für 
die  16  Kanones  läßt  sich  der  stricte  Beweis  führen  daß  sie  für 
Basilius  die  Tradition  vertraten,  die  er  gelegentlich  nach  seinen 
Rechtsgrundsätzen  umgestaltete. 

Bei  ihm  hat  der  Kanon  über  die  Vielweiberei  [ep.  217  can.  80] 
diese  Form:  ri^v  de  jcoXvya^Cav  ol  natSQsg  äne6i(07cri6av  a)g  xtrivcbdri 
xal  TcavTsXäs  äXXoxQiav  xov  ysvovg  tmv  ävd-QcoTicüv  ^),    fi^tv  dh  TtccgC- 


1)  a  —  t  der  antiochenischen  Kanones  =  Bas.  ep.  217  can.  65 — 74.  ta  = 
75.  76;  i^  =  77.  78;  iy.  i^  =  79.  80;  t7.  iq  =  82.  83.  Der  84.  Canon  der 
Ausgaben  ist  mit  Recht  in  der  pariser  Hs.  nicht  beziffert:  er  ist  keine  Satzung, 
sondern  eine  Schlußbetrachtung. 

2)  Ich  verweise  auf  meine  Bemerkungen  Nachr.  1905,  170,  wo  ich  auch  die 
wichtige  Stelle  aus  dem  ersten  kanonischen  Brief  an  Amphilochius  [188]  ange- 
führt habe:  yCyvstai,  rj^iiv  ÖLÖda-naXog  i)  tcsqI  xb  ScnoyiQivead'ai,  (isgiiiva..  ScfiiXsi 
xal  vvv,  ovöinots  Xaßovrsg  iv  tpgovtidi  zcc  insQat'^ficcTd  aov,  ijvayyidadififisv  ini- 
axs^aa&UL  ^ngißdas  xal  ei'  ti  xi  tj-kov  aafi  sv  n  ag  ä  x&v  ng  sa  ßvx  eq  oaVf 
&va(jLvriad'fivai  xal  xcc  av  yy  evi)  ^v  ^  S  i8  cc%%^r\ii  ev  ^  nag'  eavxmv  im- 
XoyCaaad^ai.  Meine  Mahnung  an  die  Rechtshistoriker  diesen  Briefen  ihre  Auf- 
merksamkeit zu  schenken,  ist  bis  jetzt  ungehört  verballt. 

3)  Wenn  die  Polygamie  ein  viehisches  Laster  genannt  wird,  so  ist  natürlich 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VIT  323 

draTKi  TcXeov  n  TtOQVsCag  stvcci  t6  a^äQtf]^a.  di'  o  svXoyov  tovg 
toiOVTOvg  vTCoßdXlsöd-ai,  tolg  xavööL^  dfiXov  ort  iviavtbv  jtQoöxXav- 
öavtag  xal  {ovo  ccxQoaöa^svovg  xal}  ^)  ^v  tqlöIv  vitOTteöovrag^  ot^rca 
ösxTovg  alvai.  Der  14.  Kanon  der  pariser  Hs.  hat  an  Stelle  von 
xovg  xoiovxovg  ^on  wjjj  Ji*viNS^  ^  )jlv>vo»y>  ^*üj)J  d.  h.  etwa  rovg 
ix  zav  Xaixcbv  7ti6tovg  [=  Laien  die  nicht  mehr  Katechumenen  und 
zur  Communion  zugelassen  sind]  roiovrovg  und  bringt  am  Schluß 
wichtige,    bei    Basilius   fehlende   Zusätze:    ^ooop  o.,q,»^*Njp  ^  ^^i 

o(^^  »ft<^vKi   %  ^NxgiJ   ^^^a^t-o   vP^^'^'^W'  ^   "^^^  ^^  ^^^    *'  v?^^^^ 

.^©♦-JLu  ^NoaN  jl^t^  11^  ^  ^y^h^  si  d'  ex  xCbv  xXriQLxav  slsv^ 
lisxä  xov  ex  xcbv  tcqoxsqov  ßad'^cjv  Tteöstv  diTtXaöia^Eßd-ca  hit^  avxolg 
oXog  6  xov  xavövog  XQ^'^^S'  ^^  ^^  ^^^  ^^  ^^^  lsqco^evcjv  [d.  h.  den 
Presbytern],  exßlrjd-rjxcjöav  xfjg  sxxXrjöCag  itdvxa  xov  xQOvov  ^£%Qt  xs- 
Xsvxfjg  xov  ßiov.  Basilius  hat  die  verschärften  Strafbestimmungen 
gegen  den  Klerus,  die  diesem  gemäß  dem  sittlichen  Empfinden  der 
alten  Kirche  eine  in  Rechten  und  Pflichten  hervorragende  Stellung 
anweisen,  gestrichen,  weil  sie  dem  Rechtsatz  ne  bis  in  idem  wider- 
sprechen, den  er  nicht  müde  wird  einzuschärfen:  die  Strafe  der  Aus- 
stoßung aus  dem  Klerus  darf  für  dasselbe  Vergehen  nicht  mit  anderen 
combiniert  werden.  Die  juristisch  correctere  Anschauung  lag  in 
dem  älteren  Kirchenrecht  unvermittelt  neben  jener  anderen,  die 
von  dem  dem  mehr  gegeben  ist,  auch  mehr  verlangt:  Basilius 
sucht  die  juristische  Analogie  straff  durchzuführen  und  arbeitet 
damit  die  privilegierte  Stellung  des  Klerus  scharf  heraus,  vgl.  ep. 
188  can.  3  äQ^alög  eöxi,  xavcov  rovg  äitb  ßaQ-^iov  jtSTtxcjxoxag  xovxcdl 
^övcoi,  XG)L  XQÖTtcoi  xfjg  xoXccöscog  vTtoßdXXsöd'ai'  ccxoXovd"ri6ccvxG)v,  cDg 
ofjLtat,  xwv  i^  ccQx^g  xg)l  v6[icol  exsCvcoL  xcbi  ovx  exö ixt^ös  ig  dlg 
inl  xb  avx6^\  xal  öi  exigav  8e  atxiavy  oxl  ol  ^hv  iv  xg)l  Xaixcbi 
ovxsg  xdynaxL^  exßsßXri^ivoi  xov  xÖTtov  xcbv  Ttiöxav,  TcdXiv  sig  xbv  ä(p^ 
ov  6^87ts6ov  XÖTtov  dvaXafjißdvovxaL,  6  dh  didxovog  [von  dem  Diakon 
ist  speciell   in   dem  Kanon    die  Rede]    ana^    e%ei    diagxf]  x^v  dCxriv 


die  wirkliche  Vielweiberei  gemeint,  nicht  die  mehrmalige  Wiederverheiratung,  die 
im  griechischen  Kirchenrecht  nach  Analogie  von  öiyccfiicc,  rgiycciiicc  usw.  auch 
TtoXvyaiiicc  heißt,  vgl.  Basil.  ep.  188  can.  4.  ep.  199  can.  50:  correcter  lautet  der 
Ausdruck  im  3.  Kanon  von  Neocaesarea :  nsgl  xcbv  TtXsiatoig  yccfiotg  TCSQtTCLTttovToav. 

1)  So  ist  nach  dem  antiochenischen  Kanon  zu  ergänzen :  die  Stufe  der 
ä%QooapisvoL  wird  in  den  griechischen  Bußregeln  nie  übersprungen. 

3)  Nahum  1,  9  nach  den  LXX,  die  entweder  einen  falschen  Text  voraus- 
setzen oder  falsch  übersetzen.  }-|12  ü^^ü^ti  Dipn  ifh  heißt  etwas  ganz  anderes, 
vgl.  Wellhausen,  kleine  Propheten  159. 

23* 


324  E-  Seh  wartz 

Tilg  xad'aLQBöecDg '  cog  ovv  ovx  ä7todLdo^8vr]g  avtcbt  rijg  dLaxovCag,  knl 
tavtrjg  ^ötrjöav  novrjg  rrjg  sxöiKijöSiog.  ep.  199  can.  32  ol  n)v 
jtQog  d'dvaxov  a[LaQtCav  cc^aQtdvovtsg  xXtjqlxoI  tov  ßad-^ov  xaxdyovxai^ 
*%fig  xoLVCovCag  de  tav  kaixcbv  ovx  i^e^Qyovrai'  ov  yuQ  ixd ixi^esig 
dlg  enl  rö  avrö.  ep.  217  can.  51  rb  xatä  rovg  xXT]Qixovg  dÖLo- 
Quötag  ol  xavövsg  s^sd^evro  xsXsvöavrsg  fiCav  enl  tolg  TtaQaneöovöLv 
OQi^söd'cci  XLiLOQiav  ^  xr)v  8X7txcoöLV  xfjg  vTtrjQSöLag ,  stxe  iv  ßad^^ac 
xvyxdvoiBv  ehe  xal  axeigod-excot  vTtrjQSölai  jTQoöxaQXSQotsv. 

Der  81.  Kanon  des  Basilins  fehlt  in  den  antiochenischen  Ka- 
nones.  Aus  guten  Gründen ;  er  ist  von  Basilius  hinzugefügt  wegen 
einer  actuellen  Veranlassung :  bei  einer  persischen  Razzia  waren 
viele  als  G-efangene  weggeschleppt  und  zum  Abfall  gezwungen,  die 
nach  der  Freilassung  zurückgekehrt,  wieder  um  Aufnahme  nach- 
suchten^). Am  Ende  des  Briefes  benutzt  Basilius  dasselbe  Er- 
eigniß  zu  einer  Bußpredigt,  die  die  Kanones  wirksam  abschließen 
soll:  st  yaQ  ^i]  STCaCdsvösv  rj^äg  xä  (poßeQcc  xov  xvqCov  ^rjöa  ai 
trjkLxavxai  TcXriyccl  elg  al'öd^rjöLV  ri^ccg  ijyayov  öxi  ötä  xtjv  ävoiiCav 
rjfiav  iyxaxeXiTtsv  rj^äg  6  xvQiog  xal  TtUQsdcjxsv  elg  %£lQCcg  ßaQßdgov 
xal  äitriypti  aix^dXcoxog  elg  xovg  noXe^iovg  6  Xabg  xal  Ttageödd-rj  xfji 
ÖLaöTtOQäL,  dioxL  xavxa  ixöX^cov  ol  xb  ovo^ia  xov  Xqlöxov  itegiipe- 
QOvxsg,  ei  ^rj  eyvcoöav  ^rjöe  övvf^xav  oxl  did  xavxa  ijXd'ev  ecp  rj^äg 
'fl  OQyri  xov  d^eov,  xCg  tj^iv  xoivbg  ngbg  xovxovg  loyog]  Mit  dieser 
eigenen  Bußpredigt  setzt  er  eine  Betrachtung  fort,  die  er  aus  den 
Kanones  des  antiochenischen  Synodalberichts  entlehnt  hat;  denn 
was  in  dem  fälschlich  s.  g.  84.  Kanon  des  Basiliusbriefes  vor  den 
eben  ausgeschriebenen  Worten  steht,  findet  sich  auch  in  der 
syrischen  Uebersetzung  der  Kanones  als  Schluß  [fol.  ITS'  der  pa- 
riser Hs.] :  Ttdvxa  da  xavxa  ygdcpo^ev  o^öxe  xovg  xagitovg  doxL^d^eöd-ac 
xf^g  ^lexavoCag.  ov  ydg  Jtdvxcog  xCbi  xqovoi  xgivo^ev  xä  xotavxa,  dXXä 
t&L  tgoTCGOL  xfjg  iiextvoiag  ngocexo^ev.  iäv  öh  öveajcoöJtdöxcag  ixaöL 
x&v  idtiDV  ed^&v  xal  xaig  ridovaig  xfjg  öagxbg  [läkkov  dovXeveiv  d'sXcoöiv 
rj  XG)i  xvgCcoi  xal  xriv  xaxä  xb  evayyehov  ^o'^v  fti)  xaxade%(ovxai^ 
ovdelg  rj^tv  ngbg  avxovg  xoivbg  Xöyog  [es  ist  zu  beachten,  wie  Ba- 


1)  'ETtSLÖTj  8^  TtoXloi  iv  rfii  x&v  ßaQßdgoai  v.axa8Q0^fii  naQfßriaav  rijv  elg 
Q'sbv  nCaxLv,  ogyiovg  id-viyiovg  inLxsXsaavxsg  xcfi  Sc&Sfiucov  xiv&v  ysvadfjievOL  x&v 
iv  xotg  sl8oiX<BC>oig  xoig  (layLnotg  TCQoasvsx&Bvxav  wbxotg,  ohxot.  xcera  rovg 
^'drj  nagä  x&v  Tiaxigcav  ijfi&v  i^svsx&ivxag  "Kuvovag  oinovofisiad'oiaav.  Aus  den 
Götzentempeln  der  Magier'  ergiebt  sich  daß  es  sich  um  einen  Persereinfall 
handelt:  da  er  rasch  vorübergieng  und  der  ßotensturm  alles  Interesse  absorbierte' 
^st  er  nicht  in  die  historische  Ueberlieferung  gelangt.  Nach  Hrn.  Harnacks  Recept 
müßte  allerdings  der  Brief  des  Basilius  atlietiert  werden,  weil  er  eine  geschicht- 
liche Thatsache  enthält,  die  mr  wissen  müßten,  wenn  sie  geschehen  wäre  [S.  482]. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  325 

silius  diese  Worte  in  seiner  eigenen  Schluß  predigt  wiederholt] 
ii^slg  yäg  ev  Xam  äiteidst  Kai  avxiXEyovti  dsöiddy^B^u  ccKovsiv  oxl 
ecji^cov  (ja)L^6  ti)v  ösavtov  ^v^riv  (j^irida  ötriig  Kai  öv^- 
7C tt Q a Iri ^(f) %" rii g)^)  [Gren.  19,17]:  ^ri  xovvvv  xarade^co^sd'a  övva- 
TtöXXvöd-at,  totg  rotovrocg  [Gen.  19,  15].  Passender  kann  ein  Synodal- 
brief der  Kanones  enthält,  nicht  abschließen.  Die  Ermahnung  an 
die  Bischöfe  die  Bußzeiten  nicht  mechanisch  aufzulegen,  sondern 
unter  Umständen,  wenn  gute  Früchte  der  Buße  zu  sehen  sind,  ab- 
zukürzen —  nebenbei  gesagt  ein  vorzügliches  Mittel  die  discre- 
tionäre  Disciplinargewalt  des  Bischofs  der  Gremeinde  gegenüber  zu 
stärken  und  zu  steigern  —  kehrt  in  den  Kanones  von  Ancyra 
[5.  7.  9.  16]  und  Nicaea  [12]  wieder  und  der  scharfe  Schluß  verrät 
daß  die  Gremeinde  für  die  die  Kanones  ursprünglich  erlassen  sind, 
arg  desorganisiert  und  in  Gefahr  war  in  die  'Gewohnheiten',  d.  h. 
ins  Heidentum  zurückzufallen.  Nun  beginnt  aber  das  erhaltene 
Exemplar  des  antiochenischen  Synodalbriefs  mit  beweglichen  Klagen 
über  den  Verfall  der  Kirchenzucht  in  Antiochien;  ja  es  läßt  sich 
noch  eine  besondere  Beziehung  nachweisen,  die  den  Eingang  des 
Synodalbriefs  mit  dem  Schluß  der  Kanones  zusammenkettet,  so  daß 
klar  wird  wie  das  Synodalschreiben,  das  Hr.  Harnack  für  eine 
stumpfsinnige  Fälschung  hält,  und  die  Kanones  denen  er  seine  Be- 
achtung versagt  hat,  ein  untrennbares  Ganze  bilden.  Der  Einberuf  er 
der  Synode  giebt  als  sein  Motiv  an  [274,  3] :  :  IJLs^jb  V-s^  U^V  ^ 
{)^i,*»v>  wOt  ii~*w-o!  Jv^o^iioö  vTtb  TtoXkcbv  yäg  dixaicjv  övvoizstrai  rj 
Ttolig.  Für  Hrn.  Harnack  [S.  479]  ist  der  Zusatz  etwas  [!]  unverständ- 
lich, d.  h.  weil  er  ihn  nicht  versteht,  soll  der  Leser  an  der  Echtheit 
der  ganzen  Urkunde  zweifeln.  In  Wahrheit  ist  das  Sätzchen  sehr 
leicht  zu  verstehen:  'weil  noch  viele  fromme  Leute  in  Antiochien 
sind,  hielt  ich  es  für  meine  Pflicht  in  außergewöhnlicher  Weise  eine 
Synode  zusammenzurufen  um  wieder  Ordnung  in  die  Gemeinde  zu 
bringen'.  Wenn  nun  die  frommen  Leute  dCzaiOL  genannt  werden, 
so  gehört  nicht  viel  Stilgefühl  dazu  um  zu  merken  daß  der  Mann 
in  alttestamentlicher  Manier  redet;  man  braucht  auch  nicht  lange 
zu  suchen  um  die  Stelle  zu  finden,  an  die  er  gedacht  hat:  es  ist 
Gen.  18,  23  if.,  die  Fürbitte  Abrahams  für  Sodom:  ^ij  öwaitoXs- 
öYiig  dUaiov  ^stä  äösßovg  xtX.  Die  Synode  hat  das  Ihrige  getan 
um  zu  verhüten  daß  die  'Gerechten'  mit  den  Ungerechten  zu  Grunde 
gehen,  und  versichert  nun  am  Schluß,  daß  wenn  ihre  Satzungen 
nichts  helfen,    kein    anderes  Mittel   bleibt   als   sich   von  den  laxen 


1)  >^lLo  \l^L  Do.    Basüius  hat  das  Citat  gekürzt. 


326  E-  Schwartz 

und  unverbesserlichen  Gemeindemitgliedern  loszusagen:  wiederum 
treten  Wendungen  auf,  die  bis  aufs  Wort  aus  der  alttestament- 
lichen  Erzählung  von  Sodom,  diesmal  aus  der  Rede  der  Engel  an 
Lot,  entnommen  sind  und  somit  auf  den  Beginn  des  Schreiben^ 
zurückgreifen. 

Es  ist  bewiesen  daß  die  16  Kanones  auf  derselben  Synode 
beschlossen  sind,  welche  das  Schreiben  erlassen  hat,  und  in  einem 
zweiten  Exemplar  dieses  Schreibens  mit  ihm  vereinigt  waren;  es 
ist  ferner  bewiesen  daß  die  Kanones  mit  dem  Schluß  des  Synodal- 
schreibens von  Basilius  in  dem  dritten  kanonischen  Brief  an 
Amphilochius  benutzt  sind.  Dieser  Brief  ist  nach  der  pontischen 
Reise  des  Basilius  geschrieben,  die  durch  ep.  216  auf  das  Jahr  376 
festgelegt  ist  [vgl.  Nachr.  1904,  371].  Daraus  geht  hervor  daß 
die  Kanones  mitsammt  dem  Synodalschreiben  älter  als  376  sind: 
die  Urkunde  hat  die  Prüfung  der  Ueb erlief erungsgeschichte  glänzend 
bestanden. 

Das  zweite  Erfordernis,  das  von  dem  wissenschaftlichen  Nach- 
weis einer  Fälschung  verlangt  werden  muß,  ist  die  Untersuchung 
der  Form  in  der  die  Urkunde  abgefaßt  ist:  auch  über  dies  Er- 
fordernis setzt  sich  Hr.  Harnack  hinweg.  An  der  Spitze  des 
Schreibens  steht  der  Name  des  Adressaten ;  durch  ihn  und  die 
Grußformel  sind  die  Namen  der  Absender  eingerahmt.  Hr.  Harnack 
behauptet  allerdings,  daß  die  Namen  sofort  auf  die  Adresse  ohne 
Gruß  folgen  \  S.  479] ;  das  verrät  aber  nur  das  Maß  von  Sorgfalt, 
mit  dem  er  das  stümperhafte  Machwerk  des  späten  Fälschers  [S.  483] 
gelesen  hat.  Denn  der  Gruß  ^  »«vnN  JL;.^aA  =  ^v  xvqCcol  xaCgsiv 
steht  hinter  den  Namen  deutlich  da,  ist  auch  in  meiner  Pnblication 
nicht  etwa  durch  Versehen  ausgelassen.  Durch  die  Namenliste 
selbst  wird  die  Echtheit  des  Documents  verbürgt;  sie  ist  sogar 
der  stärkste,  jedem  Zweifel  entzogene  Beweis  dafür.  Es  giebt  in 
der  publicistischen  und  kirchenrechtlichen  Litteratur  des  4.  Jahr- 
hunderts eine  stattliche  Reihe  von  solchen  Listen:  keine  einzige 
ist  gefälscht,  sie  sind  ausnahmslos  die  wertvollsten  historischen 
Documente,  freilich  ebenso  ausnahmslos,  wenn  man  von  der  nicae- 
nischen  Liste  absieht ,  nur  in  unvollkommener  Weise  oder  über- 
haupt noch  nicht  publiciert  und  niemals  wissenschaftlich  behandelt- 
Durch  das  Corpus  canonum  sind  aus  dem  4.  Jahrhundert  erhalten 
die  Listen  der  Concile  von  Nicaea,  Ancyra,  Neocaesarea,  Gangra, 
Antiochien  und  Cunstantinopel.  In  der  jüngeren  Recension  des 
Corpus  canonum,  die  in  den  griechischen  Hss.  vorliegt,  sind  diese 
Listen  meist  weggefallen;  sie  stehen  aber  in  den  lateinischen  und, 
am  besten  und  correctesten,  in  den  syrischen  Uebersetzungen,   die 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  327 

ans  der  älteren  Redaction  des  Corpus  übertragen  sind*).  Als 
Beispiele  von  Listen  die  mit  den  Actenpublicationen  der  Pübli- 
cistik  zusammenhängen,  aus  denen  auch  das  Actenfascikel  der 
antiochenischen  Synode  ursprünglich  stammt,  führe  ich  auf: 

Die  Unterschriften  des  alexandrinischen  und  mareotischeh 
Xleras  unter  der  Encyclika  Alexanders,  von  Athanasius  als  Bei- 
läge tu  de  decrcüs  Nicaenae  synodi  veröffentlicht,  vgl.  li'^achr.  1904, 
391  ff.  1905,  265.  295  ff. 

Die  Liste  des  melitianischen  Klerus ,  die  Melitius  nach  dem 
nicaenischen  Concil  Alexander  von  Alexandrien  übergab:  Äthan, 
apol.  c.  Arian.  71. 

Die  Namen  der  Bischöfe  die  auf  der  occidentalischen  Synode 
von  Sardica  anwesend  waren  oder  ihren  Beschlüssen  durch  nach- 
trägliche Unterschrift  beitraten:  Athanas.  apol.  c.  Arian.  50. 
Dazu  gehören  die  Unterschriften  unter  den  Briefen  derselben 
Synode  und  des  Athanasius  an  den  mareotischen  Klerus,  die  durch 
die  s.  g.  Sammlung  des  Theodosius  Diaconus  erhalten  sind ,  vgl. 
Nachr.  1904,  381. 

Die  Namenliste  des  orientalischen  Concils  von  Sardica:  [Hi- 
larius]  frg.  hist.  3. 

Die  Unterschriften  unter  dem  Synodalschreiben  von  Ankyra: 
Epiphan.  73,  11. 

Die  Unterschriften  der  Synode  von  Seleukeia  in  Isaurien: 
Epiphan.  73,  26. 

Die  Adresse  und  die  Unterschriften  des  von  Athanasius  an 
die  Paulinianer  in  Antiochien  geschickten  Tomos:  Äthan,  opp.  t. 
1,  770.  776. 

Zum  Schluß  mag  noch  auf  die  interessante  Notiz  hingewiesen 
werden  über  die  Subscriptionen  des  antiochenischen  Concils  von 
379,  die  sich  in  Nr.  3  der  s.  g.  Sammlung  des  Theodosius  Diaconus 
nach  6  vollständigen  Unterschriften  findet  [Nachr.  1904,  363]:  si- 
militer  et  alü  CXLVI  Orientales  episcopi  suhscripserunt,  quoriun  sub- 
scriptio  in  authentico  hodle  in  archiuis  Romanae  ecclesiae  tenetur. 

In  all  diesen  Listen  ist  auch  nicht  die  geringste  Spur  einer 
Fälschung   zu   entdecken  ^) ;    Fehler  der  Ueberlieferung   sind  keine 


1)  Vgl.  die  Notiz  in  der  isidorischen  Version  [Turner,  eccles.  occid.  mon. 
iur.  antiquiss.  2,  1,  48] :  conuenerunt  autem  in  synodum  memoratam  Ancyrae  [et] 
Caesareae  hü  quorum  nomina  et  loca  [das  trifft  nur  für  die  Synode  von 
Ancyra  zu]  in  greco  sermone  continent  ur. 

2)  Es  geht  jetzt  allerdings  die  Rede  um,  daß  die  nicaenischen  Listen  nach- 
träglich von  Athanasius    auf   deüi  s.  g.  Concü    von  Alexandrien   zusammengestellt 


328  E.  Schwartz 

Fälschungen.  Umgekehrt  finden  sich  in  den  wirklichen  auf  das  4. 
Jahrh.  bezüglichen  Fälschungen  wie  sie  sich  an  das  Nicaenum  an- 
gesetzt haben,  nirgend  Namenlisten :  vor  so  gefährlichem  Beiwerk 
nahmen  sich  die  Fälscher  in  Acht,  hatten  auch  gar  kein  Interesse 
dafür.  Es  wäre  einfach  beispiellos,  wenn  ein  obscurer,  unwissender 
Scribent  ein  von  ihm  fabriciertes  Sjmodalschreiben  mit  einer  Liste 
von  56  Bischofsnamen   ausstaffiert   hätte.     Die   äußere  Form  der 


seien.  Das  ist  ein  von  RevUlout  [s.  o.  S.  314]  in  die  Welt  gesetzter  Unsinn,  der 
sich  Punkt  für  Punkt  widerlegen  läßt.  Er  behauptet  1)  daß  jener  a.  a.  0.  erwähnte 
historische  Bericht  über  das  nicaenische  Concil  das  Protokoll  jenes  alexandrinischen 
Concils  sei,  was  nirgend  auch  nur  mit  einem  Worte  überliefert  ist ;  er  ist  überhaupt 
kein  Actenstück  und  verfolgt  wesentlich  den  Zweck  zu  entschuldigen  daß  in  der  Liste 
des  ersten  oekumenischen  Concils  verhältnismäßig  so  wenig  occidentalische  Bischöfe 
stehen;  2)  daß  diese  vonRevillout  erschwindelten  Acten  des  Concils  von  Alexandrien 
mit  dem  Synodikon  des  Athanasius  identisch  seien,  in  dem  nach  Socrat,  1,  13,  12 
die  nicaenische  Liste  stand.  Das  ist  einfach  haarsträubend;  wie  soll  der  röfiog 
einer  Synode  das  Synodikon  eines  einzelnen  Bischofs  genannt  werden?  Gar  nicht 
davon  zu  reden  daß  es  eine  absurde,  durch  keine  Ueberlieferung  oder  auch  nur 
Analogie  zu  stützende  Vorstellung  ist,  daß  eine  Synode  die  Namenliste  einer 
längst  vergangenen  publiciert.  In  Wahrheit  ist  das  Synodikon  des  Athanasius  eine 
Interpolation  im  Text  des  Sokrates  [Nachr.  1904,  398] ,  mit  der  man  endlich 
aufhören  sollte  Unfug  zu  treiben.  Die  Räubergeschichte  endlich,  daß  die  Arianer 
die  Acten  des  nicaenischen  Concils  verbrannt  hätten  [Le  concile  de  Nicee  6],  läuft 
auf  die  erschwindelte  lateinische  Correspondenz  zwischen  Athanasius  und  dem 
römischen  Papst  Marcus,  dem  Nachfolger  Sylvesters,  zurück  [Athanas.  opp.  t.  2, 
665];  alles  nötige  hatte  Hefele  schon  im  Jahre  1851  [Theolog.  Quartalschr.  1851, 
43]  darüber  gesagt.  Es  ist  mir  unbegreiflich  wie  ein  Forscher  von  dem  Range 
Geizers  Revillouts  dilettantisches  Geschwätz  hat  ernst  nehmen  können :  die  Stellen 
die  er  über  das  s.  g.  Concil  von  Alexandrien  [p.  XLIX]  vorführt,  bedeuten  nichts 
weiter  als  daß  362  in  Alexandrien  das  nicaenische  Symbol  für  gültig  erklärt  wurde, 
was  gegenüber  der  constantinopler  Synode  von  360  sehr  nötig  war;  übrigens  war 
das  Concil  von  Alexandrien  alles  andere  als  oekumenisch  und  hatte  keine  andere 
Tendenz  als  in  das  antiochenische  Schisma  einzugreifen  und  die  Meletianer  zur 
Gemeinde  des  Paulinus  hinüberzuziehen.  Wenn  Geizer  schließlich  verlangt  [p 
XLVII],  die  Liste  hätte  wie  die  Subscriptionen  der  späteren  Concilsacten  nach 
dem  hierarchischen  Range  geordnet  werden  müssen,  so  vergißt  er  dabei  1)  daß 
die  Metropolitanverfassung  325  noch  in  der  Entwicklung  war  und  2)  daß  die 
nicaenische  Liste  nicht  mit  den  Concilsacten  der  späteren  Zeit,  sondern  mit  den 
Synoden  des  4.  Jahrh.  und  mit  dem  Usus  der  Kanoneshss.  verglichen  werden  muß. 
Da  ist  in  den  Subscriptionen  nie  die  hierarchische  Ordnung  beobachtet,  sondern 
entweder  gar  keine  —  das  ist  das  gewöhnliche  —  oder  die  geographische.  So  ordnet 
Athanasius  z.  B.  die  Beitrittserklärungen  zum  Concil  von  Sardica  [apol.  c.  Arian. 
50],  80  sind  die  Subscriptionen  der  Kanones  von  Constantinopel,  ja  noch  von 
Chalkedon  geordnet.  Die  nicaenische  Liste  ist  genau  so  authentisch  und  ebenso 
unter  kaiserlicher  Autorität  publiciert  wie  das  Symbol  und  die  Kanones  auch; 
sie  verlangt  dringend  einen  sorgfältigen,  historischen  und  geographischen  Commentar. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  329 

Liste  ist  tadellos.  Daß  die  Namen  mit  der  Adresse  und  dem  Grruß 
verbunden  sind,  hat  seine  Analogie  in  den  Schreiben  der  antioche- 
nischen  Synode  gegen  Paul  von  Samosata  [Eus.  KGr  7,  30,  2],  der 
Synode  von  Gangra,  des  athanasianischen  Tomos  an  die  Antiochener; 
bei  der  kanonischen  Synode' von  Antiochien  steht  in  der  syrischen 
Uebersetzung  die  die  alte  Anordnung  am  treuesten  erhalten  hat, 
das  Schreiben  voran,  dann  die  Namen  an  der  Spitze  der  Kanones. 
Auch  der  üccident  liefert  Beispiele  für  diese  Art:  so  Cyprian  ep. 
70  oder  die  Ueberschrift  der  Schreiben  welche  die  römische  Sy- 
node der  93  Bischöfe  von  372  erKeß  [Nachr.  1904,  362  fF.].  Die 
Bischofssitze  sind  weggelassen:  grade  das  ist  der  ältere  Usus  der 
erst  allmählich  verdrängt  wird  und  immer  wieder  auftaucht.  Sie 
fehlen  ebenso  in  den  Adressen  der  Synoden  gegen  Panl  von 
Samosata  und  von  Grangra,  sowie  der  Briefe  des  afrikanischen 
Concils  aus  dem  3.  und  des  römischen  aus  dem  4.  Jahrhundert,  die 
eben  erwähnt  sind,  in  den  Unterschriften  des  Concils  von  Neocae- 
sarea  und  des  occidentalischen  Concils  von  Sardica  —  nur  in  den 
Grrüßen  die  dem  Brief  der  Synode  an  den  mareotischen  Klerus 
angehängt  sind,  sind  auch  die  Thronoi  z.  Th.  mit  aufgeführt  — 
sowie  in  denen  der  späteren,  'semiariani sehen'  Synode  von  Ankyra. 
Am  Ende  der  Einleitung  des  antiochenischen  Synodalschreibens 
giebt  der  Einberufer  die  Provinzen  an,  aus  denen  Bischöfe  zur 
Synode  gekommen  sind:  auch  das  entspricht  dem  Stil  der  älteren 
Synodalbriefe  des  vierten  Jahrh.  Die  langen  Aufzählungen  von 
Provinzen  in  den  Adressen  des  occidentalischen  [Äthan,  apol.  c. 
Ar.  86]  und  orientalischen  [[Hilar.]  frg.  bist.  3]  Concils  von  Sardica 
sind  bekannt,  ebenso  die  recht  renommistischen  in  der  Adresse 
des  Tomus  ad  Antiochenos;  am  Schluß  der  Namenliste  des  ka- 
nonischen Concils  von  Antiochien  steht,  nach  der  syrischen  Ueber- 
lieferung  ex  ÖLcccpögcov  STcaQii&v^  UvQiag  Koili]g,  ^OLvCxrig,  HaXai- 
ötCvrig,  ^AgaßCag,  MsöOTioza^iag^  KUixCag,  ^löavQiag,  in  den  Schreiben 
der  Synoden  von  Ankyra  [Epiphan.  73,  2]  und  Seleukeia  [^piphan. 
73,  25]  ist  ein  allgemeines  ex  dtaq)6Qcov  eitaQxicbv  an  Stelle  der 
Namen  getreten. 

Hr.  Harnack  hat  die,  allerdings  von  vornherein  vergebliche, 
Mühe  gescheut  auch  die  Namenliste  im  Einzelnen  als  das  stümper- 
hafte Machwerk  eines  späten  Fälschers  nachzuweisen ,  obgleich  man 
meinen  sollte  daß  ein  Fälscher  des  6.  oder  7.  Jahrhunderts,  der 
von  Chronologie  keine  Ahnung  hatte  [S.  488],  auf  einem  so  gefähr- 
lichen Terrain  wie  eine  Liste  von  nicht  weniger  als  56  Namen 
ist,  mit  Leichtigkeit  ertappt  werden  könnte.  Er  sagt  nicht  einmal 
ausdrücklich,  daß   die  Liste  gefälscht  sei,    sondern  schließt  daraus 


330 


E.  Schwartz 


daß  nach  meinen  Zusammenstellungen  49  (richtiger  48,  s.  u.)  von  den 
56  Bischöfen  auch  in  Nicaea  waren,  daß  das  Synodalschreihen  das 
Nicaentim  voraasetzt  [S.  483.  482J.  Den  Schluß  verstehe  ich  nicht; 
es  liegt  doch  auf  der  Hand  daß  eine  Synode  die  wenige  Monate 
vor  der  nicaenischen  in  der  östlichen  Reichshälfte  tagte,  im  Wesent- 
lichen von  Bischöfen  besucht  gewesen  sein  wird,  die  auch  an  jener 
teilnahmen.  Wenn  Hr.  Harnack  etwa  meint,  die  Liste  sei  aus  der 
nicaenischen  entlehnt,  so  spricht  dagegen  erstens,  daß  die  Rechnung 
nicht  aufgeht ;  denn  8  ^)  Namen  fehlen  dort,  darunter  zwei,  Moqimu 
--  ein  arabischer  Name  den  ein  Fälscher  des  6.  oder  7.  Jahrh. 
wahrhaftig  nicht  erfunden  haben  kann  —  und  Alexander^),  die 
auch  in  den  Subscriptionen  des  kanonischen  Concils  von  Antiochien 
erscheinen,  und  5  harmlose  Namen,  Irenaeus,  Rabbula,  Irenicus, 
Avidius  und  Terentius,  von  denen  namentlich  Rabbula  nicht  nach 
Fälschung  aussieht.  Zweitens  braucht  man  sich  nur  die  kleine 
Mühe  zu  machen  und  ilie  Liste  des  antiochenischen  Synodalschreibens 
mit  der  nicaenischen  zusammenzustellen  um  zu  sehen  daß  jene 
nicht  aus  dieser  abgeschrieben  sein  kann.  Damit  sich  jeder  sofort 
ein  Bild  von  dem  Sachverhalt  machen  kann,  setze  ich  die  Liste 
des  Synodalschreibens  mit  den  Nummern  der  nicaenischen  Sub- 
scriptionen und  den  Provinzen  her: 


Evösßiog 

190  Isaurien 

FQTjyÖQLog 

^2  i  Phoenici 

Evördd^tog 

50  Syrien 

Mdyvog 

^Aiiq)Cov 

84  Kilikien 

nixQog 

28  oder  69 

Baöetavog 

54  oder  71 

Aovylvog 

27  Palaestina 

ZrivößLOs 

51 

Syrien 

MaviXLog 

64  Syrien 

JIinsQLog 

57 

Moxi^og 

— 

2^aXafidvrig 

56 

Idyaniog 

177  Isaurien 

1)  Hr.  Harnack  zählt  7,  aber  nur,  weil  er  meine  Zusammenstellungen  nicht 
sorgfältig  nachgeprüft  hat,  s,  u. 

2)  In  der  syrischen  Liste  steht 

Nach  constantera  Gebrauch  der  Liste  wird  neben  dem  Thronos  auch  die  Provinz 
angegeben,  umgekehrt  ist  Uirgog  IIaXuiaxCvr\g  Unsinn.  Da  Petros  in  Nr.  28  der 
nicaenischen  Liste  als  Bischof  von  Nikopolis  in  Palaestina  aufgeführt  wii'd,  ist 
zu  emendiren: 

Auch  Moqimu  entbehrt  in  der  antiochenischen  Liste  des  Thronos;  er  und  Alex- 
ander werden  Chorepiskopen  gewesen  sein. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII 


331 


MaxsdövLog 

JTccvkog 

Baööiavög 

UdksvKog 

2J(07catQog 

^AvxCoxog 

MaxaQLog 

'Idxcjßog 

^Ekkccvixog 

Nixr]tccg 

!^QX£^ccog 

MaxQtvog 

FsQ^avög 

^AvatoXtog 

Zcotlog 

KvQiXlog 

UavUvog 

^AixLog 

McoöTig 

Evördd-Log 

Ake^avÖQog 


90  Kilikien 

31  oder  66 

54  oder  71  Syrien 

68  Syrien 

76  Arabien 

80  Mesopotamien 

21  Palaestina 

79  Mesopotamien 
44  Phoenicien 
87  Kilikien 
58  Syrien 
29  Palaestina 

22  Palaestina 
49  Phoenicien 
61  Syrien 

183  Isaurien 
89  Kilikien 
34  Palaestina 
86  Kilikien 
65  Syrien 


Eigrivatog 

"PaßßovXag 

JJavXog 

AovTCog 

Nixö^axog 

0LX6^£vog 

Md^L^og 

MaQtvog 

EvcpQavtLov 

TaQXcovdi^avrog 

Elgrivixog 

nixQog 

nriydöLog 

Ev^v^iog 

^döxXriTtiog 

'Alcpsiog 

Bdööog 

FegöviLog 

^HsviLog 

lAvCÖLog 


31  oder  66 

72  Arabien 
65  Syrien 
30  Palaestina 
23  Palaestina 
59  Syrien 

91  Kilikien 

28  oder  69 
70  Syrien 
95  Kappadokien 
37  Palaestina 
53  Syrien 

62  Syrien 

63  Syrien 

92  Kilikien 


—  Tsgavtiog 

Der  Fälscher  müßte  mit  geradezu  teuflischer  Schlauheit  sich 
die  ISTamen  aus  den  nicaenischen  Subscriptionen  herausgepickt  und 
dann  durcheinander  geschüttelt  haben,  damit  ein  solches  Verhältnis 
herauskommt.  Dabei  ist  zu  beachten  daß  es  durchaus  das  Gre- 
wöhnliche  ist,  wenn  solche  Listen  sich  um  die  Ordnung  nach  Pro- 
vinzen nicht  kümmern:  diejenigen  welche  die  Thronoi  mit  aufFühren^ 
wie  die  der  kanonischen  Synoden  von  Ankyra  und  Antiochien  oder 
die  des  orientalischen  Concils  von  Sardika  oder  des  Concils  von 
Seleukeia  erfreuen  sich  der  buntesten  geographischen  Unordnung. 
Schließlich  scheitert  jeder  Versuch  die  Liste  für  eine  nach  den 
nicaenischen  Subscriptionen  fabricierte  Fälschung  auszugeben  an 
dem  achten  der  dort  fehlenden  Namen,  an  Lupus.  Mit  diesem  in 
der  östlichen  Reichshälfte  gewißlich  seltenen  Namen  —  in  der 
Kirchengeschichte  des  4.  Jahrh.  kommt  er  meines  Wissens  sonst 
nicht  vor  —  kann  nur  der  Bischof  von  Tarsus  gemeint  sein,  der 
auch  an  den  Synoden  von  Ankyra  und  Neocaesarea  teilnahm.  In 
Nicaea   unterzeichnete    an    seiner   Statt   Theodorus  ^).     Man   kann 


1)  Diesen  Sachverhalt  hatte  ich  schon  Nachr.  1905,  287  auseinandergesetzt, 
ohne  viel  Wesens  davon  zu  machen.  Hr.  Harnack  hat  entweder  über  die  Beob- 
achtung hinweggelesen  oder  geglaubt  sie  nur  dadurch  widerlegen  zu  können,  daß 
er  über  sie  schwieg. 


332  E.  Schwartz 

gar  nichts  anders  als  scUießen  daß  Lupus  zwischen  den  Synoden 
von  Antiochien  und  Nicaea  gestorben  ist :  aus  der  Namenliste  läßt 
sich  der  schlagende  Beweis  führen,  daß  die  Synode  vomicaenisch 
ist.  Athanasius  führt  in  dem  Rundschreiben  an  die  aegyptischen 
und  libyschen  Bischöfe  [8]  die  Ealikier  Lupus  und  Amphion  (von 
Epiphania)  unter  einer  langen  Reihe  von  orthodoxen  Bischöfen 
auf:  wo  soll  Lupus,  der  nicht  in  Nicaea  war,  seine  Orthodoxie 
bewährt  haben,  wenn  nicht  auf  der  Synode  von  Antiochien? 

Die     Adresse     des    Synodalschreibens     lautet:    Jojto    ja  .»nS 

6/Lio^u;^cöt  ddskg)col  xal  övkleirovQ'yüi  ^Ale^dvÖQcai.  Dazu  bemerkt 
Hr.  Hamack  [S.  479] :  Dieses  o^oiljvxcot  findet  sich  auch  in  dem  echten 
Schreiben  des  Alexander  von  Alexandrien  an  diesen  Alexander  von 
Bijzanz.  Die  Bemerkung  scheint  sehr  überflüssig,  soll  aber  wohl 
auf  die  These  vorbereiten  [S.  486] ,  daß  der  Fälscher  seiner  Fäl- 
schung die  beiden  Schreiben  Alexanders  von  Alexandrien  zugrunde 
gelegt  und  sie  hauptsächlich  nach  ihnen  construiert  hat.  Das  tut  sie 
nun  freilich  nicht,  denn  o^öipvxog  gehört  zu  den  stehenden  Phrasen 
der  Anrede,  aus  denen  auf  fälschende  Imitation  zu  schließen  eine 
Absurdität  ist.  Philogonios  von  Antiochien  nennt  in  seiner  Unter- 
schrift den  1 6 flog  Alexanders  toi)  dsönörov  xal  o^otfjvxov  ^ov 
'AXs^dvÖQov  [Nachr.  1905,  267],  Alexander  von  Thessalonich  redet 
Athanasius  mit  oiiöjjjvxog  övlXsLtovQyög  an  [Äthan,  apol.  c.  Ar.  66], 
die  kanonische  Synode  von  Antiochien  adressiert  totg  xat''  iitaQyiav 
o^ofvxocg  xccl  äyCoig  evXksttovQyolg  und  ähnlich  die  spätere  Synode 
von  Ankyra  KVQioig  tL^Kotdtoig  xal  o^oiJjvxoLg  evlXsLtovQyotg  zoig 
ev  OoLVixrii.  Die  kaiserliche  Kanzlei  hat  die  Anrede  recipiertr 
Constantin  schreibt  an  Alexander  und  Arius  mit  der,  der  Wirklich- 
keit freilich  nicht  sehr  entsprechenden  Periphrase  [Eus.  Vit.  Const, 
2,68,  2]  TCQog  Trjv  o^öjjjvxov  v(ig)v  dyxivoiav. 

Es  ist  Hm.  Hamack  sehr  ärgerlich  daß  an  der  Spitze  der 
Namenliste  ein  Eusebius  steht,  mit  dem  er  nichts  anzufangen  weiß. 
Meiner  Vermutung  daß  es  der  aus  den  nicaenischen  Subscriptionen 
bekannte  Eusebius  von  Isauropolis  sei,  stellt  er  die  kategorische 
Behauptung  entgegen  [S.  487]:  Das  hann  natürlich  [diese  Partikel 
pflegt  Hr.  Hamack  mit  Vorliebe  zu  gebrauchen,  wenn  er  sich  den 
Beweis  ersparen  will]  nicht  sein.  So  verfährt  kein  Fälscher;  er 
braucht  einen  illustren  l^amen  !  Nach  dieser  Logik  würde  der  Fälscher 
sich  kaum  die  überflüssige  Mühe  gemacht  haben  56  keineswegs 
illustre  Namen  an  die  Spitze  seines  Machwerks  zu  stellen;  statt 
aber  auch  nur  einen  Augenblick  an  seiner  These  irre  zu  werden, 
zimmert  Hr.  Hamack  folgenden  Cirkelschluß  zusammen:  das  Docu- 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  333 

ment  ist  gefälscht,  also  darf  kein  obscurer  Name  am  Anfang  stehen; 
es  steht  aber  ein  solcher  da,  also  ist  er  falsch.  Ich  und  hoffent- 
lich alle  unparteiischen  Leser  werden  umgekehrt  schließen:  weil 
ein  gänzlich  unverfänglicher  Name  an  der  Spitze  steht,  ist  aus  ihm 
für  den  Beweis  der  Fälschung  nichts  zu  holen,  und  wenn  Hr.  Har- 
nack  den  Namen  wegbringen  muß  um  seinen  Beweis  der  Fälschung 
überhaupt  aufbauen  zu  können,  so  taugt  eben  dieser  Beweis  nichts. 
Ihm  ist  allerdings  mit  einem  Schlage  Mar  geworden  daß  Eustathius 
an  den  Anfang  gehört,  und  die  Adresse  zu  lesen  sei  tcbi  äyicoi  Kai 
ofto^v^coi  ddsX(pa)L  äyaTtr^rcbi  xal  CvXXaurovQym  ^AXei^dvdQcoi  {tm) 
svösßsl  Evördd-iog  ktL  Das  ist  eine  Conjectur  nicht  zum  syrischen 
Text,  sondern  zu  dessen  griechischem  Original  oder  vielmehr  im 
günstigsten  Falle  zu  dem  Text  aus  dem  die  griechische  Hs.  welche 
der  Syrer  übersetzte,  abgeschrieben  ist :  denn  in  dieser  selbst  muß 
nach  dem  Zeugnis  des  Syrers  Evösßiog  gestanden  haben.  Nun 
pflegt  man  solche  Eingriffe  sich  nur  zu  erlauben,  wenn  der  Beweis 
der  Corruptel  mit  Evidenz  geführt  ist,  und  mindestens  den  Leser 
darauf  aufmerksam  zu  machen  daß  man  nicht  einen  wirklich  vor- 
handenen, sondern  einen  supponierten  Text  corrigiert;  aber  auch 
von  solchen  philologischen  Pedanterien  abgesehen,  ist  es  mit  der 
Klarheit  die  Hm.  Hamack  mit  einem  Schlage  gekommen  ist,  nicht 
weit  her :  warum  schließt  er  denn  den  Artikel  vor  svösßet  in  eine 
mehrdeutige  Klammer  ein?  Wenn  er  schließlich  mir  den  Rat 
erteilt  den  Text  in  derselben  Weise  zu  verbessern,  so  muß  ich 
mir  das  mit  Entschiedenheit  verbitten:  ich  weiß  zwar  selbst  am 
besten,  wie  mangelhaft  meine  griechischen  TJebersetzungen  sind, 
aber  einen  so  groben  Schnitzer  begehe  ich  nicht,  wie  der  ist  den 
Hr.  Harnack  in  die  Adresse  hineinbringt.  In  den  Briefen  des 
4.  Jahrh.  ist  die  ältere  Form,  die  Titel  oder  Höflichkeit s anrede 
hinter  den  Namen  setzt*),  zwar  noch  nicht  ganz  verdrängt,  tritt 
aber  doch  hinter  der  jüngeren  Weise  zurück  die  Praedicate  der 
Anrede   vor   den  Namen   zu  stellen  ^) :    dagegen   ist   es   unmöglich 


1)  Z.  B.  Athanas.  apol.  c.  Arian.  78  und  79  ^lavCan  ^LOvvaLcot,  tcbi  Iccfi- 
ngordtaa  K6(iritL.  Dionys  von  Alexandrien  im  kanonischen  Brief  an  Basileides 
JiovvGios  BaGilsLÖriL  xm  ccyccTtrit&L  ^ov  vtcbi  "KuI  icdsXcp&i  ovXXsLtovQyüL  yial 
d-aoTtQBTtai.  So  hat  Lagarde  [reliq.  iur.  eccl.  p.  55,  6]  richtig  ediert;  Feltoe 
[Dionysius  of  Alexandria  p.  94]  durfte  das  in  einigen,  nicht  allen  Hss.  über- 
lieferte Kai  vor  övXXsLtovQy&L  nicht  aufnehmen.  Zu  dieser  Form  gehört  auch 
das  schematische  ccyaTiritotg  ccdsXcpots  oder  nvQioLg  tLfiicoTdtoig,  das  hinter  den 
Namen  [Brief  des  lulius  von  Rom,  Äthan,  apol.  c.  Arian.  21]  oder  der  Collectiv- 
anrede  eingeschaltet  wird  [Äthan,  apol.  c.  Arian.  1.  37.  57.  77]. 

2)  Die  Beispiele  sind  massenhaft:  ich  führe  nur  einige  an,  die  mir  grade 
am  Wege  liegen  und  in  die  gleiche  Sphäre  gehören  wie  das  antiochenische  Synodal- 


334  ^    Schwartz 

durch  den  Namen,  wie  Hr.  Harnack  es  tut,  die  Praedicate  in  zwei 
Teile  zu  zerschneiden.  Denn  dadurch  wird  das  was  hinter  dem 
Namen  steht,  zum  individuellen  Beinamen,  dem  directen  Gregensatz 
des  allgemeinen,  dem  Stande  geltenden  Höflichkeitspraedicates ; 
es  ist  platterdings  unmöglich  daß  ein  einzelner  christlicher  Bischof 
den  Beinamen  Plus  offiziell  geführt  hätte  wie  weiland  der  Kaiser 
Antoninus.  Wäre  die  von  Hm.  Harnack  construierte  Anrede 
überliefert,  so  würde  sie  entweder  zu  corrigieren  sein  oder  für 
die  Schreiberei  eines  Illiteraten  zu  gelten  haben  oder  das  stümper- 
hafte Machwerk  eines  Fälschers  verraten:  derartiges  aber  über 
einen  übersetzten,  gänzlich  unversehrten,  der  Corruptel  in  keiner 
Weise  verdächtigen  Text  hinweg  in  ein  zu  erschließendes  Original 
hineinzukorrigieren,  ist  ein  unerhörter  Gewaltstreich. 

Ich  hatte  angenommen  daß  der  an  der  Spitze  der  Liste 
stehende  Eusebius  die  Synode  einberufen  und  geleitet  hat  und  mit 
dem  identisch  ist,  der  am  Eingang  des  Schreibens  in  erster  Person 
redet  und  motiviert  daß  die  S3mode  überhaupt  stattgefunden  hat. 
Denn  sie  war  ungewöhnlich,  weil  sie  nicht  von  dem  antiochenischen 
Bischof,  sondern  von  einem  Fremden  berufen  war.  Das  folgt  alles 
einfach  und  ungezwungen  aus  dem  Text  und  stimmt  mit  der 
anderweitig  feststehenden  Tatsache  überein,  daß  damals  der  anti- 
ochenische  Thronos  vacant  war.  Hr.  Harnack  vermag  sich  freilich 
den  Vorgang  nicht  vorzustellen  [S.  485] :  diese  Art  wie  die  Synode 
zasanmiengekonimen  sein  und  tvie  ein  obskurer  Mann  hier  das  Wort 
geführt  haben  soll,  ist  ebenso  unglaithlich,  um  nicht  zu  sagen,  unmög- 
lich, u'ie  alles  [!]  übrige.  Gewiß,  eine  gewöhnliche  Synode  wie  sie 
in  den  Compendien  der  Dogmengeschichte  zu  Dutzenden  figurieren, 
war  die  antiochenische  von  325  nicht.  Aber  die  Zeit  war  unge- 
wöhnlich,  die  Gemeinden  mußten  sich  von  dem  Druck  der  letzten 


schreiben.  Briefe  des  Arius  Epiphan.  69,6  =  Tbeodoret  1,  5, 1  tivg^ai  nod-si- 
votdcrcaL,  Scv^Q^nav  <9"fov  niat&i  dg^odd^coL  Evasßicoi ;  des  Arius  und  seiner  An- 
hänger Epiphan.  69,  7  =  Äthan,  de  synod.  16  (iwuccgiaL  ndnai  xai  i7ti6%6'jtaii 
rjfimv  'JXs^ccvSqcol]  des  Eusebius  von  Nikomedien  Theodoret.  1,6,1  t&i  dsanoTrii 
fiov  JJavXCvwi ;  Alexanders  von  Alexandrien  Nachr.  1905,  266  [aus  dem  Syrischen 
übersetzt]  xmi  Ssan6triL  xai  avXXsixovQycäi  (lov  biLoipv%(ai  MeXitCon,  Theodoret. 
1,  4,  1  rc6i  tifiKOTcHxcoi,  &8sX(pä)i  xal  öfioxpvxan  'AXs^ccvdgaii',  Alexanders  von  Thessa- 
lonich Atlianas.  apol.  c.  Ar.  66  xvp/wt  ScyanriTm  vtcöi  xal  6iio\l)vx(ot  ffvXXBirovgy&L 
^A^avaala>L ',  der  Synode  von  Konstantinopel  Theodoret.  2,28  xvp/coi  rtfitcoTarcot 
iniaxoTiai  rfig  'AXe^avSgsiag  reaygyioat ;  der  Synode  von  Alexandrien  Theodoret.  4, 3, 1 
[Athana^ius  t.  1,  780  läßt  die  Ueberschrift  weg]  tot  s'bXaßsardTiot,  xal  (pdav&gio- 
notuxaii.  iVTtxTjr^t  Avyovaxai  'laßiavän]  des  ancyrenischen  Klerus  von  der  Partei 
des  Marcellus  Epiphan.  72,  11  xoig  aCösöiiiaytdxoig  xal  ccyiaxccxoig  imcKOTtoig 
xoig  iv  JLonaiaagBCai  hntgogia^doiv  hn%g  xfig  sig  xbv  a(oxf)ga  t)(i&v  '/»jffoCv 
Xgiaxbv  6gd'od6^ov  nCcxeoig. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  335 

Jahre  unter  Licinius  erst  wieder  sammeln,  der  arianische  Streit 
wühlte  die  Kirche  immer  tiefer  auf,  es  war  das  Unerhörte  ge- 
schehen daß  ein  Kaiser,  der  das  seit  einem  Menschenalter  geteilte 
Reich  wieder  vereinigt  hatte,  der  im  vollen  Glanz  des  Sieges  und 
der  Machtfülle  strahlte,  die  eben  noch  chicanierten,  gradezu  ver- 
folgten Bischöfe  zu  einer  Synode  einlud,  wie  sie  die  Kirche  allein 
nie  hätte  zusammenbringen  können ;  einem  solchen  Ereignis  müssen 
alle  mit  fieberhafter  Spannung  entgegengesehen  haben,  vor  allem 
die  Anbänger  des  alexandrinischen  Stuhls,  da  die  einzige  Aeußerung 
Constantins ,  die  bis  dahin  vorlag ,  der  Brief  an  Alexander  und 
Arius  [Eus.  V.  Const.  2,  64  ff.],  durchaus  nicht  zu  Gunsten  jenes 
ausgefallen  war,  Unter  solchen  Umständen  ist  es  schon  glaublich 
daß  ein  orthodoxer  Heißsporn  die  Gelegenheit  wahrnahm  und  durch 
eine  rasch  zusammengerufene  Synode  ein  fait  accompli  schuf.  Man 
vergesse  nicht,  wie  frei  die  Ordnungen  der  Kirche  damals  noch 
waren;  die  Kanones  von  Nicaea  und  Antiochien  lehren  ja  jeden 
der  Augen  hat  zu  lesen,  wie  sich  erst  in  der  vom  Staat  aner- 
kannten Kirche  die  festen  Regeln  der  Metropolitanverfassang  her- 
ausgebildet haben.  Noch  in  Basilius  Zeiten  sind  tumultuarisch  zu- 
sammenberufene Synoden  durchaus  nichts  Ungewöhnliches ,  und 
vollends  vor  Nicaea  wird  rechtlich  jeder  Bischof,  wenn  man  von 
den  exceptionellen  Verhältnissen  in  Aegypten  absieht,  zu  einer 
Synode  haben  einladen  können;  es  kam  nur  darauf  an,  ob  die 
övXkeixovQyoC  es  für  nötig  und  gut  hielten  zu  kommen,  und  daß 
die  Beschlüsse  anderwärts  nicht  auf  Widerstand  stießen.  Also 
unglaublich  ist  von  dem  was  aus  dem  Synodalschreiben  sich  über 
die  Einberufung  der  Synode  ergiebt ,  gar  nichts ,  unglaublich  ist 
höchstens  die  Sicherheit  mit  der  Hr.  Harnack  sie  für  unmöglich 
erklärt,  obgleich  über  die  kirchenrechtlichen  Grundlagen  der  vor- 
constantinischen  Bischofssynoden  nichts  gearbeitet  ist  und  niemand 
bis  jetzt  daran  denkt  daß  das  überhaupt  ein  Problem  sein  könnte. 
Endlich  pflegt  es  im  Großen  und  Ganzen  doch  einer  Urkunde  zur 
Empfehlung  zu  gereichen,  wenn  sie  nicht  Trivialitäten  enthält, 
die  jeder  sich  ausdenken  kann,  sondern  Ueberraschungen  bringt 
und  Verhältnisse  voraussetzt,  die  unsere  historischen  Anschauungen 
corrigieren  und  lebendiger  machen.  Wo  sollen  wir  denn  hin- 
kommen, wenn  bei  jedem  neuen  Fund  der  nicht  ein  wertloser 
Fetzen  ist,  gleich  der  träge  Ruf  erschallt  'unglaublich,  unmöglich !', 
statt  daß  man  sich  daran  setzt  das  Alte  und  Vorhandene  zu  revi- 
dieren, ob  da  wirklich  schon  alles  so  fertig  und  in  Ordnung  ist, 
daß  das  Neue  mit  sattem  Behagen  weggeworfen  werden  kann. 
Ob   nun   jener   Eusebius    wirklich   aus   Isauropolis   war    oder 


336  E.  Schwartz 

nicht,  davon  hängt  für  die  Echtheit  der  Urkunde  nichts  ab.  Grewiß 
ist  die  Praemisse  meiner  Vermutung,  daß  der  wirkliche  oder,  was 
auch  möglich  ist,  nominelle  Führer  der  antiochenischen  Synode 
auch  in  Mcaea  gewesen  sein  müsse,  zwar  wahrscheinlich,  aber 
doch  nicht  so  gewiß,  daß  sie  einen  zwingenden  Schluß  ver stattete. 
Ich  will  hier  nur  betonen,  weil  Hr.  Harnack  es  verschweigt,  daß 
außer  Euseb  noch  zwei  Isaurier  in  der  Namenliste  erscheinen, 
Agapios  von  Seleukeia  [Nie.  177]  und  Kyrill  von  Umanada  [Nie. 
183],  ferner  daß  in  der  Aufzählung  der  Provinzen  es  ausdrücklich 
heißt  [p.  274,1]  JLuoo^JLdJLoA)  ^öt  ^  ^*i»jjl  »sjo  [=  xai  iviovg 
räv  iv  KamtaSoKiai] ,  während  nur  ein  kappadokischer  Bischof, 
Eupsychios  von  Tyana,  in  der  Liste  steht.  Da  liegt  die  von  mir 
geäußerte  Vermutung  allerdings  nahe,  daß  Isaurien  mit  Kappa- 
dokien  zusammengefaßt  wird,  und  Hr.  Harnack  konnte  sich  die 
entrüstete  Anmerkung  [S.  485^]  sparen:  aber  Isaurien  ist  in  der 
Liste  der  Provinzen,  aus  denen  Bischöfe  sii  der  Synode  nach  Antiocliia 
gel'mmnen  sind,  überhaupt  nicht  genannt! 

Ich  habe  schon  darauf  hingewiesen  daß  die  antiochenische 
Synode  unter  dem  Druck  der  Erwartung  steht,  was  die  große, 
vom  Kaiser  nach^Ankyra  ausgeschriebene  Synode  bringen  würde. 
Das  verrät  sich  in  ihren  Beschlüssen.  Sie  kündigt  zwar  Theodot, 
Narciß  und  Euseb  die  Gremeinschaft  auf  und  warnt  Alexander 
von  Constantinopel  davor  mit  ihnen  zu  correspondieren ,  aber  sie 
spricht  die  Excommunicationsformel  nicht  aus  und  gestattet  ihnen 
auf  der  bevorstehenden  Synode  Buße  zu  tun.  Es  erschien  den 
frommen  Vätern  doch  gefährlich  der  Entscheidung  des  Kaisers 
gar  zu  entschieden  vorzugreifen,  der  sich  so  energisch  um  die 
Kirche  kümmerte ;  sie  begnügten  sich  damit  die  Gegner  durch 
ein  Praejudiz  zu  schädigen,  wollten  aber  keine  Uiteile  fällen,  die 
definitiv  nur  durch  die  kaiserliche  Synode  ergehen  konnten.  Daß  ein 
so  kostbares  Stück  lebendiger  Greschichte,  das  die  constantinische 
Zeit  drastisch  illustriert,  nicht  von  einem  Fälscher  und  nun  gar 
von  einem  Fälscher  des  6.  oder  7.  Jahrhunderts  erfunden  sein  kann, 
sollte  jedem  Historiker  sofort  einleuchten:  Hr.  Harnack  läßt  alle 
Künste  seiner  Dialektik  spielen  um  folgenden  Unsinn  zu  beweisen 
—  ich  bin  vorsichtig  genug  seine  eigenen  Worte  genau  herzu- 
setzen [S.  482]:  also  steht  es  so:  unser  [!]  Synodalschreiben  will  vor- 
nicaenisch  sein,  enthält  aber  durch  die  Erwähnung  der  bekannten 
Synode  von  Ancyra  als  noch  zukünftig  einen  ganz  groben  historiscJien 
Verstoß;  denn  hiernach  müßte  unser  Schreiben  vor  da^  Jahr  315 
fallen,  in  welchem  doch  von  Arianismus  noch  keine  Rede  war.  Zu- 
nächst  wird  decretiert   daß   eine  Synode  die   noch  nicht  abgeJmlten 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  337 

istj  nicht  die  ^große  und  heilige'  genannt  tverden  kann.  Warum  denn 
nicht?  Wenn  der  Kaiser  eine  Synode  von  Bischöfen  beruft,  so 
ist  ihre  Rechtsgrundlage  gegeben;  das  ist  ein  kirchenrechtlicher 
Satz  den  die  Politik  Constantins  schon  im  Occident  aufgestellt 
und  nachher  auch  im  Orient  durchgeführt  hat  und  der  bis  tief 
ins  Mittelalter  hinein  seine  Gültigkeit  behielt.  Existiert  eine 
Synode  aber  rechtlich  von  dem  Zeitpunkt  an,  in  dem  sie  der 
Kaiser  berufen  hat,  so  steht  nichts  im  Wege  ihr  die  Devotions- 
praedicate  zu  gewähren;  ja  es  ist  sogar  höchst  unwahrscheinlich 
daß  die  Bischöfe  in  Antiochien,  denen  alles  daran  liegen  mußte 
den  Kaiser  auf  ihre  Seite  zu  bringen,  so  schlechte  Politiker  ge- 
wesen sind,  daß  sie  der  vom  Kaiser  geladenen  Synode,  einem,  wie 
ich  nicht  unterlasse  zu  betonen,  im  Orient  noch  nicht  dagewesenen 
Novum,  die  gewöhnlichen  Ergebenheitsfloskeln  versagten.  Nach 
Hrn.  Harnack  ist  es  ferner  unwahrscheinlich  daß  'die  große  und 
heilige  Synode  von  Ancyra'  eine  andere  sein  soll  als  die  durch  ihre 
Kanones  allgemein  bekannte.  Also,  wird  weiter  geschlossen,  kann 
das  Synodalschreiben  nur  diese  meinen;  weil  es  aber  zugleich  von 
der  Synode  von  Ankyra  so  redet,  als  wenn  sie  erst  bevorstände, 
begeht  es  einen  groben  historischen  Verstoß ;  also  ist  es  gefälscht. 
Erst  wird  willkürlich  etwas  supponiert,  das  nur  in  einer  Fälschung 
vorkommen  kann,  und  dann  die  Fälschung  gefolgert;  jeder  der 
den  Text  verstehen  und  nicht  von  vornherein  verdammen  will,  wird 
umgekehrt  schließen  daß  mit  der  großen  und  heiligen  Synode  von 
Ankyra  eben  nicht  die  durch  ihre  Kanones  allgemein  helmnnte  ge- 
meint ist,  um  so  weniger  als  diese  ausschließlich  durch  das  Corpus 
canonum  bekannt  ist  und  in  allen  Texten  dieses  Corpus  aus- 
drücklich angegeben  wird  daß  die  Kanones  von  Ankyra  vor  den 
nicaenischen  erlassen   sind  ^).    Hr.  Harnack   behauptet  selbst  daß 


1)  Griechisch  [Pitra  iur.  eccl.  mon.  1,441]:  Kavovsg  t&v  iv  'Ayavqai  avvsX- 
^ovtcov  ^ccuccQLcov  ■nccrsQOüv,  oi'tivsg  TtQoysvsatSQOL  ^isv  slolv  x&v  iv  NfnaiccL  ehte- 
Q'ivtGiv  y.ccvovcov,  dsvtSQSvovOL  ds  dtcc  rrjv  tfjg  oCyioviisvinfig  gvvoSov  avd'svtiav. 
Syrisch  [nach  der  ältesten  Hs.,  die  die  im  Jahr  501  angefertigte  Uebersetzung 
bietet] :    oy>>cy)JL);  ^jJ  yY>.y6  )jqic  ^o^  .  j^^Vjo  ^yonv    \joso   jVoailr^;   ^oiopoGo; 

.  ).n.t'^;  Prisca  [Turner  2, 1, 19]  isti  canones  priores  quidem  sunt  Nicaenis  cano- 
mbus  expositis:  sed  tarnen  Nicaeni  primo  scripti  sunt  propter  auctoritatem  sanctae 
et  magnae  synodi  quae  facta  est  in  Nicaea.  Isidorische  Version  [Turner  a.  a.  0.  48] 
isti  quidem  canones  seu  regulae  priores  sunt  Nicaenis:  sed  ideo  Nicaeni  canones 
priores  scripti  sunt  propter  auctoritatem  magni  et  sancti  concilii  apud  Nicaeam 
hahiti.  Dionysius  Exiguus  I  [Turner  a.  a.  0.  49] :  canones  Anquirani  priores 
quidem  sunt  Nicaenis:  sed  ideo  Nicaeni  praelati  sunt  propter  auctoritatem  ipsius 
uenerandi   concilii.     Dionysius  IT:   istae   regulae  priores  quidem  sunt  Nicaenis: 

Kgl.  ües.  ä   Wiss.    Kachrichten.    Philolog.-hist.  Klasse.    1908.    Heft  3.  24 


338  E.  Schwartz 

der  Fälscher  eine  Kanonessammlung  'besessen'  hat  [S.  488]:  nnn 
gut,  dann  wußte  er  daß  diese  Synode  vornicaenisch  war  und 
konnte  nicht  auf  die  horrende  Dummheit  verfallen  sie  in  seiner 
Fälschung  als  zukünftig  zu  behandeln  und  sich  zugleich,  wie  Hr. 
Harnack  meint  [S.  483],  auf  das  Nicaenum  zu  beziehen. 

Doch  das  sind  alles  nur  dialektische  Quälereien,  mit  denen  Hr. 
Harnack  dem  unschuldigen  Text  blödsinnige  Aussagen  abpreßt: 
sowie  man  sich  klar  macht  daß  die  kanonische  Synode  von  Ankyra 
nur  durch  das  Corpus  canonum,  also  nicht  allgemein  —  kein 
Kirchenhistoriker  erwähnt  sie  —  bekannt  ist  und  von  einer  Ur- 
kunde nicht  verlangt  daß  sie  nur  Dinge  berührt,  die  uns  durch 
die  Zufälligkeiten  der  Überlieferung  nahe  liegen,  ist  alles  plan 
und  in  Ordnung:  nach  dem  Synodalschreiben  steht  eine  große 
Synode  in  Ankyra  bevor,  der  die  Bischöfe  eine  besondere  Autorität 
beimessen.  Nun  habe  ich  ein  zweimal  publiciertes ,  aber  gänzlich 
vergessenes  Schreiben  Constantins  hervorgezogen  [Nachr.  1904, 
348.  1905,  289],  in  dem  eine  Synode  die  nach  Ancyra  berufen  ist, 
nach  Nicaea  verlegt  wird;  da  der  Kaiser  in  Aussicht  stellt  der 
Synode  persönlich  beizuwohnen,  kann  nur  das  große  nicaenische 
Concil  gemeint  sein.  Die  antiochenische  Synode  muß  andererseits 
aus  den  schon  entwickelten  Gründen  kurz  vor  dem  nicaenischen 
Concil  zusammengetreten  sein.  Ich  half  mir  also  nicht  mit  der 
Annahme,  wie  Hr.  Harnack  sich  auszudrücken  beliebt  [S.  482], 
sondern  schloß,  was  jeder  andere  auch  getan  haben  würde  xmd 
tun  muß,  daß  die  in  dem  Synodalschreiben  erwähnte  Synode  von 
Ancyra  mit  dem  ursprünglich  nach  Ancyra  berufenen  Concil,  das 
später  in  Nicaea  zusammentrat ,  identifiziert  werden  mu£.  Hr. 
Harnack  nennt  diesen  Schluß  ein  wahres  Nest  von  Umvahr schein- 
lichkeiten  und  Gewaltsamkeiten,  hält  es  aber  doch  für  geraten  das 
Fundament  des  Schlusses  zu  beseitigen  und  erklärt  auch  jenen 
Brief  Constantins  für  gefälscht.  Wann  diese  zweite  Fälschung 
entstanden  sein,  ob  der  Fälscher  des  Synodal  Schreibens  auch  für 
sie  verantwortlich  gemacht  werden  oder  auf  sie  hereingefallen 
sein  soll,  das  sind  Fragen  über  die  sich  den  Kopf  zu  zerbrechen 
Hr.  Harnack  seinen  Lesern  überläßt.  In  Wahrheit  kann  von 
Fälschung  hier  ebenso  wenig  die  Rede  sein  wie  bei  dem  Synodal- 
schreiben: der  Brief  Constantins  ist  durch  das  Corpus  canonum 
felsenfest   bezeugt.     Die   jüngere   griechische    ßecension    und    die 


sed  ideo  Nicaenae  prius  scriptae  sunt  propter  audoritatem  eiusdem  magni  sanctique 
concilii  congregati  apud  Niceam.  Die  Vorbemerkung  hat  offenbar  in  keinem 
Exemplar  des  griechischen  Corpus  canonum  gefehlt. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  339 

lateinischen  Uebersetznngen  lassen  ihn  weg:  aber  sämtliche  drei 
Recensionen  des  syrischen  Textes  enthalten  ihn,  und  die  kleinen 
stilistischen  Varianten  welche  die  jüngste  und  bis  jetzt  allein  ge- 
druckte, die  des  Cod.  Paris.  62,  eingetragen  hat  um  sich  genauer 
an  den  griechischen  Text  anzuschließen,  beweisen  daß  auch  diesem 
Uebersetzer  der  griechische  Text  noch  vorgelegen  hat.  Die  älteste 
Hs.,  der  Cod.  Brit.  Mus.  add.  14528,  enthält  nach  der  Subscription  ^) 
eine  Übersetzung  des  Corpus  canonum,  die  in  Hierapolis  im  Jahre 
812  sei.  =  500/1  angefertigt  ist;  Wright  vermutet  daß  auch  die 
Hs.  im  selben  Jahr  geschrieben  ist.  Sie  geht  also  auf  einen 
griechischen  Text  zurück,  der  zwischen  451,  dem  Jahr  der  Synode 
von  Chalkedon,  und  501  zusammengestellt  ist.  Ich  setze  aus  der 
Schultheßschen  Ausgabe  [p.  1]  die  Fassung  dieser  Hs.  her: 

)J^>^1  ^^  ^^oi  JL3onnh*o>i^^>^>aoo  .axsU  jLjoJ^^^9  {J^t^  Jl.«.o.Ai:a^ 
JLjLu  Jjjj  ''^u^o  jUj  J^aäjl  JL^^ja»  ^^u^o  .  ^U  JL3o)o(?  lloHlj  JLo;jto 
JLüi    ^o^S    )jL^9Q.^    l}Oi  ^^».^^^    :  ioot{    K*jL^x^VA   t!®^?   ^^^!   jLdlajto 

IbLa^t    {9Ka^9    wo^a    JLa^i^^^o    t-o  ^^^»^o)    ^  'iiv»    ^   "^olo    .  ^o •  1  alt 

^OOt^    ^^(!    J^J^?     •  {^l^    i^jyU^^  J^r^}     JLotol   |iJ99   y.^^J^h<J   tV^(   ^^t^^ 

Griechisch  ^) :    Tb  ^ridsv  s^s  bislv  0  av  ti(iL6tsQov  ^i  ilol  ^)  tfi($ 
d-soösßsCag,  Ttavxl  dfj^ov   elvai  vo^i^cj.    STtsl    dh    tijv   r&v    eitiöKoitcov 


1)  Wright,  Catalogue  p.  1032:  :|Kilo  <^>jlIo  J)»  ^jqäd  M  j^^:^^  QxJb.ÄJLJ 

■ffioi. tcr>?NS?  j'tOQ^lUo  JIÄ120JL  Mji^  :JM-.j20  yvO^vi^ 

2)  Hr.  Harnack  giebt  den  Text  nur  in  meiner  griechischen  Uebersetzung, 
die  er  [S.  489]  Betroversion  nennt.  Das  soll  und  kann  sie  nicht  sein;  denn  aus 
einer  ärmeren  Sprache  läßt  sich  das  in  einer  reicheren  verfaßte  Original  nicht 
reconstruieren.  Dagegen  ist  die  Uebersetzung  ins  Griechische  das  einzige  Mittel 
einem  des  Syrischen  Unkundigen  syrische  Texte  zugänglich  zu  machen,  vor  allem 
wenn  sie  aus  dem  Griechischen  übertragen  sind.  Man  scheute  sich  doch  früher 
nicht,  in  solchen  Fällen  das  Latein  zu  nehmen,  und  wie  viel  leichter  zu  hand- 
haben und  im  Ausdruck  präciser  ist  das  Griechische!  Lagarde  hat  den  richtigen 
Grundsatz  scharf  formuliert   [ßeliq.  iur.  eccles.  LV]:    omnino  non  id  egi  ut  eam 

24* 


340  ^-  Schwartz 

övvodov  iv  ^AyKVQai  T-^g  FaAaTtag  ysveöd-at  tcqötsqov  0we(p(X)vi]d-rj 
[oder  ix{^rj(pC6d^rj  oder  dietcix^rij  das  lateinische  constitutum  est  liegt 
zu  Grmnde],  vvr  tcoIX&v  avsxa  xaXbv  elvav  söo^sv  Xva  iv  NixaCai  rijt 
r^g  Bid-vvcag  7c6Xsl  evvaxd^rji,  ölötl  ts  inCßyiOTtoi  ot  ix  xrjs  ^IzaUaq 
xal  XGiv  XoLTtGiv  rfig  EvQcoJtrjg  fiSQcbv  sg^ovraL,  xal  dtä  rriv  xulrjv  tov  asgog 
XQKöLV,  hl  de  xal  iv  iyco  syyvdsv  ^saxiig  a  xal  xoivovbg  zcbv  yerTj- 
öoyiivtov.  diä  rovro  yvogC^ca  v^tv,  ädsXcpol  äyaitriroC^  Ttdvtag  v^&g 
eig  ti^v  sigri^ivriv  noliv,  Tovtiöri  6'  slg  Nixaiav,  dcä  öTtovdfig  id^BXsLv 
s^E  6vva%xtrivaL.  sxaötog  ovv  v^cbv  xo  6v^g)8Q0v  dscjQ&v,  mg  tcqo- 
sCgrixa,  öJCSvShm  ccvsv  xcvbg  ^sXXy^öecog  xa^ioag  ild-atv,  Xva  %'saxrig  xav 
y6vrj6oiisv(OV  avxbg  iyyvd'sv  ysvrixai.  6  Q'sbg  vfiäg  dLa(pvXd^SL,  dd6X(pol 
dyanrjxoL. 

Auf  das  Schreiben  folgt  das  Edict  Constantins  gegen  Arius, 
an  dessen  Echtlieit  kein  Zweifel  möglich  ist,  da  Kaiser  Theo- 
dosius  II  es  citiert  [vgl.  Nachr.  1904,  388  nr.  25] ;  beide  Urkunden 
stehen  an  der  Spitze  des  Corpus  canonum  und  unmittelbar  vor 
dem  nicaenischen  Symbol.  Die  jüngere  Recension  des  Cod. 
Paris.  62  läßt  das  zweite  Document  weg,  stellt  aber  das  erste 
ebenfalls  vor  das  Symbol,  es  durch  einen  knappen  Text  mit  dem 
Datum  verbindend.  Das  ist  freilich  secundär,  wie  auch  die  Ueber- 
schrift  des  Kaiserbriefes  dort  secundär  ist,  aber  zugleich  lehrt  die 
Ueberlieferungsgeschichte  in  diesem  Falle  deutlich,  daß  eine  Ur- 
kunde darum  noch  lange  nicht  gefälscht  ist,  wenn  sie  eine  jüngere 
Ueberschrift  trägt.  Denn  daß  ein  griechischer  Kanonist,  der  bald 
nach  dem  chalkedonischen  Concil  ein  Corpus  canonum  neu  zusammen- 
ordnete, an  die  Spitze  keinen  gefälschten  Brief  Constantins  gestellt 
haben  kann,  versteht  sich  von  selbst,  ganz  abgesehen  davon  daß 
Fälschungen  auf  den  Namen  Constantins ,  die  älter  als  500  sind, 
meines  Wissens  überhaupt  nicht  existieren.  Einen  Zweck  der 
Fälschung  weiß  Hr.  Harnack  nicht  anzugeben.  Was  er  darüber 
vorbringt  [S.  490] :  dagegen  lag  es  in  späterer  Zeit  [wann  ?]  nahe, 
solche  Begehungen  (zwischen  den  Synoden  von  Ancyra  und  Nicaea) 
^u  konstruieren,   weil  in   den  Kanonessammlungen  die   Kanones  von 


orationis  formam  indagarem  quae  posset  ex  auctorum  calamis  exiisse,  sed  ut  aliis 
uiam  commodiorem  redderem  qua  ad  natiuam  horum  Hbrorum  integritatem  cognos- 
cendam  possent  peruenire. 

3)  Wörtlich  iv  totg  ötpQ^uXiiotg  (tov.  Aber  es  ist  mir  fraglich  ob  die  con- 
stantinische  Kanzlei  sich  eines  solchen  Semitismus  schuldig  gemacht  haben  würde ; 
er  kann  der  ältesten,  das  semitische  Idiom  leidlich  bewahrenden  Uebersetzung 
angehören  und  in  den  späteren  stehen  geblieben  sein;  ich  erinnere  mich  bei  der 
Leetüre  der  Correcturbogen  von  Schultheß'  Ausgabe  öfter  auf  solche  Fälle  gestoßen 
zu  sein. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  341 

Ancyra  und  Nicaea  zusammenstanden,  ist  schwer  zn  verstehen. 
Was  heißt  'Beziehungen  'konstruieren''  und  wie  soll  mit  einem  so 
vieldeutigen,  nichts  besagenden  Ausdruck  eine  Fälschung  bewiesen 
werden?  Ein  Corpus  Canonum,  das  Fundament  des  Kirchenrechts, 
wird  doch  nicht  von  jedem  hergelaufenen  Tagedieb  zusammen- 
gestellt, sondern  von  Leuten  die  von  der  Sache  etwas  verstehn; 
seit  dem  4.  Jahrh.,  längst  ehe  das  große  Corpus  Canonum  existierte, 
waren  in  der  östlichen  Reichshälfte  die  Kanones  von  Ancyra, 
Neocaesarea  und  Gangra  mit  den  nicaenischen  vereinigt  ^) ,  durch 
kurze  Vorbemerkungen  war  jeder  Leser  der  Kanones  über  das 
chronologische  Verhältnis  dieser  Synoden  zu  der  nicaenischen 
unterrichtet :  wie  soll  da  ein  Kanonist  auf  den  albernen  Gedanken 
kommen,  einen  von  jeder  dogmatischen  oder  geschichtlichen  Ten- 
denz freien  Brief  Constantins  zu  fälschen,  nur  um  unfaßbare  und 
undefinierbare  Beziehungen  zwischen  den  Synoden  von  Ancyra 
und  Nicaea  zu  konstruieren?  Daß  der  Kanonist  der  den  Kaiser- 
brief in  das  Corpus  aufnahm,  die  Adresse  wegließ,  ist  nur  natür- 
lich. Selbstverständlich  hatte  jedes  Exemplar  das  in  der  Kanzlei 
ausgefertigt  wurde,  eine  besondere  Adresse  je  nach  der  Provinz 
in  die  es  geschickt  wurde.  Nun  kommt  es  wohl  vor  daß  ein 
Publicist  der  zu  polemischen  Zwecken  kaiserliche  Schreiben  und 
Edicte  veröffentlicht,  die  Spezialadresse  des  von  ihm  benutzten 
Exemplar  es  gewissermaßen  zur  Beglaubigung  hinzufügt ,  wie  z.  B. 
Athanasius  über  das  constantinische  Edict  gegen  Arius,  das  er  der 
Schrift  de  decretis  Nicaenae  synodi  beilegte,  den  Vermerk  setzte 
avtcyQacpov  g)v  exo^Löav  Uv/xlT^nog  xal  FavöevtLog  iiayiöXQLavoC 
[Nachr.  1904,  393],  um  zu  beweisen  daß  ein  offizielles  Exemplar 
des  Edicts  im  alexandrinischen  Patriarchat  lag.  Aber  für  den 
Compilator  des  Corpus  canonum  fielen  solche  Erwägungen  weg; 
er  hätte  die  allgemeine  Geltung  des  Kaiserbriefes  nur  verdunkelt, 
wenn  er  die  spezielle  Adresse  eines  einzelnen  Exemplares  hinzu- 
gefügt hätte.  Es  ist  ferner  naiv  zu  verlangen  [S.  490]  daß  Constantin 
die  sachlichen  Gründe  für  den  Zusammentritt  des  Concils  in  der  Ein- 
ladung hätte  angeben  müssen.  Das  konnte  erstens  schon  in  der 
Einladung  nach  Ancyra  geschehen  sein,  die  in  dem  Brief  der  das 
Concil  nach  Nicaea  verlegt,  vorausgesetzt  wird,  und  zweitens  ist 
es  durchaus  fraglich  ob  Constantin,  der  ein  Meister  in  der  Politik 
des  Versteckens,  Spannens  und  Ueberraschens  war,  sich  dazu  her- 
beigelassen hat   über   die  Gründe  weßhalb   er  die  Synode   berief, 


1)  Schon  die  Ballerini  wußten  das,   und  Maaßen  hat  es  denn  in  glänzender 
\yeise  bewiesen,  Gesch.  d.  Quellen  d.  canon.  Rechtes  78  ff. 


342  E-  Schwartz 

vorher  etwas  zu  veröffentliclieii :  die  Bischöfe  kamen  auch  ohne 
das,  wenn  er  sie  rief.  Was  Hr.  Hamack  mit  der  Behauptung 
beweisen  will,  daß  wenn  das  Concil  wirklich  nach  Ancyra  ausge- 
schrieben wäre,  wir  es  ivissen  müßten  [S.  482] ,  bekenne  ich  nicht 
zu  sehen :  wag  wissen  wir  denn  über  diese  Zeit,  es  sei  denn  durch 
Urkunden  ?  Soll  das  Geklätsche  Rufins ,  den  die  Grriechen  nur 
zu  sehr  benutzen,  an  deren  Stelle  treten?  Euseb  schreibt  keine 
Greschichte  sondern  einen  Panegyricus,  in  dem  er  weglassen  konnte 
was  ihm  beliebte;  Athanasius  hat  nur  polemische,  nie  historische 
Zwecke  verfolgt,  und  wenn  Sokrates,  Sozomenos,  Theodoret  es  für 
überflüssig  hielten  anzumerken  daß  das  nicaenische  Concil  zuerst 
nach  Ancyra  berufen  war,  soll  das  ein  Grund  sein  eine  Urkunde 
aus  der  wirs  lernen,  für  gefälscht  zu  erklären?  Das  wäre  eine 
Methode  das  geschichtliche  Material  zu  verringern,  die  das  histo- 
rische Studium  außerordentlich  vereinfacht:  es  würde  freilich  auch 
nichts  mehr  dabei  herauskommen. 

Hr.  Hamack  läßt  mich  hart  an  [S.  489]  daiß  ich  aus  den  Worten 
des  Briefes  bestimmt  geschlossen  habe,  das  nicaenische  Concil  sei 
von  Konstantin  zuerst  nach  Ancyra  berufen  worden.  Diese  Aus- 
legung, behauptet  er,  ist  nur  eine  der  beiden  Möglichheiten.  Die 
Worte  bedeuten  viel  wahrscheinlicher  [!] ,  daß ,  nachdem  schon  früher 
in  Ancyra  eine  Synode  gehalten  ivorden  sei,  nunmehr  eine  solche  in 
Nicaea  stattfinden  solle.  Wenn  ich  Texte  interpretiere,  so  bemühe 
ich  mich  nach  den  Gresetzen  der  Logik  und  der  Sprache  heraus- 
zubekommen, was  sie  heißen  müssen,  nicht  was  sie  viel  ivahrscliein- 
licher  heißen  können.  Im  vorliegenden  Falle  ist  jede  andere  Aus- 
legung als  die  meine  unmöglich.  Im  Original  heißt  es  .  .  K^aCvjt 
(ootlj:  das  syrische  Imperfect  im  abhängigen  Satz  bedeutet  stets 
die  relative  Zukunft  und  kann  niemals  etwas  schon  Greschehenes 
bezeichnen.  Das  genügt  um  Hr.  Hamacks  viel  wahrscheinlichere 
Möglichkeit  ein  für  alle  Mal  zu  eliminieren.  Außerdem,  was  sollen 
denn  alle  die  Motive  die  nachher  in  dem  Briefe  für  Nicaea  an- 
geführt werden,  anders  als  begründen  daß  das  Concil  besser 
in  Nicaea  als  in  Ancyra  stattfinden  werde?  Wenn  der  Brief  von 
einem  Concil  reden  soll ,  das  schon  längst  in  Ancyra  abgehalten 
ist,  so  wird  er  zum  Geschwätz  nicht  eines  Fälschers,  sondern 
eines  Irrsinnigen. 

Der  Cr  rund  um  dessentwillen  der  Kaiserbrief  in  das  Corpus 
canonum  aufgenommen  ist,  läßt  sich  mit  Händen  greifen:  in  ihm 
wird  das  angekündigt  was  nach  Ausweis  seines  Wortlauts  in  der 
früheren  Berufung  des  Concils  nach  Ancyra  gefehlt  haben  muß, 
daß  der  Kaiser  dem  Concil  persönlich  beiwohnen  und  an  ihm  teil- 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  343 

nehmen  werde.  Das  hatte  rechtliche  Bedeutung;  aus  dem  Brief 
ging  authentisch  hervor  daß  über  der  oekumenischen  Synode  die 
kaiserliche  Autorität  stand,  so  gut  wie  das  Edict  Constantins 
-gegen  Arius  die  theoretisch  gefaßten  Anathematismen  der  Synode 
zu  einem  gegen  eine  bestimmte  Person  gerichteten  Staatsgesetz 
macht.  Zugleich  beweist  der  Brief,  daß  der  Kaiser  die  Synode 
zu  einer  oekumenischen  stempelte;  denn  er  kündigt  das  Erscheinen 
der  Bischöfe  aus  Italien  und  den  anderen  Ländern  Europas  an; 
thatsächlich  kamen  ja  auch  die  Abgesandten  des  römischen  Pabstes 
und  Bischöfe  'aus  den  anderen  Ländern  Europas'  ^)  nach  Nicaea. 
Es  ist  also  vollständig  motiviert,  daß  grade  dieser  Kaiserbrief 
durch  das  Corpus  canonum  erhalten  ist,  und  der  Kanonist  der  ihn 
darin  aufnahm,  war  alles  andere  als  ein  Ignorant;  er  wußte  sehr 
genau  was  er  tat. 

In  Wahrheit  steht  die  Sache  also  so,  daß  das  Synodalschreiben 
von  Antiochien  eine  große  Synode  in  Ancyra  ankündigt,  die  nach 
urkundlichem  Zeugnis  niemals  stattgefunden  hat,  sondern  nach 
Nicaea  verlegt  wurde.  Es  ist  absolut  undenkbar  daß  ein  Fälscher 
eine  so  actuelle  Beziehung  ersonnen  hat;  er  müßte  ein  wahres 
Wunder  von  historischer  Gelehrsamkeit  gewesen  sein  und  damit 
eine  Eigenschaft  besessen  haben,  die  Hr.  Harnack  ihm,  dem  Ge- 
schöpf seiner  eigenen  Phantasie,  am  allerwenigsten  hat  mitgeben 
wollen. 

Die  auf  der  antiochenischen  Synode  versammelten  Bischöfe 
kannten  die  Encyclika,  in  der  Alexander  von  Alexandrien  die 
Excommunication  des  Arius  und  seiner  Presbyter  angezeigt,  und 
den  Tomos  ^)  den  er  überall  hin  verschickt  hatte  und  aus  dem 
einiges  in  einer  syrischen  Sammelhandschrift  erhalten  ist  [vgl. 
Nachr.  1905,  266 ff.].  Wie  dessen  Bruchstücke  lehren,  hat  Alex- 
ander in  dem  Brief  an  seinen  Namensvetter  in  Byzanz  sein  früheres 


1)  Sie  stehen  in  der  nicaenischen  Liste  am  Schluß  [Nr.  204 — 220]  unter  den 
Kubriken  Evgmnri  dav,ia  Kalaßgca  MvoCa  [==  Moesien]  ^AcpQi%'^  [politisch  giebt 
es  den  Continent  Africa  nicht]  MwnEdov^cc  Jccgdavia  'A%aia  SsGöaXicc  TLawovCa 
FaXXCat  Fox^-Ca  BoönoQog.  Die  Teilung  des  Reichs  unter  die  Söhne  Constantins 
darf  nicht  in  die  frühere  Zeit  projiciert  werden;  es  muß  ferner  immer  wieder 
eingeschärft  werden  daß  Makedonien  Thessalien  und  Achaia  im  vierten  Jahrh. 
zum  Occident  gehören:  auch  Sardica  lag,  als  das  Concil  dort  stattfand,  im  Gebiet 
des  Constans,  nicht  des  Constantins,  was  nicht  zu  übersehen  ist. 

2)  Die  beiden  Schriftstücke  scheinen  auf  der  Synode  verlesen  zu  sein 
[p.  275,6]  )cixj  >^ö^  ^^  p;  im-^W?  |o>oocY>«g>j  ffionjcTn-^W  ^  ^j  ^p.J^QDJj  ^o^  ^)o 
jfio.,»^  .^jj  :  ^DQ-ij  £Tt  de  Y,al  xa  vnb  'AXs^dvÖQOV  xov  'AXs^ccvSQSLas  ikia-ao- 
itov  v,axcc  xcbv  ^bx'  'Aqslov  Ttgax^Bvxa  etg  xb  fieoov  rjvtyyf.ccfisv. 


344  E-   Schwartz 

Elaborat  stark  benutzt,  und  so  dürften  aucli  die  Uebereinstimmungen 
welche  die  exd-söig  TtCötscjg  des  Synodalscbreibens  mit  diesem  Brief 
aufweist,  auf  den  Tomos  zurücklaufen.  Am  Anfang  des  Schreibens 
citiert  der  Verfasser  die  ersten  Worte  der  Encyclika;  das  ist 
eine  im  Altertum  ganz  gewöhnliche  Form  des  Compliments,  über 
die  Hr.  Harnack  sich  nicht  zu  erstaunen  brauchte  [S.  479];  für 
das  Höflichkeitscitat  ist  es  bezeichnend,  daß  die  Uebereinstimmung 
sich  nur  auf  wenige  Worte  beschränkt ').  Um  die  sxd^eöLg  TtCötscag 
aufzusetzen,  bedurften  die  Bischöfe,  deren  größter  Teil  von  den 
pseudophilosophischen  Finessen  der  Praeexistenzlehre  sicherlich 
nichts  verstand,  'gebildeter'  Männer,  umsomehr  als  die  Intelligenz 
es  war,  die  aus  wohlerwogenen  Grründen  den  Kampf  gegen  die 
hierarchische  Machtpolitik  des  alexandrinischen  Patriarchats  auf- 
genommen  hatte  ^).      Wie    einst   der   dialektisch    und   theologisch 


1)  Die  Encyclika  beginnt  svbg  Gmfiarog  övtog  vflg  Kccd-olviifig  i-K-ulriaiag  ivToXijg 
ts  o^CTig  iv  Tcetg  %'siaig  ygacpaig  [Ephes.  4,  3 ;  daher  stammt  auch  ?v  G&iia]  xtiqblv 
zhv  avvdsGiiov  ri)g  ofiovo^ccg  xat  slQ'^vrig,  ScnoXovd'ov  icTV  ygcicpsiv  rj^iäg  'Kai  arificcLvsiv 
äXXriXoLg  xa  nuQ  ittdatOLg  yiyvoiisva,  tva  e'Cxs  nd6%Ei  eIxe  %aCQEi  sv  {isXog,  i) 
üvii7tdaxo}(iEv  ?)  avyxccLQcafiEv  dXXi]Xoig.  Dagegen  das  Synodalschreiben  (ungefähr, 
der  Wortlaut  im  Einzelnen  kann  nicht  verbürgt  werden):  Evbg  ümiiaxog  övxog 
ti]g  Ticid'oXL'iifjg  yiaxcc  ndvxa  xonov  i-n-uXriötag ,  xäv  iv  diatpogoig  xonoig  möiv  at 
x&v  Gvvayay&v  ß^rivccl  [Anspielung  auf  die  g%t\v7]  xov  ficcQxvgiov  des  A.  T.]  yiccd-ci- 
TtEQ  (ieXti  xov  oXov  Gm^uxog  ^  SotoXov&ov  egxiv  xal  xfji  GfjL  dyccnrii  yvaiG%'f)vai  xa 
vn  ifiov  XE  v.a.1  x&v  EvXaßEGxccxav  &dEXcpä>v  rjfimv  x&v  öfioipvxcov  v.al  gvXXeixovq- 
y&v  yiEY.LV7iiiiva  xe  yial  nEngayfiiva,  tva  kccI  gv  mg  uv  Ttagoav  iv  nvEvfiaxi  yiOLvfji 
GvXXaX'^Griig  ri^tv  xal  xotr^t  ÖLCcxa^riLg  nsgl  xä  vcp  TjfL&v  vyi&g  xe  xal  naxä  xhv 
i'A'AXriGiuGxiv.ov  v6(iov  oQicd-Evxa  XE  -Kul  TtQax^Evxa.  Nach  dem  Citat  biegt  der 
Verfasser  sofort  in  die  spezielle  Situation  ein  und  sein  devoter  Ton  sticht  merklich 
von  der  selbstbewußten  Kürze  des  alexandrinischen  Patriarchen  ab;  ein  Fälscher 
bringt  so  feine  Nuancen  nicht  heraus.  Übrigens  ist  der  einleitende  Gedanke 
Gemeingut;  elegant,  wie  immer,  wird  er  von  Basilius  in  dem  Brief  [161]  formuliert, 
in  dem  er  dem  zum  Bischof  von  Ikonium  ordinierten  Amphilochius  Glück  wünscht : 
inEidr}  8e  Etg  Xabg  nävxsg  ot  slg  Xqigxov  rjXni'KOXEg  -Kai  (iia  iv,-)iXr\GCa  vvv  of 
Xqigxov,  xav  iy,  diacpogtov  xoncav  nQOGayoQEvr\xcci^  x^^9^^  "^^^  V  ^ccxglg  xai  EiicpQuC- 
vExai  xatg  xov  nvgiov  oUovoiiiaig  xal  oix  i\yELxai  evu  ävdga  i^rifti&Gd-ai,  ScXXcc 
9C  ivbg  i%iiXriGCag  oXag  nQOGELXr\(pEvai. 

2)  Daher  der  Wutausbruch  des  Patriarchen  in  dem  Brief  an  Alexander  von 
Byzanz  [Theodoret  1,4,41]:  ot  yuQ  xara  x%g  &E6xrixog  xov  vtov  xov  &-eov  naga- 
xa^diiEvoL  ovSe  xccg  xccd"'  ijii&v  &xciQCGxovg  nagoiviag  nagaixovvxai  XiyEiv  ot  ys 
O'bÖE  x&v  &Qxci^(ov  xiväg  Gvy^qCvEiv  tavrotg  &^lovglv  oiSh  olg  rjfJLEig  i-K  naiSav 
d}(iiX'qGa(isv  SiSaGHaXotg  i^iGovcd^ai  ävExovxai,  &XX*  oidl  x&v  vvv  navxaxov  gvXXei- 
xovgy&v  xiva  Etg  (i&xqov  aocptag  [wohl  verdorben]  rjyovvxai,  (lovoi  Goq>ol  xal  <ix- 
xi^fiovEq  xal  doyfidxmv  evqexuI  XiyovxEg  eIvul  xal  avxorg  dnoyiEyiaXvcpd'ai  fiövoig 
antQ  oi)dBvl  x&v  hnb  xbv  ijXiov  irtgoai  itstpvuEv  iXd'ELv  slg  ivvoiav. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  345 

geschulte  Presbyter  Malchion  den  Bischöfen  die  den  Thronoi  von 
Alexandrien  und  Eom  Trabantendienste  leisteten,  die  dogmatischen 
Waffen  hatte  liefern  müssen  um  den  Bischof  von  Antiochien  zu 
stürzen  ^) ,  so  waren  es  wieder  XoyioL  avögeg  die  den  Synodalen 
in  Antiochien  das  Vertrauensvotum  zimmerten,  das  den  Sieg  des 
alexandrinischen  Patriareben  auf  der  bevorstehenden  Synode  ver- 
bürgen sollte.  Es  waren  wahrscheinlich  Presbyter,  wie  jener 
Malchion,  jedenfalls  keine  Bischöfe;  in  dem  Falle  wäre  ihre  An- 
wesenheit nicht  besonders  hervorgehoben  ^),  und  xivlg  äöskfpol  loyioL 
ist  keine  Bezeichnung  für  Bischöfe  die  selbständig  ein  Glaubens- 
bekenntniß  aufsetzen  können.  Das  Synodalschreiben  betont  aus- 
drücklich daß  es  geistliche,  theologisch  durchaus  zuverlässige 
Männer  gewesen  sein,  die  das  Credo  vorgelegt  haben  [p.  275,  10]: 

i|ot  ooot  ^..^ot)^  ^)(JLaajo9)  ^  <».**><=^i  JL^tJd^  ji^ju^'t-o  {i^OL:»']^  jLuo;^; 
das  ist  etwa:  £6xlv  ovv  tj  TCiöttg  rj  itQotsd^stöa  olov^)  vji^  avÖQcav 
7tvsviiarixS)v  xal  ovg  ccvd-ig  ov  dCxatov  vo^C^siv  Kaxä  öccgxa  t^riv 
i)  voetv,  aAA'  iv  nvsviiari  talg  rCbv  d'SOTCvsvörcov  ßtßkicov  kyiaig 
yQa(patg  övvrjöKrjöd^aL,  7]ds  xrX.  Es  ist  evident  daß  mit  diesen  Prae- 
dicaten  eben  jene  Xoyioi  ävögeg  beehrt  werden,  deren  Anwesenheit 
bei  der  theologischen  Disputation  wenige  Zeilen  vorher  als  etwas 
besonders  Wichtiges  hervorgehoben  ist;  eine  Synode  und  nun  gar 
die  berühmteste  von  allen,    die   oekumBnische  Synode  von  Nicaea, 


1)  Eus.  KG  7,  29, 2  fiaXiGra  8'avtov  [Paul  von  Samosata]  svQ"vvccg  iTti- 
■KQVTtto^svov  ÖLt^ksy^sv  MaX^LüDV,  ccvr}Q  rd  ts  äXXa  Xoy log  xat  aocpLOtov  tä>v  in 
*AvtLO%BLaq  'EXXrivL'u&v  naiSEvxriQtcov  diatQißfjg  ngosarmg  [d.  h.  er  vertrat  als 
Schulleiter  einen  von  der  Stadt  Antiochien  angestellten  Redelehrer],  ov  (ir]v  äXXcc 
"Kai  di*  vnsQßdXXovaav  r-^g  stg  Xqiötbv  TCiatscog  yvriGLOxrixa  TtgsaßvrsQi'ov  xfig  avxod'i 
naqoiY.Cag  rj^Lcofievog'  ovxog  ys  xoi  i7tLGriiiSL0V(iEV(ov  xaxvyQcccpoiv  f^'^xriGLV  ngog  ccvxbv 
ivoxriGdusvog^  t^v  kul  stg  dsvgo  (psgofiEvriv  i'a^sv,  ^ovog  l'öxvaev  x&v  dXXtov 
yiQvip£vovv  bvxa  xal  dnaxr\Xbv  cpcoQ&Gca  xbv  dv&Qconov.  Als  Euseb  diese  Stelle 
schrieb,  ahnte  er  nicht,  daß  er  sich  einmal  selbst  von  solchen  Xoyioi  ävdgsg  würde 
examinieren  lassen  müssen,  und  nach  dem  Synodalschreiben  [p,  277,  16flf.]  hats 
er  ihnen  auch  sauer  genug  gemacht. 

2)  P.  275,3  ^)  UxA»  ^)j  ^)  JIo^.vo->  -Jj-M^J  ^JLÖIj  p  is^  ^j  =  kccI 
Si]  stg  fv  avvccx^svxsg,  nagovxav  x«l  [durch  den  syrischen  Text  sicher  bezeugt] 
xiv&v  ccdsXq)cav  Xoyitov  [auch  dieser  Ausdruck  ist  sicher]. 

3)  Von  zweiter  Hd.  übergeschrieben;  richtiger  wird  )o^  ergänzt. 

4)  j  ^)  steht  im  Syrischen  da :  ich  hätte  es  in  meiner  früheren  Uebersetzung 
nicht  unterdrücken  sollen,  da  dadurch  das  Folgende  den  Sinn  eines  Praedicats 
zu  einem  bekannten,  w^eil  schon  erwähnten  Subject  erhält.  Es  ist  ein  neuer 
Beweis  dafür  daß  die  Zahl  wm^aJl  interpoliert  ist. 


346  E.  Schwartz 

kann  so  nicht  geschildert  sein  und  wird  es  nie.  Aus  dem  bei- 
gegebenen Fascimile  der  Hs.  kann  sich  jeder  überzeugen  daß  die 
Zahl  .juaü.  am  Ende  der  Zeile  hinter  JLijuo'j  nachgetragen  ist;  sie 
paßt  nicht  zn  j  y^l  [=  olov,  cjg  av]  und  würde  das  syrische  Aequi- 
valent  des  griechischen  Artikels  verlangen,  das  in  der  sehr  wörtlich 
übertragenden  pariser  Hs.  nicht  weggelassen  zu  werden  pflegt  und 
in  diesem  Fall  ohne  grobe  Schädigung  des  Sinnes  nicht  wegge- 
lassen werden  kann.  Die  Zahl  ist  ein  recht  unüberlegter  Zusatz  des 
Schreibers  der  Hs.,  der  daraus  daß  das  Synodalschreiben  zu  der 
kanonischen  Synode  von  Antiochien  gestellt  ist  und  gegen  die 
Arianer  polemisiert,  verkehrter  Weise  schloß  daß  die  STcdsöLg 
niörscog  die  für  die  xcct^  f'lo^i^i/  antiarianische  gilt,  nämlich  das 
Nicaenum,  gemeint  sei.  Der  Verfasser  der  Schlußnotiz,  der  sich 
drüber  wundert  daß  in  dem  Credo  das  öjMoovetog  fehlt,  hatte  sehr 
viel  mehr  Urteil  als  dieser  von  einem  Augenblickseinfall  irrege- 
leitete Schreiber,  der  immerhin  noch  so  gut  gezogen  war,  daß  er 
seine  Interpolation  nicht  direct  in  den  Text  zu  setzen  wagte. 

Ich  hatte  den  äußeren  Thatbestand  und  den  inneren  Zusammen- 
hang für  so  klar  und  evident  gehalten,  daß  ich  ohne  meine  Leser 
mit  langem  kritischen  Grerede  aufzuhalten,  die  Zahl  als  interpoliert 
wegließ.  Hr.  Harnack  dagegen  hoift  hier  ein  Indicium  der 
Fälschung  aufstöbern  zu  können,  läßt  den  ganzen  Zusammenhang 
der  Stelle,  der  interessant  genug  ist,  unerörtert  und  behauptet 
[S.  482],  das  Synodalschreiben  berufe  sich  Hipp  und  Mar  auf  das 
Glaubenssymbol  der  318  Bischöfe ,  d.  h.  der  Väter  von  Nicaea.  Die 
Emphase  mit  der  diese  Erkenntnis  vorgetragen  wird,  ist  unange- 
bracht: weder  von  Bischöfen  noch  von  Vätern  steht  etwas  da. 
Es  ist  Hrn.  Harnack  auch  nicht  ganz  geheuer  bei  der  Stelle,  und 
er  trägt  in  einer  Anmerkung  [S.  483^]  nach :  wenn  daher  [!]  die 
Zahl  interpoliert  sein  sollte,  so  ist  sie  eine  sachlich  richtige  Inter- 
ptolation.  Mit  solchen  dialektischen  Zwickmühlen,  die  den  Gegner 
unter  allen  Umständen  ins  Unrecht  setzen  sollen,  ist  in  der  wissen- 
schaftlichen Textkritik  nichts  anzufangen:  ein  und  dasselbe  Wort 
kann  nicht  einmal  eine  richtige  Lesart  vorstellen,  die  sachlichen 
Unsinn  ergiebt,  und  ein  andermal  für  eine  Interpolation  gelten, 
die  sachlich  richtig  sein  soll,  sondern  ist  entweder  echt  oder  falsch. 
Ist,  wie  ich  nachgewiesen  habe,  das  Synodalschreiben  echt,  dann 
ist  kein  Wort  mehr  darüber  zu  verlieren,  daß  die  Zahl  318  eine 
törichte  Randbemerkung  ist.  Ist  es  unecht,  so  steht  so  viel  fest 
daß  es  vornicaenisch  sein  will;  Hr.  Harnack  giebt  das  selbst  zu 
[S.  482].  Dann  müßte  der  Fälscher  sein  ganzes  Kunststück  dadurch 
zu  nichte  gemacht  haben,   daß  er  die  Zahl  318,    an  der  auch  der 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  347 

dümmste  Mönch  das  Nicaenum  erkannte,  so  plump  und  ungeschickt 
wie  nur  möglicli  in  den  Text  zwängte.  Wie  Hr.  Harnack  das 
glaubhaft  machen  will,  ist  mir  dunkel.  Er  construiert  ja  freilich 
einen  späten  Fälscher  der  in  dogmaticis  nicht  ganz  ungebildet  ist 
[S.  488 'J,  V071  Chronologie  keine  Ahnung  hat  [S.  488]  und,  seihst  ge- 
schichtlich ganz  unwissend^  seinen  Lesern  alles  bieten  zu  dürfen  glaubt 
[S.  483],  ich  will  auch  nicht  bestreiten  daß  ein  derartiger  Homun- 
culus  eines  gewissen  Interesses  nicht  entbehrt;  daß  es  aber  einen 
Fälschungsbeweis  nicht  empfiehlt,  wenn  ein  solches  Grebilde  pro- 
duciert  werden  muß  um  ihn  aufbauen  zu  können,  dürfte  nicht  zu 
viel  gesagt  sein. 

Da  die  interpolierte  Zahl  318  nur  ein  mangelhaftes  Indicium 
für  die  Anklage  ist,  die  Hr.  Harnack  gegen  die  Urkunde  richtet, 
wirft  er  ihr  außerdem  vor  [S.483]  daß  sie  den  polemischen  Schluß  des 
Nicaemims  vortrage  ^  also  das  Nicaenum  voraussetze.  Es  wird  gut 
sein  die  Stellen  selbst  zu  confrontieren.  Die  berühmten  Anathema- 
tismen  des  Nicaenums  lauten:  xovg  ds  Xeyovtag  ort  ijv  Ttots  ots 
OVK  rjv,  xal  tcqiv  yevvrid^rlvav  ovk  r]Vj  Tcal  ort  eh,  ovx  övxov  sysvsro, 
i)  £|  stSQag  vTtoöTciöscog  t)  ovöCag  q)döxovtag  slvcci,  -J)  tqstctov  tJ 
ocXXoLCJtbv  xov  vlbv  tov  dsov,  xovtovg  ccvad'S^ati^eL  rj  ayia  xad-oXiTir)  nal 
äitoßtoXiKYi  ixKXriöia  ^).  Dagegen  giebt  das  antiochenische  Synodal- 
schreiben die  Anathematismen  nicht  geschlossen,  sondern  unter- 
bricht sie  durch  ein  Raisonnement :  scheidet  man  dies  aus,  so  bleibt 
übrig  [277,  3]  i;^S.    ^/v^i^o  ^i^.>opoo   ^V^öt^  ^qjö^  ^^^^V^ul^  t-^ 

)J  wOto)^(  \kj.^^  JL^t  ^(9  Q^o  :{lo^:^w»  oNna.  wOtoK.»(  )iy  wot 
(jua^uui^jLM  das  ist  etwa:  ävad'siiatit.ovxag  ezsivovg  ot  Xsyovöiv  r) 
vo^it,ov(jtv  r\  KYiQvttovöiv  xov  vihv  xov  ^Bov  xxiöxbv  rj  yevrixov  tJ 
jtOLT/xbv  xal  OVK  äXri^Cbg  yavvrixbv  dvai  rJ  ort  i]v  oxs  ovx  ijv  .  .  .  . 
jtQoöexi  de  xäxeCvovg  ot  xrii  avxe^ovöiCQL  [sichere  Uebersetzung] 
%'bXyi^sl  avxov  axQsnxov  sivai  avxbv  rjyovvxccL  aöTtSQ  xal  ot  Ttagd- 
yovöiv  ix  xov  u?)  ovxog  xrjv  yivviipiv^  xal  ^i]  cpvösi  axgsTtxov  xaxä 
xbv  TtaxEQa.  Die  Passus  sind  sich  ähnlich,  was  nicht  wunderbar 
ist,  aber  mit  nichten  identisch,  und  nichts  hindert  in  den  antioche- 


1)  Die  üeb erlief erung  im  Einzelnen  schwankt,  die  wichtigste  Variante  ist 
der  Einschub  von  ?)  v,Ti6t6v  vor  ?)  xQBntov.  Es  ist  nicht  nötig  die  Frage  hier 
im  Einzelnen  zu  discutieren;  sie  läßt  sich  auch  ohne  neues  handschriftliches 
Material  nicht  entscheiden. 


348  E.  Schwartz 

nischen  Anathematismen  eine  Vorstufe  der  nicaenisclien  zu  sehen; 
der  Umstand  daß  in  jenen  ovöCa  und  vn66xa6ig  fehlt,  spricht  sehr 
vernehmlich  dafür.  Zugleich  ist  zu  beachten  daß  der  'freie  Wille* 
im  Nicaenum  fehlt  und  in  dieser  scharfen  Formulierung  wenigstens 
auch  bei  Alexander  ^)  nicht  vorkommt ;  er  ist  ein  Zusatz  den  die 
Theologen  der  antiochenischen  Synode  dem  einfachen  atgeittov  ocal 
ävaXXoLwzov  des  arianischen  Bekenntnisses  [Epiphan.  69,  7  p.  732^. 
Äthan,  de  synod.  16]  zu  polemischen  Zwecken  angehängt  haben: 
die  nicaenischen  Anathematismen  schließen  sich  mit  ihrem  r)  tQsntbv 
ri  äXkoKoxov  an  die  Formeln  Alexanders  an.  Das  arianische  Be- 
kenntnis ist  auch  in  sofern  benutzt,  als  die  beiden  Praedikate 
axQSTttov  xal  ävaXkoLcotov  auch  dem  Vater  [p.  275, 14]  zugesprochen 
werden,  wie  dort  [Epiphan.  a.  a.  0.  p.  732*^];  damit  ist  das  was 
Hr.  Harnack  von  monophysitischen  Spuren  vorbringt  [S.  488],  er- 
ledigt. Von  irgend  einer  Evidenz  daß  die  Bannformeln  des  Syno- 
dalschreibens die  nicaenischen  voraussetzen  und  vor  ihnen  undenkbar 
sind,  finde  ich  keine  Spur,  und  Hr.  Harnack  glaubt  im  Grunde 
anch  nicht  daran;  denn  er  läßt  sich  an  einer  anderen  Stelle  dazu 
herbei  [S.  484]  anzunehmen,  daß  die  Glauhensdeclaration  doch  [!]  älter 
als  das  Nicaenum  sein  könne,  tvenn  sie  auch  in  ihrem  polemischen 
Schluß  nahezu  [!]  mit  ihm  identisch  ist. 

Auf  die  Prüfung  der  Ueberlieferungsgeschichte  und  der  Form 
des  von  ihm  hart  angeklagten  Documents  hat  Hr.  Harnack,  wie 
schon  gesagt,  stillschweigend  verzichtet.  Dagegen  hält  er  es  für 
nötig  ^/^r^?^  Anlaß  und  ihre  Motive  zu  entziffern  und  meint  daß  das 
in  hohem  Maße  möglich  sei  [S.  486].  Nachdem  ich  nachgewiesen 
habe  daß  die  Urkunde  echt  ist,  könnte  ich  streng  genommen  es 
mir  ersparen,  auch  diesen  Teil  der  Anklage  zu  widerlegen;  ich 
will  aber  ein  Uebriges  tun  und  mich  auch  darauf  einlassen. 

Drei  Bischöfen,  Theodot,  Narciß  und  Euseb  wird  in  dem 
Synodalschreiben  die  Gremeinschaft  vorläufig  aufgekündigt.  Auf 
drei  Bischöfe  ist  der  alexandrinische  Patriarch  in  seinem  Brief  an 
Alexander  von  Byzanz  sehr  übel  zu  sprechen  [Theodor.  1,  4,  37] :  xal 
ovx  otd'  ÖTtcog  iv  UvQLttL  x^LQOxovYid^ivxeg  sjtiöxojtoi  XQetg  diä  xb  6vvoa- 
vstv  avxolg  snl  xb  x^^QOV  v7tsxxdov0L ,  Ttegl  av  i]  xgCßig  avaxsLöffG) 
xfii  vfiexigai   öoTniiaciai   [d.  h.  Alexander  und   den  Bischöfen   oder 


1)  In  der  Encyclika  stellt  er  als  arianisches  Dogma  hin:  SC  3  xal  xQ^nvös 
iöTL  xal  &XXoia)Tbg  tr\v  (pvaiv  tb?  xal  ndvta  xu  Xoyiyicc.  Das  führt  er  im  Brief 
an  Alexander  von  Byzanz  weiter  aus  [Theod.  1,  4,  11]:  xal  q)aalv  whxbv  xganxf^s 
ilvat  (fvaeag  &QSx^g  xe  xal  xax/a?  iTtiSs-uxL'uov  und  [a.  a.  0.  13]  Slu  xgdnoiv 
inifiiXBiav  xal  aa-nrioiv  iii}  xQsnoiisvov  inl  xb  ;i;eripoi/. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  349 

Klerikern  denen  er  den  Brief  mittheilen  soll ;  er  ist  wie  äyaTcritoC 
in  dem  Gruß  am  Schluß  zeigt,  an  mehrere  gerichtet,  und  die 
Adresse  muß  von  Theodoret  ungenau  wiedergegeben  sein]*  ol'  [von 
hier  an  hat  Hr.  Harnack  das  Citat  nicht  mehr  mitgeteilt]  tag  ^hv 
Tov  öcjzriQlov  Tcdd-ovg  taTCSivaöscog  xe  xal  K6vd)66(X)g  xal  T^g  xaXov^s- 
vr}g  avTov  ntcoxsCag  xal  g)v  s7tL%tii]tcog  [sTtixrijtovg  die  Ausgaben] 
6  &coxi]Q  dl  rj^äg  avsds^ato,  cpcsväg  diä  [ivTJ^rig  sxovtsg  TcaQatCd'Svtai, 
BTtl  7CaQayQa<pf]i  tilg  ccvcod^sv  xal  äQ%y]^sv  avvov  ^sötr^tog,  r&v  de 
tTjg  (pvöLKTJg  avtov  do^rig  rs  xal  svysvsCag  xal  nagä  tobt,  itatgl  /iovijg 
6rinavtiXG)v  koyav  STtikri^iLovsg  ysyövaöcv.  Hr.  Harnack  meint 
[S.  486],  daß  vielleicM  wegen  dieser  Stelle  drei  Bischöfe  in  der 
Fälschung  excommimiciert  iverden  .  .  .  der  Falscher  setzte  Theodotus 
von  Laodicea,  Narcissus  von  Neronias  und  den  berühmten  Eusehkis 
von  Caesarea  ein.  Der  nur  auf  die  Zahl  basierte  Zusammenhang 
ist  recht  vage,  und  löst  sich  gänzlich  auf,  wenn  man  nachforscht, 
wer  die  drei  Bischöfe  sind,  die  Alexander  im  Sinne  hatte.  Frei- 
lich erklärt  Hr.  Harnack  [S.  486] :  welche  Bischöfe  Alexander  ge- 
meint hat,  tveiß  man  [!]  nicht,  und  ist  auch  gleichgültig.  Wenn  Hrn. 
Harnack  die  historisch  accurate  Interpretation  eines  unmittelbaren, 
lebendigen  geschichtlichen  Documents  gleichgültig  ist,  so  bin  ich 
der  letzte  der  ihn  in  seiner  Indifferenz  stört:  nur  soll  er  nicht 
behaupten  daß  das  was  er  nicht  weiß,  man  nicht  wisse.  Wer 
jene  drei  Bischöfe  sind,  steht  schon  in  dem  Fundamentalwerk  zu 
lesen,  das  jeder  ernsthaft  zu  nehmende  Forscher  zunächst  nach- 
schlägt, in  den  Memoires  pour  servir  a  l'histoire  ecclesiastique  des 
alten  Lenain  de  Tillemont  [t.  VI.  p.  734^] :  Paulinus  von  Tyrus, 
Euseb  von  Caesarea  und  Patrophilos  von  Skythopolis.  Sie  hatten, 
wie  Sozomenos  in  einem  ausgezeichneten,  aus  der  Actensammlung 
des  Sabinus  geschöpften  Bericht  erzählt  ^),  auf  Ansuchen  des  Arius 


1)  1,  15,  11  f.,  nachdem  über  die  'bithynische'  Synode  berichtet  ist:  mg  ds 
ovdsv  7\xtov  itttQcc  yvmiiTiv  ccbtocg  ixojQSL  r}  otcovSti,  'AXe^ccvSqov  ^t]  sL'kovtos  [das 
geht  auf  den  Tomos  Alexanders],"  TtQSößsvsrca  6  "JgsLog  TtQog  IlavXtvov  tbv  Tvqov 
inLCKonov  Hat  EvGsßiov  tov  UaiicpiXov  iTtLtQonsvovta  X7]v  i-nytlriaLUV  Tijg  sv  Ua- 
XaiGxCvTii  KccLGccQSLag  xal  TLaxQOcpiXov  xbv  U'nvd'OTtoXsag  yiccl  s^aixst  a^cc  xoig  dcficp' 
ccvxbv  inixgccnrivaL  b-h-uXtigicc^siv  xbv  (isx'  avxov  Xabv  mg  tcqoxbqov  x7]v  xä>v  itQsa- 
ßvxBQcav  xd^Lv  inixovxag  [da  die  bithynische  Synode  ihre  Rechtgläubigkeit  aner- 
kannt hatte,  waren  sie  rechtlich  noch  Presbyter  und  verlangten  ihre  Functionen 
ausüben  zu  können],  slvcci  yciQ  iv  'AXs^ccvdQSLui  s'^og,  "nad-ansQ  v.al  vvv,  svbg 
övxog  xov  "ncixä  ttccvxcov  ima-noTtov,  xovg  TtQSoßvxsQovg  IdCai  tag  i-a-uXriOLCcg  v.axEXBiv 
xal  tbv  iv  wbtccig  Xccbv  avvccysiv.  dl  8\  xal  aXXoig  sniGv.önoig  iv  JJuXaiGtCvriv 
cvvEX&ovteg  iipricptoccvxo  xfii  'Agsiov  cilxr\6si,  nccQa-KsXsvcdfisvoi  avvdystv  fisv  avxovg 
gmngoxsQOv,    vnotsxd%%ai    de  'AXs^dvÖQcoL    v,ccl  ccvxißoXstv    dsl   xfjg   Ttgbg   avvbv 


350  E-  Schwartz 

eine  Synode  nach  Caesarea  in  Palaestina  berufen  und  die  recht- 
liche Consequenz  des  Beschlusses  der  früheren,  von  dem  niko- 
medischen  Euseb  nach  seiner  Stadt  geladenen  Synode  gezogen, 
auf   der    ein   von   Arius    vorgelegtes    Glaubensbekenntnis    [Nachr. 


dgrivris  xal  v-oivcavCas  iL£xs%nv.  Vorzügliches,  aus  localer  Kenntnis  geschöpftes 
[vgl.  Nachr.  1905,  258.  165]  Detail  giebt  Epiphanius  [69,2],  der  natürlich  die 
eigentümliche  Institution  des  alexandrinischen  Presbyteriums  im  Ganzen  nicht 
begriflfen  hat.  Dagegen  hat  Eutychius  einen  ausgezeichneten  Bericht  über  das 
Recht  der  zwölf  Presbyter  den  Bischof  zu  ordinieren,  erhalten ;  ich  setze  ihn  her, 
da  er  vergessen  ist  [p.  I0  der  Ausgabe  von  Cheikho ;  die  correcten  Formen,  die 
die    strenge    Grammatik   verlangt,    corrigiere    ich    nicht   hinein]:      ^i^      .,L 

!^^Lä^.   Jd    l^.jy^    xi^-^vLaj^   x^i^  .Lo^   a^^j    J^   ^.«-V.^    O^^^"^'    Imi^^m^ 

\3\    Lvoaj!  ^i^    b£5i^^J:u]l    'w.**»Jül    j^j|_j^OLkaj  ^^\   ^yt   «-U    »Jb    Ji^a  iüJUJlüi^ 

0  >  >  5 

^ßJaJ\  _^äLöl  ^  iOäL«^  yo*^!  L5y^^  »^jJ^^^  LwwJül.  -De^*  Evangelist 
Marcus  setzte  mit  dem  Patriarchen  Ananias  12  Presbyter  ein,  die  um  den  Patri- 
archen waren,  und  wenn  der  Patriarch  mit  Tode  abging,  dann  wählten  sie  einen 
von  den  12  Presbytern  aus,  und  die  elf  übrigen  Presbyter  legten  ihre  Hände  auf 
sein  Haupt  und  erteilten  ihm  den  Segen  und  setzten  ihn  zum  Patriarchen  ein. 
Dann  wählten  sie  einen  hervorragenden  Mann  aus  und  nahmen  ihn  als  Presbyter 
unter  sich  auf  an  Stelle  dessen  der  Patriarch  geworden  war,  damit  es  wieder 
zwölf  seien.  Und  die  Ordnung  der  Presbyter  in  Alexandrien,  daß  sie  die  Patri- 
archen aus  den  12  Presbytern  wählten,  dauerte  bis  in  die  Zeit  des  Patriarchen 
Alexander,  der  auf  der  Synode  der  318  war;  er  schaffte  die  Wahl  des  Patriarchen 
durch  die  Presbyter  ab  und  bestimmte  daß,  wenn  der  Patriarch  sterbe,  die  Bischöfe 
sich  versammeln  und  den  Patriarchen  wählen  sollten.  Und  er  bestimmte  wiederum, 
daß  wenn  der  Patriarch  sterbe,  sie  aus  einer  beliebigen  Stadt  einen  hervorragenden 
Mann  wählen  sollten,  sei  es  aus  jenen  12  Presbytern  oder  einen  anderen,  so  daß 
sie  den  der  ihnen  gefiele,  zum  Patriarchen  bestellten.  So  vmrde  die  alte  Ordnung 
daß  die  Presbyter  den  Patriarchen  wählten,  abgeschafft  und  die  Wahl  des  Patri- 
archen gieng  auf  die  Bischöfe  über.  Sieht  man  von  der  vermutlicli  fictiven  Zahl 
zwölf  ab,   so  liegt  im  Uebrigen  die  Entwicklung  des  alexandrinischen  Episkopats 


zur  Geschichte  des  Athanasius  YII  351 

1905,  260]  als  rechtgläubig  gegenüber  der  Encyclika  Alexanders 
anerkannt  war.  Wie  der  alexandrinische  Patriarch  auf  diese 
Synode  mit  seinem  Tomos  geantwortet  hatte,  so  replicierte  die 
Synode  von  Caesarea  auf  den  Tomos  wiederum  damit  daß  sie  Arius 
und  den  Presbytern  die  ihm  anhingen,  das  alte  Recht  der  alexan- 
drinischen  Presbyter  ausdrücklich  bestätigte  in  ihren  Presbyterial- 
kirchen  selbständige  Gremeindegottesdienste  abzulialten.  Mit  diesem 
Synodalbeschluß  ausgerüstet,  kehrten  Arius  und  seine  Presbyter 
nach  Alexandrien  zurück  und  predigten  dort  in  ihren  Gemeinden; 
das  sind  die  'Räuberhöhlen',  über  die  sich  der  Patriarch  in  dem 
Brief  an  Alexander  von  Byzanz  beklagt  [Theodoret  1,  4,  3].  Aus 
dem  was  er  über  die  drei  Bischöfe  vorbringt,  geht  außerdem  hervor 
daß  die  Synode  ihre  dogmatische  Stellung  durch  Bibelstellen  zu 
begründen  versucht  hatte;  Alexander  warnt  deutlich  den  Klerus 
von  Byzanz  davor  sich  durch  die  Beschlüsse  und  Briefe  dieser 
Synode  irreführen  zu  lassen.  Als  er  diesen  Brief  schrieb,  war 
von  einer  kaiserlichen  Synode  noch  keine  Rede;  durch  deren  Be- 
rufung wurde  die  Situation  wesentlich  verändert,  und  die  Beschlüsse 
welche  die  antiochenische  Synode  gegen  ihre  Mitglieder  Theodot, 
Narciß  und  Euseb  faßte,  von  denen  Narciß  gar  kein  syrischer 
Bischof  war,  haben  mit  den  drei  syrischen  Bischöfen,  gegen  deren 
Unterstützung  des  Arius  Alexander  erheblich  früher  protestiert 
hatte,  unmittelbar  nichts  zu  tun. 

Hr.  Harnack  muß  zugeben  daß  Theodot  von  Laodicea  und 
Narciß  von  Neronias  Gresinnungsgenossen  des  Euseb  waren ;  sie 
seien  aber  neben  ihm  fast  [!]  ohslnire  Leute  gewesen  [S.  486].  Also 
[!],  fährt  er  fort,  darf  man  sagen ^  daß  sich  die  Fälschung  gegen 
Eusehius  richtet.  Meines  Erachtens  darf  man  das  grade  nicht 
sagen.  Tendenziöse  Fälschungen  lassen  ihre  Absichten  deutlich 
erkennen ,  und  wenn  Euseb  und  Euseb  ausschließlich  discreditiert 
werden  sollte,  so  stumpfte  der  Fälscher  die  Pointe,  oder  wie  Hr. 
Harnack  sich  ausdrückt,  das  AJmmen  seiner  Erfindung  dadurch  ab, 


klar  vor  Augen.  Ursprünglich  gah  es  in  Alexandrien  mehrere  Gemeinden,  jede 
unter  einem  eigenen  Presbyter;  daher  das  Recht  der  Presbyter  in  ihren  Kirchen 
Gottesdienst  zu  halten.  Diese  bestellten  sich  einen  Vorsteher.  In  den  Bischofs- 
listen des  Euseb  ist  sehr  oft  [KG  5,  9.  22.  6,  2,  2.  35.  9,  6,  2]  von  den  Gemeinden 
Alexandriens  im  Plural  die  Rede.  Aegypten  wurde  kirchlich  wie  politisch  als 
Xmga  der  Hauptstadt  angesehen.  Bis  ins  dritte  Jahrhundert  hatten  die  Bischöfe 
als  primi  intet'  pares  nichts  zu  sagen ;  dann  schufen  Demetrius  und  Heraklas  die 
Bistümer  außerhalb  Alexandriens  [Eutych,  p.  <\^']  und  haben  mit  deren  Hülfe  die 
Macht  des  Presbyteriums  gebrochen. 


352  E-  Schwartz 

daß  er  dem  Object  seines  Hasses  zwei  Leidensgenossen  mitgab 
und  in  keiner  Weise  dafür  sorgte  daß  Euseb  als  der  Führer  und 
Anstifter  hervortrat;  an  der  einzigen  Stelle  an  der  die  drei  ge- 
nannt werden  [p.  277, 13],  steht  er  grade  an  letzter  Stelle  ^).  Grar 
nicht  davon  zu  reden  daß  dem  Fälscher,  dessen  entsetzliche  histo- 
rische Ignoranz  Hrn.  Hamack  so  ärgerlich  ist,  nicht  zugetraut 
werden  kann  daß  er  zwei  fast  obshure  Leute  ausgrub  um  sie  mit 
dem  berühmten  Euseb  zusammenzukoppeln  und  dadurch  nichts 
anderes  erreichte  als  daß  er  sein  Machwerk  noch  schlechter  machte 
als  es  unter  allen  Umständen  werden  mußte.  Gewiß,  Euseb  ist 
oft  genug  des  Arianismus  geziehen  worden.  Die  Hss.  der  KG- 
sind  reich  an  ungnädigen  Randbemerkungen;  am  ergötzlichsten 
macht  sich  die  fromme  Wut  eines  Schreibers  im  Codex  Vaticanus  399 
(einer  Abschrift  von  A  aus  dem  XI.  Jahrh.)  fol.  204  Luft:  xaVov 
XagrCov :  xaAa  ygci^ara :  xaxbg  BQsnx&g  (=  alQSttxbg)  Evöeßiog  üafi- 
q)LXov.  Ein  unwissender  Fälscher  brauchte  noch  nicht  einmal, 
wie  die  Väter  des  zweiten  nicaenischen  Concils  von  787,  die 
Correspondenz  des  Eusebius  aus  der  Publicistik  des  vierten 
Jahrhunderts  hervorzusuchen ,  um  ihm  wegen  seines  'Arianismus' 
eins  auszuwischen;  es  genügte  irgend  eine  Hs.  der  Kirchen- 
geschichte vorzunehmen  und  die  mit  warnenden  Marginalien  ver- 
zierten Stellen,  vor  allem  des  ersten  Buches,  auszuziehen:  dann 
hatte  er  Material  genug.  Nun  ist  aber  in  dem  Synodalschreiben 
der  Schriftstellerei  Eusebs  mit  keinem  Worte  gedacht ;  er  ist  in  ihm 
ein  Bischof  wie  die  andern  auch.  Das  ist  wiederum  ein  Zeichen  der 
Echtheit;  Fälschungen  die  einen  anerkannten  Schriftsteller  an- 
greifen wollen,  pflegten  grade  die  litterarische  Seite  seiner  Tätigkeit 
vorzunehmen,  weil  sie  dafür  ohne  Weiteres  auf  das  Interesse  des 
großen  Publicums  rechnen  können.  Wenn  außerdem  der  Fälscher 
das  in  der  Kirche  bestehende  hohe  Ansehn  des  Euseb  ruinieren  [S.  487] 
wollte,  so  hat  er  es  so  dumm  angefangen  wie  nur  irgend  möglich. 
Abgesehen  davon  daß  er  nicht  ihn  allein,  sondern  noch  zwei  andere 


1)  Es  ist  sehr  wahrscheinlich  daß  sie  nach  der  Anciennetät  geordnet  sind. 
Theodot  erhielt  den  Thronos  von  Laodikeia  während  der  Verfolgung  [Eus.  KG 
7,32,23];  als  Euseb  ihm  die  PE  und  DE  dedicierte  [Pauly-Wissowa,  RE  6, 
1389],  nahm  der  laodicenische  Bischof  schon  eine  angesehene  Stellung  in  der 
Kirche  der  Dioecesis  Oriens  ein:  der  Mann  war  alles  andere  als  obskur.  Der 
an  zweiter  Stelle  genannte  Narciß  von  Neronias  erscheint  schon  in  den  Subscrip- 
tionen  von  Ancyra  und  Neocaesarea;  Euseb,  der  als  Bischof  die  Festpredigt  bei 
den  Enkaenien  der  tyrischen  Basilika  gehalten  hat,  die  erst  mehrere  Jahre  nach 
dem  Sturz  Maximins  [313]  gefeiert  sein  können  [Pauly-Wissowa,  RE  6,  1376], 
hat  jedenfalls  erst  nach  der  Verfolgung  den  Thronos  von  Caesarea  bestiegen. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  YII  353 

dazu  aufs  Korn  nahm,  hing  er  den  dreien  nicht  etwa  ein  recht- 
schaiFenes,  gründliches  Anathema  an,  sondern  begnügte  sich  mit 
einer  provisorischen  Aufkündigung  der  Gemeinschaft,  erzählte  auch 
nicht  einmal,  was  mindestens  zu  verlangen  war,  daß  nach  Ablauf 
der  Bußfrist,  auf  der  angekündigten  großen  Synode  die  drei  Böse- 
wichter excommuniciert  seien.  Endlich  motiviert  das  Synodal- 
schreiben die  über  die  drei  Bischöfe  verhängte  Strafe  damit  daß 
sie  das  von  der  Synode  aufgestellte  Glaubensbekenntnis  nicht 
hätten  annehmen  wollen.  Wenn  der  Fälscher  dies  Bekenntnis  fabri- 
ciert  hat,  dann  hat  er  seine  Sache  nicht  nur  bei  den  Wissenden 
bös  compromittiert :  grade  für  einen  ungebildeten  Orthodoxen  des 
6.  oder  7.  Jahrh.  ist  ein  gegen  Arius  gerichtetes  Credo,  in  dem 
das  o^oovöiog  fehlt,  im  höchsten  Maße  anrüchig,  und  wenn  ein- 
gewandt wird,  daß  der  Fälscher  die  historische  Treue  habe  wahren 
wollen,  so  besaß  er  ja  nach  Hrn.  Harnack  [S.  483]  nicht  die  geringste 
Unterscheidung  in  henig  auf  das,  tcas  vor  und  was  nach  Nicaea  geschehen 
istj  und  glaubte  seinen  Lesern  alles  bieten  zu  dürfen.  Wiederum 
also  offenbart  sich  die  Fälschungshypothese  als  ein  wahres  Nest 
von  ünivahrsclteinlicJikeiten  und  Geivcdtsanikeiten,  um  mit  Hrn.  Har- 
nack [S.  482]  zu  reden. 

Es  kommt  aber  noch  besser.  Durch  eine  schon  besprochene 
Oonjectur  bringt  Hr.  Harnack  Eustathius  an  die  Spitze  der  Namen- 
jiste  und  fährt  dann  fort  [S.  487]:  er  ist  bekanntlich  [!]  von  Euse- 
biiis  von  Cäsarea  und  seinen  Freunden  ein  paar  Jahre  nach  dem 
Nicänimi  auf  einer  Synode  zu  Antiochien  abgesetzt  worden  {s.  Schrat. 
I,  24l  cum  parfdl.)  ....  Eustathius  ist  als  der  Präses  der  Synode  und 
als  der  Verfasser  des  Synodalschreibens  anzusehn;  nur  [!]  auf  ihn 
paßt  die  hohe  Stellung,  die  der  Leiter  der  Synode  und  der  Schreiber 
des  Synodalbriefs  einnimmt,  und  die  ganze  Fälschung  hat  also  Märlich 
dl]  den  Ztveck,  der  historischen  Absetzung  des  orthodoxen  Eustathius 
[urch  den  heterodoxen  Eusebius  —  diesem  Skandalon  der  Kirch9i[u 
geschichte!  —  dreist  eine  erlogene  Absetzung  des  Eusebius  durc- 
Eustathius  entgegenzusetzen.  Dies  ganze  Gebäude  steht  und  fällt 
mit  der  Conjectur  die  für  den  tadellos  überlieferten  ersten  Namen 
der  Liste  EvösßLog  in  das  Original  der  syrischen  Uebersetzung 
(tm)  svösßst  einzuschwärzen  sucht;  da  sie  als  unmöglich  erwiesen 
ist,  stürzen  die  weiteren  Constructionen  zusammen.  Sie  sind  auch 
in  sich  verkehrt.  Hr.  Harnack  weise  doch  einmal  eine  einzige 
Fälschung  nach,  die  für  eine  wirkliche  Absetzung  nach  ein  paar 
Jahrhunderten  durch  eine  fingierte  Hache  nimmt.  Das  ist  von 
vorne  herein  ein  unmöglicher  Gedanke;  es  kommt  hinzu  daß  in 
dem   ganzen  Schreiben   von    einer    Glorificierung   des   Eustathius, 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Philolog.-hist.  Kl.    1908.    Heft  3.  25 


354  E.  Schwartz 

die  doch  nacli  dem  supponirten  Zweck  der  Fälschung  notwendig 
angenommen  werden  muß,  nicht  ein  Hauch  zu  spüren  ist:  kein 
Leser  der  Fälschung  konnte  durch  sie  für  das  Andenken  des  Eu- 
stathius  begeistert  werden,  auch  dann  nicht,  wenn  er  wirklich  an 
der  Spitze  der  Liste  stand.  Und  was  für  ein  Publikum  setzt 
denn  dieser  'unwissende'  Fälscher  voraus?  Ein  PubKcum  das  im 
6.  oder  7.  Jahrh.  noch  wußte  daß  Euseb  der  Hauptschuldige  an 
der  Absetzung  des  Eustathius  gewesen  war,  es  so  genau  wußte, 
daß  der  Fälscher  es  über  diese  Untat  in  keiner  Weise  zu  orien- 
tieren brauchte  ?  Er  hatte  ja  nach  Hrn.  Harnacks  schmeichelhafter 
Charakteristik  keine  Ahnung  von  Chronologie  nnd  glaubte  seinen 
Lesern  alles  bieten  zu  dürfen ^  brauchte  sich  also  nicht  zu  genieren 
nnd  konnte  von  der  Absetzung  des  Eustathius  ruhig  reden ,  ob- 
gleich sie  später  war  als  die  provisorische  Excommunication  Eusebs. 
Ich  vermag  mir  allenfalls  vorzustellen  daß  der  Fälscher  Synodal- 
acten  fabricierte,  die  klärlich  zeigten  mit  welcher  Niedertracht 
der  böse  Euseb  den  guten  Eustathius  zu  Falle  zu  bringen  ver- 
suchte und  dabei  selbst  in  die  Grube  fiel;  das  hätte  eine  pseudo- 
historische E-ache  abgeben  können;  wie  ihn  aber  der  von  Hrn. 
Harnack  'entzifferte  Anlaß'  dazu  gebracht  haben  soll  ein  Mach- 
werk auszusinnen,  in  dem  Eustathius  keine  Eolle  spielt  und 
Euseb  weder  als  der  einzige  noch  als  der  absolute  Bösewicht 
erscheint,  das  mir  auszumalen  fehlt  mir  die  Phantasie. 

Uebrigens  konnte  der  Fälscher  auf  den  Gedanken  Eustathius 
an  Eusebius  zu  rächen,  nur  dann  verfallen,  wenn  die  Ueberlieferung 
daß  Enseb  an  der  Absetzung  des  Eustathius  schuld  sei,  so  fest 
stand  und  so  allgemein  verbreitet  war,  daß  im  6.  oder  7.  Jahr- 
hundert jeder  davon  wußte  und  daran  glaubte,  wie  etwa  an  Arius 
Tod  in  der  latrina  publica  zu  Constantinopel  und  was  dergleichen 
Histörchen  mehr  sind.  Ich  hatte  allerdings  in  meiner  Mitteilung 
[Nachr.  1905,  281],  z.  Th.  nach  den  Ballerini,  vermutet  daß  Euseb 
auf  der  Synode  die  gegen  Eustathius  berufen  war,  eine  Hauptrolle 
spielte,  auch  meine  Gründe  dafür  angegeben:  Euseb  steht  als 
erster  in  der  Reihe  der  Bischöfe  die  das  kanonische  Concil  von 
Antiochien  unterzeichnet  haben,  und  ich  identificierte  dies  Concil 
sowohl  mit  dem  das  Eustathius  absetzte,  als  dem  an  das  Constantin 
den  von  Euseb  Vita  Const.  3,  62  mitgeteilten  Brief  richtete.  Den 
Fälscher  können  diese  Gründe  um  so  weniger  bewogen  haben 
Euseb  um  des  Eustathius  willen  zu  grollen,  als  sie  verkehrt  sind, 
wie  ich  selbst  eingesehen  und  öffentlich  ausgesprochen  habe  [Pauly- 
Wissowa,  RE  6,  1417].  Ist  nun  aber  Eustathius  nicht  auf  der 
kanonischen,    von  Euseb   an  erster  Stelle  unterzeichneten  Synode 


zur  Geschichte  des  Athanasius  YII  355 

von  Antiochien  abgesetzt,  so  fällt  der  Hauptgrund  fort,  um  dessen 
willen  Euseb  für  die  Absetzung  des  Eustathius  verantwortlich 
gemacht  werden  kann,  und  wenn  Hr.  Harnack  behauptet,  ^beJcannt- 
Vidi  sei  das  der  Fall,  so  findet  dies  den  Beweis  bequem  ver- 
tretende Adverb  in  der  Ueberlieferung  keine  Stütze.  Es  wird 
nützlich  sein  sie  vorzulegen. 

Sokrates  [1,  23]  knüpft  an  ein  Citat  von  Euseb.  Yita  Const.  3,23 
ein  Regest  an  über  eine  Sammlung  von  Briefen,  in  der  die  Bischöfe 
über  das  nicaenische  Schlagwort  o^oovöiog  disputierten:  es  muß 
sich  um  eine  zu  polemischen  Zwecken  veranstaltete  Sammlung  han- 
deln, vgl.  Nachr.  1905,  258.  Er  teilt  darin  Excerpte  aus  Briefen 
mit,  in  denen  sich  Euseb  und  Eustathius  befehdeten.  Diese  Ex- 
cerpte übernimmt  Sozomenos  [2,  18,  3.  4]  ohne  die  Briefsammlung 
zu  erwähnen;  er  hat  sie  aber,  wie  es  seine  Gewohnheit  ist, 
nachgeschlagen  und  daraus  die  Notiz  entnommen  daß  Eusta- 
thius die  vornicaenische  Synode  von  Caesarea  angegriifen  habe 
[2,  19,1]:  wie  viele  behaupteten,  sei  das  der  wahre,  also  ofiiciell 
nicht  angegebene  Grund  der  Absetzung  des  Eustathius  gewesen. 
Auch  Theodoret  kennt  die  Sammlung  und  excerpiert  daraus  einen 
polternden,  historisch  unbrauchbaren  Bericht  des  Eustathius  über 
das  nicaenische  Concil  [1,7, 18  ff.]. 

Unmittelbar  auf  jenes  Regest  folgt  bei  Sokrates  [1 ,  24]  der 
Bericht  über  die  Synode  von  Antiochien,  die  Eustathius  absetzte. 
Er  ist  nur  lose  mit  dem  Vorhergehenden  verknüpft:  das  Subject 
des  ersten  Satzes  övvodov  ovv  sv  ^AvtioiEiai  Ttonjöavtsg  xad'aiQovöLv 
Ev6tdd-i0v  ag  tä  2Jaßs?.Xiov  ^äXXov  cpQOvovvxa  t)  aiteQ  rj  sv  Nixaiat 
övvodog  sdoy^aTiöev  kann  weder  auf  Euseb  noch  auf  Eustathius 
bezogen  werden,  die  allein  vorher  genannt  sind,  sondern  ist  ganz 
allgemein.  Wie  wenig  Sokrates  daran  denkt  Euseb  die  Schuld 
an  jener  Absetzung  zuzuschieben,  verrät  er  dadurch  daß  er  sich 
ausführlich  mit  der  Widerlegung  einer  Behauptung  beschäftigt, 
die  der  Antinicaener  Georg  von  Laodikeia  aufgestellt  hatte,  daß  der 
wegen  seiner  Orthodoxie  bekannte  [Athanas.  apol.  de  fuga  3.  hist. 
Arian.  5]  Bischof  Kyros  von  Beroea,  der  Nachfolger  des  Eustathius 
auf  seinem  früheren  Thronos,  ihn  auf  der  Synode  angeklagt  habe : 
in  dieser  Widerlegung  kommt  Euseb  nicht  vor.  Jenes  Regest 
also  steht  nicht  in  engem  Zusammenhang  mit  dem  Bericht  über 
die  Synode,  sondern  ist  von  Sokrates  an  diese  Stelle  gerückt, 
weil  es  ihm  zu  der  Absetzung  des  Eustathius  am  besten  zu  passen 
schien.  Sozomenos,  der  in  viel  höherem  Maße  pragmatische  Allüren 
hat  und  von  historiographischer  Technik  etwas  weiß,  zieht  aller- 
dings ein  Excerpt  aus  der  Briefsammlung  in  den  Bericht  über  die 

25* 


366  E-  Schwartz 

Synode  hinein;  aber  auch  er  behauptet  nicht  daß  Eustathius  seine 
Angriffe  gegen  Euseb  habe  büßen  müssen,  sondern  die  welche  er 
gegen  Euseb,  Paulinus  und  Patrophilos  [d.  h.  die  Synode  von  Cae- 
sarea s.  o.]  richtete,  nennt  also  andere  Genossen  des  Euseb  als 
die  welche  in  dem  Synodalschreiben  vorkommen,  das  nach  Hrn. 
Harnacks  Meinung  'klärlich'  zur  Rache  für  die  Absetzung  des 
Eustathius  gefälscht  ist. 

Thatsächlich  wurde  Eustathius  nicht  um  des  Dogmas  willen 
abgesetzt,  sondern  aus  disciplinären  Grründen:  man  warf  ihm  an- 
stößigen Lebenswandel  vor.  Sokrates  und  Sozomenos  geben  das 
nur  widerwillig  zu;  aber  die  orientalische  Synode  von  Sardica 
spricht  es  deutlich  aus  ^).  Cons tantin  hat  zu  der  Excommunication 
der  Bischöfe  ein  Relegationsurteil  hinzugefügt,  das  er  nach  per- 
sönlichem Verhör  ergehen  ließ^);  nach  Athanasius  [Hist.  Arian.  4] 
diente  als  Vorwand,  daß  er  die  Kaiserinmutter  Helena  beleidigt 
habe  ^).    Von  einer  Schuld  Eusebs  redet  Athanasius  nicht,  obgleich 


1)  Sokr.  1,  24,  1  übg  fiev  ovv  ZLveg  q)U6Lv ,  ^t'  aHag  ovx  ccyad'äg  altCag 
(nicht  wegen  sabeliianischer  Anschauungen),  q>ccvsQä)g  yäg  ovyi  eIq-^kccgi.  tovxo  ds 
inl  Ttdvtcav  sload'aaL  tmv  yiad'aiQoviiivcov  noistv  ot  iniayionoi,,  %atriyoQOvvtsg  (ihv 
■Kai  aösßsiv  XByovtsg  f  tag  ds  altiag  rfjg  &asßsiag  ov  TCgoarid'EVTSg.  Folgt  die 
oben  erwähnte  Widerlegung  des  Georg  von  Laodikeia;  Kyros  habe  Eustathius 
nicht  als  Sabellianer  angeklagt.  Dann  der  Abschluß:  soi-nsv  ovv  EvardQ-iov  Si* 
ETEgag  xaO'rjipTjö'ö'at  TtgocpäaEig.  Sozom.  2,  19,  1  xb  (iev  alrid'Eg,  mg  noXvg  e'xel 
2.6yog,  xa^ort  ttJv  ivNiyiaiaL  ncötiv  EmfiLVEi  -aal  tovg  ccficpl  xbv  EvGEßiov  tiai  IJavXtvov 
xov  TvQOv  knCoKonov  -Kai  UaxQOcpiXov  xov  Z-nvd'OTtoXEag,  av  xrjL  yviofiriL  ot  &va  X7]v 
%(o  \==  in  der  Dioecesis  Oriens]  lEgEtg  eTtiovxo,  oicc  ys  xd  'AgEiov  (pgovovvxag  ansaxgE- 
q)txo  y,al  cpavEgag  diißaXXE ,  7cg6cpa6iv  di  tag  ovx  oüiaig  ngd^EöL  xr]v  tEgoaövvi^v 
atßxvvag  icpagdd-ri.  [Hilar.]  frg.  bist.  3,  27  in  den  Motiven  der  Verdammung  des 
Hosius :  quod  c&nuixerit  in  Oriente  cum  sceleratis  ac  perditis  ....  sed  et  Eusta- 
thio  [eustasio  Hs.]  et  Quimatio  [d.  i.  Kviidxiog  vgl.  Äthan,  apolog.  de  fuga  3. 
bist.  Arian.  5.  Tom.  ad  Antioch.  p.  770]  adhaerebat  pessime  et  carus  fuit,  de 
quorum  uitae  infamia  turpi  dicendum  nihil  est:  exitus  enim  illorum  eos  omnibus 
declarauit. 

2)  Euseb  Vita  Const.  3,  59  dnEXoyEtxo  [Constantin]  8i  ojv  ngbg  avxovg  [an 
die  Antiochener]  ^ygatpsv  mg  xov  xijg  axdasag  [des  späteren  Aufstands  in  Anti- 
ochien ;  vgl.  Kscp.  |  ÜEgl  xf}g  iv  ^AvxioxEiai  8i  E'öardd^Lov  xagax^g]  alxCov  Sia-nri- 
xoüjg  a'bxbg  eIt\. 

3)  Die  Kaiserinmutter  war  eine  eifrige  Verehrerin  des  310  hingerichteten 
Märtyrers  Lucian  [Philostorg.  2,12];  Constantin  gab  dem  bithynischen  DorfDre- 
pane,  in  dem  er  begraben  lag,  Stadtrecht  und  den  Namen  Helenopolis  [Sokrat. 
1, 17,  1.  Hieronym.  ol.  276,  2].  Nach  Lucian  aber  redeten  sich  Euseb  von  Niko- 
medien  und  Arius  GvXXovv,iaviaxaC  an  [Epiphan.  69,  6  =  Tbeodoret.  1,  5,  4]  ;  um. 
lekehrt  war  er  Alexander  von  Alexandrien  und  seinen  Parteigenossen  gründlich 
gvehaßt  [Theodoret.  1,  4,  36]. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  357 

er  im  Uebrigen  ihm  alles  andere  als  wohlgesinnt  war.  Zu  beachten 
ist  übrigens,  daß  Athanasius  erst  in  seinen  späteren  Schriften 
Eustathius  als  Märtyrer  der  Orthodoxie  feiert;  das  occidentalische 
Concil  von  Sardika,  das  Asklepas  von  Graza  und  Marcell  von  Ancyra 
rehabilitierte ,  erwähnt  Eustathius  überhaupt  nicht.  Man  wagte 
damals  noch  nicht  gegen  das  Urteil  Constantins  zu  protestieren  ^). 
Tritt  schon  in  der  ältesten  und  besten  Ueberlieferung  bei 
Sokrates  und  Sozomenos  Euseb  keineswegs  deutlich  oder  aus- 
schließlich als  der  Urheber  von  Eustathius  Absetzung  hervor,  so 
gilt  das  gleiche  von  den  späteren,  tendenziösen  und  legendarischen 
Entstellungen.  Philostorgius ,  der  den  disciplinaren  Grrund  der 
Absetzung  und  die  Verbannung  durch  den  Kaiser  richtig  erwähnt  ^), 
behauptet  daß  er  durch  eine  von  dem  nikomedischen  Euseb  dorthin 
berufene  Synode  ebenso  wie  Alexander  von  Alexandrien  abgesetzt 
sei:  was  in  dieser  Nachricht  Wahres  steckt,  ist  noch  nicht  auf- 
geklärt. Sie  ist  von  Theodoret  [1,21]  mit  der  älteren  Ueber- 
lieferung zu  einem  albernen  Roman  combiniert,  in  den  vielleicht 
auch  eine  Verwechslung  der  antiochenischen  Synode,  die  Eustathius 
absetzte,  mit  der  Enkaeniensynode  unter  Constantius  [341]  hinein- 
spielt :  der  nikomedische  Euseb,  den  er  schon  unter  Constantin 
Bischof  von  Constantinopel  werden  läßt,  reist  mit  seinem  Spieß- 
gesellen Theognis  von  Nicaea  nach  Antiochien,  hält  dort  mit  den 
'Arianern'  Euseb  von  Caesarea,  Patrophilos  von  Skythopolis,  Aetios 
von  Lydda,  Theodot  von  Laodikeia  und  anderen  eine  Synode  ab 
und  setzt  mit  Hülfe  einer  gedungenen  Dirne  die  Verurteilung  des 
Eustathius  durch  ^) ,  die  der  von  den  Gegnern  betörte  Kaiser  be- 
stätigt. Hier  ist  Euseb  von  Nikomedien  der  treibende  Mann: 
die  von  Theodoret  aufgezählten  'Arianer'  dürften  aus  dem  Katalog 
den  er  5,  7, 1  aufstellt,  entnommen  sein. 


1)  Der  Legende  daß  er  von  lovian  zurückgerufen  sei  [Sokrat.  4,  14,  4  = 
Sozom.  6,  13,  2],  liegt  der  Gedanke  zu  Grunde,  daß  ein  kaiserliches  Urteil  nur 
von  einem  Kaiser  aufgehohen  werden  könne.  Wenn  bei  Hieron.  uir.  ill.  85  ad~ 
uersus  Arianorum  dogma  multa  componens  sub  Constantio  [Variante :  Constantino] 
principe  pulsus  est  in  exilium  die  Lesart  Constantio  richtig  ist,  sollte  mit  dieser 
Correctur  der  Geschichte  Constantin  von  dem  Vorwurf,  den  orthodoxen  Metro- 
politen von  Antiochien  verbannt  zu  haben,  befreit  werden:  es  ist  dieselbe  Tendenz 
wie  die  um  derentwillen  Rufin  das  Concil  von  Tyrus,  das  Athanasius  absetzte, 
unter  Constantius  setzt. 

2)  2, 7  tbv  'AXs^ccvÖQS^ag  ^AXi^avÖgov  Hccdslstv  ts  v.ul  ccTtoyiTiQv^ccGd^at  .  .  . 
ccXXa  Tiul  Evatdd'iov  tbv  ^Avtioxstccg ,  naidCayn]?  fii^^iv  v.al  alaxQ&S  rjdovfjg  ccno- 
Xavaiv  atxiuv  iTtLygaipccfi^vovg-  cpvy7]v  <d'>  uvt&i  ßccaiXs^g  stLfi'^üccto  dg  xriv 
iöTtegav  [isd'OQiov  Ttoiriadfisvog. 

3)  Die  Geschichte  war  schon  Hieronymus  [adv.  Ruf.  3,  42]  bekannt. 


358  ^-  Schwartz 

So  viel  ist  deutlich :  die  Verfälschung  der  Tradition  kehrt  ihre 
Spitze  nicht  gegen  Euseb  von  Caesarea.  Zur  Zeit  des  Johannes 
Chrysostomus  gehört  Eustathius  mit  Philogonius  und  Meletius  zu 
den  Bischöfen  deren  Andenken  ofiiciell  gefeiert  wurde :  in  der 
Predigt  die  jener  auf  ihn  hielt,  heißt  es  nur  ganz  allgemein,  daß 
die  Ketzer  ihn  vertrieben  hätten  [t.  2  p.  607^].  Ebenso  beschränkt 
sich  Hieronymus  [de  uir.  ill.  85]  auf  die  kurze  Notiz  daß  er  wegen 
seiner  Schriften  gegen  das  arianische  Dogma  —  hier  lebt  die  Er- 
innerung an  seine  polemischen  Briefe  noch  fort  —  ins  Exil  gejagt 
sei.  Nach  alle  dem  lag  im  6.  oder  7.  Jahrh.  auch  nicht  die 
mindeste  Veranlassung  vor,  seine  Absetzung  an  Euseb  von  Caesarea 
zu  rächen :  niemand  konnte  damals  auf  den  Gedanken  kommen 
darum  eine  ganze  Synode  zu  fälschen,  und  niemand  würde  die 
Fälschung  verstanden  haben. 

Einige  Zeit  nach  der  Absetzung  und  Verbannung  des  Eusta- 
thius brach  bei  Gelegenheit  einer  Sedisvacanz  ^)  in  Antiochien  ein 
Aufstand  aus,  der  gefährliche  Dimensionen  annahm  und  nicht  nur 
die  christliche  Gemeinde  in  zwei  Parteien  spaltete,  sondern  auch 
die  Municipalbeamten  und  die  Garnison  ergriff.  Offenbar  ist  von 
den  Anhängern  des  Eustathius  der  Versuch  gewagt  ihn  von  neuem 
auf  den  Thronos  zu  erheben;  man  behauptete,  das  kaiserliche  Ur- 
teil sei  nicht  zu  Recht  ergangen-).  Constantin  griff  sofort  ein, 
sandte  einen  Comes  hin  und  schickte  ein  scharfes  Schreiben  an 
die  Gemeinde.     Nun  wollten  sich  die  Parteien  auf  Euseb  von  Cae- 


1)  Fest  steht  durch  die  Subscription  unter  dem  Tomos  Alexanders  [Nachr. 
1905,  267.  270]  und  die  nicaenische  Liste,  daß  Eustathius  auf  Philogonius  folgte, 
ferner  daß  Paulinus  den  Thronos  von  Tyrus  mit  dem  von  Antiochien  vertauschte 
[Euseb.  c.  Marcell.  1,  4,  2] ,  aber  sechs  Monate  danach  starb  und  durch  Eulalius 
ersetzt  wurde  [PLilostorg.  3,  15],  endlich  daß  Euphronios'  Nachfolger  Flaccillus 
war,  der  am  tyrischen  Concil  335  teilnahm  [Theodoret.  1,  22,  1.  Äthan,  apol.  c. 
Arian.  87].  Es  ist  also  verkehrt,  wenn  Theodoret  1,  22,  1  Paulinus  ausläßt  und 
Eulalius  unmittelbar  auf  Eustathius  folgen  läßt,  richtig  dagegen  daß  er  die  Ab- 
lehnung Eusebs  mit  der  durch  Eulalius'  Tod  entstandenen  Sedisvacanz  verbindet. 
Stärker  verwirrt  ist  die  Reihe  bei  Hieronymus  [ol.  277,  1] :  Philogonius  Paulinus 
Eustliathius,  nach  dessen  Verbannung  die  'Arianer'  Eulalius  Eusebius  Euphrouiua 
Flaccillus;  da  ist  Paulinus  fälschlich  zu  den  Orthodoxen  gerechnet  und  vor 
ICustathius  gestellt,  ferner  Euseb  mit  aufgezählt,  obwohl  er  nie  Bischof  von 
Antiochien  gewesen  ist.  Die  sicheren  Daten  schieben  sich  nur  durch  die  An- 
nahme zurecht,  daß  an  Stelle  des  abgesetzten  Eustathius  Paulinus  trat,  Eulalius 
ihm  succedierte  und  nach  dessen  Tode  der  Streit  ausbrach,  der  mit  der  vom 
Kaiser  befohlenen  Wahl  des  Euphronius  endete. 

2)  Daher  versicherte  der  Kaiser  in  dem  ersten,  ungnädigen  Schreiben  an 
die  Gemeinde  ausdrücklich,  daß  er  Eustathius  persönlich  verhört  habe,  s.  o. 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  359 

sarea  einigen^);  auch  eine  S^mode  die,  wahrscheinlicli  wegen  der 
Bischüfswahl,  tagte,  stimmte  zu-).  Aber  Euseb  war  klug  genug 
sich  mit  der  Ehre  zufrieden  zu  geben  und  den  exponierten  Posten 
unter  Berufung  auf  den  15.  nicaenischen  Kanon  abzulehnen;  Con- 
stantin,  der  an  dem  Entschluß  schwerlich  ganz  unschuldig  war? 
verwarf  den  Vorschlag  ebenfalls  und  nominierte  die  Presbyter 
Euphronios  aus  dem  kappadokischen  Caesarea  und  Greorgios  aus 
Arethusa:  jener  wurde  gewählt  [Euseb.  Vit.  Const.  3,  59  ff.].  Daß 
aus  dieser  Geschichte  keine  Fälschung  gegen  Eusebius,  am  aller- 
wenigsten das  antiochenische  Synodalschreiben  erwachsen  konnte, 
ist  ohne  Weiteres  klar. 

Da  das  Document  als  echt  erwiesen  ist,  so  ist  damit  ein  Maß 
gewonnen,  an  dem  sich  die  Vollständigkeit  und  Zuverlässigkeit 
der  erzählenden  Ueberlieferung  prüfen  läßt.  Fällt  diese  Prüfung 
für  die  antiken  Kirchenhistoriker  nicht  unbedingt  günstig  aus,  so 
spricht  das  noch  lange  nicht  gegen  die  Echtheit  des  Documents: 
im  Gegenteil,  es  müßte  mit  wunderbaren  Dingen  zugehen  und 
würde  gradezu  verdächtig  sein,  wenn  eine  so  umfangreiche  Ur- 
kunde so  mannigfaltigen  Inhalts  glatt  und  restlos  in  das  schon 
Bekannte  aufgienge.  Hr.  Harnack  fragt  allerdings  mit  Emphase 
[S.  484] :  von  einer  solchen  Synode  sollten  Eusebius,  Athanasius,  So- 
Icrates,  So^omenus,  Theodoret  schlechterdings  nichts  berichten?  Wenn 
es  Hrn.  Harnack  lediglich  darauf  ankam  mit  der  Aufzählung  mög- 
lichst vieler  ISTamen  eine  rhetorische  Wirkung  zu  erzielen,  hätte  er 
Kufin  und  Gelasius  nur  gleich  mitnennen  sollen:  auf  sachkundige 
Leser   werden  freilich   weder   die  fünf  noch  die  sieben  Namen  be- 


1)  Brief  Constantins  an  die  Gemeinde  [Eus.  Vit.  Const.  3,  60,  3]:  öfioXo'y& 
yccQ  ccvsyvGjyisvca  tcc  vTtOfivqiiata  ev  olg  lafiTtgacs  svcpriybCaig  ts  Kai  ^agrvQLUig 
als  ft's  Evasßiov  slariv^yAaaQ'S  ETtLO-aoTtov  i]dri  Kcciaagsayv  bvta  .  .  .  amgav  v^äg 
syasifisvag  avtbv  acpstsQL^ofisvovg.  Die  Eingabe  [libellus']  der  Antiocbener  muß 
die  Antwort  auf  das  erste,  ungnädige  Schreiben  des  Kaisers  gewesen  sein :  natür- 
lich meinte  man  in  Antiocbien,  daß  Euseb  bei  Hofe  persona  grata  sei.  Die  letzte 
Ausgabe  der  Kirchengeschichte  mit  den  ausgiebigen  Huldigungen  an  den  gott- 
geliebten Kaiser  war  ja  längst  erschienen. 

2)  Es  hat  viel  für  sich,  diese  Synode  mit  derjenigen  zu  identificieren ,  deren 
Kanones  in  das  Corpus  aufgenommen  sind.  Denn  in  deren  Subscriptionen  steht 
Euseb  von  Caesarea  an  der  Spitze,  dem  der  Kaiser  nach  der  Ablehnung  ausdrück- 
lich befahl  an  der  Synode  teilzunehmen  [Eus.  Vit.  Const.  3,  61,  3] ;  dagegen  fehlt 
der  Bischof  von  Antiocbien,  dessen  Name  unbedingt  zu  erwarten  ist:  die  Synode 
fand  also  während  einer  Sedisvacanz  statt.  Die  einzige  Schwierigkeit  ist  nur,  daß 
Aetios  von  Lydda,  der  sicher  auf  der  Synode  war  [Brief  Constantins  bei  Eus. 
Vit.  Const.  3,  62],  in  den  Subscriptionen,  so  weit  sie  mir  bekannt  sind,  nicht  er- 
scheint; freilich  sind  die  lateinischen  Listen  noch  nicht  zuverlässig  publiciert. 


360  E-  Schwartz 

sonderen  Eindruck  machen.  Denn  sie  wissen  daß  Euseb,  Atlia- 
nasius  und  E-ufin  von  den  drei  Fortsetzern  Eusebs  benutzt  sind 
und  Sokrates  wiederum  für  Sozomenos  und  Theodoret  die  Grund- 
lage bildet,  die  scheinbar  also  weitverzweigte  Ueberlieferung  sich 
bei  näherem  Zusehen  sehr  vereinfacht.  Je  einfacher  aber  eine 
Ueberlieferung  ist,  um  so  mehr  Lücken  wird  sie  aufweisen. 

Euseb  hat  aus  guten  Gründen  darauf  verzichtet  die  letzte 
Ausgabe  seiner  Kirchengeschichte  mit  einer  Schilderung  der  ersten 
oekumenischen,  unter  dem  Vorsitz  des  Kaisers  abgehaltenen  Sy- 
node zu  krönen:  ihm  ist  der  arianische  Streit  und  seine  Ent- 
scheidung die  böseste  Erinnerung  seines  Lebens  gewesen.  In  dem 
panegyrischen  ßuog  Constantins  konnte  er  Nicaea  nicht  übergeLn,  aber 
die  Form  die  er  für  sein  Buch  gewählt  hatte,  gab  ihm  das  Recht 
das  Licht  genau  auf  die  Stelle  fallen  zu  lassen,  die  in  voller 
Helligkeit  strahlen  sollte,  und  die  Schatten  wegzuretouchieren.  So 
hob  er  das  heraus,  was  in  der  Tat  von  der  größten  geschichtlichen 
Wichtigkeit  war,  daß  bald  nach  der  großen  Verfolgung,  unmittelbar 
nach  den  Chicanen  des  Licinius,  nicht  mit  Erlaubnis,  nein  auf 
Befehl  des  Kaisers  die  größte  und  glänzendste  Bischofs  Versamm- 
lung zusammentrat,  die  die  Christenheit  je  gesehen  hatte,  daß  der 
Kaiser  an  allen  Beratungen  teilnahm  und  persönKch  die  Ent- 
scheidung herbeiführte;  er  hob  zweitens  hervor  daß  die  Glorie, 
mit  der  Constantins  Sieg  über  Licinius  die  Kirche  umgab,  getrübt 
wurde  durch  den  unseligen  Zwist  der  Christen  untereinander  und 
daß  die  Weisheit  des  Kaisers  es  war,  die  diesen  Streit  schlichtete. 
Es  waren  nicht  bloß  rhetorische,  sondern  auch  sehr  politische 
Gründe  die  ihn  veranlaßten  grade  diese  Seiten  hervorzuheben.  Er 
schrieb  die  Vita  Const.  Ende  337,  als  die  rechtswidrige  Aufhebung 
der  Relegation  des  Athanasius  durch  den  jüngeren  Constantin 
schwere  Kämpfe  in  Aussicht  stellte  und  Euseb  dringend  wünschen 
mußte  daß  Constantins  gegen  den  ehrgeizigen  und  streitlustigen 
Patriarchen  den  Frieden  wahrte.  Die  wohlberechnete,  aufs  sorg- 
fältigste abgewogene  Darstellung  wollte  er  nicht  dadurch  stören, 
daß  er  das  längst  vergessene,  von  der  Sonne  der  kaiserlichen  Gunst 
überstrahlte  Mißgeschick  erzählte,  das  ihm  und  zweien  seiner 
Freunde  durch  eine  Ueberrumpelung  seiner  Gegner  zugefügt  war; 
an  diesem  Verschweigen  konnte  und  kann  niemand  etwas  Wunder- 
bares finden. 

Euseb  hielt  es  für  nötig  sich  seiner  Gemeinde  gegenüber  zu 
rechtfertigen  daß  er  das  Nicaenum  mitsammt  den  Anathematismen 
unterzeichnet  hatte:  der  Brief  ist  lange  nachher  von  Athanasius 
in  der  Schrift  über  die  Beschlüsse  der  nicaenischen  Synode  publi- 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  361 

eiert  nnd  dadurch  in  die  Kirchenhistoriker  gelangt.  Auch  die  Häupter 
der  antialexandrinischen  Partei,  Euseb  von  Nikomedien  und  Theognis 
von  Nicaea,  hatten  solche  Schreiben  an  ihre  Gemeinden  erlassen 
[Brief  d.  Eus.  und  Theognis  Grelas.  3,  11  =  Mon.  sacra  et  pro  f. 
bibl.  Ambros.  1,  143.  Socr.  1,  14,  3.  Soz.  2,  16,  4].  Nach  Eusebs 
Darstellung  legte  er  schriftlich  der  Synode  das  Taufbekenntnis 
der  Gemeinde  von  Caesarea  mit  einer  am  Schluß  angehängten, 
persönlichen  Erklärung  vor:  es  wurde  vom  Kaiser  und  auf  seine 
AuiForderung  von  der  gesammten  Synode  als  rechtgläubig  aner- 
kannt. Damit  war  der  provisorische  Beschluß  der  antiochenischen 
Synode  aufgehoben,  und  das  hatte  Euseb  allen  Grund  seiner  Ge- 
meinde mitzuteilen.  Den  feinen  Hohn  daß  er  jenen  Beschluß, 
den  natürlich  weder  er  noch  seine  Gemeinde  je  anerkannt  hatten, 
überhaupt  als  nicht  existierend  behandelte,  wird  man  in  Caesarea 
verstanden  und  gewürdigt  haben.  Andererseits  erklärt  die  provi- 
sorische Aufkündigung  der  Gemeinschaft  durch  die  antiochenische 
Synode  die  sonst  räthselhafte  Thatsache,  wie  grade  Euseb  von 
Caesarea,  der  weder  die  eine  noch  die  andere  Partei  führte,  dazu 
kam  sein  heimatliches  Taufbekenntnis  mit  einem  persönlichen 
Schluß  vorzulegen :  er  mußte  gegenüber  dem  Urteil  der  antioche- 
nischen Synode  seine  Rechtgläubigkeit  beweisen.  Die  neugefundene 
Urkunde  widerspricht  also  keineswegs  dem  —  sehr  wenigen  — , 
was  vorher  über  den  Verlauf  der  nicaenischen  Synode  bekannt 
war,  sondern  klärt  den  wichtigsten  und  urkundlichsten  Bericht 
darüber  in  einer  so  überraschenden  und  lebensvollen  Weise  auf, 
wie  es  bei  einer  Fälschung  nie  möglich  gewesen  wäre^). 

Athanasius  ist  nie  ein  Geschichtsschreiber  gewesen  und  hat 
es  nie  sein  wollen:  er  war  ein  Politiker  und  griff  zur  Feder  nur, 
wenn  er  politische  Gründe  hatte.  Wenn  er  zu  erzählen  scheint, 
ist  er  in  Wahrheit  Publicist  und  ein  Publicist,  der  zwar  schlecht 
und  formlos  schreibt,  aber  die  Thatsachen  mit  raffinirten  Sach- 
walterkniifen  zu  gruppieren  und  zu  verschieben  versteht.  Er 
macht  sich  nichts  daraus  über  seine  Zänkereien  mit  den  Meli- 
tianern  Bogen  voll  zu  schreiben  und  für  Lappalien,  auf  die  ge- 
schichtlich nichts  ankommt,  einen  nngeheuren  Apparat  aufzubieten; 
andererseits  ist  er  über  die  wichtigsten  Dinge  so  schweigsam  wie 
nur  je  ein  Diplomat.  Ueber  das  nicaenische  Concil  berichtet  er 
nie;    in  der  ganzen  Schrift   die    er  darüber  verfaßte,    steht  nichts 


2)  Ich  habe  dies  alles  schon  in  Kürze  in  der  RE  6,  1412.  1414  auseinander- 
gesetzt; aber  Hr.  Harnack  scheint  diesen  Artikel  grundsätzlich  ignoriert  zu  haben. 


362  E.  Schwartz 

als  dogmatische  Polemik ;  das  Historische  soll  der  Leser  den  Acten- 
stücken  entnehmen,  die  er,  in  sehr  geschickter  Auswahl,  beilegte 
[vgl.  Nachr.  1904,  391  ff.].  So  wird  er  seine  Gründe  gehabt  haben, 
wenn  er  die  antiochenische  Synode  mit  gänzlichem  Stillschweigen 
übergieng,  wie  er  ja  auch  die  Anfänge  des  arianischen  Streits 
niemals  dargestellt  hat.  Da  er  sich  sorgfältig  hütete  dem  An- 
denken Constantins  zu  nahe  zu  treten  und  auf  jede  nur  mögliche 
Weise  bestrebt  war,  den  Kampf  den  der  Kaiser  grade  nach  dem 
nicaenischen  Concil  gegen  ihn  und  seinen  Vorgänger  geführt  hatte, 
in  Vergessenheit  zu  bringen,  paßte  es  ihm  den  Triumph  zu  ver- 
schweigen, den  Cons tantin  den  drei  ^Ariane rn' ,  die  von  der  an- 
tiochenischen  Synode  'verurteilt  waren,  in  Nicaea  bereitet  hatte: 
verpflichtet  war  er  als  Publicist  nicht,  alles  zu  erzählen  was  er 
wußte.  Daß  die  antiken  Kirchenhistoriker  seinen  Pamphleten  ver- 
trauten, ist  ihnen  nicht  zu  verdenken;  daß  aber  die  moderne  For- 
schung es  noch  nicht  fertig  gebracht  hat  sich  von  dem  Bann  seiner 
Publicistik  freizumachen  und  die  Urkunden  nicht  unbefangen  zu 
deuten  sich  bemüht,  sondern  sie  nur  in  dem  falschem  Licht  sieht, 
das  er  über  sie  ausgießt,  oder  sie  gar  verwirft,  wenn  sie  ihn 
widerlegen,  das  ist  ein  Zeichen,  wie  wenig  sie  im  Grunde  über 
Tülemont  hinausgekommen  ist. 

Sokrates  schreibt  im  ersten  Buch  nur  Rufin,  der  wertlos  ist, 
Euseb  und  Athanasius  aus ;  was  er  hinzusetzt,  ist  wenig  und  wird 
noch  weniger,  wenn  Unbrauchbares,  wie  die  Reste  einer  kurzen 
Kaisergeschichte  oder  die  auf  mündlicher  Ueb erlief erung  beruhenden 
Legenden  von  den  Novatianern  Akesius  und  Eutychianus  [1,  10.  13] 
abgezogen  werden.  Das  wertvolle  historische  Material  reduciert 
sich  dann  auf  eine  Sammlung  von  Briefen  des  Ar  ins  (richtiger  der 
Arianer)  und  Alexanders  [1,  6,  41]  und  das  Buch  des  Makedonianers 
Sabinus  über  die  Synoden;  und  auch  dieses  Material  ist  nicht  aus- 
genutzt; denn  die  Briefsammlung  wird  nur  einmal  erwähnt  und 
aus  Sabinus  nur  eine  Stelle  über  das  nicaenische  Concil  citiert 
[1,  8,  26.  9,  28],  die  den  wackeren  Kirchenhistoriker  weidlich  ge- 
ärgert hatte.  So  steht  bei  ihm  über  den  arianischen  Streit  und 
das  nicaenische  Concil  so  gut  wie  nichts  das  nicht  bei  Autoren, 
die  noch  vorhanden  sind,  zu  finden  wäre.  Die  Einleitung  [1.5] 
scheint  unter  dem  Einfluß  der  Briefsammlung  zu  stehen  [vgl.  den 
Brief  des  Arius  Epiphan.  69,  6.  Theodor.  1,  5] ;  nach  einigen  Re- 
miniscenzen  [l,  6,  1.  2]  aus  Eusebs  Vit.  Const.  [2,  61,  4.  5]  folgt  die 
aus  der  Actenbeilage  zu  Athanas.  de  decret.  Nie.  syn.  entlehnte 
Encyclika  Alexanders,  an  die  sich  wiederum  ein  Stück  aus  Euseb 
[Vit.  Const.  2,  61,  5.  62,  1]  anschließt,  untermischt  mit  Trivialitäten 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  363 

Über  Euseb  von  Nikomedien.  Die  Melitianer  werden  nach  Atha- 
nasins  [apolog.  c.  Arian.  59]  skizziert  und  daran  der  schon  er- 
wähnte, ausdrückliche  Hinweis  auf  die  Briefsammlung  angeschlossen; 
aus  Euseb  [Vit.  Const.  2,  63  ff.]  stammt  der  Bericht  über  Con- 
stantins  Versuch  zu  vermitteln;  daß  der  von  Euseb  [Vit.  Const. 
2,  63]  nicht  mit  Xamen  bezeichnete  Vertrauensmann  des  Kaisers 
Hosius  von  Corduba  war,  scheint  Sokrates  aus  Sabinus  entnommen 
zu  haben.  Dann  geht  er  sofort  zur  Berufung  des  nicaenischen 
Concils  über  [1,  8].  sich  durchweg  an  Euseb  anschließend  sowie  an 
den  Brief  des  Euseb  an  seine  Gemeinde,  den  er  bei  Athanasius 
fand.  Außer  ein  paar  Einlagen  aus  Rufin  und  der  trivialen 
Nennung  von  drei  Arianern'  [1,  8,  13]  findet  sich  von  wichtigen 
Zusätzen  nur  das  Citat  des  Sabinus  [1,  8,  24ff.];  auf  diesen  dürfte 
auch  die  Stelle  über  die  Bischöfe  die  Arius  Absetzung  nicht  unter- 
schreiben wollten,  zurücklaufen  [1,8,  31.  32],  wo  Sokrates  nicht 
scharf  genug  zwischen  den  dem  Symbol  angehängten  Anathema- 
tismen  und  der  gegen  Arius  persönlich  gerichteten  Verdammung 
unterscheidet.  Das  9.  Capitel  ist  mit  Urkunden  angefüllt,  die  alle 
aus  Athanasius  und  Euseb  entlehnt  sind;  die  Legenden  in  1,  10 
und  13  sind  schon  erwähnt;  1,  11,  1.  2  und  1,  12  stammen  aus 
Rufin:  nur  der  Ursprung  der  Greschichte  über  Paphnutius  1,  11, 
3 ff.  ist  unbekannt,  sie  ist  jedoch  ohne  Frage  apokryph.  Zum  Ab- 
schluß bringt  Sokrates  die  Namenliste  und  das  Datum  der  Synode 
nach  einem  Exemplar  des  Corpus  canonum  [vgl.  Nachr.  1904,  395  ff.]. 

Sozomenus  fußt  durchweg  auf  Sokrates,  er  hat  nur  den  einen 
Vorzug  daß  er  das  Synodenbuch  des  Sabinus  viel  stärker  heran- 
gezogen hat;  aus  diesem  stammt  der  ausgezeichnete  Bericht  über 
die  Anfänge  des  arianischen  Streits  [1,  15],  der  bis  zur  Synode 
von  Caesarea  hinabgeführt  ist.  Was  dann  folgt,  ist  meist  durch 
Vermittlung  des  Sokrates  aus  Euseb  entnommen ;  nur  darin  ver- 
räth  sich  die  gelegentliche  Heranziehung  des  Sabinus,  daß  Sozo- 
menos  den  Brief  Constantins  an  Arius  und  Alexander  [1,  16,  2] 
fälschlich  von  Hosius  Sendung  [1,  16,  5]  trennt;  durch  die  zwei 
Gewährsmänner  hat  sich  eine  Doublette  in  die  Erzählung  einge- 
schlichen. Wie  Sokrates,  geht  auch  er  sofort  zum  nicaenischen 
Concil  über:  das  Material  ist  dasselbe  wie  dort,  nur  Rufin  ist 
etwas  stärker  herangezogen,  was  den  Wert  der  Darstellung  nicht 
erhöht. 

Als  Sammler  wie  als  Schriftsteller  steht  Theodoret  weit  unter 
den  beiden  Vorgängern.  Doch  muß  zugegeben  werden  daß  er  das 
Material  nicht  unerheblich  vermehrt  hat.  Vor  allem  hat  er  aus 
der  Briefsammlung  sehr  wertvolle  Stücke  mitgeteilt  [1,  4 — 6],  nichts 


364  E.  Schwartz 

dagegen  aus  Sabinus;  die  Anordnung  des  Sokrates,  nach  der 
auf  Hosius  Sendung  nach  Alexandrien  sofort  das  nicaenische  Concil 
folgt,  kehrt  bei  ihm  wieder.  Ueber  die  Synode  selbst  bringt  er 
außer  dem  was  er  bei  Sokrates  fand,  und  einem  Excerpt  aus 
Athanasius  epist.  ad  Afros  zwei  Neuheiten.  Erstens  die  Notiz 
daß  Eustathius,  der  Metropolit  von  Antiochien,  das  Concil  mit  der 
Begrüßungsrede  an  den  Kaiser  eröffnet  habe.  Das  ist  falsch ;  nach 
Eusebs  ausdrücklichem  Zeugnis  hielt  der  Metropolit  der  Provinz, 
in  der  die  Synode  stattfand,  Euseb  von  Nikomedien,  die  Rede  [vgl. 
RE  6,  1413].  Das  zweite  ist  ein  Excerpt  aus  einem  Briefe  des 
Eustathius  [1,  7,  18—8,  5],  der  wohl  zu  der  von  Sokr.  1,  23,  6  ff. 
geschilderten  Sammlung  gehört:  es  enthält  eine  grob  entstellte 
Schilderung  der  Scene  in  der  Euseb  von  Caesarea  sein  Credo  vor- 
legte. 

Man  sieht :  das  Material  das  die  Trias  der  orthodoxen  Kirchen- 
historiker herbeischafft,  ist  im  Grunde  dürftig.  Die  Compilation 
nun  gar  des  Gelasius  enthält  zwar  sehr  Wertvolles,  ist  aber  so 
urteilslos  zusammengestoppelt,  daß  gegen  kein  Document  das  dort 
fehlt,  ein  Vorwurf  erhoben  werden  kann,  und  in  dem  seltsamen 
Gemisch  von  vorzüglichen  Nachrichten  und  tendenziösen  Ver- 
drehungen, das  Philostorgius  zusammengebraut  hat,  wird  man  um 
so  weniger  verlangen  einen  Hinweis  auf  die  antiochenische  Synode 
zu  finden,  als  das  Werk  nur  in  Excerpten  erhalten  ist. 

Schließlich  ist  noch  eins  zu  erwägen.  Die  Kirchenhistoriker 
schöpfen  im  Wesentlichen  aus  der  Publicistik  die  die  kirchlichen 
Streitigkeiten  des  4.  Jahrh.  in  reichem  Maße  erzeugt  hatte;  weil 
die  antike  Sitte,  im  publicistischen  Kampf  Urkunden  und  Briefe 
zu  veröffentlichen,  damals  kräftig  auflebte,  ist  die  Geschichte  jener 
Zeiten  ungewöhnlich  reich  an  Documenten.  Neben  der  publicisti- 
schen steht  aber  noch  eine  andere ,  nicht  minder  wichtige  Ueber- 
lieferung,  die  der  Rechtsbücher.  Von  der  wissen  die  Kirchen- 
historiker so  gut  wie  nichts:  sie  kennen  z.  B.  die  Synoden  von 
Ancyra,  Neocaesarea,  Laodicea  überhaupt  nicht,  geben  nicht  an, 
welche  antiochenische  S3niode  die  Kanones  beschlossen  hat:  auch 
die  Kanones  von  Sardica  erwähnen  sie  nicht.  Von  dem  wichtigsten 
Document  des  melitianischen  Streits,  dem  kanonischen  Brief  des 
Petrus  von  Alexandrien,  haben  sie  keine  Ahnung.  Nun  hat  es 
aber  durchaus  den  Anschein  daß  die  antiochenische  Synode  dieser 
Ueberlieferung  ihre  Erhaltung  verdankt.  So  erklärt  es  sich  auf 
ganz  natürliche  und  einfache  Weise,  daß  sie  in  die  tralaticische 
Kirchengeschichte  nicht  gekommen  ist;  die  Thatsache  daß  ein  so 
wichtiges  Moment   des  arianischen  Streits    so  völlig   aus  der  Tra- 


zur  Geschichte  des  Athanasius  YII  365 

dition  verscliwand,  beweist  zugleich,  wie  lückenliaft,  wie  zufällig 
zusammengestoppelt  das  Material  ist,  das  für  die  YorgescMclite 
des  nicaenisclieii  Concils  vorliegt,  und  daß  es  wahrhaftig  nicht  ge- 
raten ist  dies  Material  durch  grundlose  Athetesen  noch  weiter  zu 
schmälern. 

Wenn  dies  Ergehnis  (daß  nämlich  die  Synode  in  Antiochien 
kurz  vor  der  nicaenischen  stattgefunden  und  das  was  im  Synodal- 
schreiben steht,  beschlossen  hat)  richtig  ist,  so  bedeutet  es  einen 
totalen  Umsturz  unserer  Vorstellungen  von  der  Vorgeschichte  des 
nicaenischen  Konzils  [S.  477].  Ich  hoffe  daß  Hr.  Harnack  das  für 
kein  Unglück  hält;  keine  Combination  schöpft  das  geschichtliche 
Leben  aus,  und  neue  Funde  haben  es  nun  einmal  an  sich,  daß  sie 
Aufklärung  an  Stellen  schaffen,  wo  man  es  nicht  erwartet  hat. 
Die  Unlustgefühle  die  der  Zusammenbruch  einer  fable  convenue 
hervorzurufen  pflegt,  gehn  die  Wissenschaft  nichts  an,  und  am 
allerwenigsten  gehört  es  sich  eine  Urkunde  anzuklagen,  weil  sie 
so  unehrerbietig  ist  moderne  Hypothesen  nicht  vorauszusetzen. 
Wenn  das  Synodalschreiben  nicht  zu  der  'origenistischen  Mittel- 
partei' passen  will  [S.  477.  484] ,  nun  gut ,  dann  werfe  man  das 
Schlagwort  weg:  es  wird  ihm  niemand  eine  Thräne  nach- 
weinen. Hr.  Harnack  wundert  sich  daß  man  in  Syrien  so  orthodox 
gewesen  sei,  ivo  noch  [!]  in  den  dreißiger  und  vierziger  Jahren  der  Se- 
miarianismus  herrschte  und  man  sich  über  den  Irrglauben  der  Majorität 
daselbst  so  bitter  beklagte !  [S.  484].  War  denn  der  Semiarianismus, 
um  ihn  einmal  als  geschichtliche  Realität  zu  acceptieren,  eine  den 
Syrern  angeborene  Eigenschaft?  Oder  steht  es  überhaupt  auf 
derselben  Linie,  wenn  vor  Nicaea,  als  es  kein  oekumenisches  Credo 
gab,  56  Bischöfe  für  den  Bischof  von  Alexandrien  gegen  den  auf- 
sässigen Presbyter  und  seinen  Beschützer,  den  Bischof  von  Niko- 
medien  Partei  ergreifen,  und  wenn  unter  Constantius  versucht 
wird  die  Homousie  zu  beseitigen,  die  Constantin  in  Nicaea  dem 
gesammten  Orient  aufoctroyirt  hatte?  Seit  dem  Sturz  Pauls  von 
Samosata  ist  von  Selbständigkeitsgelüsten  des  antiocheni sehen 
Metropoliten  nichts  zu  spüren;  Eustathius  ist  sogar  ein  fanatischer 
Anhänger  Alexanders  gewesen.  Daß  eine  in  Antiochien  abgehaltene 
Synode,  die  es  überhaupt  mit  dem  alexandrinischen  Patriarchat 
hielt,  aus  dessen  officiellen  Erlassen^)  das  Attribut  ^eoxo'nog  ent- 
nahm, hat  nicht  das  mindeste  gegen  sich :  oder  soll  Nestorius  eine 


1)  Vgl.  den  Tomos  Alexanders  Nachr.  1905,  266;  daß  der  Ausdruck  nicht 
etwa  hineininterpoliert  ist,  beweist  der  Brief  an  Alexander  von  Byzanz,  Theodoret 
1,  4,  54. 


366  ^  •  Schwartz 

Praeexistenz  vindiciert  werden?  Die  große  Aenderung  tritt  ein 
durcli  den  Sturz  des  Eustatliius,  als  Paulinus,  Euphronios,  Flac- 
cillus  Metropoliten  wurden:  da  ist  Antiochien  die  Hochburg  des 
Kampfes  gegen  Alexandrien  geworden,  und  da  werden  die  Formeln 
Lucians  wieder  hervorgeholt,  von  dem  Alexander  schreiben  konnte 
[Theodoret.  1,  4,  36]:  ccTCoövvd'ycoyog  sfiscvs  xQLcbv  STtLöxoTtcjv  [von 
Antiochien,  denn  er  war  antiochenischer  Presbyter]  nokveteig  %q6- 
vovg^  und  dessen  Verehrerin,  die  Kaiserinmutter  Helena,  von 
Eustathius  beleidigt  sein  sollte.  Constantin  hat  Eustatbius  rele- 
giert, er  hat  Euphronius  und  Georg,  den  späteren  Bischof  von 
Laodikeia,  den  Alexander  und  Athanasius  ingrimmig  haßten  [Nachr. 
1905,  264],  als  Candidaten  für  den  Thrones  vorgeschlagen:  die 
kaiserliche  Politik,  in  der  Hauptstadt  der  Dioecesis  Oriens  ein 
Bollwerk  gegen  die  alexandrinischen  Herrschaftsgelüste  zu  schaffen, 
zeichnet  sich  scharf  und  deutlich  ab  und  ist  von  Constantius  weiter 
geführt.  Das  sind  die  harten  "Wirklichkeiten  die  den  Gang  der 
Dinge  bestimmt  haben,  nicht  so  unklare  Gebilde,  wie  ein  spezifisch 
syrischer  'Semiarianismus'. 

Mit  den  beiden  Documenten,  dem  Brief  Constantins  der  die 
oekumenische  Synode  von  Ancyra  nach  Nicaea  verlegt,  und  dem 
antiochenischen  Synodalschreiben ,  sind  historische  Maßstäbe  ge- 
wonnen, an  denen  gemessen  zu  werden  allerdings  gar  manche 
Darstellung  des  nicaenischen  Concils  nicht  verträgt.  Aber  das 
Geschäft  die  'moderne  Litteratur'  von  der  neugewonnenen  Position 
aus  zu  betrachten  reizt  mich  nicht,  und  ich  schätze  die  Verpflich- 
tung höher  ein  zum  Schluß  den  unparteiischen  Leser  darüber  zu 
orientieren,  wie  sich  die  Erkenntnis  von  dem  geschichtlichen  Ver- 
lauf der  Dinge  ohne  und  mit  jenen  Documenten  gestaltet.  Dabei 
wird  sich  herausstellen  daß  sie  nichts  von  dem  umstürzen,  was 
sich  durch  historische  Ausdeutung  der  Urkunden  auch  ohne  sie 
gewinnen  läßt,  daß  sie  aber  diesen  Gewinn  erheblich  ergänzen  und 
vermehren. 

Der  arianische  Streit  war  ursprünglich  eine  Episode  des 
Kampfes  den  der  alexandrinische  Episkopat  seit  Demetrius  gegen 
die  überlieferten  Vorrechte  der  Presbyter  führte.  Mit  diesem 
Gegensatz  verquickte  sich  nach  und  nach  der  in  der  origenischen  Zeit 
noch  schlummernde  Antagonismus  der  in  heidnischer  Wissenschaft 
gebildeten  Presbyter  und  Lehrer  gegen  den  Episkopat,  der  in  der 
Stadt  sich,  auf  die  mit  den  Almosen  zusammenhängenden  Massen- 
organisationen stützte  und  im  Lande  die  von  ihm  erst  creirten 
Bischöfe  von  Gemeinden  in  der  Hand  hatte,  in  denen  Bildung 
kaum  vorhanden  war.    Heraklas  und  vor  allem  Dionys  waren  noch 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  367 

Origenes  würdige  Schüler,  Dionys  außerdem  ein  Meister  der  Feder, 
seinem  Klerus  überlegen  im  besten  Sinne  des  Worts.  Und  doch 
Latte  er  nicht  nur  unter  den  Verfolgungen  der  Staatsgewalt  zu 
leiden ;  schon  zu  seiner  Zeit  brachten  diese  die  extremen  Fanatiker 
in  die  Höhe,  denen  der  Bischof  eher  zu  viel  als  zu  wenig  Bildung 
hatte.  Das  wurde  in  der  großen  diocletianischen  Verfolgung  noch 
schlimmer ;  zu  ihren  bösesten  Wirkungen  gehört  das  erschreckende 
Sinken  des  geistigen  Niveaus  in  der  gesammten  Christenheit  und 
in  Alexandrien  besonders,  da  die  Centren  der  Cultur  in  solchen 
Zeiten  am  schwersten  betroffen  werden:  welch  ein  Absturz  ist  es 
von  der  glänzenden  Schriftstellerei  des  großen  Dionys  zu  der 
stilistischen  Unfähigkeit  des  Athanasius,  und  wie  lange  dauert  es, 
bis,  fern  von  Alexandrien,  die  Kappadokier  und  Antiochener  der 
Kirche  wieder  Männer  stellen,  die  nicht  bloß  eine  kirchliche,  son- 
dern vor  allem  eine  geistige  Elite  sind!  Der  Sturm  der  Ver- 
folgung hatte  eben  die  Talente  hinweggeraift  oder  vom  Klerus 
ferngehalten  oder  ihre  Ausbildung  gehemmt.  Um  so  unbequemer 
wurden  die  überlebenden  Helden  der  Verfolgung,  die  naturgemäß 
den  Glaubensfanatismus  weiter  schürten,  auch  über  die  Zeiten  hin- 
aus, wo  er  eine  nuthwendige  Waffe  gewesen  war.  Es  ist  bezeich- 
nend daß  die  Melitianer  dem  Patriarchen  den  Streit  mit  Arius 
aufnötigten  und  daß  dieser  den  intelligenten,  hochgebildeten  Pres- 
byter für  den  leichter  zu  besiegenden  Gregner  hielt :  von  Alexander 
an  hat  das  alexandrinische  Patriarchat  grundsätzlich  gegen  alles 
was  von  Bildung  und  Wissenschaft  nicht  nur  im  Klerus,  sondern 
in  Alexandrien  überhaupt  noch  vorhanden  war,  gestritten;  Atha- 
nasius,  Theophilus,  Cyrill,  nicht  die  arabischen  Chalifen  haben,  um 
bequemer  herrschen  zu  können,  aus  der  alten  Stätte  antiker  Wissen- 
schaft eine  geistige  Wüste  gemacht. 

Schon  der  Streit  des  Demetrius  mit  Origenes  hatte  die  Kirche 
weithin  aufgewühlt;  aber  der  Wind  der  den  großen  Presbyter 
von  Alexandrien  losriß,  trug  auch  den  Samen  seines  Greistes  über 
die  Grenzen  Aegyptens ,  das  damals  noch  kirchlich  ebenso  wie 
politisch  ein  Reich  für  sich  war:  von  Caesarea  aus,  dem  neuen 
Wohnsitz  des  Origenes ,  wurden  Palaestina  und  Kappadokien 
Pflanzstätten  des  origenischen  Christentums.  Die  Verbindung  mit 
dem  alexandrinischen  Presbyterium ,  in  dem  Origenes  fortlebte, 
blieb  im  dritten  Jahrhundert  lebendig  und  trieb  neue  Schößlinge; 
Pamphilus  ist  in  Alexandrien  gebildet  und  von  Alexandrien  aus 
erhält  der  Thronos  von  Laodicea  in  Syrien  immer  wieder  Bischöfe, 
die  auf  ihre  wissenschaftliche  Bildung  stolz  sind.  Es  sah  eine 
Weile  so  aus,    als  sollte  in  Antiochien  sich  ein  neuer  Mittelpunkt 


368  E-  Schwartz 

bilden;  aber  die  Origenianer  fühlten  sich  in  ihrer  Macht  so  sicher, 
daß  sie  selbst  mithalfen  Paul  von  Samosata  zu  stürzen  und  die 
schnelle  Blüte  zu  knicken.  Doch  müssen  diese  Gegensätze,  weil 
sie  nur  Schul-  und  nicht  Machtgegensätze  waren,  sich  bald  ge- 
mildert haben:  im  arianischen  Streit  stehen  Lukianisten,  Schüler 
des  Pamphilus,  alles  was  an  eine  christliche  Wissenschaft  glaubt, 
zusammen  um  die  Selbständigkeit  des  alexandrinischen  Presbyters 
gegen  den  Patriarchen  zu  schützen;  sie  ahnten  die  Gefahr  die  da 
heraufzog. 

Allerdings  spielte  auch  die  große  Politik  mit  hinein.  Als  der 
Streit  ausbrach,  war  die  Kirche  von  ihrem  letzten  Gegner  befreit; 
Constantin  ließ  von  vornherein  keinen  Zweifel  darüber  daß  er  die 
Kirche  nicht  nur  tolerieren,  daß  er  sie  vielmehr  zur  Mitherrschaft 
berufen  wollte.  Und  nnn  erhob  sich  die  Frage,  welche  der  beiden 
Parteien  den  christusliebenden  Kaiser  in  die  Hand  bekommen 
würde.  Es  ist  zweifellos  der  Ehrgeiz  des  Euseb  von  Nikomedien 
gewesen,  des  Bischofs  der  kaiserlichen  Residenz,  der  die  Opposition 
gegen  das  alexandrinische  Patriarchat  zn  einer  Partei  zusammen- 
schloß, mit  der  er  zu  siegen  und  zu  gewinnen  hoffte,  und  umgekehrt 
war  der  Patriarch  der  Weltstadt  nicht  gesonnen  seinen  Anteil 
an  dem  Regiment  das  der  Kaiser  der  Kirche  zuwies,  mit  christ- 
licher Bescheidenheit  zu  bemessen. 

Der  Kaiser  war  beiden  Parteien  mehr  als  gewachsen.  Er 
ließ  den  Streit  sich  kräftig  entwickeln  und  trat,  als  er  endlich 
eingriff,  sehr  überlegen  als  Friedensstifter  auf.  Durch  seine  Waffen, 
so  schreibt  er  an  Alexander  und  Arius,  habe  er  die  Welt  von 
einer  bösen  Wunde  geheilt  und  geeinigt,  jetzt  setze  er  sich  die 
Aufgabe  aller  Völker  Eifer  für  das  Göttliche  zu  einem  Sinn  zu- 
sammenzufassen ').  Für  dies  Bestreben  rechne  er  auf  ihre  Mit- 
wirkung und  sei  schmerzlich  dadurch  enttäuscht,  daß  sie  wegen 
einer  törichten  und  unnützen  Streitfrage  nicht  nur  selbst  in  Un- 
frieden geraten,  sondern  den  Zwist  auch  unter  die  Laien  getragen 
hätten,  die  unter  keinen  Umständen  mit  dergleichen  Dingen  be- 
helligt werden  dürften,  die  sie  ja  doch  nicht  verstehen  könnten.  Sie 
sollten  sich  schleunigst  vertragen;  es  sei  ja  gar  nicht  nötig  daß 
einer  seine  dogmatische  Ansicht  aufgebe ;  die  könne  jeder  für  sich 
behalten,  wenn  nur  die  Religion  des  Gesetzes  [lex  =  Christentum, 
wie  oft  in  constantinischen  Schriftstücken]  unerschüttert  bliebe.    Als 


1)  Eu8.  Vit.  Const.  2,  65  rriv  anävzoiv  xiäv  id-vibv  nsgl  vb  d'siov  ngd^BOLv 
[—  propositum,  in  gutem  Griechisch  müßte  es  ngoa^gsaiv  heißen]  etg  [aö  codd] 
^Uxv  s^£<og  avGxaaiv  sv&aai. 


zur    Geschichte  des  Athanasius  VII  3B9 

Lohn  der  Versöhnung  stellt  er  schließlich  seinen  baldigen  Besuch" 
in  Alexandrien  in  Aussicht. 

Dem  Scheine  nach  stellte  der  Kaiser  sich  über  die  Parteien; 
in  der  Sache  unterstützte  er  Arius.  Denn  er  behandelt  ihn,  den 
Presbyter,  durchaus  auf  gleichem  Fuße  mit  dem  Bischof;  es  ist 
keine  Rede  davon  daß  er  diesem  irgend  ein  Recht  über  den  Pres- 
byter einräumt:  die  Excommunication  des  Arius  durch  die  von 
Alexander  berufene  Synode  wird  erwähnt,  aber  die  rechtliche 
Consequenz  nicht  gezogen.  Damit  erkannte  der  Kaiser  die  privi- 
legierte Stellung  der  alexandrinischen  Presbyter  an,  und  das  will 
umso  mehr  sagen,  als  die  Synode  von  Caesarea  kurz  vorher  das 
gleiche  getan  hatte  und  Arius  auf  Grrund  dieses  Synodalbeschlusses 
nach  Alexandrien  zurückgekehrt  war  [Nachr.  1905,  291]. 

Die  Intervention  des  Kaisers  fruchtete  nichts ;  der  dogmatische 
Streit  mußte  ausgetragen  werden.  Früher  schien  es  so  als  sei 
nunmehr  die  oekumenische  Synode  nach  Nicaea  berufen.  Schon 
im  Occident  hatte  Cons tantin  mit  der  rücksichtslosen  Verwegen- 
heit die  den  genialen  Despoten  charakterisiert,  alle  Traditionen 
des  Kaiserregiments  damit  durchbrochen,  daß  er  der  mächtigsten 
Organisation  des  Reichs,  die  seine  Vorgänger  sich  abgequält  hatten 
zu  zertrümmern,  nicht  etwa  bloß  gestattete  ihre  Angelegenheiten 
durch  Versammlungen  ihrer  Führer  zu  ordnen ;  nein  er  hatte  beim 
Donatis tenstreit  selbst  die  Synode  berufen,  es  offen  documentiert 
daß  eine  Bischofssynode  für  ein  kaiserliches  consüium  anzusehen 
sei.  Wenn  dies  schon  etwas  Neues,  Ungeheures  war,  so  erst  recht, 
als  der  Alleinherrscher  eine  oekumenische  Synode  berief.  Der 
Gedanke  taucht  schon  in  dem  Brief  an  Alexander  und  Arius  auf; 
da  redet  der  Kaiser  noch  von  der  Hoffnung  mit  Hilfe  der  orien- 
talischen Bischöfe  den  Donatistenstreit  beizulegen  [Eus.  Vit.  Const. 
2,  66].  Jetzt  trat  das  umgekehrte  ein:  die  Bischöfe  der  Oikumene 
wurden  herangeholt  um  den  Streit  zwischen  dem  alexandrinischen 
Bischof  und  dem  alexandrinischen  Presbyter  zu  schlichten. 

Umsonst  war  der  Despot  nicht  so  kühn  die  Synoden  der  Kirche 
zu  einer  Staatsaction  zu  erheben.  Er  tat  zwar  so  als  sei  er  nichts 
weiter  als  ein  demütiger  Zuschauer  und  Handlanger  bei  der  Ar- 
beit der  heiligen  Männer ;  in  Wahrheit  hat  er  jede  Synode  die  et 
berief,  nach  seinem  Willen  gelenkt.  Die  Spannung  mit  der  die 
Parteien  der  Synode  entgegen  sahen,  kann  man  sich  nicht  groß 
genug  vorstellen,  und  sie  verlief,  dank  der  Führung  des  Kaisers, 
anders  als  man  nach  dem  Anfang  erwarten  mußte.  Sie  war  nach 
Nicaea  berufen,  in  die  Kirchenprovinz  des  Euseb  von  Nikomedien; 
dieser   begrüßte   den  Kaiser.    Aber    der  Ausgang  bedeutete  alles" 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.    Philolog.-histor.  Klasse.   1908.    Heft  8.  20 


370  E.  Schwartz^ 

andere  als  dessen  Sieg.  Die  arianischen  Formeln  wurden  ver- 
urteilt; umgekehrt  setzte  der  Kaiser  persönlicli  durch,  daß  nicht 
das  Credo  Alexanders  sanctionirt  wurde,  sondern  führte  etwas  für 
den  Osten  ganz  Neues  ein,  die  occidentalische  Einheit  der  Substanz 
des  Vaters  und  des  Sohnes.  Daß  dabei  Hosius  sein  Berater  war, 
daß  er  durch  ihn  wnßte,  der  Occident  würde  eine  solche  Formel 
bedingungslos  annehmen ,  ist  eine  Vermutung  die  ohne  Weiteres 
einleuchtet. 

Daß  Constantin  hier  zuerst  und  in  schroffster  Weise  den 
Grrundsatz  durchführte,  der  für  seine  Kirchenpolitik  immer  das 
oberste  Gresetz  geblieben  ist,  sich  niemals  mit  einer  kirchlichen 
Partei  zu  identificieren,  ließ  sich  immer  schon  erkennen.  Er  brachte 
es  durch  die  Einführung  der  Homousie  in  das  Symbol  dahin  daß 
weder  Alexander  noch  Euseb  von  Nikomedien  in  Nicaea  siegten; 
wenn  die  Alexandriner  sich  nachträglich  den  Sieg  zuschrieben,  so 
taten  sies  mit  schlechtem  Gewissen  und  nur  aus  Politik:  der  Kaiser 
hat  sie  außerdem  ihres  Sieges  nicht  froh  werden  lassen.  Den 
Presbyter  ließ  Constantin  zunächst  fallen  um  ihn  bei  passender 
G-elegenheit  wieder  hervorzuholen. 

Wenn  sich  die  großen  Linien  auch  heraushoben,  so  blieb  im 
Einzelnen  doch  vieles  unklar.  Man  verstand  vor  allem  die  Rolle 
nicht,  die  Euseb  von  Caesarea  spielte,  auch  nicht  die  Härte  des 
Kaisers  gegen  Arius,  die  mit  dem  Brief  an  ihn  und  Alexander 
auffallend  contrastiert;  warum  endlich  wurde  die  Demütigung 
Eusebs  von  Nikomedien  dadurch  noch  verschärft,  daß  sie  in  seiner 
eigenen  Provinz  sich  abspielte?  Da  treten  nun  die  beiden  Ur- 
kunden ein.  Der  Kaiser  dachte  zunächst  nicht  an  eine  Synode 
beider  Reichshälften,  sondern,  wie  es  scheint,  nur  der  asiatischen 
Provinzen ;  er  berief  sie  nach  Ancyra,  in  den  Bischofssitz  Marcells, 
eines  der  wütendsten  Gegner  des  Arius  und  aller  die  es  mit  ihm 
hielten.  Damit  ist  nicht  gesagt  daß  Constantin  Alexander  den 
Sieg  zuwenden  wollte.  Was  er  plante,  läßt  sich  nicht  erraten, 
aber  es  darf  allerdings  vermutet  werden,  daß  die  Anhänger 
Alexanders  aus  der  Wahl  Ancyras  zum  Ort  der  Synode  schlössen 
daß  der  Kaiser  zu  ihren  Gunsten  entscheiden  würde;  einige  Heiß- 
sporne in  Syrien  und  den  benachbarten  Provinzen  hielten  jetzt 
den  Augenblick  für  gekommen  rasch  ein  Praejudiz  zu  schaff'en. 
Sie  benutzten  die  Sedisvacanz  in  Antiochicn  um  eine  Synode  zu- 
sammen zu  bringen,  die  über  Disciplinfragcn  beraten  sollte,  und 
setzten,  als  sie  zusammengetreten  war,  sofort  den  arianischen 
Streit  auf  die  Tagesordnung.  Ofi'enbar  war  die  Sache  gut  in- 
ßceniert;   mit  imposanter  Majorität  wurde  ein  Glaubensbekenntnis 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  371 

das  dem  Alexanders  so  ähnlich  sah  wie  ein  Ei  dem  anderen,  an- 
genommen, und  den  drei  Gegnern,  die  sich  in  die  Löwenhöhle 
gewagt  hatten,  die  Gremeinschaft  gekündigt,  freilich  nur  provisorisch. 
Grar  zu  offen  durfte  der  Respect  vor  der  bevorstehenden  kaiser- 
lichen Synode  nicht  verleugnet  werden,  obgleich  der  Sache  nach 
dies  improvisierte  Concil  der  vom  Kaiser  in  die  Wege  geleiteten 
Entscheidung  in  kühner,  um  nicht  zu  sagen,  unverschämter  Weise 
Vorgriff. 

Der  Gegenzug  des  Kaisers  blieb  nicht  aus.  Er  verlegte  zu- 
nächst die  Synode  nach  Nicaea;  damit  war  documentiert  daß  der 
Metropolit  der  Residenz  noch  lange  kein  todter  Mann  war  und 
der  Kaiser  jede  Yorausberechnung  seiner  Gnade  oder  Ungnade 
zu  vereiteln  verstand.  Gleichzeitig  wurde  der  Gedanke  einer 
oekumenischen  Synode  jetzt  ausgeführt;  eine  solche  hatte  die 
Autorität,  die  genügte  um  die  antiochenischen  Beschlüsse  igno- 
rieren zu  können.  Endlich  erklärte  der  Monarch  an  den  Be- 
ratungen teilnehmen  zu  wollen,  wiederum  ein  unerhörtes  Novum, 
für  das  auch  im  Occident  kein  Praecedenzfall  vorlag.  Das  war 
klar:  der  Kaiser  wollte  die  Kirche  zur  Einheit  zurückzwingen 
und  zwar  so  daß  das  Verdienst  der  Einigung  ihm  zufiel. 

Das  Concil  trat  in  Nicaea  zusammen.  Durch  die  antiochenischen 
Beschlüsse  war  der  Streit  verschlimmert ;  die  Excommunication  von 
drei  Bischöfen,  darunter  einem  Metropoliten,  wurde  damals  nicht 
so  leicht  genommen,  wie  in  den  Zeiten  von  Constantius  und  Valens. 
Hier  griff  der  Kaiser  gleich  zu  Anfang  ein:  Euseb  von  Caesarea 
wurde  von  ihm  persönlich  rehabilitiert,  seine  beiden  Leidensge- 
nossen natürlich  auch.  Aber  der  Kaiser  war  weit  davon  entfernt, 
darum  nun  auch  Arius  zu  schützen:  er  hatte  zu  wenig  Macht 
hinter  sich,  wie  die  antiochenische  Synode  gezeigt  hatte,  und  zu- 
gleich mag  Hosius  den  Kaiser  darüber  aufgeklärt  haben,  wie  ge- 
fährlich eine  Entscheidung  für  die  Formeln  des  Arius  im  Westen 
wirken  würde.  So  gab  er  den  Presbyter  preis,  weil  sichs  nicht 
lohnte  ihn  zu  halten.  Dagegen  wollte  er  dem  alexandrinischen 
Patriarchat  keinesweges  zu  einem  glänzenden  Triumph  verhelfen; 
das  ging  schon  darum  nicht,  weil  er  dann  die  ordnungswidrige 
antiochenische  Synode,  die  seine  Pläne  durchkreuzt  hatte,  im  Grunde 
approbiert  hätte.  Unter  diesen  Umständen  blieb  für  den  Herrscher 
der  Welt  und  der  Weltkirche  nichts  anders  übrig  als  die  Formel 
des  Occidents  durchzudrücken,  der  am  Streit  gar  nicht  teilge- 
nommen hatte.  Daß  den  wenigen,  die  überhaupt  vom  Dogmatischen 
etwas  verstanden,  dies  blutsauer  wurde,  rührte  den  klar  rechnenden 
Despoten  nicht:   er  wußte  genau,  daß  die  Kirche   die   er  an   der 

26* 


372  ^-  Schwartz 

Grlorie  seines  Sieges  hatte  teilnelimen  lassen,  der  er  eine  Mani- 
festation ihrer  oekumenischen  Ausdehnung  und  ihres  politischen 
Ansehns  verschafft  hatte,  an  die  drei  Jahre  früher  niemand  zu 
denken  wagte,  daß  diese  Kirche  ihm  den  Wunsch  nicht  versagen 
würde  ein  Wort  in  das  Credo  aufzunehmen,  das  sich  schließlich 
zurechtdeuten  ließ.  Und  die  Bischöfe  taten  ihm  den  Willen;  es 
glückte  ihm  auch  nach  kürzerer  oder  längerer  Zeit  nicht  nur 
Euseb  von  Nikomedien ,  sondern  auch  Arius  selbst  in  die  Kirche 
zurückzuführen.  Als  Athanasius  sich  hartnäckig  weigerte  den 
verhaßten  Presbyter  aufzunehmen,  holte  der  Kaiser  langsam,  aber 
sicher  zu  dem  Schlage  aus,  der  den  Stuhl  des  h.  Marcus  bis  in  die 
Grrundfesten  erschüttern  sollte ;  zehn  Jahre  nach  dem  nicaenischen 
Concil  wurde  Athanasius  in  aller  Form  Rechtens  von  einer  großen 
Synode  in  Tyrus  abgesetzt  und  vom  Kaiser  relegiert.  Er  hatte 
auf  der  ganzen  Linie  gesiegt;  die  Kirche  war  ein  ohnmächtiges 
Werkzeug  in  seiner  Hand;  nichts  bezeichnet  seine  diabolische 
Politik,  nie  eine  Sache  zu  voller  Entscheidung  zu  bringen,  besser 
als  daß  er  das  alexandrinische  Patriarchat  vacant  ließ.  Kaum 
war  er  todt,  da  ließ  Gonstantin  der  jüngere  Athanasius  zurück- 
kehren ;  es  war  ein  arger  Recht sbruch  und  eine  schwere  Beleidigung 
nicht  nur  für  Constantius,  sondern  auch  für  die  Bischöfe  die  in 
Tyrus  das  Urteil  gefällt  hatten.  Sie  wehrten  sich  nach  Kräften, 
brachten  es  auch  fertig  daß  Athanasius  das  Feld  räumte;  aber 
sie  verdarben  ihre  Position  dadurch  daß  sie  nun  den  Versuch 
machten  das  nicaenische  Symbol  wegzuschaffen.  Bei  den  Bischöfen 
ist  das  begreiflich;  die  Wesenseinheit  des  Vaters  und  des  Sohnes 
widerstrebte  nun  einmal  der  Entwicklung  die  die  Theologie  im 
Osten  genommen  hatte,  und  man  kann  es  den  Männern  die  in 
Nicaea  das  sacrificium  intellectus  hatten  bringen  müssen,  nicht 
verdenken  daß  sie  die  aufoctroyirte  Formel  abzuschütteln  ver- 
suchten. Dagegen  war  es  ein  schwerer  politischer  Fehler  daß 
Constantius,  statt  sich  auf  den  Kampf  gegen  den  unbotmäßigen 
alexandrinischen  Patriarchen  zu  beschränken,  sich  in  den  dogma- 
tischen Streit  hineinziehen  ließ  und  sich  einer  Partei  auslieferte; 
damit  gab  er  das  Spiel  aus  der  Hand. 

Ich  bin  am  Ende.  Hr.  Hamack  prophezeit  [S.  478]  daß  das 
1905  zuerst  publicierte  antiochenische  Synodalschreiben  sich  des 
Liclvts  nicht  lange  erfreuen  wird.  Ich  fühle  mich  zu  sehr  als  pro- 
fanen Menschen  um  den  Propheten  ins  Handwerk  zu  pfuschen  und 
begnüge  mich  daher  die  Tatsache  zu  constatieren ,  daß  es  Hrn. 
Hamack  nicht  gelungen  ist  die  beiden  Urkunden ,  das  Synodal- 
schreiben und  den  Brief  Constantius  über  die  Verlegung  der  oeku 


zur  Geschichte  des  Athanasius  VII  373 

menischen  Synode  von  Ancyra  nacli  Nicaea,  in  das  verdiente  Dunkel 
[S.  478]  zurückzubef ordern ,  aus  dem  ich  sie  seiner  Meinung  nach 
nicht  hätte  hervorziehen  dürfen,  wenn  ich  meine  wissenschaftliche 
Reputation  nicht  aufs  Spiel  setzen  wollte.  Er  hat  sich  grade 
darüber  recht  deutlich  ausgesprochen:  die  folgenden  Ausführungen 
werden  zeigen^  daß  die  Beobachtungen^  ivelche  gegen  die  Echtheit 
sprechen,  offenkundig  sind;  ja  sie  liegen  so  sehr  an  der  Oberfläche  des 
Problems,  daß  man  sich  tvundert,  wie  sie  einem  Kritiker  entgehen 
konnten  [S.  478].  Das  ist  die  Sprache  mit  der  die  Zunft  den 
Bönhasen  hinausweist.  Sie  setzt  mich  weder  in  Schrecken  noch  in 
Erstaunen.  Die  Erkenntnis  hat  sich  eben  noch  nicht  durchgesetzt 
und  wird  es  auch  sobald  nicht  tun,  daß  all  das  Fachwerk  von 
Kirchengeschichte,  Dogmengeschichte,  Kaisergeschichte,  christlicher 
Literaturgeschichte  und  profaner  Literaturgeschichte,  Kirchenrecht, 
Symbolik  usw.  usw.  nur  vermorschte  und  verfaulte  Bretterzäune 
sind,  die  den  Zugang  sperren  zu  der  einen  und  unteilbaren  Er- 
kenntnis des  geschichtlichen  Lebens,  mag  es  sich  in  den  Individuen 
oder  in  den  Institutionen,  in  den  Ereignissen  oder  in  der  litte- 
rarischen Produktion  abspielen.  Es  ist  noch  immer  Mode  das 
orientalische  Material  gleichmütig  zu  ignorieren;  was  'nur  syrisch' 
erhalten  ist,  kann  man  ungestraft  verachten.  Im  wissenschaftlichen 
Betrieb  sind  Sprachgrenzen  eine  angenehme  Sache,  weil  sie  bequem 
sind:  es  ist  ja  auch  schließlich  einerlei,  ob  die  Uebersetzungen 
oder  die  Originale  nicht  verstanden  werden.  Fast  keine  Urkunde 
des  4.  Jahrh.  ist  so  ediert  daß  die  oft  sehr  mannigfaltige,  früh 
divergierende  Ueberlieferung  vollständig  und  gesichtet  dem  Be- 
nutzer vorläge,  die  ßeconstruction  der  Sammlungen  in  denen  die 
Documente  zuerst  publiciert  sind,  kommt  über  den  Anfang  nicht 
hinaus ,  weil  mit  den  verlotterten  Texten  nichts  zu  machen  ist  ; 
die  Composition  der  athanasianischen  Schriften,  die  unmittelbar 
in  die  historischen  Fragen  hineinspielt,  ist  und  wird  nicht  unter- 
sucht; wie  sollte  sie  auch,  wo  die  wichtigsten  Handschriften  noch 
so  gut  wie  unbekannt  sind?  Niemand  denkt  daran  auch  nur  zu 
fragen,  wie  denn  das  Corpus  canonum,  wie  die  Sammlungen  der 
kanonischen  Briefe  zu  Stande  gekommen  sind ;  von  einer  geschicht- 
lichen Ausdeutung  der  Kanones  ist  überhaupt  nicht  die  Rede ;  den 
großartigen  Untersuchungen  mit  denen  die  Ballerini,  Maaßen,  Turner 
die  occidentische  Ueberlieferung  der  Quellen  des  Kirchenrechts  auf- 
gedeckt haben  und  weiter  aufdecken,  steht  auf  griechischem  Boden, 
für  die  Originale,  nichts  gegenüber.  Was  selbstverständlich  sein 
sollte:  daß  ohne  eine  archivalische  Ordnung,  ohne  eine  strengphilo- 
logische Durcharbeitung  des  gesammten  publicistischen  und  kirchen- 


374  E.  Schwartz  zur  Geschichte  des  Athanasius  Yll 

rechtlichen  Urkundenschatzes  eine  Greschichte  dieser  Zeiten  gar 
nicht  geschrieben  werden  kann,  ist  eine  rare  Weisheit,  die  taube 
Ohren  findet,  wenn  sie  überhaupt  gepredigt  wird.  Da  wills 
nicht  viel  bedeuten,  wenn  ein  wichtiges,  weithin  aufklärendes 
Dokument  bis  vor  drei  Jahren  in  dem  Versteck  einer  syrischen 
Handschrift,  von  keinem  'Kirchenhistoriker'  behelligt,  geschlummert 
hat  und  nachdem  es,  ans  Tageslicht  getreten,  eine  Gefahr  für 
die  fable  convenue  über  das  nicaenische  Concil  geworden  ist,  dem 
Anathema  verfällt  und  für  so  vogelfrei  erklärt  wird,  daß  es  von 
dem  der  ohne  Angabe  der  Gründe  es  verdammt,  wohlwollend 
heißt,  er  habe  fast  recht  daran  getan  [S.  478].  'In  keiner  Gilde 
kann  man  sein,  man  wisse  denn  zu  schultern  fein;  .  .  .  das  was 
sie  wissen,  läßt  man  gelten;  was  sie  nicht  wissen,  muß  man 
schelten.  Althergebrachtes  weiter  führen,  das  Neue  klüglich  retar- 
dieren: dann  werden  sie  dir  zugestehn,  auch  nebenher  deinen 
Weg  zu  gehn'. 


Notiz 
über  eine  Streitschrift  des  Herrn  Ter-Mikaelian. 

Von 

F.  C.  Andreas. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  11.  Juli  1908. 

Der  armenische  Archimandrit  Nerses  Ter-Mikaelian,  Mitglied 
der  Edschmiatsiner  BruderscLaft,  hat  der  Gresellschaft  eine  Bro- 
schüre zugeschickt,  die  den  Titel  führt  „Prof.  Dr.  F.  N.  Finck  und 
seine  Kritik  über  ,Das  armenische  Hymnarium' "  und  sich  gegen  die 
im  Märzheft  der  Gröttingischen  Gelehrten  Anzeigen  für  das  Jahr 
1906  (S.  239—  249)  erschienene  Besprechung  des  Herrn  Finck 
wendet.  Der  Verfasser  der  Antikritik  wirft  Herrn  Finck  vor, 
;,aus  seiner  Kritik  eigentlich  eine  konfessionelle  Streitschrift  ge- 
macht zu  haben "  und  „  von  seinem  katholischen  Standpunkte  aus 
bei  der  Besprechung  einer  wissenschaftlichen  Arbeit  Haß  und  Ver- 
bitterung gegen  ihn,  den  Verfasser,  und  einige  andere  Mitglieder 
der  Edschmiatsiner  Bruderschaft  zum  Ausdrucke  zu  bringen."  An 
diese  allgemeinen  Vorwürfe  schließt  sich  der  Versuch,  die  einzelnen 
von  Herrn  Finck  in  seiner  Besprechung  gemachten  Ausstellungen 
zu  widerlegen. 

Weder  hier  noch  dort  ist  Herr  Ter-Mikaelian  glücklich  ge- 
wesen. Denn  wer  die  Besprechung  des  Herrn  Finck  liest,  sieht 
ohne  weiteres,  daß  sie  mit  vollster  Unbefangenheit  und  entschie- 
denem Wühlwollen  geschrieben  ist.  Von  einer  katholischen  Ten- 
denz, die  an  sich  bei  einem  Manne  wie  Finck  ausgeschlossen  ist, 
findet  sich  auch  nicht  die  leiseste  Spur.  Ebenso  sind  die  Ausstel- 
lungen in  einem  ruhigen  und  sachlichen  Ton  gehalten,  und  wo  ge- 
tadelt werden  mußte,  ist  der  Tadel  in  eine  milde  Form  gekleidet 
und  an  ihn  ein  Wort  der  Aufmunterung  geknüpft. 


376    F.  C.Andreas,  Notiz  über  eine  Streitschrift  des  Herrn  Ter  -  Mikaelian. 

Liegt  der  allgemeine  Charakter  der  Fincksclieii  Kritik  auch 
für  den  klar  zu  Tage,  der  den  armeniseken  Studien  ganz  fem 
steht,  so  wird  der  Fachmann  allein  entscheiden  können,  ob  es 
Herrn  Ter  -  Mikaelian  in  seiner  Antikritik  gelungen  ist,  die  von 
Herrn  Finck  gegen  seine  Arbeit  erhobenen  Einwürfe  als  Irrtümer 
nachzuweisen.  Eine  sorgfältige  Prüfung  hat  mir  hier  ergeben, 
daß  Herr  Ter -Mikaelian  in  keinem  einzigen  Punkte  gegen  Herrn 
Finck  im  Recht  ist.  So  unterliegt  es  z.  B.  keinem  Zweifel,  daß 
in  dem  Bericht  des  Kyriakos  von  Grandsak  über  die  von  den 
Übersetzern  des  5.  Jahrhunderts  herrührenden  Teile  des  Hymna- 
riums  der  Ausdruck  up^ng  uiJh'blrßni^,  den  Herr  Ter -Mikaelian  mit 
„  aller  Heiligen "  übersetzen  will,  nur  die  ihm  von  Herrn  Finck 
gegebene  Bedeutung  des  Allerheiligenfestes  haben  kann,  die  allein 
in  den  Zusammenhang  paßt.  Und  wenn  Herr  Ter-Mikaelian  Herrn 
Finck  vorwirft,  „Hymnen  zur  Greburt  Christi"  übersetzt  zuhaben, 
anstatt  „Hymnen  der  Geburt  Christi",  weil  im  Armenischen  der 
Grenetiv  stehe  („  der  Text  ist  einfach  genetiv ") ,  so  beweist  das 
nur  des  Herrn  Ter-Mikaelian  ungenügende  Kenntnis  des  Deutschen. 

Ein  weiteres  Eingehen  auf  den  Inhalt  der  Broschüre  ist  nicht 
nötig.  Das  Vertrauen,  das  die  engeren  wie  die  weiteren  Fach- 
genossen in  die  Unbefangenheit  und  Sachkenntnis  des  Herrn  Finck 
setzen,  wird  durch  sie  in  keiner  Weise  berührt. 


Cod.  Paris,  syr.  62 


E.  Schwarte,  Zur  Geschichte  des  Athanasius  VII 


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Zwei  Gedichte 
zur   Geschichte  des  Cistercienser    Ordens. 

Von 

Wilhelm  Meyer  aus  Speyer, 
Professor  in  Göttingen. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  11.  Juli  1908. 

I 

Versus   Pagani  Bolotini 
de  falsis  heremitis,    qui  vagando  discurrunt. 

Unter  diesem  Titel  hat  eine  Hand  des  13.  Jahrhunderts  in 
die  lateinische  Handschrift  8483^)  in  Paris  auf  den  Blättern  112* — 
114*  388  Hexameter  eingeschrieben.  Dies  G-edicht  ist  in  der  Hi- 
stoire  litteraire  de  la  France  XI  (1759)  S.  Iffl.  besprochen,  wo 
auch  55  Verse  ^)  daraus  abgedruckt  sind,  allerdings  mit  lächerlichen 
Fehlern. 

Paganus  ist  kein  besonderer  Dichter.  Die  einzelnen  Aus- 
drücke sind  oft  stumpf  und  der  Aufbau  des  Ganzen  ist  wenigstens 
mir  nicht  klar  geworden. 

Die  von  Paganus  gewählte  Form  der  Dichtung  ist  mehr  auf- 
fallend als  schön.  Er  schreibt  Adonico  metro,  'quod  dactylo  spon- 
daeoque  constat',  wie  Ordericus  Vitalis,  Historia  ecclesiastica  V  2 
(ed.  Prevost  1840  II  p.  311)  von  einem  Epitaphium  sagt,  welches 
beginnt :  Hie  iacet  Hugo  *  Lexoviensis  *  clarus  honore. 


1)  lieber  die  ganze  Handschrift  handelt  B.  Haureau,  Notices  et  Extraits, 
I  1890  p.  357—387.  Jeder  Vers  des  Gedichtes  beginnt  mit  einem  großen  Buch- 
staben. 

2)  In  der  Histoire  litteraire  sind  gedruckt  die  Verse:  1—26,  33—38,  195 — 
205,  327—338. 

K?l.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Philolo  g.-histor.  Klasse  1908.     Heft  4.  27 


378  Wilhelm  Meyer, 

und  welches  wahrscheinlicli   von  demselben  Pagamis  gedichtet  ist, 

d.  h.    das  Gedicht    besteht    aus    fünfsilbigen   Kurzzeilen  _uvj 

Daß  je  3  derselben  eine  Langzeile  d.  h.  einen  Hexameter  bilden 
sollen,  geht  daraus  hervor,  daß  die  15.  Sübe  anceps  ist  und  daß 
von  V.  21  ab  je  der  3.  Adonier  reimt'): 

Hec  nova  nostro '  pessima  tabes  *  fluxit  ab  evo 
nostraque  tali'  commaculantur  •  tempora  nevo. 
Natürlich   tritt   nach  jedem   solchen  Reimpaar  Sinnespause   ein. 
Dagegen   in   den  Versen  1—20   sucht    der  Dichter   noch  nach  der 
Reimform.     So  könnte  man  die  Verse  8  und  9  (ebenso  1  und  2,  4 
und  5,  10  und  11)  auch  also  drucken: 

(8)  Plus  et  habundans*  pauper  habetur. 

Jam  pnto  verum*  (9)  quod  perhibetur: 

Pectus  avarum'  non  miseretur. 
Anch  die  Regeln  des  Reims  sucht  sich  der  Dichter.  In  den 
genannten  dreigeteilten  Hexameter  paaren  finden  sich  unvollkommene 
Reime:  1/2  andus,  ictus,  osns;  4/5  entur,  antur;  10/11  arus,  agnus; 
dann  in  16/17  atem:urbem;  18/19  utis  :  osis.  Erst  von  V.  20 
ab  ist  der  Endreim  regelmäßig  zweisilbig.  Selten  steht  nur  ein- 
silbiger Reim  (23  25  35  39  139  169  195  203?  289  303  315  321  337) 
oder  nur  zweisilbige  Assonanz  (53  65  163?  179?  275  309  325). 
Dagegen  findet  sich  noch  ziemlich  oft  die  Reimfülle,  daß  4  oder 
gar  6  Hexameter  hinter  einander  mit  demselben  Reim  endigen; 
vgl.  67/70  73/6  77/80  87/90  197/200  201/4  229/32  233/6  249/52 
297/300;  127/32  175/80  205/10. 

Dieses  Suchen  und  Schwanken  in  der  Reimkunst  hat  in  der 
ersten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  wenig  Auffallendes,  da  damals 
der  zweisilbige  Reim  noch  etwas  Neues  war  und  auch  z.  B.  der 
Primas  einzelne  Leoniner  und  Paare  von  Caudati  gemischt  hat. 

Der  Inhalt  ist  es,  der  dies  Gedicht  wichtig  macht,  nicht  die 
Schönheit  der  Darstellung  oder  der  Dichtungsform.  Zuerst  ist 
der  Verfasser  und  die  Zeit  des  Gedichtes  festzusetzen. 
Ordericus  Vitalis  (ed.  Prevost  III  435 ;  s.  nachher)  sagt  ausdrück- 
lich: Paganus,  Camotensis  canonicus,  cognomento  Bolotinus,  pul- 
chrum  Carmen  Adonico  metro  nuper  edidit.  lieber  diesen  Paganus 
habe  ich  keine  andere  nützliche  Notiz  gefunden.  Die  Bezeichnung 
'Carnotensis  canonicus'  ist  mit  dem  Verse  25  zu  verbinden:  Hec 
mala  pestis  .  .  graviori  pondere  nostram  deprimit  urbem.  Orde- 
ricus hat  seine  Notiz  im  Jahre  1135  geschrieben  (p.  444  Jam  fere 


1)  Gewöhnlich   sind  diese  künstlichen  versus  Adonici  reicher  gereimt:    vgl. 
meine  Gesammelten  Abhandlungen  I  91. 


zwei  Gedichte  zur  Geschichte  des  Cistercienser  Ordens    (I  Paganus).     379 

37  anni  sunt ,  ex  quo  (a.  1098)  Eodbertus  .  .  Cistertium  incoluit). 
Das  Gedicht  ist  also  kurz  (nuper)  vor  1135  verfaßt.  In  V.  293 — 
306  wird  von  Hugo,  der  1109 — 1121  Bischof  von  Nevers  gewesen 
ist,  wie  von  einem  niclit  mehr  Lebenden  gesprochen.  Also  ist  das 
Gedicht  zwischen  1121 — 1135  verfaßt.  Die  Verse  195/6  lauten: 
ISTovimus  omnes  hanc  novitatem  religionis : 
prima  duobus  terque  decenis  venit  ab  annis, 
d.  h.  wir  alle  haben  diese  Neuerung  erlebt;  der  Anfang  geschah 
vor  dreimal  zehn  +  2  ==  vor  32  Jahren.  Das  ergibt,  daß  der 
erste  der  Orden,  welche  Paganus  bekämpft,  kurz  vor  1103  ge- 
gründet worden  ist.  Wie  viele  Stellen  des  Gedichtes  zeigen,  hatte 
dieser  Orden  helle  Kleidung.  Der  1095  entstandene  Orden  von 
Fontevrauld  kann  nicht  gemeint  sein;  denn  in  ihm  hatten  die. 
Frauenklöster  die  Herrschaft  über  die  Männerklöster,  worauf  im 
Gedicht  niemals  angespielt  wird;  dann  hatten  die  Mönche  dieses 
Ordens  noch  schwarze  Kleidung.  Es  bleibt  nur  der  Cister- 
cienser Orden,  welcher  1098  gegründet  ist.  Denmach  hat  Paganus 
dies  Gedicht  im  Jahre  1130  in  Chartres  verfaßt. 

(Inhalt)  Ich  habe  nicht  wiedererkennen  können,  in  welcher 
Weise  Paganus  seine  Gedanken  gegliedert  hat.  Doch  sind  vor- 
erst 2  kleinere  Teile  des  Ganzen  sicher  zu  erkennen : 

I  In  V.  59—84  (240)  verteidigt  Paganus  den  Stand  der  Welt- 
geistlichen, der  Clerici,  welchem  er  selbst  angehört,  gegen  AngrifiPe. 

II  Dann  in  V.  1 93 — 222  verteidigt  Paganus  die  Monachi  nigri 
d.  h.  die  Benediktiner  gegen  die  AngriiFe,  welche  von  den  Neuerem 
auf  sie  gemacht  werden. 

III  Gegen  wen  ist  nun  die  übrige  Hauptmasse  des  Gedichtes 
gerichtet?  In  der  Histoire  litteraire  XI  p.  2  ist  gesagt:  Ordric 
Vital,  qui  fait  Töloge  de  cette  piece  ä  l'occasion  des  Cisterciens, 
semble  insinuer,  qu'ils  en  etoient  le  principal  objet.  Dann  wird 
der  oben  citierte  196.  Vers  'Prima  duobus  terque  decenis  venit  ab 
annis'  citirt,  aber  mit  dem  schlimmen  Verderbnis :  Prima  decennis 
atqite  duobus  {=  12)  venit  ab  annis ;  dann  wird  auf  diese  Fälschung 
hin  argumentirt,  daß  die  Cistercienser,  welche  12  Jahre  nach  der 
Gründung  des  Klosters  noch  auf  das  eine  Kloster  beschränkt  waren, 
nicht  der  Gegenstand  dieses  Gedichtes  sein  könnten.  Also :  Apres 
une  lecture  attentive,  nous  avons  reconnu,  que  cette  piece  ne  con- 
cernoit,  que  diverses  sociötes  d'Hermites,  qui  s'eleverent  en  France 
vers  la  fin  du  onzieme  siecle  et  qui  n'avoient  rien  du  commun 
avec  r ordre  de  Citeaux.  Dazu  wird  notirt ,  daß  es  überall  in 
Frankreich  solche  societes  d'Hermites  gab  ;  'Saint  Bernard  de  Tiron 
en  trouva   dans    le  Poitou  vers  l'an  1100,    auxquels   il  se  joignit; 

27* 


380  Wilhelm  Meyer, 

S.  Robert  de  Moleme  ä  Colan  dans  le  Tonnerois,  et  ä  Hauz  dans 
le  pays  de  Troye ;  le  bienheureux  Robert  d' Abriselle,  dans  le  foret 
de  Craon'.  All  das  beruht  auf  der  Fälschung  der  Zahl  12  statt  32. 
Ordericus  Vitalis  lobt  das  Gedicht  des  Paganus ;  als  Historiker 
und  Nachfolger  des  Paganus  hat  er  seine  Besprechung  sachlicher 
und  besser  geordnet;  doch  kann  er  uns  zum  Verständnis  des  Pa- 
ganus   führen.         Ordericus^)   spricht  zuerst   allgemein:    (p.  434:) 


1)  Prosareim  und  rythmische  Verse  bei  Ordericus  Vitalis. 
Ordericus  hat  seine  13  Bücher  durchaus  in  Reimprosa  geschrieben.  Das  zu 
wissen  ist  oft  nützlich,  besonders  für  die  richtige  Gliederung  der  Sätze:  aber  ich 
kann  nicht  finden,  daß  Jemand  dies  notirt  hat.  Delisle,  welcher  in  Prevost's 
Ausgabe  (Band  V  S.  XLffi.)  den  Stil  des  Ordericus  bespricht,  bemerkt,  daß  Orde- 
ricus gern  Verse  in  das  Werk  gemischt  hat.  Diejenigen,  welche  Delisle  auf- 
zählt, sind  alle  Hexameter  oder  Distichen.  Sie  sind  wechselnd  gereimt,  bald  ein- 
silbig, bald  mit  zweisilbiger  Assonanz,  bald  mit  zweisilbigem  Reim,  entsprechend 
der  Zeit  bis  1140.  Im  Annuaire  -  Bulletin  de  la  Societe  de  l'Histoire  de  France 
1863  II  p.  1  —  13  hat  Delisle  aus  einer  Hft  in  Alen^on  (no  1  fol.  30)  258  ryth- 
mische Fünfzehnsilber  in  dreizeiligen  Strophen  gedruckt,  welche  dort  von  der 
Hand  des  Ordericus  eingeschrieben  sind.  Delisle  beweist,  daß  sie  auch  von  ihm 
verfaßt  sind.  Der  Reim  schwankt  auch  hier:  z,  B.  ura-  ima*  ula  oder  ules: 
eres  -  ipes.  Riat  ist  nicht  selten.  Die  erste  Halbzeile  zu  8  —  u  ist  fast  immer 
geteilt  zu  4_u-|-4  —  u;  also  ist  S.  3  zu  teilen  Nunc  ad  mödum •  senescentis • 
vacuatur  viribus  {nicht  ädmodum).  Doch  sind  sicher  die  Ausnahmen :  S.  7  Ossibus 
nervis  compactum;  Post  novem  menses  materna;  S.  8  Ira  fraus  atque  cupido; 
S.  13  Virgines  electae  dei  und  Quatinus  inferni  poenas.  So  mögen  auch  die 
Verse  echt  sein,  welche  durch  leichte  Umstellung  regelmäßig  gemacht  werden 
könnten:  S.  5  Nam  dei  plebs;  S.  7  Velut  lac  matris;  S.  8  Postquam  sum  puer; 
S.  11  Qui  primus  haberis.  Die  zweite  Halbzeile  muß  7  Silben  zählen.  Zu 
bessern  sind  also  die  Halbzeilen :  S.  7  deum  unanimes  (unianimes?)  und  S.  7  deus 
tuus  unigenitus  {tilge  tuus?).  S.  4  findet  sich  die  seltene  Bildung  des  Schlusses: 
vapuläbunt  fn  Stige.  Sehr  häufig  ist  hier  der  Taktwechsel:  S.  7  post  cärnis  di- 
vigia  {bessere:  diiugia);  2  Mal  mit  dem  sonst  gemiedenen  daktylischen  Wort- 
schluß:  S.  9  felicltßr  d^cora  und  S.  11  victöribüs  glöriam. 

Auffallend  wäre  es,  wenn  Ordericus  zwar  diese  rythmischen  Fünfzehnsilber 
gedichtet,  aber  in  seine  Historia  keine  rythmischen  Zeilen  eingesetzt  hätte.  Doch 
er  hat  es  getan:  freilich  haben  die  Herausgeber  diese  Verse  als  Prosa  gedruckt. 
Im  9.  Buch  Kap.  15  (Band  IH  S.  605)  besteht  der  Gesang  der  Muhamedanerinnen 
aus  genau  denselben  Zeilen  (15),  wie  die  oben  besprochenen  Gedichte,  ebenfalls 
in  dreizeilige  Strophen  gegliedert;  der  Anfang  lautet: 

Machometi  deo  nostro        dignas  laudes  pangite 
victimasque  immolate        cum  iocundo  crusmate, 
ut  vincantur  pereantque        formidandi  advenae. 
Der  Zeilenbau  und  der  Reim  haben  die  gleichen  Eigentümlichkeiten.      Ein  anderes 
rythmisches  Stück  fand  ich,   beim  Durchfliegen  der  Bände,    in  der  Einleitung  zur 
Erzählung  dieses  Kreuzzuges.    Das  1.  Kapitel  des  9.  Buches  schließt  mit  18  Zeilen 
zu  8  — u,  welche  beginnen  und  schließen  mit  den  Versp^aren: 


zwei  Gedichte  zur  Geschichte  des  Cistercienser  Ordens   (I  Paganus).     381 

passim  construuntur  coenobia  novisque  ritibus  variisque  scbema- 
tibas  peragrant  orbem  cucullatorum  examin«.  Hiermit  sind  sicher 
die  Angehörigen  mehrerer  Orden  bezeichnet,  und  doch  wird  von 
Allen  gesagt  'Albedine  in  habitu  suo  praecipue  utuntur'  oder  'ni- 
gredinem  .  .  moderni  tanquam  ob  maioris  iustitiae  ostentationem 
ahiciunt,  inusitata  quoque  pannorum  (p.  435)  sectione  suorum  ab 
aliis  discrepare  Siip^etunt.  Dann  aber  (p.  435)  wird  zweitens  zu- 
gesetzt 'plures  eis  hypocritae  seductoriique  simulatores  per- 
miscentur,  ut  lolium  tritico,  und  unser  Paganus  wird  speziell  dafür 
gelobt,  daß  er  'palliatas  horum  hypocrisi  superstitiones  subtiliter 
et  copiose  propalavit'.  Ordericus  selbst  will  'palam  enucleare, 
qualiter  et  a  quibus  antiqui  schematis  mutatio  nuper  coeperit  pul- 
lulare,  quoniam  posteris  lectoribus  hoc  autumo  gratum  iore\ 
Wie  macht  er  dies?  Er  gibt  zunächst  die  Greschichte  des  Cister- 
cienser Ordens  bis  auf  seine  Zeit  d.  h.  bis  1035  (S.  435 — 445),  wobei 
S.  436  und  444/5  die  Eigentümlichkeiten  dieses  Ordens  geschildert 
werden,  welcher  Benedicts  Regel  'ad  litteram'  befolgen  wollte. 

Dieser  ausführlichen  Behandlung  des  Cistercienser  Ordens 
folgen  (S.  446)  die  Worte :  Multi  ex  eorum  fönte  sitientes  hsmser unt 
et  inde  plures  rivuli  per  diversas  Galliarum  regiones  derivati  sunt- 
novae  institutionis  aemulatores  dispersi  simt]  in  Aquitania*  in 
Gasconia  et  Hibemia  mixti  bonis  hypocritae  proced«;^^;  candidis 
seu  variis  indumentis  amicti  homines  illudiint  et  populis  ingens 
spectaculum  eiüciunt.  veris  dei  cultoribus  schemate*  non  virtute* 
assimilari  plerique  gesiiiint  suique  multitudine  intuentibus  fasti- 
dium  ingevitnt  et  probates  coenobitas,  quantum  ad  fallaces  homi- 
num  obtutus  attinet,  despicabiliores  fsiciunt. 

Dann  wird  berichtet  von  Andreas  aus  Vallombrosa,  der  in 
Frankreich  ein  Kloster  gründete  und  viele  Brüder  gewann.  Dann 
wird  von  der  frommen  Tat  eines  Ritters  erzählt.  Hierauf  (p.  448) 
wie  Bernhard:   in   praedio   Camotensis    ecclesiae    cum   fratribus 


In  desertis  Idumaeae 

ad  te  clamo,  Jesu  hone  .  . 

Regi  regum  laus  aeterna 

Sit  per  saecla  sempiterna. 
Die  im  I.  Bande  eingesetzten  Strophen  auf  Apostel :  I  286  Andreas,  303  Jacobus, 
805  PMlippus,  321  Thomas,  335  Matthaeus,  345  Simon  und  Thaddaeus,  welche  in 
rjthmischen  Senaren  gedichtet  sind,  sind  beachtenswert,  da  der  Strophe  Andreas 
noch  4  Senare  folgen,  welche  bei  Mone  III  no  666  fehlen;  ebenso  folgen  der 
Strophe  'Jacobe'  5  und  der  Strophe  '0  Thoma'  4  neue  Senare.  Vielleicht  finden 
diese  Zusätze  sich  in  den  Quellen,  welche  Chevalier  im  Repertorium  hymnologicum 
zu  den  einzelnen  Initien  notirt. 


382  Wilhelm  Meyer, 

quibusdain  constit/^  et  in  loco  silvestri'  qui  Tiron  dicitur*  coeno- 
bium  in  honore  sancti  Salvatoris  construxif^  (1109).  Illuc  multi- 
tudo  fidelium  utriusque  ordinis  abunde  conflux/^;  .  .  singulis  artes* 
quas  noverant  •  legitimas  in  monasterio  exercere  praecep/^ ...  (p. 
449)  In  brevi  consurrexit  monasterium  nobile. 

Dann  wird  berichtet,  wie  Vitalis  bei  Savigni  ein  Kloster 
gründete  um  1109;  (p.  449)  ritus  Cluniacensium  vel  aliorum,  qui 
monacbilibus  observantiis  iamdudum  mancipati  fuerant,  imitatus 
non  €st\  sed  modernas  institutiones  (p.  450)  neophytorum*  prout 
sibi  placuit*  amplexatus  est.  Viele  bekehrte  er  durch  seine  ge- 
waltige Beredsamkeit  zur  Buße.  Sein  Nachfolger  "(p.  451)  et  ipse 
immoderatis  adinventionibus  studu/^  durumque  iugum  super  cer- 
vices  discipulorum  aggregavi/. 

Ordericus  beschließt  seine  Darstellung  dieser  Neuerungen  mit 
den  Woiiien:  Notitiae  posterorum  haec  annotavi  de  modemis 
praeceptor^6//s,  qui  novas  traditiones  priscorum  praeferunt  patrum 
Tiiibiis^  aliosque  monachos  secidares  vocitant  ac  veluti  regulae  prae- 
varicatores  temere  condemnant.  Studium  et  rigorem  eorum  consi- 
derans  illos  magnopere  non  vitupero :  attamen  maioribus  et  probatis 
patribus  non  antepono  .  .  .  Columbanus  .  .  (p.  452)  monachilem  re- 
gulam  edidit  primusque  Grallis  tradidit.  Seine  zahlreichen  Schüler, 
vortreiFliche  Bischöfe  und  Aebte,  wurden  dann  mit  dem  h.  Maurus 
und  dessen  Grenossen  bekannt  et  ab  ipsis  .  .  sancti  normam  susce- 
pere  Benedicti. 

Die  Abhandlung  des  Ordericus  'de  modemis  praeceptoribus' 
beginnt  S.  435  und  schließt  S.  451  52.  Er,  der  Benediktiner,  liebt 
diese  Neuerer  nicht  sehr.  Doch  gesteht  er  in  der  Einleitung  (S. 
435)  'voluntaria  paupertas  mundique  contemptus*  ut  opinor*  in 
plerisque  fervet  ac  vera  religio',  und  im  Schlüsse  (p.  451) :  'Studium 
et  rigorem  eorum  considerans*  illos  magnopere  non  vitupero:  at- 
tamen majoribus  et  probatis  patribus  non  antepono.  Dem  Orde- 
ricus sind  also  die  Cistercienser  nicht  die  einzigen  Modemi,  aber 
die  hauptsächlichen.  Von  den  minder  bedeutenden  nennt  er  Andreas 
von  Vallombrosa,  Bernhard  von  Tiron  und  Vitalis  von  Savigni. 
Aber  wiederholt  (S.  435  und  446)  spricht  Ordericus  von  den  zahl- 
reichen hjrpocritae  seductoriique  simulatores,  welche  mit  jenen 
weißgekleideten  Modernen  sich  vermischen,  populis  ingens  specta- 
culum   efficiunt    suique  multitudine  intuentibus  fastidium  ingerunt. 

Paganus  wird  von  Ordericus  ausdrücklich  deshalb  gelobt, 
weil  er  'palliatas  horum  (d.  h.  hypocritarum  seductoriorumque 
simulatorum)  hypocrisi  superstitiones  subtüiter  et  copiose  pru])a- 
lavit.     Ordericus  trifft  damit  den  wirklichen  Inhalt  des  Gedichtes, 


zwei  Gedichte  zur  Geschichte  des  Cistercienser  Ordens   (I  Paganus).      383 

mehr  als  vielleicht  Paganus  selbst  zugegeben  hätte.  Das  ist  wohl 
so  gekommen. 

Bei  der  Schilderung  der  mächtigen  religiösen  Bewegung  dieser 
Zeiten  zählen  wir  meistens  nur  die  einzelnen  neu  entstandenen 
größeren  oder  kleineren  Gemeinschaften  auf,  welche  sich  neue 
Satzungen  gaben.  Aber  wie  uns  die  Zeugnisse  des  Paganus  und 
noch  mehr  des  maßvollen  Ordericus  beweisen,  muß  damals  ge- 
schehen sein,  was  fast  natürlich  war.  J  ene  schwärmerische  Mensch- 
heit wurde  von  dem  Gedanken,  daß  man  Gott  in  anderer  und  in 
strengerer  Weise  sich  weihen  und  opfern  könne  und  solle  als  die 
Benediktiner  es  taten,  wie  von  einer  geistigen  Epidemie  ergriffen, 
und  außerhalb  der  uns  genannten  mönchischen  Vereinigungen 
müssen  sich  noch  Tausende  auf  eigene  Faust  ihre  neue  Lebensweise 
zurecht  gemacht  haben.  Es  war  natürlich,  daß  auch  diese  alle 
nicht  den  schwarzen  Habit  der  Benedictiner  trugen  und  daß  sie 
alle  Genüsse  des  irdischen  Lebens  zu  fliehen  vorgaben.  Neben 
einer  kleinen  Zahl  origineller  Köpfe  war  die  Hauptmasse  dieser 
geistigen  Einsiedler  Schwärmer  oder  Betrüger. 

Die  Masse  dieser  im  Lande  herumziehenden  Phantasten  konnte 
allerdings  sehr  lästig  werden.  Gegen  sie  wollte  Paganus  zunächst 
losfahren.  Aber  diese  Schwärmerei  war  es  doch,  aus  welcher 
schon  im  11.  Jahrhundert  in  Italien  und  in  Südfrankreich  die 
neuen  Orden  hervorgegangen  waren;  mit  dieser  Schwärmerei 
hingen  zusammen  die  aufblühenden  Orden  von  Grandmont,  von 
Cisteaux,  die  Karthäuser  usw.  Neues  kann  sich  nicht  zur  An- 
erkennung durchringen,  wenn  nicht  an  dem  Alten  Manches  zu 
tadeln  ist.  Der  Cistercienser  Bernhard  von  Clairvaux  hatte  um 
1125  Vieles  am  alten  Benediktiner  Orden  getadelt,  der  Clunia- 
censer  Petrus  Venerabilis  hatte  dagegen  seinen  Orden  verteidigt. 
Diese  hochstehenden  Geister  hatten  die  Polemik  in  der  würdigen 
"Weise  geführt,  welche  von  ihnen  zu  erwarten  war.  Paganus  aber 
scheint  mir  ein  Polterer  und  ein  ziemlich  unklarer  Kopf  gewesen 
zu  sein.  Er  nennt  keine  Namen,  weder  von  einzelnen  Personen, 
noch  von  Orden.  Doch  zeigt  Vieles,  daß  er  die  ganze  Masse  der 
Orden  angreift,  welche  nicht  Benediktiner  waren,  nicht  etwa  nur 
jene  Auswüchse  der  großen  Bewegung,  einzelne  Personen  oder 
kleine  Gruppen,  welche  Ordericus  als  hypocritae  oder  simulatores 
ausdrücklich  absondert.  Für  eine  solche  Scheidung  ist  Paganus 
zu  leidenschaftlich.  Er  spricht  V.  34 :  tot  oriri  religionum  monstra 
videmus;  V.  35  stellt  er  der  nigra  vestis  der  Benediktiner  als 
Neuerung  nicht  nur  die  vestis  Candida,  sondern  auch  die  tertia 
mixtim  texta  (==  tincta)  gegenüber;    V.  50  greift   er  an  novarum 


384  Wilhelm  Meyer, 

religionum  traditiones ;  V.  197  wird  die  ganze  Masse  der  moderno 
tempore  entstandenen  Orden  dem  ordo  nigrorum  monachornm  d.  h. 
den  Benediktinern  gegenüber  gestellt  und  angegriffen.  Daß  nicht 
,eine  einzelne  Schaar  oder  Klasse  angegriffen  wird,  zeigt  endlich 
die  Art,  wie  V.  196  die  Grründung  des  Cistercienser  Ordens  als 
Anfang  der  ganzen  unheilvollen  Entwicklung  bezeichnet  wird: 

195  Novimus  omnes  hanc  novitatem  religionis: 
prima  duobus  terque  decenis  venit  ab  annis. 
Paganus  hat  also  die  ganze  moderne  Bewegung  im  Mönchs- 
leben  angegriffen  und  dabei  selbstverständlich  den  wichtigsten  Teil 
derselben,  den  glänzend  aufblühenden  Cistercienser  Orden  nicht 
ausgeschlossen,  sondern  vielmehr  ihn  hauptsächlich  eingeschlossen; 
aber  wir  dürfen  doch  auch  zur  Erklärung  von  V.  26,  daß  diese 
mala  pestis  .  .  graviori  pondere  nostram  deprimit  urbem  (d.  h. 
Chartres)  an  den  Orden  von  Tiron  denken,  der  sich  nach  Orde- 
ricus  (III  S.  448)  Worten  in  diesem  praedium  Carnotensis  ecclesiae 
niedergelassen  hatte,  während  eine  bedeutende  Cistercienser  Nieder- 
lassung nahe  bei  oder  in  Chartres  um  1130  nicht  nachzuweisen 
ist.  Der  blinde  Eifer  des  Paganus  scheidet  aber  nicht  in  der 
neuen  Bewegung  den  berechtigten  oder  wenigstens  guten  und 
wohlmeinenden  Teil  von  den  Betrügern  oder  Betrogenen.  Nur  ein 
Mal,  in  den  V.  309 — 316,  leuchtet  die  Erkenntnis  dieses  Unter- 
schiedes durch,  besonders: 

313     Non  reprobamus*  sed  veneramur  religiöses, 
non  veneramur*  sed  reprobamus  luxuriöses. 

315     Absit,  ut  illos  ore  procaci  dedecoremus, 

quos  et  honestos  et  quasi  sanctos  non  dubitamus. 
Doch  in  der  großen  Masse  der  übrigen  Verse  wird  kein  Unter- 
schied gemacht.  Die  Zahl  der  falschen  Brüder,  hypocritae  oder 
Simulator  es  von  Paganus  (V.  12  40  154  173)  und  von  Ordericus 
(S.  435  und  446)  genannt,  scheint,  wie  gesagt,  eine  ungemein  große 
gewesen  zu  sein;  sie  hingen  ja  unstreitig  mit  dem  Aufkommen 
der  bedeutenden  Orden,  wie  dem  des  Cistercienser  Ordens,  inner- 
lich zusammen  und  trugen  zumeist  auch  ähnlich  gefärbte  Kleidung : 
deshalb  wurden  sie  allesamt  von  Paganus  behandelt  und  bekämpft, 
nach  dem  Satze  'Grleiche  Kappen,  gleiche  Brüder'. 

Bedenkt  man  dies  blinde  Vorgehen  des  Paganus,  dann  drängt 
sich  eine  weitere  Vermutung  auf.  Er  legt  Einem  der  Angegriffenen 
eine  heftige  Schmährede  gegen  die  Kleriker  in  den  Mund  und  fährt 
dann  weiter: 

83     Ista  docendo  nos  inhonorat  pseudopropheta, 
qui  reputatur  vestibus  albis  anachoreta. 


zwei  Gedichte  zur  Geschichte  des  Cistercienser  Ordens   (I  Paganus).     385 

Später  wird  die  Masse  der  Gegner,  der  hypocritae,  mit  der  Frosch- 
plage in«Egypten  verglichen,  welche  der  Sünden  halber  jetzt  ge- 
sendet sei : 

163     Militat  isto  tempore  magnus  pseudopropheta 

atque  suorum  discipulorum  falsa  moneta  (monela?). 
Dann  wird  das  6.  Kapitel  der  Apokalypse  citirt: 

167     Mistica  quarti  claustra  sigilli  dum  reserantur, 
temporis  huius  pseudoprophete  significantur. 

173     Intimus  exit  (equus)  pallidus:  hie  est  ypocritaram. 

179  Decolor  hec  gens  pallida  vultu  iure  notatur. 
Mit  diesem  pseudopropheta  scheint  Paganus  eine  bestimmte 
Persönlichkeit  gemeint  zu  haben.  Wie  er  in  maßlosem  Eifer  über 
die  ganze  moderne  Bewegung  im  Mönchstum  ein  falsches  Urteil 
gefällt  hat ,  so ,  glaube  ich ,  hier  über  den  bedeutendsten  Führer 
derselben,  über  Bernhard  von  Clairvaux.  Bernhard  mischte  sich, 
voll  religiösen  Eifers,  in  viele  kirchliche  Streitigkeiten  Frankreichs 
und  hatte  es  auch  gewagt,  die  Anklagen  der  Cistercienser  gegen 
Mißstände  in  dem  Benediktiner  Orden  öffentlich  vorzutragen.  Es 
wäre  also  nicht  unbegreiflich,  daß  Paganus  in  seinem  blinden  Eifer 
ihn  als  Pseudopropheta  in  der  oben  genannten  Weise  angegriffen 
hätte. 

Das  Gedicht  des  Paganus  ist  also  nicht  ein  klares  und  zuver- 
lässiges geschichtliches  Zeugnis,  sondern  ein  Stimmungsbild:  mitten 
in  der  schwärmerischen  Umgestaltung  des  Mönchtums  poltert  ein 
verärgerter  und  ziemlich  kurzsichtiger  Weltgeistlicher  gegen  die 
Neuerung.  Der  Hauptwert  des  Gedichtes  besteht  darin,  daß  Or- 
dericus  es  citirt  und  seine  eigene  Schilderung  dieser  Verhältnisse 
(Buch  YIII  Kap.  26  und  27)  mit  Rücksicht  auf  dies  Gedicht  ge- 
arbeitet hat.  Interessant  scheint  besonders  die  Frage,  ob  das  da- 
malige Aufkommen  der  großen  und  kleinen  neuen  Orden,  von 
denen  wir  wissen,  wirklich  begleitet  gewesen  ist  von  dem  Auf- 
treten so  vieler  Schwarmgeister  und  Betrüger,  wie  dies  aus  Pa- 
ganus zu  schließen  ist  und  wie  Ordericus  ausdrücklich  sagt.  Es 
scheint  fast  natürlich,  daß  jene  große  Bewegung  von  solchen  Wellen 
begleitet  war.  Diese  'falsi  heremitae,  qui  vagando  discurrunt' 
wären  ebenfalls  zu  der  damaligen  Landplage,  zu  den  Vaganten,  zu 
rechnen,  welche  Alles  eher  waren,  als  das,  wofür  sie  jetzt  in 
Deutschland  gewöhnlich  gelten,  als  die  Dichter  der  weltlichen  la- 
teinischen Lieder  nach  Art  der  Carmina  Burana.  Die  zahlreichen 
von  Synoden  und  Concilen  gegen  die  Vaganten  gefaßten  Beschlüsse 
beweisen,  daß  ein  großer  Teil  derselben  nicht  dem  Laienstand 
angehört  hat. 


386  Wilhelm  Meyer, 

Versus  Pagani  Bolotini  '^ 

de  falsis  heremitis.  q?d  vagando  discurruwt. 

Ordinis  expcrs  ordo  nefar^dw^,       pellib«<5  agni 

2  cum  sit  amict^<65       vult  reputari  religiös ^^5. 

3  Nee  tamen  actis  religionem  testificatur  *. 
Horrea*  -penus'  archa  re-plentur,       res  cum^date 

5     multiplica?zt?/r,       multiplica>?tes  nee  sat^r/'antwr. 

Nwllaq^/e  ])roTsns  cotidiani  copia  qi/estus 
7     immoderatos  pectoris  eins  tempe?'at  estus. 

Plus  et  habu«daj/s  pauper  habetur.      isan  puto  yerum, 
9     qi(od  perhibetwr:       -pect'is  avaru/»  non  miseret«*r. 
Da»/pnat  avaros,  cum  sit  avar^/«.       dulcia  fatwr, 
11     cum  sit  awar^s,       corde  lupin»^*  vestib/^5  a^gnus. 

Sic  Simulator  religionis  dum  tunicat«<r, 
13     religioso  vestib^<5  atris  assimilat/(r. 

Sed  Sacra  nob?5  e.^se  videt»r  pagina  testis, 

15     q^uod  pia  reddit  vita  hesitum-  non  nigra  vestis. 

Ja,mque  solut/<5  menieqiie  preceps  ad  levitate/Ji 

17     claustra  relinqi(e;?s  sepe  vagawdo  circuit  erbe;;«. 

Q^uique  lege??do  sive  doce/?do  verba  salutis 

19  fra/ribus  intus  coinm.od.us  esset  religiosis: 

20  hu7ic  modo  frustra  detinet  extra  ca?^6^a  fore«sis. 
Hec  nova  nostro  pessima  tabes  flux?Y  ab  evo 

22     nostrsique  tali  co?>/mac^dant^/r  tem-pora  nevo; 

Inc^ue  ruinas  ecclesi&rum  tarn  maledictum. 
24     t&mque  nocivu;«  no.sfra  dederunt  secMla  ra/>mum. 

Hec  mala  pestis  isim  p>öpe  totum  poUuit  orbew, 
26     sed  graviori  pondere  nö.s/ram  deprimit  urbe/«. 

Nobilitate^)/'  nullus  honorat  nee  probitatewi 

P  =  Codex  Parisinus  lat.  8433  s.  XIII  fol.  112»,  1.  Sp.  12.  Zeile.  Die 
auffälligen  Reime  der  ersten  20  Verse  sind  S.  378  besprochen.  3  Reim  und  Sinn 
lassen  vermuten,  daß  nach  V.  3  ein  Vers  ausgefallen  ist  5  multiplicantes  M 
(==  W.  Meyer):  multiplicantis  P,  multiplicatis  n.  saturatuc^ifts^.  lit  6  quae- 
stus  :  victus  Hist.  10  dapnat  P  11  amarus  M:  auarus  P  12  sie:  in  P 
ein  f,  an  dessen  Kopf  ein  c  sitzt;  sit  Hist,  12/13  scheint  zu  sagen,  daß  auch 
diese  Leute  zwar  helle  Kutten,  aber  schwarze  Tuniken  hatten.  In  diesen  Tu- 
niken scheinen  sie  oft  aufgetreten  zu  sein,  denn  sie  werden  in  dem  Gedicht  oft 
tunicati  genannt;  vgl.  V.  274.  lieber  die  früheste  Tracht  der  Cistercienser  vgl. 
Dolberg's  Arbeit  im  14.  Hand  (1S93)  der  Studien  und  Mittheilungen  aus  dem 
Bened.  und  Cisterc.  Orden  14  Si  sacra  Hist.  17  reliquit  und  urbes  Hist. 
17  orbem  M  {vgl  V.25):  urbem  P  22  beginnt  fol.  112'»  2.  Sp.  24  ramnum 
vgl.  Judic.  9,  14  und  Psalm  57,  10 


zwei  Gedichte  zur  Geschichte  des  Cistercienser  Ordens    (I  Paganus).     387 

28     nvILsique  morum  gratia  co)deyi  utilitatem. 

Q?d  saa  servant  sind  et  avari  vix  comede^^tes, 
30     qwi  coace/va?2t  publica  passim  lucra  seq^^(9wtes: 

Sint  licet  isti  cowcubitores  Bjtque  scelesti, 
32     tempore  nos^ro  religiös!  sxni  et  honesti. 

Jam  quia  finis  tem-poris  instei,  ne  dubitem?<5, 
34     cu?n  tot  oriri  religionu/w  mo;?stra  videm^/5. 

Ca/?dida  nigris*  nigra  sit  albis  emula  vestis, 
36     tercia  mixtiyy^  texta  videtur  sa;2c^ior  istis; 

Et,  quasi  pa?2nus  religionem  contersit  ulla»?, 
38     sie  fugit  unus'  q?/a/;i  tulit  alter*  ferre  cuculla^». 

Hec  q^itasi  q^nedsun  recia  nobis  decipiendis 
40     i/^sidiatrix  hypocritarum  t^rba  tetendit: 

Ut  ({uasi  tales  intus  honestos  esse  putemus, 
42     qwos  i^a  viles  exteriori  veste  videmus. 

Tonsus  ad  aures  usq^ne  supremas  fro>^te  pate?^ti, 
44     cui  nite^  ut  nix  Candida  cervix  ore  rube??ti, 

Tarn  sinuosa  tamq^e  rotu?2da  veste  togat?k9, 
46     quiqwe  cot?(rnis  ore  repandis  est  hontrat»«: 

Bestia  taL".s  crediti^r  arta?»  dncere  vitam? 
48     sed  parasitum  res  probat  istum*  iion  her^^mita^^i. 

isTam  YSigKS  omnes  circuit  urbes  et  regiones, 
50     dando  novar»/»  reli(gi)onum  tradit/ones; 

Arte  maligna  decipiendo  simpliciores 
52     iperqiie  favores  exteriores  ambit  honores. 

Si  tarnen  illi  clam  s^bigendi  copia  det^r, 
54     esse  nefandi  crinii??is  actor  non  reyereiur. 

Qluod  nee  honestas  n?dlaq«e  viriiis  hiinc  comitat^r, 
66     ebrietates  cotidiane  testificantur. 

Spe^Tiit  egentes  nee  sua  cuiq^'a//^  parti(ci)pat?/r, 
58     cum  satis  ill/5  paupmorem  se  fateat'rr. 

Clencus  illi  sordet  et  ip.^?/m  da^^pnat  et  odit, 
60     sed,  manifeste  dum  min^ö^  audet,  clawc^lo  rodit: 

Qwaliter,  inquit,  vivere  possit  religiosus 
62     moUibiis  utens  rebus*  habu>2da??s  *  deliciost^s? 

Curve  potestas  traditur  istis  hec  animarum, 

28  morum  gratia  ist  sehr  unsicher;  auf  m  folgt  eine  Ligatur,  eher  oc  oder 
ot  als  or,  und  darüber  ein  horizontaler  Strieh.  Dann  folgt  g;  dann  1,  oben  mit 
Querstrich,  unten  mit  einer  Zunge,  so  daß  1  vom  1.  Schreiber  zu  r  geändert  zu 
sein  scheint;  endlich  a;  also  hat  wohl  der  1.  Schreiber  gloria  zu  gratia  geändert. 
31  celesti  P  35  fit?  41  putetwr  ist  zu  putemus  gebessert  46  Schnabel- 
schuhe?       50  relionum  P       56  fol.  112  b.  1.  Sp.        57  parcipattfr  P 


388  Wilhelm  Meyer, 

64     qi/os  prope  nullo  tempore  tangit  cura.  suSirum? 

Insuper'  Siuteni  quani  hene  vivant,  fine  probatnr, 
66     cum  moriti/ri  se  monacandos  tunc  fateantur. 

Rec  agit  m  nos  urbis  amator,  non  heremita; 
68     SIC  fremit  in  nos  non  Helizeus*  sed  G-yezita. 

Judicat  in  nos,  q^tiem  sua  da/>ipnat  pessi/z^a  vita: 
70     nam  vel  adulte^r  clam  reperit//r  vel  sodomita. 

Sed  q^iwd  honesta»*  laudeq^/e  dignum  iwn  dubitatifr, 
72     subprimit  illud,  quod  bona  cleri  nemo  loq?/at^(r. 

Ordinis,  inqwit,  reg^da  nosiTi  sola  tenetur; 
74     ip^a  beate  premia  vite  sola  meretur. 

Altior  ista*  sa;?c/ior  ista  nulla  uidet?<r. 
76     q?d  volet  ergo  salvificari,  nos  imitet^/r. 

Mane  refectis  pocwla  nohis  dant^^r  a,qi(B.yuni] 
78     cepa*  legnmen  dona  ministrant  deliciar^<m. 

Strata  parant?<r  fragmi;?e  culmi  vel  palear«^»*, 
80     solaqwe  nobis-  cognita  fiunt  lustra  iersi,nim. 

Clericus  Siutem  premia  vite  non  hrtWtiunis  * 
82     carnib?<.s  utens  vinaq/re  Sorbens  est  Epic»rus. 

Ista  docewdo  nos  i;?lionorat  pseudop/opbe^a, 
84     qwi  reputatwr  vestib^<5  albis  anachoreta. 

Sed  fateat^<r,  cur  ita  fumu/;«  diligit  urbis 
86     seqwe  potentuwi  gaudeat  iv^t^-rponere  t'^rbis. 

Cwria,  credo,  dat  michi  cenas  uberiores 
88     atqwe  Falerni  nobilioris  mille  colores; 

Dona  potentum  caria  eoniert  atq^<e  favores; 
90     nee  sibi  tales  prebuit  unq^aw«  silva  sapores. 

Dicat  et  istud,  veste  s«b  alba  q/^a  Tatione 
92     tam  spaciose  timpora  cingi^  iorma,  corone. 

Hoc  tarnen  ipsi/m  nos  manifeste  scire  fatem^tr, 
94     scilice^  ut  sie  simpliciores  deciperem/^r, 

Utqwe  videntes  exteriorem  simplicitate/^r 
96     iwteriorem  non  pavitare^it  impietatem. 

Hoc  tarnen  unwn  qiiero  supremu/;/,  cur  fam?Jatus, 
98     quem  sibi  defert  ianior  etas,  est  i/a  g/atus? 

Nam  generale//^  ia.m  movet  istwd  s//.spic/onem, 

65   probätur  P  66   confiteantwr   ist  von  1.  Hand  zu  tc   fateantwr  ge- 

ändert         59-66   Angriif  auf  die    Clerici:    67—72   Kritik  desselben-,    73—82 
Eigenlob:  83— (90)  Kritik  desselben        86  diligat?         87  seque  M:  sedque  P 
87  michi  P:  sibi?       90  fol.  112  b.  2.  Sp.       92  tam  M:  nam  P       94  am  Rande 
sind  in  P  die  Worte  sciUcet  ut  sie  etc  wiederholt^  von  anderer  Hand ;  vgl.    V.  lOS 
94  deciperentur  ?  vgl.  133        96  pauitaret  P 


zwei  Gedichte  zur  Geschichte  des  Cistercienser  Ordens   (I  Paganus).     389 

100     cum  vehementer  ledere  possit  religionem. 

Junior,  inq^it,  quem  leviorem  reddidit  etas, 
102     nos  imitando  vult  levitati  ponere  metas. 

Laxa  mYenius,  s^irituslis  nescia  doni, 
104     his  documewtis  mawcipat  aTiiis  religioni; 

Doctaqi^e  no^^ro  vivere  sancte  discip?/latu' 
106     po5^ea  Christi  fervida  perstat  suh  fam^datu. 

Sic  iwhonest?Y5  fallit  honestos  arte  loquendi, 
108     sed  la.tet  intus  prava  voluwtas  crunen  agendi. 

Cnius  habenas  dum  hene  nescit  iam  moderari, 
110     non  pudet  illum  tiiri^iter  istis  associari. 

His  comitat^(5  vivit  oberrans  ordi/?e  n^dlo, 
112     seque  tuetwr  vestib«/s  albis  atq^^e  cucullo. 

'Rusücus  omwis,  quo  sua  possit  salva  tueri, 
114     veste  s?(b  alba  religiosus  qiierit  ha^eri. 

Sic  decet  istu?w  talis  amict^<5  religionis* 
116     sicut  asellu?>i,  cum  tegeretur  pelle  leonis. 

Qluem  prius  he/bis  pascere  crudis  silva  solebat 
118    nee  saciari  posse  sec^i^^do  pane  dolebat: 

Iste  potentuw?  collateralis  co?^siliator 
120    iuraqi^e  tractans  fit  quasi  pnnceps  et  dominator. 

Cum  prius  esset  bestia  simplex  bic  idiota, 
122     huic  modo  currens  ob  via  plaudit  regio  tota. 

Deliciose  fercula  mense  dum  t»iplicant«<r, 
124     dw)i  melioris  splendida  vini  pocula  dantur, 

Dum  favet  illi  curia,  dum  sie  cslvus  habetur: 
126     liiiquere  silvas'  ire  per  urbes  d?dce  videtur. 

Conciliorum  p^rvius  hospes  tempus  odorat, 
128     ntqtie  vide;i  vel  nova  possit  scire,  laborat. 

Dum  quasi  sanctiim.  quilibet  illu>n  presul  honorat, 
130     bubo  diumus  cor  tenebrosum  veste  colorat. 

Vina  refutans  raro  cibat^^r*  raro  saporat: 
132     üetihus  undans  per  pavime/«tum  strahis  adorat. 

Ista  videntes  i;2sipientes  decipiuntur, 
134     qtd  novitatuM  precipitanter  laude  feruntwr. 

Tale  sepulchrum  sorde  repletu^/i  dum  venerawtitr, 
136     ordine  digimm  pontificali  vociferantur. 

100  uehemewtur  P        108  agendi  aus  agenti  corr.  in  P;  am  Band  hat  eine 
andere  Hand  wiederholt  die   Worte:   sed  latet  intus  111   Vgl.   V.  1    Ordinis 

expers        112  seque  M:  neqwe  P        114  vgl.  V.  1/2  118  Horaz  Ep.  2,  1,  123 

vivit  siliquis  et  pane  secundo        124  fol.  113»  1.  Sp.  129  adorat  honorat  P 


390  Wilhelm  Meyer, 

Sicqtte  s?/bmt/ans  für  in  honores  ecclesi&mnf, 
138     gaudet  acervis  accumulandis  diyicia.rum. 

Terq^iie  rapinas  iste  manut»5  fit  Briareus, 
140     pactaqwe  frangens  nee  bfne  co>?staA?s  est  quasi  Prothews. 

Namq2re  prioris  ponere  queTÜ  vellera  vite, 
142     ut  neque  vict^^s^'  sed  neque  vestes  sint  h«?remite. 

Jamq?/e  perhorrens  asperitates  ciliciorum* 
144     linea  vestit  levia  ivatrunci  more  Buorum. 

Qluique  cavebat  vespere  fontis  sumere  potu;/i: 
146     nocte  Falernuw  tercio  poscit  iam  bene  notu»^. 

Q?/i  vigilabat  mm  prope  nona  noctis  ab  hora : 
148     mxno,  temulent?(5  s^^rgit  ad  hi;>mos  luce  decora. 

(plaque  miselli  curvns  aselli  terga  premebat, 
150    vix  quoque  plantas  poplite  flexo  fune  regebat: 

Magnani^lor/<»^  iam  faleratns  sessor  eqiior^r»^, 
152     iam  pede  tenso  plana  p<?rerra??s  c?^rrit  agrorw/w. 

Vique  ^Mdirmn  oimi^ia  celet  spnrciciarum, 
154     hie  aliorum  fit  pa^er  et  dux  ypocritarum. 

Eece  per  orbem  m^ddplicata  messe  honorum^ 
156     hec  inmiicus  semiwa  sparsit  zizanioram. 

No5^raqwe  nobis  ecee  novellas  et  veteranas 
158     misit  Egipt»^  de  tenebroso  flumi«e  ranas. 

Flumi^za  *  fontes  •  sta??gna  •  palades  rana  replevit ; 
160     iam  super  ipsas  iwjproba  mey?sas  scandere  suevit. 

Hec  super  omwes  pessima  nobi.s  plaga  videt^t/-, 
162     haneq^e  reatws  ult?o  no5^ri  digna  meret^ir. 

Militat  isto  te?><pore  magn/rs  pseudoprophe^a 
164     atq«e  s^iorum  discipulor^f;;^  falsa  moneta. 

Nune  manifeste  prospieiamus,  quid  supev  ipsis 
166     Sacra  Johannis  verba  'pro-phetent  Apocalipsis. 

Mistiea  quarti  claustra  sigilli  du^»  resera?2t?tr, 
168     tew?poris  huius  pseudop>ophe/e  sig/^^^eantur. 

Primi(s  equori*;»  venerat  albi*5  :  sacra  novorum 
170     tempore  primo  milia  signans  Chrfs^/colarwm. 

Tost  Tufus  exit:  te/><pora  signans  martiriorMW?. 
172     post  niger  exit:  te>/ipora  signa;?s  scismaticorum. 

149  curvus  M;  curnis  P        152  perherrans  P        157  vgl  Exodus  9  Nraq; 
P;    nostraque   versteh  ich  nicht         158   fol.  113»,   2.  Sp.  164  monela? 

166  Apok.  6,  2  equus  albus ;  4  equus  rufus ;  5  equus  niger ;  8  ecce  equus  pallidus 
et  qui  sedebat  super  eum,  noraen  ille  mors,  et  Infernus  sequebatur  eum  et  data 
est  Uli  potestas  super  quatuor  partes  terrae,  interficere  gladio,  fame  et  morte  et 
bestiis  terre. 


zwei  Gedichte  zur  Geschichte  des  Cistercienser  Ordens   (I  Paganus).     391 

Ultimos  exit  pallid'^^" :  hie  est  ypocntarwm, 
174     iusta  sudLnon  q<fos  male  ducit  mors  Siniumrum. 

Q^ne  qiiia  sem-per  presidet  illis  et  dominatur, 
176     restat,  nt  ardens  Inferus  illos  hire  sequB.tar. 

Ir/ft'?Tis  ardens  penaq?/e  perpes  hos  comitat2tr. 
178     ne  locus  nllus  diffugiendi  iam  videat^^r. 

Decolor  h.ec  gens  pallida  yultnni  iure  notatwr, 
180     interioTi  p^rdita  morbo  sive  reatu. 

Mors  ({uia  sempe/-  corpora  reddit  pallida,  iure 
182     ferre  videtur  preuia  mortis  signa  iuiure. 

N^c  color  ullus  cougrmt  illis  apcius  isto, 
184     q?fos  loca  mortis  pallida  tolleizt  iudice  Chr^5^o. 

Ip^a  prophe^e  pagina  nobis  testifica^^^r, 
186     hanc  quia  plagam  tam  dmturnsim  nemo  seqiiSiiur. 

'E.ec  mala  radix  ex  Phariseis  orta  videtur, 
188     g^rmi^xe  cnius  centuplicato  terra  repletur. 

Pnmit?^s  illi  nulla  nocendi  co^fsa  patebat; 
190     nam  s^/b  abisso  tempore  prisco  tecta  latebat. 

'^ed  modo  vires  illa  resumens  tota  revixit. 
192     sicque  fut^^>iim  Christus  in  isto  t^^^^pore  dixit. 

Ip5a  moderwo  iem-pore  Tnenies  dmn  viciavit, 
194     nobilis-  ordo  religionis  degeneravit. 

"Novim^f^  om;?es  hawc  novitate/^^  religionis : 
196     prima  duob^fs  terq^ue  decenis  veni^  ab  annis. 

Ordo  nigroru;yi  iam  monsLchontm  wilis  habetur, 
198     sanctsi({ue  claustri  vita  q^db^^sdam  laxa  videt?<r, 

Ut  ^enedicti  reg^da  sancfi  non  reputetur, 
200     dum  cihus  istis  formaq?/e  vestis  dispar  habetur. 

His  heremite  t^rpiter  aude^zt  ponere  crime/* 
202     ocia  claustri*  mandere  pisces  atqi^e  sagimew. 

Hinc  manifeste  possum^fs  horuni  noscere  crimen, 
204     dum  sibi  quermit  ex  alieno  crimi;?e  laudem. 

Hec  tamen  illis  obicientes  decipiuntur. 
206     sed  qtäa  clandi  carcere  claustri  non  paciunt^<r, 

179  uulf  =  vultum  P;  ob  vultu?  184  tollent  =  recipient?  185  pro- 
phetae  =  Johannis?  192  fol.  113^  1.  Sp.  196  der  Beginn  des  Cistercienser 
Ordens  wurde  auf  1098  angesetzt.  Prima  decennis  atque  duobus  venit  ab  annis 
Hist.  202  den  meisten  Mönchen  war  es  verboten  sagimen  =  sagina ,  Bratenfett^ 
zu  gebrauchen ;  vgl.  Du  Gange  VI  p.  22:  a  carne  •  sagimine  et  a  caseo  et  ob  omni 
pingui  pisce  abstinere  debes.  Das  galt  besonders  für  die  Cistercienser.  205  P 
hat  decipientes  und  darüber  obic,  Beides  von  1.  Hand.  Hist.:  Hie  tarnen  illi 
decipientes  decipiuntur. 


392  Wilhelm  Meyer, 

Nec  diuti^^Tias  aspentates  exptriuntur, 
208     qwas  ben^  norunt,  qni  studiose  claustra  secimim'. 

Religiosis  ocia  claustris  nulla  smunttir', 
210     namque  vel  orant  vel  sacra  patrum  scripta  legantur, 

Kec  per  amorem  dum  cor  aduruwt  atq^/e  saginant, 
212     dulcia  su^«mi  nfctaris  Ulis  mella  propinawt. 

Talia  fluxas  ocia  curas  menie  ^epellu/^t. 
214     hec  c^iioque  sentes  iam  fruticantes  inde  revellu/^t. 

C/arnis  et  bestes,  celica  semper  q^i  specwlantwr, 
216     pinguib?/5  escis  aut  preciosis  non  saciantwr. 

Qwicqnid  in  escis  esse  videtur  deliciosum, 
218     qwando  retractant,  ad  qiiod  banelawt,  est  onerosum. 

Experimewtis  nee  retinentwr  deliciarwm, 
220     hec  Si.nim&rum  dampna  videntes  esse  susirum. 

Fit  monacborwwi  gloria  maior,  dum  potuerwwt 
222     et  iamen  escis  prorsus  ab  istis  abstinuerwwt. 

Ast  heremite  deteriores  i>^veniuIltur, 
224    qtd  nee  babentes"  se^^  cupientes  ista  seeuntur. 

Omnihus  istis  iwgluvies  est  tanta  cihorumj 
226    nt  manifeste  sit  deus  ipsis  venter  eorum. 

Sicut  avaros  grandis  acervus  diviciarnm, 
228     haut  sec^^5  istos  afiicit  esus  delicisirimi, 

Si  iamen.  ilKs  arida  pisces  silva  negavit 
230     nee  preciosi  vina  saporis  cella  paravit, 

üt  eibus  arens  et  labor  art^/5  extenuavit: 
232     gens  nova  sese  civibus  urbis  notificavit. 

Q^e  nova  spargens  dogmata  prave  tradic?onis 
234     miscuit  inins  triste  venenum  p^rdicionis. 

No5^cT,  ut  aiunt,  nullius  ordo  perdicionis, 
236     seJ  laicalis  forma  videtur  cowdicionis. 

Qwos  TL\si  quedam  pontificalis  titrba  foveret, 
238     rwsticus  ordo  talia  nunq^mm  bella  moveret. 

^ed  quia  pars  hec  utra^y^^e  cöwsors  esse  videtur, 
240    iam  duplicatum  clericus  bestem  iure  veretwr. 

207  mit  nee  =  auch  nicht  beginnt  der  Nachsatz  214  fruticantes  M, 
frutiantes  P  218  retractant  M,  retractat  P;  wenn  sie  über  ihre  Ideale  (ad  quod 
anhelant)  nachdenken  221  potuerunt  frui  istis  et  tarnen  226  fol.  113  b  2.  Sp. 
231  et  cibus?;  doch  bleibt  der  Sinn  der  Verse  unklar  235  dasselbe  B,eimwort 
2  Mal  hinter  einander  zu  gebrauchen,  ist  fehlerhaft.  In  V.  235  scheint  perdicionis 
durch  ein   Wort  =  dignitatis,  severitatis   ersetzt  werden  zu  müssen,  237  und 

nachher:  die  hier  erwähnte  Gunst  der  Bischöfe  geht  wohl  auf  die  Cistercienser, 
welche  nur  mit  Erlaubnis  der  Bischöfe  Klöster  gründeten  und  ihrer  Jurisdiction 
sich  unterwarfen.        240  d.  h.  die  bischöfliche  Curie  und  diese  heremitae. 


zwei  Gedichte  zur  Geschichte  des  Cistercienser  Ordens  (I  Paganus).      393 

Q?d  simidata»i  dum  foris  offe/'t  religionem, 
242     ardet  in  omnem  cor  q?<asi  fornax  ambitiösem. 

Iste  vorando  quando  per  urbes  transiit  istas, 
244     pisce  comesto  non  ssiiiirsitus  suxit  aristas. 

Obrata  passim  stirpit^<5  omms  silva  videt^^r, 
246     utq?(e  loc?^stis  sie  heremitis  terra  replet?<r. 

N^//2C  aper-  ursus*  caprea*  cervus  non  agitant^ir, 
248     cum  neqiie  silve,  q^^as  coluerunt,  isveniant?tr. 

Nu^2C  heremitis  po^^tificalis  me^zsa  repletwr; 
250     küs  comitat^(5  religiosus  presul  ha^etifr. 

Per  tunicatos  pojitificatws  cwra  tenetwr, 
252     ordi?«e  dignus  vel  reprobawd^^s  q^äsq^^e  videtwr. 

Per  tunicatos  dantwr  bonores  ecclesiari^m  ; 
254     uncZe  videt?<r  precipitari  stat?^5  esirmn. 

Sed  licet  istos  iurha,  pote^^tum  sie  venereti^r, 
256     tocius  bui^^s  fruct^^s  honoris  Tdivus  habetur. 

Nam  qusisi  fum^^5  preterit  hui^(5  glöria  vite, 
258     qwam  male  q^^erunt  hi  tunicati,  non  heremite. 

Sic  et  honores  preripientes  atq^^e  favores 
260    undiqwe,  gaudent  ferre  cucullas  m^ddcolores! 

Dum  monsLchontm  sanctsi  vigebat  vita  priorwm, 
262     nulla  cuculle  sola  fiebat  *mentitiorum. 

Omnibus  idem*  non  fuit  ulli  discolor  usus, 
264     nee  variato  vellere  traxit  stami>^a  fusus. 

Urbis  honores  •  dona  potewtum  n^dlws  amabat: 
266     qi/isqwe  labori*  fletib^^s"  imnis  iwvigilabat. 

Carcere  silve  quisq^te  reclusum  se  coibebat 
268     nee  nisi  ioniem  vespere  iantum  quisq'^e  bibebat. 

Sed  modo  nos^ri  semper  in  aula  sunt  heremite, 
270     desidiose  vana  sequentes  ocia  vite. 

Novimws  istos  ventris  amieos  atqite  eibori^m, 
272    iwrequietos,  more  vagantes  achefalorwm. 

Qwosq^fe  vagando  per  regiones  ire  videmus, 
274     non  heremitas*  sed  tunicatos  e^se  putemus. 

Hos  prius  herbas  reieientes  aique  legumen* 
276     iste  culine  nidor  herilis  traxit  ad  urbem. 


247  Nunc  M:  hc  =  hunc  P         252  videtur  wohl  =  iudicatur  per  eos 
260  fol.  114a  1.  Sp.      undiquewM^  mit  V.  259  Verbunden  werden      262  mrirörum 
=  mentitiorum  P;  mentio  *orum?         266  imnis  M:  ignis  P;    vgl.  148  surgit  ad 
himnos        267  silue  aus  siluis  corr.  P        272  sind  hier  Insekten  gemeint,  welche 
des  Kopfes  beraubt  hin  und  her  fahren? 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Nachrichten.   Philolog.-histor.  Klasse.   1908.    Heft  4.  28 


394  Wilhelm  Meyer, 

JJiqne  seq?/^^^tis  vulnera  fiunt  causa  doloris 
278     pnmaqwe  culpe  causa  videtur  postmoris: 

Sic  tunicatis  urbe  receptis  ista  secuntur, 
280     ({uod  modo  cives  ypocritales  esse  feruntur. 

Possit  ut  hospes  religionis  laude  notari, 
282     omnihus  istis  officiose  vult  famwlari. 

Tunc  piperati  piscibus  assis  accum^/lanh/r, 
284     queqtie  redundant  nectare  puro  poc?da  da,nUir. 

Q?dcqwid  agat^(r  reb/(5  in  istis  immodcrate, 
286     impius  hospes  cwwputat  Siciiim  pro  pietate. 

See?  super  omwes  hec  nova  res  est:  esse  gulosum 
288     et  tarnen  ipsum  velle  videri  religiosum. 

Arte  coquorum  res  pr^ciose  quando  pßra??tur, 
290     deliciosis*  non  heremitis  danda  videntt<r. 

Non  heremite  prebeat  hospes  ferenda,  per  que, 
292     si  caro  q?(€rit  luxi/riari,  peccet  uterque. 

TJgo  Nivernis  religionis  laude  iprohsitiis 
294     ex  heremita  sumpsit  honore??^  powtificat?/^. 

Huwc  heremite  visere  midti  sepe  solebawt, 
296     aurib?<s  eins  deposituri,  si  quid  ha&ebant. 

Hos  bene  clausos  in  penet>«li  sem-per  hahehsit, 
298     nee  idsi  solis  religiosis  porta  patebat. 

His  adaqwati  pocwla  vini  eowficiebat 
300     nee  precioso  pa^cere  quemqumti  pisce  volebat, 

Ne  cibtts  ullum  postea  islis  sollicitaret, 
302     dum  sibi  caules  Sitqiie  legamen  silva  pararet; 

Ut  nicbil  illic  post  nocit^^rwm  discere  possewt, 
304     preter  id,  usu  cotidiano  qiwd  didicissent. 

Hec  ut  llonest^fS•  non  ut  avarus*  presul  agebat. 
306     namq«<e  saluti  sie  a.nhnaLTum  proficiebat. 

Om?^ibus  ergo  sie  heremitis  est  miserendum 
308     nee  quasi  corvus  detineatar  proprer  edendum. 

Hoc  heremitas  tempore  mwltos  esse  videmus, 

278   d.  h.  (culpa)  culpe        283   so  M:   P  hat  piperatis  und  escis,  das  von 

1.  Hand  zu  assis  corrigiri  ist  293  Hugo,  welcher  ex  eremita  Bischof  in  Nevers 
geworden  ist,  wird  1109—1121  angesetzt.  Ich  dachte  daran,  ob  Hugo  vorher 
Cistercienser  gewesen  sei.  Doch  P.  Gregor  Müller,  Herausgeber  der  Cistercienser 
Chronik,  bemerkte  dagegen  mit  Recht,  daß  1109  die  Abtei  Citeaux  noch  allein  stand 
und  solchen  Mangel  an  Personal  hatte,  daß  die  Erwählung  eines  der  Mönche  zum 
Bischof  sehr  auflfällig  gewesen  und  gewiß  berichtet  worden  wäre.        294  fol.  114» 

2.  Sp.        300  pascere  M:  parcerc  P       303  discere  M:  dfe  (dicere)  P      808  ne? 


zwei  Gedichte  zur  Geschichte  des  Cistercienser  Ordens  (I  Paganus).     395 

310     nee  tarnen  omnes  religiöses  esse  fatemur: 

Nee  ({uia  vestes  extenores  vilificemus, 
312     sed  quia  gratam  religione?;?  me^^tis  hahemus. 

Nöw  reprobam?(S  •  sed  veneramwr  religiöses, 
314     nee  venersunur'  sed  reprobamus  luxwriosos. 

Absit,  nt  illos  ore  proeaci  dedecoremi^c«?, 
316     q?/os  et  honestos  et  qwasi  sawc^os  non  dubitamws. 

Utilis  arbor  fruetibzis  ipsis  notificatwr: 
318     sed  sine  fruetu*  digna  ruina*  iure  crematMr. 

Jam  sapientifcwj  deeiperentwr  eorda  virorwm, 
320     sed  probat  illos  et  manifestat  {rnchis  eorum. 

^on  in  aeutis  uva  rubetis  viwdemiatt^r, 
322     spinaq/<e  üeiis  eäere  dulees  n^dla  videti/r. 

Rec  sine  fruetu  spina  per  orbe>/*  frnetifieavit ; 
324    iam  rubM,9  ad  se  cnneta  trahendo  nos  laceravit. 

Speniiti^r  omwis  vita  priorum,  dum  nova  surgit' 
326     tot?(5  et  orbis  "post  heremitas  esse  cue«*rrit. 

Munieipales  Sitqiie  potentes  hos  wenersiniur -, 
328     vulgus  adorat;  iam  quia  saneti  eoneelebrantur. 

S^  tarnen  horum  vita  vel  actus  disenciatur : 
330    non  erit  illis  mentis  honestas,  quanta  putatnr. 

Sepe  videntur  eo?^lacrimari  cum  tribulatis : 
332     sed  faeit  istud  gratia  lueri*  non  pietatis. 

Scripta  legentes :  que  didicerunt,  non  imitantnr ; 
334     recta  docentes :  que  docuerunt,  non  operantur. 

Fluxa  voluptas  *  laus  popularis  *  grandia  dona : 
336     hec  erit  illis  ultima  merces  atque  Corona, 

Non  babituris,  que  sicierunt,  gaudia  saneti, 
338     dum  perituri  gaudia  querunt  emolumenti. 

311  Non?        318  fruetu  M,  fructus  P        323  fructificavit  ist  irrtümlich  ge- 
setzt statt  fruticavit  (V.  214)         326  esse  P:   ecce?         328  fol.  114  b  1.  Sp. 
328   iam  quasi?         329   Si  Bist:   sed  P         331  cowtribulatis  P,   cum  tr.  M 
337  saneti  sanctorum  =  coeli. 


28* 


396  Wilhelm  Meyer, 

II 

De  mutatione  mala  ordinis  Cistercii. 

Das  folgende  Gredicht  steht  in  der  Handschrift  des  Britischen 
Museums,  Cotton  Julius  A  VII  f.  88^  bis  90^  Es  ist  im  14.  Jahr- 
hundert eingeschrieben  mit  der  speziell  englischen  rundlichen 
Cursivschrift ;  charakteristisch  ist,  daß  statt  der  horizontalen  Ab- 
kürzungsstriche ein  dicker  Punkt  steht,  von  dem  nach  rechts  eine 
dünne  Linie  ausgeht,  welche  sich  dann  nach  links  wie  ein  Halb- 
kreis über  dem  dicken  Punkte  wölbt. 

Der  Dichter  ist  ein  Engländer  gewesen;  er  war  nicht  nur 
gelehrt,  sondern  besaß  dichterische  Begabung.  Das  Cistercienser- 
kloster,  dem  er  angehörte,  lag  nicht  sehr  weit  von  London  (V.  176). 
Entstanden  ist  das  Gredicht  wohl  im  Ende  des  13.  Jahrhunderts, 
da  gerade  in  dieser  Zeit  das  Vorausverkaufen  der  Wolle  im  Cen- 
tralkapitel  des  Cistercienserordens  öfter  besprochen  worden  ist. 
Auch  die  hübsch  erfundene  Strophenform  spricht  gegen  spätere 
Entstehungszeit. 

(Inhalt)  Der  Dichter  klagt,  daß  in  England  (V.  5  nostris 
in  partibus)  der  Cisercienser  Orden  verfalle;  der  gute  alte  Greist 
sei  gewichen,  hauptsächlich  der  Eifer  für  Entsagung  und  freiwillige 
Armuth.  Infolge  dessen  blühten  die  andern  Orden  weit  mehr.  An 
diesem  Verfall  sei  besonders  der  große  Besitz  schuld.  Zu  junge 
Leute  würden  Mönche  und  Würdenträger  im  Orden,  zu  Ungebildete 
würden  Laienbrüder.  Hochmuth  und  Wohlleben  seien  deshalb  an 
die  Stelle  von  Demuth  und  Entsagung  getreten.  Besonders  werde 
Viehzucht  betrieben.  Dabei  hätten  sie  neulich,  als  durch  Seuchen 
viel  Vieh  gestorben  war,  die  Wolle  von  noch  nicht  geborenen 
Schafen  schon  auf  Jahre  hinaus  um  geringen  Preis  verkauft,  aber 
bei  ihrem  Aufenthalt  an  der  Londoner  Messe  dies  Geld  rasch  ver- 
braucht. Grott  möge  dies  Klagelied  in  ein  Freudenlied  verwandeln ! 
Der  Dichter  ist  offenbar  kein  Freund  der  großartigen  landwirt- 
schaftlichen Tätigkeit  gewesen,  wodurch  die  Cistercienser  dem 
nördlichen  Europa  ähnlichen  Segen  gebracht  haben,  wie  die  Schulen 
der  Benedictiner  dem  ganzen  Europa.  Grelingt  es,  unter  den  eng- 
lischen Cisterciensern  am  Ende  des  13.  Jahrhunderts  eine  derartige 
Discussion  nachzuweisen,  dann  wird  man  diesen  geistreichen  Mann 
unter  den  Gegnern  der  praktischen  Richtung  und  imter  den  eifrigen 
Verfechtern  von  Comtemplation  und  Askese  suchen  müssen. 

(Die  Wollverkäufe  der  englischen  Klöster.)  Die 
16.  Strophe,  welche  vom  Verkauf  der  Wolle  handelt,  bietet  große 
sachliche  Schwierigkeiten;    deshalb   muß  ich   auf   diese   Verkäufe 


zwei  Gedichte  z.  Geschichte  d.  Cistercienser^ Ordens  (11  De  mutatione  mala).     397 

etwas  eingehen^).  In  England  hauptsächlich  wurde  sehr  viele 
Wolle  für  die  Ausfuhr  producirt  und  zu  den  bedeutendsten  Pro- 
ducenten  gehörten  die  Klöster,  besonders  die  Klöster  des  Cister- 
cienser  und  des  Praemonstratenser  Ordens.  Deshalb  kamen  nach 
England  Käufer  aus  vielen  fremden  Ländern,  besonders  aus  Italien. 
Aus  vielen  praktischen  Gründen  war  es  für  diese  vom  Festland 
kommenden  Großhändler  sehr  erwünscht,  wenn  ein  Kloster  auf 
eine  bestimmte  Zahl  von  Jahren  sich  verpflichtete,  ihm  jährlich 
eine  bestimmte  Zahl  von  Säcken  Wolle  oder  auch  die  ganze  sich 
ergebende  Wolle  zu  einem  bestimmten  Preise  zu  liefern;  auch  für 
die  Klöster  war  es  vorteilhaft,  im  Voraus  des  Käufers  sicher  zu 
sein.  Es  lag  kein  Grand  vor,  in  einem  solchen  Fall  den  Preis 
für  den  Sack  Wolle  deshalb  niedriger  zu  setzen. 

Dagegen  bürgerte  sich  eine  andere  Sitte  ein.  Durch  Kriegs- 
steuern oder  durch  Brand  usw.  wurden  die  Klöster  oft  plötzlich 
zu  bedeutenden  Leistungen  gezwungen.  So  wurde  es  Sitte,  daß 
bei  dem  Abschluß  größerer  Verträge  der  Art  von  der  ganzen  erst 
im  Lauf  der  Jahre  fälligen  Kaufsumme  sogleich  ein  beträchtlicher 
Teil  als  Angeld  ausgezahlt  wurde.  Dieses  Angeld  wird  fast  bei 
allen  Verträgen  erwähnt  (vgl.  die  lange  Reihe  bei  Pagnini,  della 
decima  II  324).  Es  war  eine  gefährliche  Sache,  gleich  beim 
Abschluß  eines  solchen  Vertrags  die  ganze  erst  im  Lauf  mehrerer 
Jahre  fällig  werdende  Summe  auszuzahlen.  Whitwell  p.  10  sagt: 
It  was  worth  the  foreign  merchant's  while  to  pay  a  large  sum 
as  eamest,  or  even  to  pay  the  whole  price  in  advance  (see  below, 
p.  25).  Doch  in  dem  S.  25  erwähnten  Falle  handelte  es  sich  nur 
um  1,  kurz  darauf  fällige  Wolllieferung.  Dagegen  registrirt  der 
Calendar  of  Close  Roll  Edward  I,  vol.  I  p.  354,  folgenden  Ver- 
trag von  1276 :  der  Abt  von  Fountains  verpflichtet  sich,  1277  und 
1278  je  17  Sack  WoUe  zu  liefern,  1279  und  1280  je  14  Sack.    Tor 


1)  Die  Bestimmungen  der  General  -  Kapitel  des  Cistercienser  Ordens  über 
Wollverkauf  hat  Dolberg  'Cistercienser  Mönche  und  Conversen  als  Landwirte 
und  Arbeiter'  (in  den  Studien  und  Mitteilungen  aus  dem  Benedictiner-  u.  d.  Ci- 
stercienser-Orden  XIII,  1892,  S.  219)  zusammengestellt.  Den  Wollverkauf  der 
englischen  Klöster  bespricht^  R.  J.  Whitwell  'English  Monasteries  and  the 
Wool- trade  in  the  13  th  Century'  (in  der  Vierteljahrschrift  für  Social-  und 
Wirthschaftsgeschichte  II  1904  S.  1—33,  besonders  S.  10  11  25  28  29  33);  dann 
Adolf  Schaube  'die  Wollausfuhr  Englands  vom  Jahr  1273'  (in  derselben  Viertel- 
jahrschrift VI  1908  S.  39—72  und  159—185;  besonders  S.  170—175).  Auf  Whit 
well's  und  Schaube's  Arbeiten  hat  mein  Kollege  Walther  Stein  mich  aufmerksam 
gemacht;  er  bemerkte  auch,  daß  solche  Ankäufe  auf  Jahre  hinaus  bei  der  Hanse 
verboten  waren. 


398  Wilhelm  Meyer, 

this  wool  the  merchants  have  paid  before  hand  at  London  697^2 
marks  .  . ,  receipt  of  which  the  abbot  and  convent  acknowledge ; 
für  den  bedenklichen  Fall,  daß  das  Kloster  die  Wolle  nicht  liefert, 
werden  natürlich  besondere  Cautelen  geschaffen. 

Das  in  Südfrankreich  beschließende  Greneralkapitel  des  Cister- 
cienser  Ordens  hatte  natürlich  für  den  englischen  Wollhandel 
wenig  praktischen  Sinn  und  urteilte  mehr  nach  religiösen  Gesichts- 
punkten. In  den  Statuta  selecta  (Marlene  et  Durand,  Thesaurus 
novus  anecdotorum,  B.  IV  1717)  wird  schon  im  Jahre  1157  (no 
19)  und  1214  (no  4)  der  Handel  mit  Wolle  untersagt  (lanas  emere 
ut  carius  vendant),  wobei  1214  ausdrücklich  die  fratres  de  Anglia 
als  derartige  Spekulanten  genannt  werden;  1181  (no  10)  wird  der 
Vorverkauf  nur  für  1  Jahr  gestattet.  Dies  Verbot  wird  noch 
1277  (no  21)  einfach  erneuert.  Dagegen  in  den  beiden  folgenden 
Jahren  werden  bedeutende  Freiheiten  gewährt:  1278  (no  5)  und 
1279  (no  1):  lanae  poterunt  vendi  ad  terminos  longiores  et  maior 
quantitas  pecuniae  quam  valeant  uno  anno  recipi  (d.  h.  woM:  es 
darf  ein  größeres  Angeld  genommen  werden  als  ^ine  d.  h.  die 
erste  Jahreslieferung  wert  ist),  dum  tarnen  in  aliis  usibus  quam 
in  solvendis  debitis  a  quacumque  persona  ordinis  expendi  minime 
praesumatur. 

Einen  interessanten  Zusatz  bietet  die  Fassung  im  Nomasticon 
Cisterciense  (Solesme  1892)  p.  453:  Poterunt  lanae  nostrae  vendi 
ad  terminos  longiores,  non  tamen  carius  propter  hoc,  et 
maior  quantitas  pecuniae  recipi  quam  valeant  uno  anno,  dum  tamen 
in  aliis  usibus  dicta  pecunia  poni  quam  in  solvendis  debitis  a  qua- 
cumque persona  ordinis  minime  praesumatur.  Hieraus  erhellt,  was 
begreiflich  ist,  daß  die  großen  Klöster,  wenn  sie  sich  auf  Jahre 
hinaus  banden,  dafür  auch  etwas  mehr  per  Sack  sich  zahlen  ließen. 
So  wohl  erklären  sich  die  in  einem  Vertrag  von  1291  (Calendar 
of  Close  Roll  Edward  I,  vol.  III  p.  193)  festgesetzten  Preise: 
paying  for  the  first  three  years  18  marks  Sterling  for  each  sack 
of  good  wool*  14  marks  of  each  sack  of  medium  wool  and  10 
marks  for  each  sack  of  lock-wool,  and  for  the  following  ten 
years  21  marks  for  a  sack  of  good  wool"  14  marks  for  each 
sack  of  medium  wool  and  13  marks  for  each  sack  of  lock-wool. 
So  begreift  sich,  weshalb  das  Generalkapitel  ausdrücklich  ver- 
boten hat  4anas  emere  ut  carius  vendant'.  Denn  wenn,  wie  im 
erwähnten  Fall,  der  Käufer  sich  verpflichtet  all  the  wool  of  the 
house  of  Pippewell  abzunehmen  oder  wenn  er  auf  Jahre  hinaus  zur 
Abnahme  bestimmter  Massen  der  oft  berühmten  Klosterwolle  sich 
verpflichtet    und  dafür    einen   hohen  Preis   zahlt,    so    lag    für  die 


f 


zwei  Gedichte  z.  Geschichte  d.  Cistercieaser  Ordens  (II  De  mutatione    mala).     399 

Klosterleute  die  Versuchung  nahe,  fremde  und  billig  gekaufte 
Wolle  unterzuschieben,  also  einen  Betrug  zu  begehen. 

Wie  oben  gesagt,  ist  die  Verfügung  des  Greneralkapitels  von 
1277  sofort  durch  Beschlüsse  von  1278  und  1279  abgeändert  worden. 
Das  hat  wohl  die  energische  Einsprache  der  englischen  Mitglieder 
des  Greneralkapitels  bewirkt.  Denn  durch  jene  starken  Correcturen 
von  1278  und  1279  wurde  das  Ordensrecht  dem  in  England  all- 
gemein giltigen  Handelsgebrauch  für  Wo  11  verkaufe  ziemlich  nahe 
gebracht.  Dieser  Grebrauch  war  also  folgender :  die  großen  eng- 
lischen Klöster  verpflichteten  sich  gegen  Grroßhändler  oder  deren 
Vertreter  auf  eine  Reihe  von  Jahren  (bis  zu  14  finden  sich  ge- 
nannt) hinaus,  ihnen  jedes  Jahr  entweder  ihre  ganze  Wolle  oder 
eine  bestimmte  Zahl  Säcke  von  ihrer  Wolle  zu  einem  im  voraus 
bestimmten  Preise  zu  liefern;  dieser  Preis  war  meistens  etwas 
höher  als  der  gewöhnliche.  Der  Käufer  zahlte  meistens  beim  Ab- 
schluß des  Vertrages  einen  beträchtlichen  Teil  der  im  Lauf  der 
Jahre  sich  ergebenden  Summe  im  Voraus  als  Angeld;  sehr  selten 
zahlte  er  schon  beim  Vertragsabschluß  den  ganzen  Preis  für  alle 
in  den  künftigen  Jahren  zu  liefernde  Wolle. 

Schwierig  ist  es,  mit  diesem  allgemein  giltigen  Grebrauche  bei 
Wollverkäufen  in  England  die  Worte  des  folgenden  Gredichtes  zu 
vereinigen  (Str.  15/16) :  Et  statim  successere  Pestes  *  agri  steri- 
litas  et  pecorum  mortalitas ;  et  ceperunt  egere.  Tum  stulti  sta- 
tuere  lanam  vendi  pre  manibus  de  nondum  natis  ovibus  et  pretium 
sumpsere  decem  pro  centum  fere.  Quod  querendo  Londoniis  et 
nundinarum  feriis  parumper  expendere;  retrorsum  abiere.  Pre 
manibus  ist  =  before  band,  in  advance ;  vgl.  Murray,  New  English 
Dictionary  I  764  "prae  manibus  used  in  ME  as  =  'before  band', 
in  anticipation".  'Querendo'  verstehe  ich  nicht;  es  kann  ja 
gleich  'querentes'  sein.  Doch  weder  querentes  =  lamentantes  noch 
quaerentes  gibt  mir  einen  genügenden  Sinn;  man  erwartet  ein 
Wort,  wie  morando.  Oder  könnte  expendere  =  expenderant  ge- 
dacht sein:  'nach  einem  Käufer  in  London  auf  der  Wollmesse 
suchend  hatten  sie  fast  so  viel  Geld  schon  verbraucht'?  Dann 
gehört  quod  sowohl  zu  quaerendo  als  zu  expendere.  'Parumper' 
scheint  zu  bedeuten  'in  kurzer  Zeit'.  Zunächst  ist  sicher,  daß 
diese  Mönche  ihre  Wolle  auf  Jahre  hinaus  verkauft  haben,  und 
daß  sie  für  alle  die  einst  zu  liefernde  Wolle  gleich  jetzt  schon 
den  ganzen  Verkaufspreis  erhalten  haben.  Daß  deshalb  ihnen  für 
den  Sack  weniger  gezahlt  wurde  als  sonst  gewöhnlich,  das  ist 
begreiflich;  aber  die  Angabe  des  Gredichtes,  'decem  pro  centum'  d.  h. 


400  Wilhelm  Meyer, 

nur  ein  Zehntel  des  gewöhnliclien  Preises  hätten  sie  erhalten,  ist 
ungeheuerlich. 

Eine  andere  Schwierigkeit  ist  folgende:  in  den  Strophen  3—9 
wird  die  Cisterciensis  Religio  angesprochen,  wird  ihr  der  Nieder- 
gang des  Ordens  vorgehalten  und  geschlossen  mit  der  xlufforderug 
V.  99:  si  nosti  causam,  dicas.  Die  Eeligio  antwortet  mit  den 
Strophen  10—18;  sie  schiebt  die  Schuld  auf  (V.  100)  die  ampla 
nimis  possessio  etc.  All  ihre  Anklagen  sind  allgemein;  sie  sind 
durch  V.  5  'nostris  nunc  in  partibus'  auf  die  englischen  Cister- 
cienserklöster  beschränkt,  aber  sie  können  durchaus  nicht  auf  ein 
besonders  Kloster  bezogen  werden.  Zuletzt  wird  die  Vorliebe  für 
Viehzucht  geschildert  V.  163:  spem  totam  posuere  in  brutis  ani- 
malibus,  bobus  equis  et  ovibus,  quibus  abundavere.  Auch  diese 
Worte  passen  auf  die  englischen  Cistercienserklöster  im  Allge- 
meinen. Aber  die  unmittelbar  folgende  Schilderung  des  Woll- 
verkaufs kann  nicht  allgemein  gemeint  sein.  Denn  die  Wolle 
verkaufenden  Cistercienser  Klöster  in  England  waren  viele  (wie 
schon  die  von  Schaube  S.  174  und  175  erwähnten  Verzeichnisse 
derselben  beweisen),  und,  wenn  auch  London  schon  damals  ein  be- 
deutender Handelsplatz  war,  so  hatte  es  doch  nicht  ein  Monopol 
für  den  Wollhandel,  sondern  die  Mönche  lieferten  ihre  Wollballen 
in  den  nächsten  Exporthafen.  Also  konnte  kein  vernünftiger 
Mensch  sagen,  in  einem  Jahre  der  Not  seien  die  Aebte  der  eng- 
lischen Cistercienserklöster  nach  London  auf  den  Wollmarkt  ge- 
kommen und  hätten  da  auf  mehrere  Jahre  ihre  Wolle  verkauft, 
ßich  sogleich  den  Preis  für  die  ganze  Wolle  auszahlen  lassen,  aber 
einen  so  niedrigen,  daß  er  von  den  Reisekosten  fast  ganz  ver- 
schlungen worden  sei. 

Der  entrüstete  Dichter  übertreibt  ja  offenbar  (decem  pro  cen- 
tum,  de  nondum  natis),  allein  seine  Worte  als  für  den  ganzen 
Orden  giltige  historische  Angabe  gefaßt  würden  einen  Unsinn  er- 
geben. Ich  fasse  die  Entwicklung  der  Gedanken  so :  der  Dichter, 
überhaupt  ein  Gegner  der  erwerbenden,  besonders  der  landwirt- 
schaftlichen Tätigkeit  der  Cistercienser,  tadelt  zuletzt,  daß  die 
englischen  Cistercienser  sich  zu  sehr  mit  Viehzucht  abgäben.  Nun 
war  ihm  ein  krasser  Fall  zu  Ohren  gekommen :  daß  ein  Kloster  in 
seiner  Not  seine  Wolle  sehr  ungünstig  verkauft  habe  und  daß  die 
betreffenden  Mönche  nur  wenig  Geld  ins  Kloster  gebracht  hätten  ^). 


1)  Es  ist  möglich,  daß  der  Dichter  falsch  berichtet  war,  und  daß  diese 
Mönche  nur  ein  Angeld  (decem  pro  centum)  erhalten  und  dies  für  Bezahlung 
einer  dringenden  Schuld  oder  für  notwendige  Ankäufe  in  London  verwendet  hatten. 


zwei  Gedichte  z.  Geschichte  d.  Cistercienser  Ordens  (II  De  mutatione  mala).     401 

Diesen  Einzelfall  schiebt  der  Dichter  als  hochrhetorischen  Schluß 
an  das  Ende  seiner  düsteren  Schilderung,  ohne  ihn  als  Einzelfall 
zu  bezeichnen.  'Stulti'  in  V.  171  kann  ja  Beides  bezeichnen,  so- 
wohl Thoren  (=  aliqui  stulti)  als  'die  Thoren'  (=  hi  stulti,  welche 
ich  bisher  geschildert  habe). 

So  ist  wohl  dieser  schwierigste  Teil  des  Gredichtes  zu  ver- 
stehen. Aber  offenbar  war  der  Dichter  dagegen,  daß  sein  Orden 
sich  besonders  mit  Viehzucht  befaßte  und  mit  Wollverkäufen  viel 
Geld  verdiente.  Da  nun  in  den  Generalkapiteln  von  1277 — 1279 
über  diese  Wollverkäufe  der  englischen  ElÖster  lebhaft  verhandelt 
wurde,  so  ist  wahrscheinlich  unser  Gedicht  in  der  Zeit  dieser  er- 
regten Discussion  entstanden. 

Die  Formen  des  Gedichtes  passen  in  den  Schluß  des  13.  Jahr- 
hunderts, da  sie  noch  ziemlich  feine  sind.  Das  Gedicht  ist  aus 
2  Zeilen  aufgebaut:  dem  Achtsilber  mit  steigendem  Schlüsse,  8u_, 
und  dem  Siebensilber  mit  sinkendem  Schlüsse,  7  _  u.  Diese  beiden 
Zeilen  haben  den  gleichen  rythmischen  Bau  der  ersten  6  Silben, 
d.  h.  es  werden  die  Silben  nur  gezählt  und  der  daktylische  Wort- 
schluß ziemlich  gemieden. 

In  den  97  Zeilen  zu  8u_  und  in  den  100  Zeilen  zu  7_u  ist 
die  6.  Silbe  stets  betont,  also  die  5.  unbetont.  In  den  4  ersten 
Silben  ist  die  jambische  Schablone  eingehalten  in  etwa  56  Acht- 
silbern und  in  76  Siebensilbem :  dum  verus  ciiltor  nominis ,  ni- 
grescit  nitor  clarus.  Taktwechsel  ist  also  zugelassen  in  41  Acht- 
silbern und  in  24  Siebensilbem ;  davon  sind  auf  der  1.  und  3.  Silbe 
betont  34  Achtsilber  und  13  Siebensilber:  dülcis  ordo  Cistercii, 
aquam  vörtis  in  vinum;  auf  der  1.  und  4.  Silbe  betont  sind  7 
Achtsilber  und  3  Siebensilber :  metis  de  magnis  prediis,  decem  pro 
centum  fere.  In  8  Siebensilbem  ist  es  unsicher,  ob  die  3.  oder 
die  4.  Silbe  Nebenaccent  hat:  81  (cives  et  palatini),  118  (cepi  in- 
placitare),  141,  152,  166;  dann  in  66  paüperes  devenere,  80  rhe- 
tores  et  divini,  158  filii  consumpsere ;  wird  in  den  3  letzten  Versen 
die  4.  Silbe  accentuirt,  so  tritt  daktylischer  Wortschluß  voran 
(paüpSres),  der  sonst  in  dem  Gedicht  sich  nicht  findet;  deshalb  ist 
wohl  die  3.  Silbe  mit  Nebenaccent  zu  betonen:  paüperes  devenere. 

Hiate  finden  sich  in  den  197  Zeilen  in  mäßiger  Zahl:  3  starke, 
wie  70  si  causa  egestatis,  86  qui  facti  mundo  exules,  118  cepi 
inplacitare;  11  leichte:  vor  et  4,  ex  1,  es  1,  in  8;  dann  1  nach  tn 
und  1  nach  de. 

(Strophen)  Diese  Achtsilber  und  Siebensilber  werden  in 
einfacher  Weise  zu  Strophen  zusammen  gestellt.  Von  den  18 
Strophen  ist  eine,  die  17.,  unvollständig,   14  sind  elfzeilig,    3  sind 


402  Wilhelm  Meyer, 

zwölfzeilig.  Die  14  Strophen  haben  das  Schema:  8  u_aa  7  _ubb, 
8u_cc  7_ubb,  8u_ee  7-^ub;  die  3  Strophen,  die  10.  15.  und 
16.,  haben  am  Schlüsse  7—ubb.  Eine  so  aus  Paaren  von  stei- 
genden Achtsilbern  und  Paaren  von  sinkenden  Siebensilbern  auf- 
gebaute Strophe  ist  mir  sonst  nicht  bekannt  geworden :  der  Dichter 
scheint  sie  selbst  erfunden  zu  haben.  Auch  für  die  merkwürdige 
Tatsache,  daß  in  3  Strophen  am  Schluß  eine  Zeile  zugesetzt  ist, 
welche  in  14  Strophen  nicht  steht,  kenne  ich  keinen  zu  ver- 
gleichenden Fall.  Man  sollte  nach  der  4.  und  nach  der  8.  Zeile 
jeder  Strophe  stärkere  Sinnespausen  erwarten,  so  daß  die 
Strophe  in  a  +  a  +  b  geteilt  wäre.  Allein  ich  finde  keine  Regel- 
mäßigkeit der  Sinnespausen  ;  der  Dichter  scheint  an  gesangsmäßige 
Recitation  seiner  Strophen  nicht  gedacht  zu  haben.  Besonders 
seltsam  ist,  daß  V.  167  und  168  zusammenhängen. 

Der  Reim  ist  stets  zweisilbig  (außer  o4  35  religio  :  video) 
und  stets  rein.  In  den  Strophen  15,  16  und  17  haben  alle  Sieben- 
silber den  gleichen  Reim  ere. 


De  mutac/one  mala  ordinis  Cistercii. 

1  2 

Dulcis  ordo  Cistercii,  Beata  es  Burgu»dia, 

duduw  ca^dens  ut  lilii  ubi  pafris  pr^sencia 

flos  marcoris  ignar?(5,  suos  se/ vat  insontes. 

4     deo  et  mundo  carws,  15     et  utina/;<  trans  mowtes 

heu  no5^ris  nunc  in  partib?/^  gubernet  et  in  Grrecia 

ölet  vilis  homhiihus  i'ratres,  et  ne  in  Francia 

et  deo  fit  amarus.  fraus  faciat  effro^^tes!, 

8     nigrescit  nitor  clar^/5  19     q^^a  fallit  Demofontes 

et  ha^itus  et  nominis,  iam  Phillidem  in  Anglia. 

dum  verus  cultor  ordinis  su«t  testes  monasteria 
11     hie  reperitur  rarus.  22    tam  eis  quam  ultra  montes. 

13   patris   d.  h.  des  Abtes  im  Staramkloster  Cisterz  19  Auf  der  Heim- 

fahrt von  Troia  schloß  Demophon  in  Thracien  mit  Phyllis  einen  Liebesbund; 
dann  verließ  er  sie  und  sie  tödtete  sich ;  vgl.  Ovid.  Her.  H.  Mit  Demophon  müßte 
die  verführende  Habsucht  gemeint  sein. 


zwei  Gedichte  z.  Geschichte  d.  Cistercienser  Ordens  (II  De  mutatione  mala).     403 


Heu,  qua«?  male  preposteras, 
duduwi  transcendens  ceteras, 
Cistersiensis  vita! 

26     q^<am  sanctus  cenobita 
'Bened.ictns  instituit 
et  in  Bemardo  claruit 

tot  signis  redimita. 

30     in  Rahma  laus  audita 
de  te  et  mu/^do  celebris 
fusca  latet  in  tenebris 

33     et  pene  nunc  oblita. 


6 
Paupertas  volu^ztaria, 
non  coacta  miseria, 

novit  deo  placere 
59     per  viam  vite  vere. 
neqi/e  plebis  abiectio, 
set  -proceruni  electio 

sancti  -patves  fuere, 
63     q^d  te  primu»?  sanxere; 
qui,  spreta  muwdi  gloria, 
se  negawtes  et  omnia. 
66     pauperes  devenere. 


0  preclara  religio, 
in  te  vincit,  ut  video, 
caritatem  cupido, 

37     castitatem  libido. 
spes  cedit  avaricie. 
non  est,  qwi  dieat  hodie 
'in  dLotnino  confido'. 

41     abicitur  formido. 
memewto :  mujzdu;;^  tempseris ! 
amas  tamew  et  tempneris, 

44     ut  ab  Enea  Dido. 

5  (fol.  89-) 
De  virtute  in  viciu»/ 
tendis,  dum  vellus  oviuwi 

transmutas  in  lupinum 
48     et  lana  fit  ut  linuw«. 
manna  in  esum  carniu»i, 
et  olus  in  cow  vivium, 

aq«am  vertis  in  vinum, 
52     et  iTigns  in  caminum 
ac  IdjhoTem  in  ociu»?, 
et  totum  in  cotitrarium 

55     rescriptu?;i  ßernardinum. 


In  niu?2do  q^d  nil  ha&uit, 
vellet  tarnen  n?c  potuit, 

non  est  egenus  gratis. 

70  si  caussi  egestatis 
hie  monachus  efficit?(r, 
heatus  num  putabit^<r 

pretextu  paupe/tatis? 

74     no^^  vox  est  veritatis?: 
heatus  paupe^*  sipiriin, 
neque  victu  vel  hafeitu, 

77     ^et  cui  Christum  est  satis. 


En  sophiste*  gramatici* 
iuriste*  diale(c)tici  • 

rethores  et  divini* 

81     cives  et  palatini 
et,  (\iioi(]iioi  mu??dum  fugiuwt, 
te  tempnuwt  et  deveniunt 
Minores*  Jacobini 

85     et  frö^res  Aug^fstini, 
qui*  iaeti  mundo  exules* 
pape  fiunt  et  presules 

88     et  principu?n  vicini. 


42  Citat  aus  der  Regula?         60  =  plebei  abiecti,  sed  proceres  electi;  vgl. 
12,  2  u.  4  68  =  qui  tarnen  habere   vellet  (voluit)  75  Matth.  5,  3  beati 

pauperes  spiritu.        79  dialetici  Hft        84  Jacobini  d.  h.  Dominicani  (Jacobitae). 


404 


Wilhelm  Meyer, 


9 
Discerpunt  hii:  tu  g^^nninas, 
Tili  colligu>it:  tu  seminas, 

hii  rosas:  tu  Urticas, 
92     hii  vites:  tu  miricas. 
metis  de  magnis  prediis: 
metuwt  et  de  inediis 

hii  pa>?es  et  tu  micas. 
96     habuwdant:  tu  mewdicas; 
pinguescuwt  ex  iwopia: 
marcescis  tu  ex  copia. 

99     si  nosti  causam,  dicas. 
10 
Ampla  nimis  possessio 
et  reru^i  delectacJo 

fecerunt  s«i?erbire 
(f.  89^)  me  et  plura  sitire. 
invaluit  ambicio. 
evanuit  devoc^o, 

et  cepi  lascivire* 
107     delicias  glutire. 
surrepsit  vana  gloria. 
hinc  (m)cepi  celestia 

paulatim  fastidire* 
111     de  bonis  resilire. 
11 
Abcessit  a  me  sanctitsiS' 
pax*  amor  et  fidelitas, 

et  cepi  trans  volare 
115     ad  foru/;i  seeklare, 
qedcquid  vidi*  desiderans, 
facta.  domM6'  exasp<?rans, 
cepi  implacitare 
119     vicinos  et  gravare, 
exosos  htt2;ens  pauperes 
et  öolum  inter  proceres 
122     me  putans  sine  pare. 


12 
S[c]ensatos  a  me  repuli 
et  plebeis  mefis]  co^tuli, 
insipienter  egi. 
126     plebis  abiectos  [e]legi 
et  hominum  obp>obriuw« ; 
et  SIC  in  exterminiu/>i 

precipita??s  inpegi. 
180     ex  premissis  coUegi: 
religionis  gloriam 
no«  posse  per  insaniawi 
133     et  ydiotas  regi. 
13 
Fit  monachus  de  puero, 
conYersiis  de  gar  eifere, 

et  hii  mei  magnates 
137     mox  fiuwt  et  [subito]  pri- 
dum  paer  puerilia,  [mates  ; 

vult  garcio  scurilia. 

tum  domi<6-  potestates 
141     ha6ent  ad  volu?2tates 
Daxmz  niztet  (?)  cellerarius, 
frer  folet  grangiari«5, 
144     sol  fa  sunt  claustriuates» 

14 

Et  hii  non  ipenitencie 
causa,'  set  indigencie 

tunc  ad  me  (con)venerawtr 

148     qiwd  bene  probaveruwt. 
dum  cucullawi  pro  sacculo* 
palefridum  pro  baculo 

intrantes  mutaveru)^t : 

152     colla  mox  erexer?*nt, 
auru?«  meum  in  scoriam 
et  fama//i  in  infamia;/^ 

155     mutantes  transtulenmt. 


89  discerpere  gebraucht  die  Vulgata  vom  zerreißenden  und  fressenden  Tieri 
hier  scheint  es  zu  bedeuten:  Früchte  abbrechen  und  pflücken.  92  vgl.  Plin.  24 
myricen  .  ,  vulgus  infelicem  arborem  appellat,  quoniam  nihil  ferat  103  scitire 
Bft.  109  cepi  Hft.  123  Scensatos  Hft  124  meis  Bft.  126  elegi  Hß. 
137  subito  Hft.        142—144  diese  zum  Teil  französischen  Verse   habe  ich  nicht 


zwei  Gedichte  z.  Geschichte  d.  Cistercienser  Ordens  (II  De  mutatione  mala).     405 


15 
Qwod  patres  pridem  strenui 
qwesierawt,  hü  fatui 

filii  conswn-psere. 
159     nam  pigri  noluere 
arare  neque  fodere, 
laborawtes  (f.  90*)  in  bibere 
tarn  hyeme  quam  vere. 
163     spem  totam  posuere 
in  brntis  SinimBlihns, 
bobw5*  eqwis  et  ovihus, 

qidhus  habu>?davere. 
167    Et  statim  successere 
16 


pestes*  agri  sterilitas 
et  pecorum  mortalitas, 
et  ceper^mt  egere. 
171     tum  stulti  statuere 
lanam  vendi  pre  ma>2ibus 
de  nondum  natis  ovihus, 

et  -precimn  suw^psere 
175     X  pro  C  fere. 
qwöd  q^(erendo  Londoniis 
et  nundinarwu  feriis 

parumpcr  expendere. 
179     retrorsum  abiere. 


17 
Dum  Christi  ^atTimoniwn 
agewtes  mercimoniuwi  * 

in  nichil  redigere, 
183     premissa  patuere. 
et  seq?(itur  cowclusio: 
sie  periit  religio; 
186     res  sim?d  periere. 


18 

Eeligio  mmc  conqueritur 

auxiliuwi  dei  implora>^s: 

Si  fas,  hunc  psalmuwi  deseram 

^Miserere',  naw^  miseram 

me  dat  dum  'dealbabor' 
190     'ysopo  et  mundabor' 
*et  asperges  me'  'domme' 
meo  regnawt  in  ordi/?e, 

in  nichilum  dilabor. 
194     set  deam  deprecabor, 
ut  'dealbabor'  deleat 
et  det,  Salomo^  ut  redeat: 
197     aut  nu^^q^mm  relevabor. 
Amen. 


verstanden;    es  gibt  ein  von  sol  fa  gebildetes  Zeitwort.         147  venerunt  Hft. 
158  vgl.  Isaias  1,  22  argentum  tuum  versum  est  in  scoriam. 

161  =  in  bibendo  167—179  siehe  S.  399  nach  V.  183  scheinen  4  Zeilen 
ausgefallen  zu  sein.  187  in  dieser  Strophe  sind  Stellen  des  50.  Psalmes  benützt: 
1  miserere  mei  deus,  9  aspergas  me^  hyssopo  ^et  mundabor.  lavabis  me  et  super 
nivem  dealbabor.  V.  188—192  'dum  dat  .  .  et  regnant'  scheint  Vordersatz,  193 
Nachsatz        196  Salomon  scheint  =  sapientia  zu  sein. 


Quondam   fuit  factus  festus 
ein  Gedicht  in  Spottlatein 

herausgegeben 

von 

Wilhelm  Meyer  ans  Speyer 

Professor  in  Göttingen. 
Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  25.  Juli  1908. 

Die  Verfasser  der  Epistolae  obscnrornm  virornm  verspotteten 
die  von  ihnen  verhöhnten  Universitätsleute  des  alten  Schlages  auch 
dadurch,  daß  sie  dieselben  sehr  unbeholfenes  Schülerlatein  schreiben 
ließen.  Dies  Mittel,  Menschen  oder  Dinge  nicht  nur  durch  den 
Inhalt  und  die  Gedanken  der  Rede,  sondern  schon  durch  die  sprach- 
liche Form  zu  charakterisiren ,  findet  sich  in  der  antiken  griechi- 
schen und  lateinischen  Literatur  verhältnißmäßig  selten  angewendet. 
Die  Griechen  der  älteren  Zeit  haben  ernsten  lyrischen  Dichtungen 
oft  den  dünnen  Schleier  dorischer  Dialektformen  übergeworfen, 
epischen  einen  Anflug  homerischer  Formen;  doch  die  Herrschaft 
der  xoLvti  hat  auch  diese  Unterschiede  meistens  verdrängt.  Die 
Deklamatoren,  welche  in  den  Wirthsgärten  Roms  das  Volk  unter- 
hielten, haben  gewiß  oft  gespottet  über  die  Typen  von  Bauern, 
welche  aus  den  verschiedenen  benachbarten  Landschaften  in  Rom 
auftraten  und  haben  gewiß  dabei  auch  deren  Dialekt  nachgemacht; 
allein  die  uns  erhaltene  Literatur  folgt  durchaus  den  späten 
Griechen,  und  außer  dem  Punier,  der  bei  Plautus  einige  Verse  in 
punischer  Sprache  spricht,  ist  mir  keine  ähnliche  Sprachmalerei 
erinnerlich.  Aus  dem  klassischen  Alterthum  haben  also  die  Ver- 
fasser der  Epistolae  obscurorum  virorum  ihr  Stilmittel  nicht  geholt. 

Im  lateinischen  Mittelalter  sind  in  der  gothischen  Zeit  Mac- 
caronigedichte  nicht  selten,  d.  h.  Gedichte,  in  welchen  mit  den 
lateinischen  Kurzzeilen  solche  in  deutscher,  französischer  oder  eng- 


Quondam  fuit  factus  festus,  ein  Gedicht  in  Spottlatein.  407 

lischer  Sprache  gemischt  sind  oder  wo  in  den  lateinischen  Text 
nur  einzelne  Ausdrücke  aus  einer  solchen  nationalen  Sprache  ein- 
gesetzt sind.  Doch  das  hat  mit  jenem  Kunstmittel  wenig  zu  thun. 
Wie  bei  Plautus  der  Punier,  so  tritt  in  einem  Weihnachtspiel  des 
12.  Jahrhunderts  einer  der  Könige  aus  dem  Morgenlande  mit  seiner 
Heimathsprache  d.  h.  mit  einem  Kauderwelsch  auf. 

Näher  steht  dem  stilistischen  Kunstgriff  der  Epistolae  der 
Kunstgriff,  welcher  in  den  beiden  hier  zu  besprechenden  Gredichten 
angewendet  ist.  Beide  schildern  Scenen  des  niedrigsten  Mönchs- 
lebeas  in  der  niedrigsten  Sprache;  alle  Gesetze  der  Declination 
und  Konjugation  und  natürlich  noch  mehr  die  Gesetze  der  Syntax 
sind  hier  verhöhnt :  tua  frater,  tuus  mater,  tuum  pater ;  ego  stabat  ; 
bipsi;    irascatus   ad   priorum   dixit   usw  usw.  Das   Latein   der 

Epistolae  ist  viel  besser.  Dies  ist  schlechtes  Schülerlatein  und 
zwar  deutscher  Schüler.  Es  wimmelt  einerseits  von  den  beim 
Unterricht  unvermeidlichen  technischen  Ausdrücken,  anderseits  von 
Germanismen.  Schon  diese  letzteren  zeigen,  daß  das  Latein  der 
Epistolae   in   seinen   Einzelheiten  deutsches   Fabrikat  ist.  Das 

wichtigste  der  beiden  folgenden  Gedichte,  der  Streit  des  Prior's 
und  des  Mönchs,  ist  fremden,  wahrscheinlich  englischen  Ursprungs : 
allein  es  war  weit  verbreitet.  Ich  habe  bis  jetzt  2  englische,  1 
französische  und  je  1  süddeutsche  und  schlesische  Handschrift  des 
14.  und  des  15.  Jhdts  gefunden,  und  sicher  werden  noch  manche 
Abschriften  desselben  auftauchen.  Deßhalb  kann  leicht  dies  Gedicht 
die  Verfasser  der  Epistolae  zur  Wahl  jenes  stilistischen  Kunst- 
mittels veranlaßt  haben.  Wie  dort  Mönche  im  jämmerlichsten 
Mönchslatein  sich  zanken  über  ihre  Angelegenheiten ,  so  schreiben 
hier  altmodische  Gelehrte,  die  Eeinde  der  Humanisten,  im  schlech- 
testen deutschen  Schülerlatein  über  das,  was  sie  lieben  und  hassen. 

(Inhalt)  Es  zanken  sich  der  Prior  und  einer  seiner  Mönche, 
canon  genannt  (wohl  eine  Abkürzung,  vgl.  17, 1  Nunc  tu  es  cano- 
nizatus).  An   einem  Festtage,    wohl  Ostern,   trinken   der  Abt 

und  der  Prior  mit  einander.  Der  gutmüthige  Abt  will  auch  dem 
Convent  für  die  Plage  des  vielen  Singens  und  Betens  in  der 
letzten  Zeit  einen  guten  Trunk  geben  lassen ;  doch  der  Prior  wider- 
spricht (Str.  1—7). 

[In  der  Hft  H  sind  hier  2  Stücke  eingeschoben :  1)  (Str.  67—78) 
wird  der  Disput  des  Abtes  und  Priors  und  ihr  sinnloses  Saufen 
geschildert,  2)  (Str.  79 — 87)  wie,  darüber  benachrichtigt,  der  Bischof 
und  seine  geistlichen  Räthe  verhandeln,  aber  nur  milde  strafen.] 

Der  Canon  hört  zu  und  macht  dem  Prior  Vorwürfe  über  seine 
Härte  (Str.  8—14). 


408  Wilhelm  Meyer, 

Der  Prior  hält  dem  Canon  vor,  wie  gut  Essen  und  Trinken 
er  jetzt  habe  und  welcher  Tropf  er  früher  als  Schreiber  gewesen 
sei.  (Str.  15 — 19).  [In  der  Hft  H  folgt  noch  eine  kleine  Fort- 
setzung der  Strafpredigt  (Str.  88—94),  und  damit  endet  diese 
Handschrift.] 

Ergrimmt  schildert  der  Canon,  welch  schimpfliches  Leben  der 
Prior  früher  geführt  habe  und  wie  hochmüthig  er  im  Kloster  ge- 
worden sei.     (Str.  20—28). 

Der  Prior  hält  dem  Canon  vor,  welcher  Hungerleider  er  früher 
gewesen  sei.     (Str.  29  ffl.).  Nach  Str.  36  läßt   die  Hft  B  mit 

einigen  Sehlußstrophen  (96 — 98)  den  Streit  unversöhnt  schließen 
und  endet  damit.  Dagegen  in  den  beiden  Hften  C  und  M  (und  W) 
geht  der  Zank  noch  viel  weiter  (Str.  37 — 66).  Zunächst  schimpft 
der  Prior  weiter  über  die  Familie  und  über  die  frühere  armselige 
Lebensweise  des  Canon  (Str.  37 — 49). 

Dagegen  prahlt  der  Canon  mit  seiner  guten  Abkunft  und 
seinem  früheren  eleganten  Leben  (Str.  50—62). 

Endlich  bittet  der  Prior  den  Canon  um  Entschuldigung.  Beide 
versöhnen  und  küssen  sich  (Str.  63 — 66). 

(Verfasser)  Das  Gedicht  ist  spätestens  in  der  ersten  Hälfte 
des  14.  Jahrhunderts  entstanden,  da  die  Harleyer  Handschrift  (H) 
in  dieser  Zeit  geschrieben  ist.  Da  aber  diese  Handschrift  schon 
einen  stark  veränderten  Text  bietet,  so  kann  das  Gedicht  schon 
im  13.  Jahrhundert   entstanden  sein.  Die   Heimath   des  Ge- 

dichtes ist  gewiß  England,  wo  im  13.  und  14.  Jahrhundert  Humor 
und  Satire  eine  Heimath  gehabt  zu  haben  scheinen  wie  in  keinem 
andern  Lande.  Denn  als  Name  des  Klosters  werden  (Str.  1,3)  in 
der  Hft  C  Leycestris  und  in  H  Glowcestrus  genannt,  also  leib- 
haftige Namen,  während  in  der  französischen  Hft  B  Clocestum 
steht  und  in  der  süddeutschen  M  Cocletestus,  also  nur  ein  undeut- 
liches Echo  der  englischen  Namen.  Zu  England  paßt  auch  die 
Cervisia  frumentea  (18,  2).  Nur  in  der  Handschrift  C  finden  sich 
einige  englische  Wörter:  23,  3  groyvum;  25,  1  caytyff;  33,  3  watty 
mentum;   diese  beweisen  also  nur  die  Heimath  dieser  Abschrift. 

Handschriften   und   Ausgaben  Schon    die  Inhalts- 

übersicht hat  gezeigt,  wie  verschieden  die  einzelnen  Handschriften 
sind.  Das  ist  natürlich.  Denn  wenn  schon  Romane,  wie  der  von 
Alexander  oder  von  Apollonius,  in  den  Hften  außerordentlich  ab- 
weichende Texte  aufzeigen,  weil  die  Schreiber  diese  Texte  als 
freies  Gut  ansahen,  das  sie  nach  ihren  eigenen  Kräften  verschönem 
durften,  wenn  aus  denselben  Gründen  auch  schon  in  alter  Zeit  die 
Texte  von  Predigten   und  von  Heiligenleben   stets   verschönernd 


Quondam  fuit  factus  festus,  ein  Gedicht  in  Spottlatein.  409 

Timgearbeitet  worden  sind,  wie  viel  mehr  Freiheit  erlaubten  sich 
die  Abschreiber  mit  diesem  burlesken  Texte!  Es  ging  damit,  wie 
mit  den  spaßhaften  Greschichten ,  welche  Jeder,  der  sie  weiter  er- 
zählt, anders  erzählt. 

So  steht  es  in  den  Hften  dieses  Gredichtes.  Außerordentlich 
viele  Ausdrücke  sind  geändert ;  Strophen  sind  weggelassen ,  zu- 
gesetzt, umgestellt.  Ja,  ganze  Partien  sind  zugedichtet.  So  sind 
z.  B.  in  M  die  Strophen  31 — 36  zwischen  die  Strophen  19  und  20 
umgestellt ;  in  H  sind  nach  der  3.  Strophe  20  Strophen  und  nach 
der  18.  Strophe  6  Strophen  zugesetzt.  Und  vielleicht  ist  in  C 
und  M  (und  W)  die  ganze  Masse  der  Strophen  37 — 66  spätere  Zu- 
dichtung.  Diese  Verhältnisse  machen  die  Herstellung  einer  Aus- 
gabe sehr  schwierig,  doch  sie  erschweren  wenig  das  Urtheil  über 
dies  Denkmal  der  mittellateinischen  Literatur.  Denn  der  Geist, 
welcher  hier  den  Grundstein  gelegt  hat,  ist  derselbe,  welcher  daran 
weiter  gearbeitet  hat:  der  derbste  Mönchshumor. 

Von  den  Abschriften  sind  offenbar  sehr  viele  verloren  ge- 
gangen oder  mir  unbekannt  geblieben.  Denn  ein  Stammbaum  der 
Hften  läßt  sich  noch  nicht  aufstellen.  Stimmen  z.  B.  C  und  M  in  der 
Masse  der  Strophen  mit  einander  überein,  so  gehen  sie  in  vielen 
Einzelheiten  auseinander  und  die  eine  Hft  geht  mit  dieser,  die 
andere  mit  jener  anderen  Hft.  Ich  suchte  die  Ausgabe  so  ein- 
zurichten, daß  zunächst  die  mehreren  Fassungen  gemeinsamen 
Strophen  hervorträten,  dann  die  Eigenthümlichkeiten  jeder  Fassung 
leicht  erkannt  würden,  damit  neu  gefundene  Hften  rasch  beurtheilt 
werden  können. 

H  =  Harley  913  f.  10^-12*.  Diese  Hft  des  Britischen  Mu- 
seums ist  in  der  1.  Hälfte  des  14.  Jhdts  geschrieben.  Sie  enthält 
viele  lateinische  und  englische  Q-edichte.  Besonders  die  letzteren, 
die  sogenannten  Kildare-Gedichte,  sind  schon  oft  besprochen;  vgl. 
zuletzt  Bonner  Beiträge  zar  Anglistik,  Heft  XIV,  W.  Heuser,  die 
Kildare-Gredichte ,  1904.  Unser  G-edicht  zählt  in  dieser  Hft  43 

Strophen,  von  denen  nur  15  in  anderen  Hften  vorkommen,  28  zu- 
gedichtet sind.  Der  Text  ist  ziemlich  genau  abgedruckt  von 
Wright,  Beliquiae  antiqaae  I  1845  p.  140. 

C  =  Cambridge,  Trinity  College  0.  9.  38,  fol.  14^—16%  XV. 
Jahrb.,  hoch  aber  schmal,  schlecht  erhalten.  62  Strophen.  Diese 
Hft  steht  der  Hft  M  am  nächsten. 

M  =  München  Clm  19685  (Tegernsee  1685),  in  4'  saec.  XV, 
fol.  112*— 113^.  Diese  in  Deutschland   geschriebene  Hft  bietet 

60  Strophen.  Die  Strophen  31—36  sind  nach  Str.  19  gestellt. 
Sonst  steht  diese  Hft  der  Hft  C  nahe. 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.   Nachrichteu.    Fhilolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft  4.  29 


410  Wilhelm  Meyer, 

B  =  Besancon  latin  592,  in  4^^  saec.  XV,  fol.  9=*— 10%  in  2 
Spalten   geschrieben.  Diese  Fassung   (35  Strophen)   eilt  schon 

nach  Str.  36  mit  den  3,  wohl  hinzugedichteten  Strophen  96—98 
zum  Schlüsse. 

W  =  Breslau,  Universitätsbibliothek,  Collect,  ad  histor.  Siles. 
IV  Q  132*^  fol.  75%  geschrieben  im  17.  Jahrh.  Nur  12  Strophen; 
von  diesen  finden  sich  4  (no  99 — 102)  in  keiner  andern  Hft;  von 
den  8  übrigen  finden  sich  2  (42  und  53)  in  dem  großen  Theil,  den 
nur  die  Hften  C  und  M  erhalten  haben.  Dieser  Text  ist  gedruckt 
von  H.  Palm  in  den  Abhandlungen  der  schlesischen  Gesellschaft 
für  vaterländische  Cultur.  philosophisch -historische  Abtheilung, 
1862,  Heft  II  S.  96 ;  dann  (von  ßud.  Peiper)  im  Gaudeamus  (Teubner 
1877)  S.  191. 

(Form)  Interessant  ist  die  Strophenform.  Ein  berühmtes 
Gedicht  beginnt  mit  der  Doppelstrophe 

a  b 

Verbum  bonum  et  suave,  Per  quod  Ave  salutata 

personemus  illud  Ave,  mox  concepit  fecundata 

per  quod  Christi  fit  conclave         virgo,  David  stirpe  nata, 

virgo'  mater*  filia.  inter  spinas  lilia. 

So  sind  es  3  Strophenpaare ,  also  a  +  b,  c  +  d,  e-f-f.  Die  Melo- 
dien von  a,  c  und  e  sind  verschieden,  die  von  a  =  b,  von  c  =  d, 
von  e  =  f.  Solche  Gedichte  habe  ich  Melodie-Sequenzen  genannt. 
Die  Siebensilber  des  1.  und  des  3.  Paares  reimen  auf  ia,  die  des 
2.  Paares  auf  ium.  Die  Entstehung  dieser  Doppelstrophe  ist  ein- 
fach. In  einem  Paar  trochäischer  Septenare :  8  —  u4-7w  —  b,  8  —  u 
-f7u-b,  z.B. 

Stabat  mater  dolorosa,  dum  pendebat  filius 

Cuius  animam  gementem  pertransibat  gladius, 

wurde  das  Stück  zu  8  —  u  verdreifacht :  8  —  ^ aaa -f-7u  —  b;  8  —  u ccc 
+  7u— b;  vgl.  meine  Ges.  Abhandlungen  1322. 

Diese  berühmte  Sequenz  wurde  parodirt,  so  daß  statt  der 
Maria  der  Wein  gegrüßt  wurde.  Die  ursprüngliche  Fassung  dieser 
Parodie  zählt  8—9  einfache  vierzeilige  Strophen,  deren  1.  Strophe 
z.B.  heißt: 

Vinum  bonum  et  suave, 
bonis  bonum,  pravis  prave, 
cunetis  dulcis  sapor,  ave, 
mundana  laetitia. 
Die  spätere  verkürzte  Fassung  beginnt  z.B.: 
Ave  color  vini  clari, 


Quondam  fuit  factus  festus,  ein  Gedicht  in  Spottlatein.  411 

dulcis  potus  •  non  amari , 

tua  nos  inebriari 
digneris  potentia. 
Die  Strophen  laufen  einzeln   dahin;    von  Paarung  ist   keine  Hede 
mehr.     Fast  alle  Strophen  haben  den  Schlußreim   ia;    nur    selten 
findet  sich  ein  Strophenschluß  auf  ulum. 

Unser  Streit  des  Priors  und  Canon's  und  die  folgende  Klage 
der  Bettelmönche  haben  genau  dieselbe  Strophenform  und  genau 
denselben  durchlaufenden  Reim  der  Siebensilber  auf  ia  wie  die 
Wein-Parodie.  Wahrscheinlich  wurden  sie  auch  in  derselben  Me- 
lodie gesungen.  Ganz  seltsam  ist,  daß  die  52.  Strophe  in  den 
beiden  sie  bietenden  Hften  C  und  M  1  Zeile  zu  8  — u  mehr  zählt, 
dann  die  51.  Strophe  nur  in  C,  nicht  in  M. 

Zeilenbau  Die  Silben  zahl  wird  selten  verletzt :  Str.  21 ,  3 
evangelistas  CM,  angelistas  B;  45,3  apostolorum  C,  postolorumM; 
58,  1  caligas  C ,  calces  M ;    65,  2  quamdiu  C,  quantum  M  65,  3 

nunquam  faciam  C  {anders  M) ;  nur  in  C  finden  sich :  49,  2  et  super 
omnes;  55,  1  sum  de  sanguine;  6*2,  3  quod  non  surgere;  63,  1  gra- 
tias  ego ;  und  die  ganze  Strophe  66.  Nur  in  H  findet  sich :  68,  1 
estne  aliquid;  93,  3  et  sie  pardonem;  nur  in  W:  102,  4  usque  ad 
diem  claria.  Merkwürdig  ist,  daß  der  Achtsilber  regelmäßig  in 
seine  2  Hälften  4  —  u  -f-  4  —  u  zerlegt  ist.  Ausnahmen  finden  sich 
nur:  2,  1  abbas  est  sedere  sursum  CMBW;  24,  3  minus  eciam  por- 
tare  M  (anders  B).  Der  erste  Viersilber  schließt  Str.  10,  3  nur  in 
C  und  M  fälschlich  steigend  'in  lagere',  in  H  und  B  sinkend. 
Hiate  finden  sich  in  den  102  von  mir  hergestellten  Strophen  etwa 
18 :  also  sind  sie  ziemlich  gemieden. 

Von  den  Handschriften  B  C  H  und  M  habe  ich  Photographien 
benützen  können,  deren  Herstellungskosten  die  Gresellschaft  der 
Wissenschaften  bestritt.  Die  Handschrift  W  habe  ich  verglichen. 
Bei  der  Zusammenstellung  des  Textes  legte  ich  die  Handschriften 
C  und  M  zu  Grunde  und  benützte  die  Handschriften  H  B  und  W 
zur  Ergänzung. 


29^ 


412 


Wilhelm  Meyer, 


1  (Cl.  Ml.  Hl.  Bl.  Wl) 
Quondam  fuit  factus  festus 
et  vocatus  ad  comestus 
abbas  prior  de  Leycestris 
cum  totus  familia. 


1  factus  fuit  M ;  erat  sanctus  festum  B ; 
Erat  quondam  dies  f.  W  2  et  :  quo  W 
2  venerunt  C  2  comestum  B,  commestus 
CH  3  de  om.  M,  ad  B  3  leycestris  C, 
cocletestus  M,  glowcestrus  H,  clocestum  B ; 
ibat  prior  cum  claustralis  W  4  cum :  et 
MW  tota  BW  4  familia  a  a  a ,  dazu 
ein  Sclmörlcel  wie  etc. ;  so  am  Schluß  jeder 
Strophe  in  W  (der  weitere  Zusatz  in  Palmas 
Abdruck  'et  tota  familia'   steht  nicht  in  W) 


2  (C2.  M2.  H2.  B2.  W  3) 
Abbas  est  sedere  sursum 
et  prioris  iuxta  ipsam. 
ego  miser  stetit  dorsum 
inter  rascabilia. 


1  a.  ire  sede  s.  H 
2  ipsum  CH :  rursum 


2  priorum  M 
MBW        3  miser  C 


pauper  M,  semper  H,  tristem  B,  om.  W 
3  vgl,  4,  3/4  u.  78,  3        3  stetit  C,  stavi  H, 
sedit  W        3  ad  deorsum  MW,    a  deorsum 
B  4  sum  inter  BM  4  rascabilia  C, 

rascalilia  H,  rascalia  B,  scabellia  M,   iuve- 
nilia  a  a  a  etc  W 


3  (C3.  M3.  H3.  B3) 
Vinum  venit  sangoinatis 
ad  prioris  et  abbatis. 
nicbil  nobis  paupertatis, 

sed  ad  dives  omnia. 
Nach  Str.  3  folgen  in  H 

4  (C4.  M4.  B4) 
Abbas  bibit  ad  prioris, 
prior  vero  totum  horis. 
ego  pauper  stabat  foris, 

nil  habens  delicia. 

[5  {in  M  folgen  sich  no 
Abbas  dixit:  ut  senectus 
ego  bipsi  cum  affectus. 
vadi  queri  promtum  lectus, 

ubi  sum  iacencia.] 

6  (C5.  M7.  Bö.  W4; 
Dixit  abbas  serviatis: 
date  vinum  nostris  fratris. 
bene  legunt  et  cantatis 

ad  nostra  solempnia. 

7  (C  6.  M  5  und  8.  H  25. 
Dixit  prior  ad  abbatis: 
bene  bibunt,  habent  satis. 
non  est  bonum  ebriatis, 

eant  ad  claustralia. 


1  V.  vetum  B 


3  nil  M 

4  diue  M 

die  Strophen  67 — 87 


3  nobis  :  illis  ? 


trinkt  zu      2  et 
p.  retro  totis  B 


1  =  H  67,  1 

prioris  totis  boris  M 

3  ego:  nobis  MB         3  statuat  M 

4  diuicia  C;  cum  magna  tristicia  B 
4,  7,  dann  diese  Strophe  =  M  4.  5.  6) 

Diese  nur   in    M  stehende  StropJie 
scheint  gefälscht  zu  sein ,   denn   auch 
die  folgende  Strophe  beginnt  mit  Dixit 
abbas        3  =  vado  quero? 
vgl.  67,  2—4  in  H) 

1  adseratis  M,  ad  servantis  B  2  datis 
MB  2  vinus  B  2  uostri  M  3  legit 
MB  4  noster  sollemnia  B  4  in  istura 
festalia  M  vgl.  67,  2  (H)  date  vinum  ad 
maioris.  W  4  lautet :  Dixit  abbas  ad  pri- 
oris: Detur  vinum  iunioris,  qui  laborant  in 
choralis  et  matutinalia  a  a  a  etc. 

B6.  W5) 

2  b.  bibis  B,  b.  bibit  M  8,  ecce  rubent  W 
2  habet  M  8  2  habes  modo,  bibe  satis 
H ;  cum  sis  abbas,  bibis  satis  M  5  3  de- 
briatis  B  3  nos  non  debet  {oder  decetj 
ebriatis  M  5  4  so  C;  vadant  ad  clau- 
stralia a  a  a  etc  W ;  vadant  ad  inclaustria 
B;    ibunt  (nos  ibunt  M  6)  in  claustralia  M 

5  und  8;  ire  post  in  claustria  U 


Quondam  fuit  factus  festus,  ein  Gedicht  in  Spottlatein.  413 

C  m.  1:  lliirmur  canonis  ad  prior is: 

8  (C  7.  M  9.  H  26.  B  7.  W  6) 

Unus  C  a  n  0  iuniorum  ,  l  canon  minorum  B  cano  de  maiorum  H 

hnrniQ  Ipp+iiq  pf  pptifornm  ^^  canonicorum  C         1  Erat  quidam  iunio- 

ponus  lectus  et^  cantorum,  ^-^  ^        2  lector  et  c.  H,  cantor  et  lecto- 

irascatus  ad  prior  um  mm  MB         2  habens  bonum  rationis  W 

dixit  ista  folia:  Ir'^w«*'"'.^   •.  ^^P^^'^f  Y     /  ^.^'** 

lolia  HB,  et  d.  ita  f^  C ;  de  hec  formalia  a 

a  a  etc  W;  d.  hec  välia  (verbalia?)  M 

9  (C  8.  M  10.  H  28.  B  om.) 

Vos  abbatis  et  prioris,  l  Vos :  0  H        1  priore  H        2  bibit  M 

bibis  totnm  de  liquoris.  ^  *®**°^  ^  ^i^oris  M  2  nichil  datis  de 

nicliü  vobis  de  pudoris,  ^^^"^''  ^        ^  ^""  "'*  ^"^^'  ^-  ^^^^^^  ^ 

-,    .    ,  TT  *  töi  (tantum)  M    .    4  tu  es  avaricia  H 

sed  totmn  de  gulia. 

10  (C  9.  M  11.  H  27.  B  8) 

Prior,  vos  non  intendatis,  statt  Prior  scheint  M  zu  bieten:   Qr 

«„o-K.+,.^   ..n,^,..   lo-k^^o^.,-^  2  sumus:  nos  sunt  C  3  in  legitis  et  c. 

in  legere  et  cantatis  B        4  istis  B        4  festalia  HB,  paschalia 

per  ista  festalia.  ^       ^  ^"  ^'*^^  solempnia  M 

11  (C  10.  M  12.  H  29.  B  11) 

Vos  nee  nobis  nicbil  datis  l  Et  vos  nobis  C;  Ad  nos  autem  ni.  M 

nee  abbatis  permittatis,  ^4^""  fkZTJ  s.  0  '  T^'^t 

facit  nostris  sociatis  H       4  suam  B,  tua  M 

sua  curialia. 

13  (C  11.  M  13.  H  30.  B  9) 

Qui  stat,  vide  ne  cadatis.  **»  M  ist  zuerst  Str.  13  Propter,  dann  12 

multnin  pnim  r^p  Tirela+i^  ^^^  geschrieben;   dann   hat  die  erste  Hand 

muitmn  enim  ae  preiatis  durch  Zeichen  sie  umgestellt.       1  videt  MH, 

sunt  deorsum  descendatis  vidat  B      2  multos  U,  multas  B,  (=  multi) 

propter  avaricia.  derunt?r''  "'  ^'P'^''^^^''  ^'   ^^  ^^''^''" 
18  (C  12.  M  14.  H  31.  B  10) 

Propter  cordis  strictitatis  l  tristitatis  M        2  s.  d.  sedem  dignitatis 

sunt  de  sede  degradatis  ^'  sunt  superbi  descendatis  HB  {vgl.  12,3) 

et  Sic  propter  parcitatis  ^  "*  P/"P*t'  '"^"^  ^'  ^^      ^  varmi^t^^  H 

T  ,  ..  4  perdere  H 

perderunt  magnalia. 

14  (C  13.  M  15.  H  32.  B  12.  W  10) 

Pogo,  deus  maiestatis,  l  Precor  deum  m.  W        2  uos  HW 

«■■-■,•  -««o  -p^^u   r.i.    ««^«^,-«  2  facit  B  2  qui  de  nichil  vos  er,  C 

qui  nos  fecit  et  creatis,    ^  3  ^^i  quod  MB        3  hunc  M         3  vinum: 

ut  hoc  vinum,  quod  bibatis,       iustum  C       3  hec  vinus  quam  B       4  posset 

possit  vos  stranffuHa.  f  .    t,'*^^?^^'}?.^  ^\  strangularia  M,  strang- 

^  00  o   yvo  oi;x«,iigixj_La,.  ^^^^^  g.  ^^^  ^^^^^  strauguria  a  a  a  etc  W 

C  m.  1 :  Frior  dixit  ad  canonus : 

15  (C  14.  M  16.  H  33.  B  13) 

Ad  hoc  verbum  prior  cursus        1  li^nc  M  1  sursus  C         1  Ad  hec 

furabatur  sicut  ursus.  ^^^^  irascatus  B       2  furebatur  C       2  fu- 


414 


Wilhelm  Meyer, 


unus  vice  atque  rursus 
momordavit  labia. 


riebat  s.  catus  B  3  unu  at  (autem)  atque 
M ;  unam  vicem  H ;  semel  atque  iteratus  B 
4  momordivit  B,  momordebat  M 

16  (C  15.  H  34.  M  17.  B  15) 

1   canone  ausgewischt,  darüber  monache 

von  anderer  Hand  H  2  tace  miser  g.  C 

2  uiUs  H  3  quand.  M  3  de :  cum  MB 
4  fuit  tibi  HM 


Tandem  dixit  ad  canone: 
miser  vile  garcione, 
quondam  discus  de  pulmone 
tibi  fuit  gaudia. 

17  (C  16.  H  35.  M  18.  B  17) 
Nunc  tu  es  canonizatus 
et  de  nichil  elevatus : 
sicut  regem  vis  pascatus 

et  in  maior  copia* 
In  C  folgt  C  17  =  no  33 

18  (C  18.  H36.  M19. 
Habes  iustam  et  micheam 
et  cervisiam  frumenteam, 
unde  reges  posset  eam 

bibit  cum  leticia. 


1  tu:  cum  B  1  canonicatus  MB 

Die  letzte  Silbe  der  Zeilen  1  2  3  ist  in  B  so 
gekürzt,  daß  man  atis  lesen  sollte         2  de 
vili  M         2  eleuatis  H         3  Velud  M; 
bis  in  die  vis  C.        4  esse  cum  delicia  C 


B18) 

1  iustam  {mensura  vini)  Meyer:  iustum 
HB ,  iuxtam  M ;  miceam  B.  1  H.  nuches 
(miches  ?)  et  iusteam  C  2  et  om.  M  ;  se- 
ruisiam  H,  seruiceus  C,  ceruistam  M,  clusa 
B  2  farmenteam  B  3  regis  H ;  3  Quod 
rex  possit  bibit  eam  C  4  bibit  ad  deli- 

cia M,  in  festo  natalia  C 

Nach  Str.  18  folgen  in  H  als  Schluß  die  Strophen  H  37—43  =  no  88—94 

19  (C  19.  M  20.  B  16) 

1  fuas  .  .  scribas  C  2  pennas  cibas  C 
3  cum  om.  M  3  aquis  ranas,  dann  um- 

gestellt,  M:  vinas  aquam  B,    rana   aqua  C 
3  bibas  0        4  et:  vel  C 


Quando  fuis  pauper  scribis 
et  lucrabas  penna  cibis, 
tunc  cum  ranas  aquis  bibis 

de  fons  et  de  fluvia. 
Nach  Str.  19   folgen   in   M  die 
34  36  35 

30  (C20.  M27.  B19) 
Canon  dixit:  nunc  irabor, 
vitam  tuam  recordabor. 

tu  es  unus  dealbabor 
nee  habes  sciencia. 

31  (C  22.  M  28.  B  20) 
Secularis  quando  fuis, 
sotulares  super  tuis 
evangelistas  quater  suis, 

sie  vadens  per  hostia. 
23  {C  21.  M  29.  B  21) 
Cum  non  habes,  unde  victus, 
dealbabor  fuis  dictus, 
ollam  aque  benedictus 

spargens  per  boscaria. 


Strophen   M  21—26  =  no  31  32  33 


1  cano  M  2  vita  tua  C 

3  unum  M  4  non  habens  C 

3  Psalm  50,  9   lavabis  me   et  super 
nivem  dealbabor 

1  Scolaris  M  Die  2.  und  3.  Zeile 
sind  in  C  umgestellt  3  angelistas 
super  suis  B 


1  Tunc  M 
aquas  b.  C 
pro  bucolicis 
rochia  C 


2  fuas  C  3  spergens 
4  spergis  M ;  spargens 
B;    per  domos  in  pa- 


Quondam  fuit  factus  festus,  ein  Gedicht  in  Spottlatein. 


415 


33  (C  23.  M  30.  B  22) 
Tunc  letabas  et  coiifortas, 
quando  dabas  tibi  tortas. 
f  panis  ac[ue  contra  portas 

in  die  dominicia. 

U  (C  om.  M  31.  B  23) 
Tota  die  stas  cantare 
et  in  festis  mendicare 
minus  eciam  portare 

nichil  vel  aqualia. 
35  (C  24.  M  32.  B  24) 
Prior  factus  nunc  de  gromo 
te  tendebas  sanctus  homo. 
confudisti  ista  domo 

per  tua  superbia. 
26  (C  33.  M  33) 
Nudus  nates  huc  intrasti, 
totam  domum  istud  vasti, 
donans  eis  quos  gignasti 

filios  et  filia. 

37  (C  25.  M  34.  B  25) 
f  Non  est  magis  gravitate 
quam  sit  unus  paupertate 
abbas  prior  vel  prelate 

inter  bona  socia. 

38  (M  35) 
Manducaris  aucas  vinum : 
nobis  tanquam  peregrinum] 
nichil  nisi  disciplinum 

dabas  in  capituLia. 

39  (C  26.  M  36.  B  14) 
Ad  hec  prior  tacuebat. 
movens  testam  nil  loquebat. 
vellet,  sed  non  potuebat 

propter  iracundia. 
30  (C27.  M37?) 
Tandem  dixit  ad  canone: 
nil  plus  babes  racione. 
siluisti  de  sermone 
propter  verecundia. 
3  =  siluisses? 

In  B  folgt  B  26  =  no 


1  confortabas  B  2  dabas  tibi  B,    da- 

bant  t.  C,  t.  dabas  M  2  torcas  B,  tartas 
C  3/4  so  M\  palus  q.  {quia)  aquam  por- 
tas i.  d.  domiuicis  B  ;  Modo  groyuum  (= 
grief?)  nobis  portas  per  mala  fortunia  C 


2  meditare  B  3  ebenso  imver- 

ständlich  B :    nigrum  panis    et   por- 
tare.    oh  potare? 


in  C  fehlt  Z.  2;    dagegen'  steht  vor  Z.   1 
Quondam  caytyff  (caitiff  =  cattivo)    et  non 
homo  Prior  etc         1  prior  MC :  canon  B 
1  nunc :  sie  C         2  tenebat  B         3  confu- 
sus  es  in  i.  d.  M,  es  confusus  isto  d.  B 


1  wiä'  (nudis?)  vates  M  2  to- 
tum  M  =  vastasti?  3  dabas 
eos  que  g.  M        4  filias  e.  f.  C 


1  es  maior  B  2/3  quam  quod 

un.  pravitate  fiat  prior  C       2  unum 
M        3  prior  vel  CB :  priorum  M 


ob  =  peregrinis  . 
capitulo  ? 


disciplinam  .  . 


1  hunc  M  1  Longue  tempus  tac. 
B  2  testam:  labia  C  3  volet 
M,  volans  B        4  iracundia  M 

M  37 

Tandem  dixit  cum  rampone: 
si  non  taces  mementone, 
dicam  tuam  vitam  omne 
ad  totum  sodalia. 


95 


416 


Wilhelm  Meyer, 


31  (C  29.  M  21.  B  27) 
Miser  norme  recordabas, 
quando  olim  tibi  dabas 
offas"  pisas*  micas'  fabas 

per  misericordia. 

32  (C  30.  M  22.  B  28) 
Extra  portam  iuxta  vicos 
iacuebas  cum  mendicos  ; 
ego  tibi  fac  amicos 

in  hac  monasteria. 

33  {C  17.  M  23.  B  29) 
Tunc  tu  fuis  macilentum, 
nunc  tu  habes  de  pulmentum 
grossas  boccas  *  duplex  mentum 

atque  ventris  pinguia. 

34  (C  31.  M  24.  B  30) 
Ad  nos  venis  cum  precatus, 
ut  intrares  monastratus. 
hec  deberes  recordatus, 

ut  esses  bumilia. 

35  (C  om.  M  26.  B  31) 
Preter  omnes  tu  loquare, 
tanquam  doctor  te  monstrare, 
propter  legit  et  cantare 

nimis  es  superbia. 

36  (C  J28.  M  25.  B  32) 
Nunc  te  mando,  quod  tu  taces. 
nicbil  nobis  iam  loquaces. 
vel  tu  potes  tantum  faces, 

quod  te  semper  odia. 
in  B  bilden  die  3  Strophen 
des  Gedichtes. 

37  (C  32.  M  oni.) 
Ego  semper  laboratis, 
ut  tu  esses  claricatis; 

sed  tu  nunquam  vis  discatis, 
ut  esses  sapientia. 

38  (C  34.  M  38) 
Veniasti  cum  burdone, 
super  pedem  nichil  pone, 
funem  habens  loco  zone 

minorum  similia. 


1  tu  non  M,  numquid  ß         2  qua 
nos  B  3  ossas   micas  pisas  M, 

pissis  ossas  nuchis  B        4  pro  M 


1  Contra  portas  M 
4  hanc  M 


2  iacuisti  C 


1  Qui  tunc  B,  Postquam  C         1  eras  B 
1  ad  nos  ventum  C  2  nimis  habes  C, 

nunc  habebas  B  3  grossas  buflfas  B, 

grossum  genas  M  3  duo  mentum  M; 

wattymentum  C  =  wadded  mentum,   aus- 
wattirt?        4  ventrem  C 


1  deprecatus  M 
M,  nostri  status  B 


1  Propter  B 


2  monestratus 
3  hunc  M 


3  legis  B 

4  et  B 


1  so  B;   Hunc   demando  M;    N.  t.  laudo 
C  2  so  M;    neque  michi  plus  1.  B;    ab 

hiis  verbis  contumaces  C  3  so  C,   doch 

tamew  statt  tantum;    posset  modo  t.  f.  M; 
carte  modo  t.  f.  B 


B  33  34  35  =  no  96  97  98  den  Schluß 


1  Ad  nos  venis  cum  bordone  M 

2  pedes  M 

3  cordam  habes  longo  z.  M 


Quondam  fuit  factus  festus,  ein  Gedicht  in  Spottlatein. 


417 


39  (C  35.  M  39) 

Tu  pergisti  villam  villam 
aspergendo  aque  stillam 
super  illum  •  super  illam 
querere  cibaria. 

40  (C  36.  M  40) 
Reputabas  te  pro  vates, 
comedebas  inter  cates: 
nunc  es  factus  ut  abbates 

non  nostro  consilia. 

41  (C  37.  M  41) 
Servus  foit  tuus  frater 
et  ancüla  tua  mater; 
latro  fuit  tuus  pater 

portans  tympanistria. 
43  (C38.  M42.  W7?) 
Teste  Jesu  valde  bone 
nuUam  habes  racione; 
nunquam  scisti  legem  pone 

usque  mirabilia. 

43  (C  39.  M  43) 
Tu  non  fuis  claricatus 
nee  in  arte  sophismatus; 
nicMl  verum  tu  probatus 

per  tua  scolaria. 

44  (C  40.  M  44) 
Tu  ubique  truantasti 
et  a  scolis  recedasti; 
super  equam  equitasti 

cum  vili  capistria. 

45  (C  41.  M  45) 
E/ibaldorum  tuum  genus, 
vanitate  totus  plenus. 
apostolorum  duodenus 

voco  testimonia. 

46  (C  42.  31 49) 

Non  es  talis,  qualis  credes. 
in  scarleto  nunquam  sedes. 
sed  perones  super  pedes 
et  cum  nuda  tibia. 


1  Tu  tristasti  istam  v.  M 

4  querens  ibi  c.  M 
1  per  M 

3  nunc  priorum  nee  abbates  M 

4  reputans  consilia  31 

1  Servum  M.  M  häuft  den  Spott: 
1  tua  frater,  2  tuus  mater,  3  tuum 
pater 

4  timpan.  M 

M :  2  nuUum,  3  sciuis  Jn  W  steht  • 
1  Audi  me,  tu  prior  bone,  2  tu  es 
nnum  Clopione.  3  tu  non  nosti  legem 
pone    4  neque  mirabilia  a  a  a  etc. 

1  claricatus  (vgl.  37, 2.  53,  1 :  cle- 
ricatus  M        2  sophizatus  M 

3  nuUum  v.  M 

4  per:  cum  M 

1  truätasti  =  trutanasti  ? ;  Perubique  traus- 
sviastw  M  3/4  semel  equam  ascendasti  in 
V.  c.  M;  es  scheint  eine  Schulstrafe  bezeich- 
net zu  werden ;  vgl.  M  in  46,  3 ;  dann  Str.  56. 


2  vanitati  totum  M 

3  postolorum  M.  d.  =  duodecim? 


2  instar   leos  M  3  perones 

Meyer ^  pirones  C  3/4  semel  equam 
nudis  pedis  scandis  in  vituperia  M 
{vgl,  44,  3) 


418 


Wilhelm  Meyer, 


47  (C  43.  M.  46) 
Vestimenta  tua  novi. 
non  valebant  testa  ovi. 
ibi  solent  vermes  fovi. 

sunt  et  signa  alia. 

48  (C  44.  M  47) 
Tuus  lectus  est  caprarum 
et  de  pellis  vitularum. 
ibi  Stratum  valde  parum, 

nullus  pannus  linea. 

49  (C  45.  M  om.) 

Tu  vis  velle  commendasti 
et  super  omnes  iudicasti. 
quare  vis  sie  exaltasti, 

cum  non  sumus  paria? 
C  m.  1 :  Resjjondit  canon  ad  prioris  : 

50  (C  46.  M  48) 
Dixit  canon  ad  priore: 
Semper  vadis  per  errore. 
pone  manum  super  ore 

pro  Jesu  Calvaria! 

51  (C  47.  M  50) 
Meum  retro  denudasti, 
me  cum  cato  sociasti 
et,  quod  parvus  sum,  loquasti; 
in  hiis  totum  blasphemasti 

per  tua  mendacia. 

53  (C  48.  M  51) 
Ego  natus  sum  de  milis. 
pater  mens  vir  gentilis. 
mater  mea  non  est  vilis, 
bibens  mustum  in  Aprilis 

et  in  tota  Maya. 
58  (C  49.  M  52.  W  8) 
Ego  fui  claricalis 
plus  quam  tu  vel  centum  talis. 
ego  legi  Juvenalis 

in  scolis  gramaria. 

54  (C  50.  M  53) 
Disputavi  cum  philosis  * 
Jacobinis  et  nodosis 


1  Vestimentum  tuum  M      2  testa 
ovi  (Eierschale)  C:  unum  ovi  M 
3/4  ibi  bene  solent  fovi  vermes   ac 
putredia  M 


1  Tuum  M 

2  pelle  M  3  stramen  M;  paraü 
M  4  nullum  pänis  (darunter  steht 
palmis)  lintya  M 


1  ßespondens  cano  priori  M 

2  errori  M 

3  ori  M 

4  per  M 

2  cato    (vgl.  40,2):    katho    M 

3  quod  per  vos  sum  C,  cum  parva 
sim  M  3  loquasti  M,  leuasti  C  4  der 
Vers  fehlt  in  M      5  fingis  per 


m. 


X 


1  Sciunt  gentes  plas  de  mülis  M 

2  quod  de  patre  sum  g.  II 

3  mens  mater  n.  e.  v.  M 

4  b.  vinum  M 
1  milis  C  =  militibus? 


1  fuit  W         1  claricalis  (vgl.  37,  2.  43,  1) 
C:  clericalis  MW  2  pl.  q.  vobis  duo  t. 

M ;  fuit  quoque  monachalis  W  3  legit  W 
4  gramalia  M ;  scholis  in  Germania  a  a  a 
etc.  W 


1  =  philosophis?         2  Jacobinis 
=  Dominicanis         2  Augustinis  et 


Quondam  fuit  factus  festus,  ein  Gedicht  in  Spottlatein. 


419 


Augustinis  Carmelosis, 
sed  habens  victoria. 

55  (C  51.  M  om.) 

Sum  de  sanguine  Salomonis 
atque  plenus  racionis. 
veiiter  mens  in  sermonis 
eructabit  labia. 

56  (C  52.  M  54) 
Super  equam  me  imponis, 
qni  cum  comes  et  baronis 
eqnitavi  equis  bonis. 

minquam  habes  talia. 

57  (C  53.  M  55) 
Palefridis  equitavi, 
multos  ictus  sustinavi, 
totum  mundum  decoravi 

per  mea  milicia. 

58  (C  54.  M  56) 
Meas  caligas  de  burneto, 
sotulares  de  corneto  (?), 
mea  roba  de  scarleto 

totnm  cum  silvestria  (?). 

59  (C  55.  M  57) 
Meus  lectus  curiale, 
totum  factus  de  sendale: 
miser,  nunquam  habes  tale, 

sed  de  canavasia. 

60  (C  56.  M  om.) 

Sub  te  parum  pulvis  stramen 
absque  omni  lintheamen: 
nobis  ita  loquis  tamen, 
ut  fuis  in  gloria. 

61  (C  57.  M  om.) 
Postquam  ordos  tu  intrasti, 
ciphos  multos  vacuasti. 
nichil  verum  tu  discasti 

nisi  de  glotonia. 
63  (C  58.  M  om.) 
Quia  tantum  bibuisti, 
ventrem  tuum  doluisti, 
quod  non  surgere  potuisti 

usque  dies  claria. 


nod.  M        3  Carmelitis  et  monstro- 
sis  M        4  sed  om.  M 

V.  3/4  sind  mir  unklar.  Statt  in 
kann  man  ancb  vi  lesen.  Benützt 
scheint  Psalm.  118,  171  eructabunt 
labia  mea  hymnum 

1  inponis  M ;  vgl.  Str.  44,  8 

2  barronis  M 

3  equitabam  M 

4  tu  nunquam  habens  t.  M 

1  Parafredus  M 

3  totus  mundus  M 

4  pro  M 

(M  56) 
Meus  calces  de  corneto  (?), 
meus  roba  de  burneto, 
meus  toga  de  scarleto, 

forneto  (f um  ita?)  de  varia. 

1  Mea  M  2  sendale    (cendale 

Meyer:    sandale  C,  sindone  M 
3  habens  M  4  d.  h.  canevas ; 

caiiauiasia  C,  caiia  sacia  M 

1  pulvis  =  pulvereum? 


4  fuis  =  fuisses? 
1  ordinem 

3  ==  didicisti 

4  =  glutonia. 


4  vgl.  102,  4  usque  ad  diem  claria 


420 


Wilhelm  Meyer 


C  ni.  1:  Prior  consentit  canoni 

68  (C  59.  M  58) 
Prior  dixit:  gratias  ego 
usque  modo  corde  tego. 
quod  non  feci,  modo  lego : 
volo  pacem  facia. 

64  (C  60.  M  59) 
Ergo  tu  me  osculabis? 
quorum  fratres  tu  fidabis, 
quod  tu  michi  condonabis? 

faciamus  venia. 
(2  =  quoram  fratribus  fidem  dabis) 
C  m,  1:  Et  canon  priori: 

65  (C  61.  M  60) 
Placet  michi,  quod  tu  dixi. 
ego  semper,  quam  diu  vixi, 
nunquam  faciam  tibi  rixi, 

sed  semper  concordia. 
C  ni.  1:  Hie  invicem  concordant: 

66  (C  62) 
Tunc  bibunt  vinum  sanguinatns, 
quod  sunt  oculi  lacrimatus, 
et  riserunt  pre  gaudiatus 

et  totus  mutant  in  bordia. 


(M  58) 
Dixit  prior  ad  canego  : 
graves  corda  modo  tego. 
male  dixi,  te  supplebo, 

ut  nos  pacem  facia. 
(M  59) 
Dixit  cano  ad  prioris : 
ergo  tu  me  osculabis? 
coram  fratres  perdonabis 

istud  iracundia? 


Prior  tunc  (?)  ad  cano  dixit  M 

2  e.  s.  quantum  uixit  II 

3  n.  t.  facem  rixit  H 

4  concordia.    Amen.     Ende  von  M 


Schon  der  sclüeclite  Zeilenhau  zeigty 
daß  diese  Strophe  ein  Zusatz  ist. 


Amen.     Explicit.     Ende  von  C 


Uebersicht  der  einzelnen  Handschriften  und  Abdruck 
der  Strophen,  welche  nur  in  ^iner  Handschrift  (H  oder  B  oder 
W)  enthalten  sind,     no  bezeichnet  meinen  Text. 

C  =  Cambridge,  Trinity  College  0  9,  38  fol.  14». 
C(1234567  Canon:  8    9  10  11  12  13  Prior;  14  15  16  17 
no  1  1  2  3  4  6  7  8  9  10  11  12  13  14  15  16  17  38 

C  j  18  19   Canon:  20  21  22  23  24  25  26    Prior:   27  28  29  30  31 
no  1  18  19  20  22  21  23  25  27  29  30  86  31  32  34 

C    I  32  33  34  35  36  37  38  39  40  41  42  43  44  45    Canon:    46  47 
no  [  37  26  38  39  40  41  42  43  44  45  46  47  48  49  50  51 

48  49  50  51  52  53  54  55  56  57  58  Prior:  59  60  Canon:  61  62 
52  53  54  55  56  57  58  59  60  61  62  63  64  65  66 


no  [ 


M  =  Monaceiisis  19685  (Tegemsee  1685)  f.  112=' 
MI12  3  45     6789  Canon:  10  11  12  13  14  15  16  Prior:  17 
no  1  1  2  3  4 


(7»>)  5  6  7'  8 


9  10  11  12  13  14  15 


16 


Quondam  fuit  factus  festus,  ein  Gedicht  in  Spottlatein. 


421 


M  [  18 
not  17 

I 

no  [ 


19  20  21  22  23  24  25  26  Canon:  27  28  29  30  31  32  33 
18  19  (31  32  33  34  36  35)       20  21  22  23  24  25  26 
M  I  34  35  Prior:  36  37  38  39  40  41  42  43  44  45  46  47  Canon: 
no  I  27  28      29  30  38  39  40  41  42  43  44  45  47  48 

48  49  50  51  52  53  54  55  56  57  Prior:  58  Canon:  59  Prior:  60 
50  46  51  52  54  54  56  57  58  59      63      64      65 


Hll 
nol  1 


H  =  Harlejanus  913  fol. 

2  3 
2  3 

67  (H  4) 

Abbas  bibit  ad  prioris: 
date  vinnm  ad  maioris. 
possit  esse  de  minoris, 
si  se  habet  gratia. 

68  (H  5) 

Estne  aliquid  in  currino? 
immo  certe  plenum  vino. 
ego  tibi  nunc  propino 
de  bona  concordia. 


69  (H  6) 

Non  est  bonum  sie  potare, 
et  conventus  nichil  dare, 
quia  volunt  nos  clamare 
durum  in  capitula. 

70  (H  7) 

Surge,  cito  recedamus : 
hostes  nostros  relinquamus 
et  currino  iam  parcamus. 
ibimus  in  claustria. 

71  (H  8) 

Post  completum  redeamus 
et  currinum  combibamus 
atque  simul  conletamus 

in  talis  convivia. 
73  (H9) 
Dixit  abbas  ad  prioris: 
tu  es  homo  boni  moris, 
quia  semper  sanioris 

micbi  das  consilia. 


10* 


1  =  4,1 

vgl.  6,  2  date   vinum  nostris  fra- 
tris  und  87,  2  date  micbi  de  liquoris. 
vgl.  87,  4  si  babebit  gratia. 

Ist  in  der  Handschrift  unten  an  der 
Seite  nach  Str.  71  ergänzt,  doch  mit 
deutlichen  Zeichen ,  wie  zu  stellen. 
Wright  hat  diese  Zeichen  übersehen 
und  diese  Strophe  nach  no  71  gedruckt. 
1  =  70,  3  und  71, 2  currino  ist  ein 
Wort  heltischen  Stamms  =  Faß. 


volunt  (will)  clamare  =  claraabunt? 


precamus   Wright 


422 


Wilhelm  Meyer, 


73  (H  10) 

Post  completum  rediere 
et  cnrriimm  combibere; 
potaverunt  usque  flere 
propter  potns  plnrima. 

74  (H  11) 

Prior  dixit  ad  abbatis: 
ipsi  babent  vinum  satis. 
vultis  dare  paupertatis 
noster  potus  omnia. 

75  (H  12) 

Quid  nos  spectat  paupertatis  ? 
habet  parum*  babet  satis, 
postquam  venit  non  vocatis 
ad  noster  convivia. 

76  (H  13) 

Si  nutritum  esset  bene, 
nee  ad  eibus  nee  ad  cene 
venisset  pro  marcis  dene 
nisi  per  precaria. 

77  (H  14) 

Habet  tantum  de  hie  potus, 
quod  conventus  bibit  totus 
et  cognatus  et  ignotus 
de  egris  servisia. 

78  (H  15) 

Abbas  vomit  et  prioris. 
vomis  cadit  super  floris. 
ego  pauper  stfeti  foris. 
et  non  sum  (cum?)  leticia. 

79  (H  16) 

Rumor  venit  ad  antistis, 
quod  abbatis  fecit  istis. 
totum  monstrat  ad  ministris, 
quod  fecit  convivia. 

80  (H  17) 

Hoc  est  meum  consulatis, 
quod  utrumque  deponatis 
et  prioris  et  abbatis 
ad  sua  piloria. 


[vgl.  no  4  (und  no  2,  3/4) 
abbas  bibit  ad  prioris. 
prior  vero  totum  horis. 
ego  pauper  stabat  foris 
ml  habens  delicia.] 


administris  ? 


c.  =  consilium? 


Quondam  fuit  factus  festus,  ein  Gedicht  in  Spottlatein. 


423 


81  (H  18) 
Per  lioc  erit  castigatis 
omnis  noster  subiugatis* 
prior*  clerus  et  abbatis, 

ne  plus  potent  nimia. 

83  (H  19) 
Absit,  dicit  alter  clerus, 
quia  bibit  parum  merus, 
quod  punitur  tarn  severus 
per  noster  consorcia. 

83  (H  20) 

Esset  enim  bic  riotus. 
quod  pro  stultus  hornm  potus 
snstineret  clerus  totus 
pudor  et  scandalia. 

84  (H  21) 

Volnnt  omnes  quidem  iura, 
quod  per  meum  forfectura 
alter  nullus  fert  lesura, 
sed  pro  sua  vicia. 

85  (H22) 

Sed  sie  instat  in  privatis: 
bis  sex  marcas  det  abbatis, 
prior  denis,  et  est  satis, 
ut  non  sit  infamia. 

86  (H  23) 

Placet  boc  ad  nos  antistis: 
dent  ad  presens  nummos  istis. 
sed  si  potant,  ut  audistis, 
nunquam  habet  supera. 

87  (H  24) 

Dixit  abbas  ad  prioris: 
date  micbi  de  liquoris. 
Status  erit  melioris, 

si  habebit  gracia. 
H  1  25  26  Canon:  27 
no(     7    8  10 

88  (H  37) 
Nullum  carnes  commedatis 
neque  pisces  perfruatis, 
lactem  quoque  denegatis: 

sie  te  facit  sobria. 


at  Wright 


1  H  (liic,  hec?)  H;  riotus  =  riotta? 


=  privilegüs? 
=  prior  denas? 


vgl  67,2 


hebit  H; 

vgl 

:  67, 4 

28  29  30  31  32  Prior: 

33  34  35  36 

9  11 

12  13  14 

15  16  17  18 

424 


Wilhelm  Meyer, 


89  (H  38) 

Nulluin  tibi  sit  tabellum 
neque  tibi  sit  scabellnm; 
mensa  tibi  sit  patellum, 
non  Habens  mappalia. 

90  (H  39) 

Super  .terram  sie  sedebis 
nee  abinde  removebis; 
velis  nolis  sie  manebis 
in  hee  refeetoria. 

91  (H  40) 

Post  hee  dies  accedatis 
ad  prioris  et  abbatis; 
disciplinas  assumatis; 
fac  flectamus  genua. 

93  (H41) 
Sic  devote  prosternatis 
ac  deinde  lacrimatis, 
dorsum  nudum  extendatis. 
caret  te  leticia? 

93  (H  42) 

Ibi  palam  confiteris, 
quod  tu  male  delinqueris, 
et  sie  pardonem  consequeris 
in  nostra  capitula. 

94  (H  43) 

Tunc  proinde  tu  cavebis 

malum  loqui;  sie  tacebis. 

prelatores  non  spernebis 

contra  tuum  regula. 


ironische  Frage 


et  del? 


=  prelatos? 


B  =  Besan^on  592  fol.  9» 
B  I  1  2  3  4  5  6  7  Canon:    8    9  10  11  12  Prior:  13  14  15  16  17 
no|  1  2 


no  [ 


2  3  4  6  7  8  10  12  13  11  14  15  29  16  19  17 
18  Canon:  19  20  21  22  23  24  26  26  Prior:  27  28  29  30  31 
18       20  21  22  23  24  25  27  95      31  32  33  34  35 

B  I  32  33  Canon:  34  Abbas  35 

not  36  96       97      98 
95  (B  26) 

Tunc  iratum  est  priore  die  Strophe   ist  wohl   nach  Str.  29 

et  minantes  loquit  ore.  gemacht 


Quondam  fiiit  factas  festus,  ein  Gedicht  in  Spottlatein.  425 

sed  balbucum  pre  timore 
responduit  talia. 

96  (B  33) 

Juro  dei  per  sanctorum, 
non  es  dignus  sociorum 
nee  intrare  noster  chorum, 
cum  sis  puericia. 

97  (ß  34) 
Canon  dixit  irascatus: 

de  prioris  non  curatus  ?  =  non  curabo  und  non  loquar 

et  cum  eo  non  loquatus 
nunc  et  in  perpetua. 

98  (ß  35) 

Ad  hec  abbas  contristatis 
dixit:  prior,  non  curatis! 
non  est  nostre  regulatis 
bec  et  hiis  similia. 

W  =  Breslau,  Univ. -Bibliothek,  Collect,  ad  histor.  Siles.  IV 
Q.  132*'  fol.  75*  (17.  Jahrb.):  Cantus  hiulcus  de  abhate  hono  sed 
jpriore  inhiimano  erga  fratres. 

2  3  4  5  6    7    8      9  10    11    12 
99  2  6  7  8  42  53  100  14  101  102 

99  (W  2) 

Festum  erat  hoc  abbatis, 
qui  tractavit  omnes  gratis 
dixitque  ad  invitatis: 
laeta  sint  solemnia  aaa  etc. 


Wf  1 
no[  1 


100  (W  9) 
Bibe  frater  ad  priore 
cessabitque  a  livore. 
infundatur  de  liquore, 

et  erit  concordia  aaa  etc. 


101  (W  11) 
Abbas  erat  bonus  homo, 

sicut  succus  est  in  pomo:  sucus  Peiper 

bibant  omnes  hac  in  domo 

haustum  cum  laetitia  aaa  etc. 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Philolog.-hist.  Kl.    1908.    Heft  4.  30 


426  Wilhelm  Meyer, 

102  (W  12) 
Post  haec  omnes  bibierunt 
^et  in  vestes  dormierunt, 
matutinas  neglexerunt 

usque  ad  diem  claria  a  a  a  etc.  ad  om.  Peiper ;  vgl.  62,  4  us- 

que  dies  claria. 


n 

Das  Gedicht:   Sermo  noster  audiatis. 

Der  niedrige,  derb  -  bximoristisebe  Ton  des  bisher  behandelten 
Gredichtes  'Qnondam  fnit  factns  festus'  paßt  trefflich  zur  Bildung 
und  zum  Geschmack  des  14.  und  des  15.  Jahrhunderts.  Ich  wundere 
mich  eigentlich,  daß  nicht  viel  mehr  derartige  Dichtungen  wieder 
aufgetaucht  sind  als  die  folgende,  mit  der  genannten  eng  ver- 
wandte, ja  ihr  nachgeahmte. 

In  der  Breslauer  Universitäts-Bibliothek  liegt  eine  Sammel- 
iandschrift  —  IQ  466  — ,  welche  einst  Nicolaus  von  Kosel  besaß, 
der  1414  zu  Czasla  in  den  Franziskaner  Orden  trat.  Diese  Hand- 
schrift, über  welche  Heinr.  Hoffmann  in  seiner  Monatsschrift  II 
S.  738  Nachricht  gegeben  hat,  enthält  böhmische,  deutsche  und 
lateinische  Lieder.  Aus  ihr  hat  Wattenbach  in  seiner  Jugend  auch 
das  folgende  Lied  abgeschrieben,  und  nach  dieser  Abschrift  ist  es 
1861/2  zwei  Male  veröffentlicht  worden:  1)  von  Feifalik  in  den 
Wiener  Sitzungsberichten  36  (1861)  S.  179;  2)  von  H.  Palm  in 
den  Abhandlungen  der  schlesischen  Gesellschaft  für  vaterländische 
Cultur.  phüosophisch-historische  Abtheilung.  1862,  Heft  II  S.  80. 
Herr  Bibliothekar  Dr.  Molsdorf  hat  gütigst  für  mich  noch  einmal 
die  Handschrift  mit  den  Drucken  verglichen. 

Zweifellos  ist  dies  Gedicht  unter  dem  geistigen  Einfluß  des  1. 
entstanden.  Denn  der  Inhalt  und  die  Form  sind  die  gleichen. 
Dort  zanken  sich  Prior  und  Mönch  um  Essen  und  Trinken,  hier 
schildert  ein  Bettelmönch,  wie  sie  hungern  und  frieren  müssen 
und  dabei  mißhandelt  werden.  Dort  wie  hier  ist  dieselbe  Strophen- 
form angewendet ,  je  3  gleich  gereimte  Achtsilber  mit  sinkendem 
Schlüsse,  denen  ein  Siebensilber  mit  steigendem  Schlüsse  folgt,  der 
in  allen  Strophen  ebenfalls  mit  ia  schließt.  Das  Spottlatein  ist 
das  gleiche;  die  Deklinations-  und  Conjugations-Endungen  und  die 
Casus  werden  hier  mit  dem  gleichen  Hohne  vertauscht  wie  dort. 
Auffallende   Germanismen  finde  ich  hier   nicht;    das   Stück   kann 


Quondam  fuit  factus  festus,  ein  Gedicht  in  Spottlatein. 


427 


also  aucli  von  einem  Bökmen  oder  Polen  fabrizirt  sein.  Ich  gebe 
in  der  2.  Spalte  eine  Umschrift,  wie  der  Verfasser  wohl  ge- 
schrieben hätte,  wenn  er  nicht  eben  Spottlatein  hätte  schreiben 
wollen. 

Der  Versbau  ist  ziemlich  zerrüttet,  ob  durch  die  Schuld  des 
Verfassers  oder  die  der  Abschreiber,    ist  schwer  zu  sagen.     Statt 

8  Silben  mit  sinkendem  Schlüsse  haben:  V.  67  zehn  Silben;  V.  19 
30  50  53  54  (all  diese  fangen  mit  et  an)  und  V.  26  und  58  haben 

9  Silben;  V.  23  46  und  66  haben  nur  7  Silben  und  V.  73  gar  nur 
6  Silben.  Anderseits  haben  die  Verse  64  und  72  statt  7  Silben 
deren  8.  Durch  ein  4silbiges  Wort  oder  eine  4silbige  Wort- 
gruppe ist  der  Schluß  des  Achtsilbers  stets  gebildet:  nur  nicht  in 
58  laicus  se  magis  irabit  und  nicht  in  70  estis  qui  nostrum  fau- 
torum.  Von  den  20  Siebensilbern  haben  7  Taktwechsel,  wie' 
V.  28  quod  dentes  concucia,  32  iratus  familia.  Hiate  fand  ich 
8,  also  ziemlich  wenige.  Auch  der  zweisilbige  Reim  ist  stets 
rein;  nur  in  V.  27  reimt  frigus  auf  icus. 


Sermo  noster  audiatis. 
quid  petimus,  faciatis, 
quod  vos  deus  assumatis 
4     ad  celestem  curia. 


Sermonem  nostrum  audiatis! 
quod  petimus,  faciatis, 
ut  vos  deus  assumat 

ad  celestem  curiam! 


Quando  erit  in  adventus, 
noster  male  stat  conventus. 
nichil  habet  comcdentus, 
8     sed  habet  miseria. 


Quando  erit  in  adventu, 
noster  male  stat  conventus, 
nicJiil  habet  comedendum, 
sed  habet  miseriam. 


Quidam  iacet  in  fornacis 
—  sed  hoc  loquit  salva  pacis 
totum  nudus,  sine  bracis, 
12     quod  est  mirabilia. 

4 
nie  iacet  paradisum 
et  ad  fornax  habet  visum. 
si  videres,  esset  risum; 
16     non  sunt  lectistemia. 


Quidam  iacet  in  fornace 
—  sed  hoc  loquor  salva  pace 
totus  nudus,  sine  bracis, 
qiiod  est  mirabile. 

nie  iacet  paradisum  (?) 
et  ad  fornacem  habet  visum. 
si  videres,  esset  risus; 
non  sunt  lectistemia. 


4  curiam  C  cod. 


30= 


428 


Wilhelm  Meyer, 


Dum  pro  panis  vadit  edes, 
omnis  habet  nudos  pedes, 
et  se  ad  lapis  multum  ledes, 

20    quod  erit  flebilia. 
6 
Et  si  ultra  succursabit, 
canis  ipsum  momordabit. 
laicus  nichil  non  dabit. 

24    0  magna  tristicia! 
7 
Quando  exit  super  vicus, 
nullum  videt  suum  amicus. 
ipsum  mordit  magnum  frigus, 

28     quod  dentes  concucia. 


Dum  pro  pane  vitdit  ad  aedeSy 
omnis  Imbet  nudos  pedes 
et  se  ad  lapides  midtmn  laedit; 
quod  erit  flehile. 

Et  si  idtra  airret, 
canis  ipsum  mordebit. 
laicus  nichil  dahit. 

0  magna  tristicia! 

Quando  exit  per  vicos, 
nullum  videt  suum  amicum, 
ipsum  mordet  magnum  frigus, 
ut  dentes  concutiat. 


Et  si  stubam  quis  intrabit 
et  se  ad  fornax  calidabit, 
ipsum  extra  pepulabit 

32     iratus  familia. 
9 
Nolo  furem.  quod  hie  stabis? 
quod  tu  nobis  nil  furabis! 
vel  ego  te  verberabis 

36     usque  ad  sanguinea. 
10 
Et  sie  exit  confundatus. 
sibi  pauper  nil  non  datus. 
canis  currit  cum  latratus, 

40    quando  vadit  hostia. 
11 
Si  se  unus  infirmabit, 
alter  eum  consolabit, 
super  eum  mendicabit 

44    panis  et  cervisia. 
12 
Bone  frater,  cum  te  stabo. 
quid  non  vis,  tibi  dabo, 
si  vis  panis,  aportabo 

48    et  aquam  de  flu  via. 


Et  si  stubam  quis  intrabit 
et  se  ad  fornacem  calidabit, 
ipsum  extra  pulsabit 
irata  familia. 

Nolo  furem!  quid  hie  stas? 
ne  nobis  quid  fureris! 
vel  ego  te  verberaho 

usque  ad  sanguinem. 

Et  sie  exit  confusus. 
ei  pauperi  nihil  datur. 
canis  currit  cum  latratu, 
quando  vadit  ad  ostia, 

Si  quis  inßrmatur, 
alter  eum  consolatur, 
pro  eo  mendicabit 

panem  et  cerevisiam. 

Bone  frater,  tecum  staho 
quidvis  tiln  dabo, 
si  vis  panem,  apportabo 
et  aquam  de  fluvio. 


24  nil  non   Cod;  sibi  non  Palm;  vgl.   V.  38      46  quid  modo  vis?       48  flu- 
mine  Cod.,  fluvia  Palm-,  vgl.  Quondam  fuit  (S.  414)  19,  4  de  fons  et  de  fluvia. 


Quondara  fuit  factus  festus,  ein  Gedicht  in  Spottlatein. 


429 


13 

Quando  simul  sedent  isti 

et  non  habent  quid  comedisti, 

magni  cantant,  parvi  tristi 

52     flent  propter  esuria. 
14 
Et  quando  magnum  est  scolare 
et  vadit  inter  populäre, 
ipsum  omnes  inclamare: 

56     tu  es  partecaria. 
15 
Et  si  parum  respondabit, 
laycus  se  magis  irabit; 
tale  verbum  sibi  dabit: 

60  vadis  ad  discolia. 
16 
Sanete  deus  trinitatis, 
tu  scis  omnis  cogitatis. 
nos  nil  eis  faciatis, 

64  tarnen  nos  semper  odia. 
17 
Hoc  credere  potuetis. 
nam  semper  extra  metis 
posuerunt  nostrum  habitetis 

68  extra  cimiteria. 
18 
Sed  vos  boni  dominorum, 
estis  que  nostrum  fautorum, 
ad  vos  mittit  clericorum 

72     rogando  vestra  gratia. 
19 
Quid  vos  nobis  datis, 
quod  libenter  comedatis, 
et,  si  datis  de  hoc  satis, 

76     erimus  leticia. 
20 
lam  volumus  appendare 
nostrum  magnum  sigillare, 
ut  vos  nobis  boc  credare, 

80     quod  non  est  fallacia. 
56  Palm:    partecarius   ein  Bettler 
particula);    Schmeller  I  406:    Gaben, 
'ich  hab  mir  viel  Partecken  ersungen'. 


Quando  una  sedent  isti 
et  non  habent,  cßiid  comedant: 
magni  clamant,  parvi  tristes  (?) 
flent  propter  esuriem. 

Et  quando  magnus  Scolaris 
vadit  inter  popidum, 
ipsum  omnes  indamant: 
tu  es  partecarius. 

Et  si  paulum  respondehit, 
laicus  magis  irascetur; 
tale  verbum  ei  dabit: 

vadis  ad  dyscoliam  (?). 

Sanctae  deus  trinitatis, 
tu  scis  omnes  cogitatus. 
nos  nil  eis  facimus; 

tarnen  nos  semper  oderunt. 

Hoc  credere  potestis. 
nam  semper  extra  metas 
posuerunt  nostras  Jiabitationes 
extra  (iuxta?)  cimiteria, 

Sed  vos  boni  domini, 
estis  qui  nostri  fautoreSj 
ad  vos  mittunt  clerici 

rogantes  vestram  gratiam. 

Aliquid  vos  nobis  date, 
quod  libenter  comedamus, 
et,  si  datis  de  hoc  satis, 
erimus  in  leticia» 

lam  volumus  appendere 
nostrum  magnum  sigillum, 
ut  vos  nobis  credatis, 

quod  hoc  non  est  fallacia. 
um   ein  Stückchen  Brot  (partyka  polnisch 
Almosen   in  Geld  u.  Speisen.     Hans   Sachs 
60  morositatem  ?      73  Quid  nos  nobis  Cod. 


Weitere  Beiträge  zu  Menander. 

Von 

Friedrich  Leo. 

Vorgelegt  am  19.  August  1908. 

A.  Körte  hat  soeben  in  den  Berichten  der  K.  Sächsischen 
Gesellschaft  der  Wissenschaften  (phü.-hist.  Kl.  LX  S.  87 ff.)  die 
Ergebnisse  seiner  Nachprüfung  des  Menanderbnches  von  Aphro- 
ditopolis  veröffentlicht.  Man  erfährt  daraus  vor  allem,  daß  Le- 
febvres  Lesung  im  allgemeinen  zuverlässig,  der  Text  des  Papyrus 
also  wirklich,  und  zwar  besonders  iq  den  Tetrameterscenen,  sehr 
corrupt  ist.  Vieles  neue  hat  Körte  hinzufügen,  vielfach  die  Grund- 
lage der  Herstellung  breiter  und  sicherer  geben  können.  Ich  be- 
handle hier  einige  Stellen,  an  denen  ich  meine  weiter  gekommen 
zu  sein;  hoffentlich  werden  sich  diese  Versuche  bei  der  nächsten 
Prüfung  des  Papyrus  nützlich  erweisen. 

Ich  beginne  wie  Körte  mit  der  UeQixsiQo^evri.  Der  Aktschluß, 
der  den  Anfang  des  bei  Lefebvre  hinter  die  Za^ia  geratenen 
Fragments  bildet,  kommt  jetzt  richtig  heraus.  Daos  hat  gesagt 
V.  345  (75) ')  6  xQotfinois  ^rjtr]Tsog.  Dann  hat  Körte  gelesen  (S.  94) 
die  Versanfänge  346  (76)  .  .  sqytog,  wozu  er  bemerkt,  daß  der  Buch- 
stabenrest vor  s  von  x,  X,  d,  Xi  aber  nicht  von  y  herrühren  kann, 
daß  vor  s  zwei,  höchstens  drei  Buchstaben  fehlen,  daß  ays  mit 
dem  Raum,  aber  nicht  mit  den  Buchstabenspuren  vereinbar  wäre; 
und  347  (77)  svxulqov.  Es  ergibt  sich,  daß  jemand  aus  dem  Hause 
oder  die  herangekommene  Herrin  dem  Daos  zuruft: 
eXje  ovTog  avthv  r\riv  ta]xC6tt]v, 


1)  Ich   citire  nach  Lefebvre  und  füge  van  Leeuwens  Zahlen,  wo  sie  ab- 
weichen, in  Klammern  bei. 


Friedrich  Leo,  Weitere  Beiträge  zu  Menander.  431 

«fang  du  ihn  so  scliaell  da  kannst',  und  daß  Daos  mit  den   Worten 
abgeht : 

svd'dds 
svxaiQOV  sivuL  (paiv8^\  cjg^i^ol  öoKst. 
ivd'dds   bedeutet   also    'hier,   wie  die  Dinge  liegen'    und  ist  in  der 
Handschrift  richtig  seiner  Person  zugeteilt. 

V.  356  (85):    Moschion    will   trotz    der   gnten   Botschaft    ver- 
zweifeln : 

rig  s6oii[at,  tCg;]  ßCos]  iiaXi^d'^  [o  n, 
Jas,  XGiV  TCdvtCJV   CCQSÖKSi   6[oL   y8^]    B7tCßks(p\    v[7Csq)vy6v.  ^) 
ccQa  ro  (ivXcod-QSLv  Kgatiötov] 
Dies   ist   nur  ein  Versuch,    von   sicißlscp   ausgehend,    das  Lefebvre 
und  Körte  gelesen  haben.     Daos  darauf : 

£tg  .  .  A  .  .  . 
ovto(5\  cpSQOiisvoq  ri[i  .  .  ^ridsy  ....  ^vy   .... 
Er  spricht  beiseit: 

SL3  [ro]  l[riQSlv  (paCvBxai 
curoöl  (pBQOiievog  i^«'[t^'*]  iirjdsv  [ovv  6]^vv[rsog. 
Mit  der  Partie  362—374  (91—103),  von  der  Körte  S.  97  unter 
allem  Vorbehalt  eine  Abschrift  gibt,  ist  noch  nichts  zu  machen; 
363  SKÖoCrig,  367  slt  s^s  ravt,  369  toiag,  370  stQ^^vr}  geht  alles  so 
nicht.  Zu  emendiren  ist  370  (99)  itp^  olg  sXqyiks  xovtoug  (so  schon 
Eermes  XLIII  147  A.).     Vielleicht  372  (101): 

rccvta  ^Bvtoi  qp[ry](?^V  svxd-co  \%a\8\s  ysvBöd'ai,    0v^q)OQcc^), 
das   letzte    nach  Ua^.  264   aXlä   tarn    eviov  ysvsöd'ai    ^v^cpsgovra. 
V.  382  glaubt  Körte  etwa  TCEQißaXovd'  s  .  .  .  qccös  zu  erkennen; 
vielleicht  STteöJca^s  (Plat.  Krat.  420*  STtiöTta  acpodga  triv   iljvx'tjv). 
V.  389  (118)iF.  stellen  sich  bei  Körte  folgendermaßen  dar: 
TtSQt^svsiv  doKOvöC  ^oC  [(?]£  :  Kai  Ttokqv^ö  — 
ovK  st^'   DCYjdrjg .  ntaiö  av\t\alg  \ovv\    itaQOvta  ^   svd'äds. 
ay]6  ds  vvv  rofc[o]t>ro  Xiy^  £'A['9']öv  :  !ßg  bgag,  ävaöXQBcpcß. 
Ich   halte   es    für    sehr   wahrscheinlich,    daß    in  den  beiden  ersten 
Versen  zwei  leichte  Schreibfehler  zu  corrigiren  und  sonst  alles  in 
Ordnung   ist,   nur   daß    ovx  vom  Ende    des  Verses  in  den  Anfang 
des   nächsten  gezogen   worden   (so  Robert,    dergleichen  ist   öfter 
geschehen): 

M.  Kai  7CoO'ov/i£[0''  •  ^  yccg]  ovjc' 
e^^tt'  ccYiÖYig  .  [eJ^TCa^  avratg  [xal]  jtaQÖvta  ^   ^v^dds] 


1)  Körtes  Xesung:    Jas   t&v  Ttdvrcov   agsatiSL  g  .  .  .  .  inißlscp.  y   Unter  der 
Yoraussetzung,  daß  mit  y  die  Zeile  wirklicli  zu  Ende  ist,  finde  ich  nichts. 

2)  GYXOCa.A Körte. 


432  Friedrich  Leo, 

V.  383  (112)  stellt  ovx  aridrig,  gjq  ^'ot[x£]i/,  at'ft'  iöstv  ovo'  svt[vx£t]v 
in  der  Handschrift.  V.  399  (128)  berichtet  Daos:  ag  yäg  eld-cav 
elyca  Jtgbg  rijv  (iritSQcc,  Zti  ndcgsL  u.  s.  w.  Die  Participialconstruc- 
tion  ist  bekannt  aus  Homer  und  der  Tragödie  ^) ;  in  der  Komödie: 
Eubnlos  frg.  120  K.  Ix^vv  Ö*  "OiariQog  se&iovt^  eiQrjxe  itov  xiva  tcbv 
l4xcci'G)V ;  ^) 

Die  Verse  404—411  (133-140),  deren  Abschrift  Körte  S.  101 
gibt,   klären   sich   auf;    Moschion  schwankt  wieder  zwischen  Ver- 

1)  Z.  B.  Soph.  El.  676  d-ccrovr  'Ogiatriv  vvv  ts  yial  ndXai  Xsyco,  Oed.  C. 
1580  Xs^ag  OlSCnovv  6X(oX6xa,  vgl.  Plat.  Gorg.  48 i^^. 

2)  In  V.  391  (120)  schreibt  Körte  wohl  richtig  xovtC  für  roLovto.  Er  be- 
merkt dazu:  'an  dem  Daktylus  würde  ich  keinen  Anstoß  nehmen,  denn  V.  42 i 
tcoqvlSlov  tQiGcid'Xiov  zeigt,  daß  Menander  ihn  ebenso  gut  wie  Epicharm  und 
Aristophanes  (vgl.  Wilamowitz,  Isyllos  S.  8)  im  Tetrameter  gelegentlich  zugelassen 
hat.'  Es  ist  ein  Irrtum,  daß  die  von  Wilamowitz  angeführten  Trochäen  die  Zu- 
lässigkeit  eines  'Daktylus',  wie  es  der  in  xoiovxo  X«'y'  ^X&mv  ist,  beweisen.  Epi- 
charm hat  hierfür  etwas  zu  bedeuten,  wenn  es  sich  um  Aristophanes,  aber  nicht 
(wie  man  aus  der  ersten  Leetüre  Menanders  lernt),  wenn  es  sich  um  Menander 
handelt.  Aristophanes  hat  in  trochäischen  Systemen  drifioeicc  und  öslvoxsqov  und 
(wenn  das  richtig  ist,  woran  ich  wie  andre  aus  Gründen  des  Inhalts  zweifle)  in 
einem  Tetrameter  xrjv  ytetpaX'qv,  ein  choriambisches  Wort  wie  jene  und  wie  Me- 
nanders noQvCdiov.  der  Gebrauch  ist  also  genau  derselbe  und  aus  denselben 
Gründen  wie  der  von  *Avxiy6vri  im  tragischen  Trimeter.  Es  gibt  aber  noch  zwei 
Tetrameter  bei  Aristophanes:  Eq.  319  vi]  dia  %a^\  xovx''  tögccas  xavxov^  wo  vi] 
dla  nur  im  Ravennas  steht,  also  nicht  einmal  überliefert  ist  (xal  vi\  Ji'a  im 
Venetus  und  sonst,  da  nämlich  der  Vers  mit  xat  anfing),  und  Thesm.  1156,  wo 
den  Glauben  an  ölcc  xbv  ysXcov  zu  verlangen  eine  ziemlich  starke  Zumutung  ist. 
Porson  hat  beide  Verse  emendirt;  wenn  beide  mit  dem  'Daktylus'  richtig  sein 
sollten,  so  hätte  sich  Aristophanes  noch  gelegentlich  etwas  gestattet  wie  Euripides, 
wenn  er  IlvXcidrig  mit  dem  Versictus  auf  der  letzten  ins  Innere  des  Trimeters  setzte. 
Einen  'Daktylus'  aber  wie  ihn  Körte  in  xoiovxo  Xey  iXd-mVj  in  cprifiL  ys  ^-^  (S.  101), 
in  vaxsQOv  ^^dyysXXe  (S.  125),  in  TtoXXa.  ys'  vvv  y^iv  (S.  131,  dies  im  Trimeter) 
für  möglich  hält,  gibt  es  bei  Menander  nur  in  Corruptelen  und  falschen  Conjec- 
turen.  Ebenso  ist  es  mit  dem  Trimeter,  obgleich  bei  Aristophanes  die  ein  oder 
zwei  kurzen  Endsilben  in  der  zweiten  und  vierten  Senkung  legitim  sind.  Menander 
hat  das  entweder  aufgegeben  oder  aufs  äußerste  beschränkt,  wie  ich  schon  Nachr. 
1907  S.  318  bemerkt  habe.  Die  überlieferten  Fälle  (außer  den  dort  besprochenen) 
sind  frg.  462,  3  (wo  nicht  olov  xa  rrjötcorixa  xuvxl  ^bvvöqlu  bei  Athenaeus  steht, 
sondern  xu  [i^v  vria.y  und  nicht  xcc  vriaiaxiTici,  sondern  xä  (ilv  vr\Gaicc  zu  schreiben 
ist),  474,2  (wo  der  metrische  Fehler  doppelt  ist),  481,11  (wo  ngiöxog  &jtfXd"^g 
nur  Variante  ist),  498,  2  [vagna  xig  hXov  xb  degfia,  Dobree  stellt  aus  sprachlichem 
Grunde  um),  584,  10  (mit  Elision,  Meineke  nimmt  am  Ausdruck  Anstoß),  544,  4 
(<Taxx^l'  statt  ffax/'oi'),  710,2  {ng&xov  iniav.inxovy  Meineke  TTpcota),  849  (corrupt). 
—  Der  Trimeter  der  Komödie  ist  nicht  der  archilocliische,  sondern  der  volks- 
tümliche. Epicharms  Trimeter  steht  Archilochos  näher  als  der  der  attischen 
Komödie  (Sieckmann  de  com.  att.  primordiis  S.  21  f.);  der  Tetrameter  des  Ari- 
stophanes steht  Archilochos  näher  als  der  Epicharms.    Wie  weit  sich  der  Trimeter 


Weitere  Beiträge  zu  Menander.  433 

zweiflung  und  Selbsttäuschung,  dann  zieht  er  Dans  zur  Rechen- 
schaft.  Dieser  hat  gemeldet,  daß  die  Mutter  ihn  fortgeschickt  hat : 
ßccdi^s,  Ttacdiov 

SKTtoöav.  [M.  cckrjd^sg ;   rjöri]  itdvx^  a\y\YiQ7ta0z''  sk  ^s6ov.  ^) 
ovx  £ft']  a'^'  o['t'J'9-[£];/,  Ttagövra  ö'  iqdi[iC8L,]  ^aönyia.^)  405 

tovto  cpTJJöcxi  ^ol;  yeloLOv.    J.  rj  ^sv  ovv  ^njtrjQ  —  M  tl  qpr^g; 
TOdf   7t07}6^    cc]7cov6ai'    aVT[7]V    (pr]]6L    TtQDCy^ ^    ov%   svsx^   i^ov  ]  ^) 
6v  ÖS  TÖO-',  G}]g  ^8Jt£Lxag  ild^slv  JtQÖg  ^\    A.  iyh  d'  slgriKci  6oi 
wg  7t£7C£i]x'  sXd'stv  ixsCvfjV]  uä  xbv  ^^itöllco,  ^yo)  ^hv  ov.  *) 
M.  7toXXaxo]v  do[Kstg  6]og)[G)]g  ^oi)  %oXv  'Kaxail)sv8e6[^'  ayav.  ^)     410 
og  ys  xal  rrjv   ^rirsQ^  ccvrb'jg  ravra  öv^7Cs[7tSiX£]vai^) 
aQTicog  scprjöd'a,  tavtrjv  svd^dö^  vitod'S^aöd'^  i^ov 
£V£xa.     z/.  rovO"',  ogag^  scpriv ;  vai,  ^vtj^ovsvcj. 
V.  406  habe  ich  ysXotov   dem  Mosehion   gegeben,    das   scheint   mir 
notwendig.     Moschion  bezieht  sich  auf  Daos'  Versicherung  V.  354 
(83)  xal  7t8JC£ix^  avTTjv    ^ev    sXd-stv  ösvq^    dvaXdyöag    Xöyovg  avQiovg, 
tYjv  6riv  ÖS  ^YjrsQ^  ditodeieöd-ai  xal  Ttoslv  Ttdvd-'  ä  60i  doKst  (Körtes 
Lesung  S.  95).     411  der  Plural  ravta,  weil  im  folgenden  das  s^ov 
£V£7ca  vom  vjtodE^aöd'ciL  ausdrücklich  gesondert  wird  (413  xal  öoksIv 
eveyC  i^ov  Ool  tovto  Tcgdttsiv]). 

V.  418  (147) ff.  hat  Körte  gelesen: 

tvxbv  l'öcog  ov  ßovlstm 
II ... .  d[6a\i  ö'  f'l  [£\7ti8Qo^fig  tavd-\  ^tg  stvxsv,  dkl''  d^iol 
%[Q6teQov'\   sidsvat   6\   dxov6a[i]    xd   Tcagd   öov   t[e\  ^)  vyi  /iCa. 

Menanders  von  dem  des  Aristophanes  entfernt  hat,  bedarf  genauer  Untersuchung; 
von  dem  leichter  zu  übersehenden  Tetrameter  Menanders  ist  es  klar,  daß  er  eine 
Strenge  der  Form  ausgebildet  zeigt,  die  Aristophanes  noch  fremd  ist.  Besonders 
tritt  dies  in  der  Anwendung  der  Diärese  hervor,  vgl.  Nachr.  1907  S.  336  und 
unten  S.  440  A.  1. 

1)  Körtes  Abschrift: 

•  KnOAöN XNANT'  A  .  HPnACT'  eKMGCOY 

iivriqnaGx    ergänzt  Körte,     d-ituvta  wäre  metrisch  nicht  gut. 

2)  . . .  O  .  APO    C  .  NnAPONTAC  HAI  •  •  •  MACTiriA: 

Das  0  ist  in  der  Note  angegeben,  'was  auf  [(y]qp[o]^()o['y]g  führen  würde'.  Ich 
finde  überhaupt  keine  Möglichkeit  mit  AP  zu  ergänzen. 

3)  V.  406  fehlen  zu  Anfang  nach  Körte  nur  6,  V.  407  nur  7  Buchstaben. 

4)  Ergänzt  von  Körte. 

5) YAO  ....  00  .  eMOYnOAYKATAYeYAGC 

Robert  hat  (nach  Lefebvre)  ergänzt:  \tioXv  xaroc  '\ps\v8i)[ß  6\o(p{o?  av,]  noXv  -naxd 
tpsvdog  [XeysLv].     Sudhaus  Rhein.  Mus.  LXIII  288  hat  doyiSLg. 

6)  Zu  Anfang  fehlen  nach  Körte    nur  17  Buchstaben.     Die  Ergänzung  etwa 
wie  Sudhaus  S.  288. 

7)  y[£]  die  Handschrift. 


434  Friedrich  Leo, 

Zu  ergänzen  ist  offenbar  u[ot  cpQJdöaLi  sie  will  nicht,  daß  du  micli 
zum  Boten  und  Vermittler  machst,  du  sollst  von  ihr  hören  (ra 
arap'  avTf}g)  und  sie  von  dir.  Die  Ausdrucksweise  ist  in  ähnlicher 
Art  concis  wie  Za^.  20.     Das  Folgende  gibt  Körte  so : 

ov  yaQ   ojg   avkJYizQtg  ovö^  ag  TtOQvCöiov   rgiödd^Xiov 

de^etat.     M.  d-sXs]ig   keysiv  fiot,   z/af,    xC  iidliv ;   z/.  öokl  .... 

.  .  .  .  ot  .  .  [60t]Cv,  oiyiaL  *  xaxaXü^oncev  OLxCav, 

Ol)   q)kvccQ[G),  TÖv  t']  iQaoztjv.    st  6v  TQslg  i]  XBXxaQag 

)]^]BQag  ßo  .  Xel,  TtQoöi^ai  ooC  xig'  dvexoLVOvio  ^loi  425 

tou]t  •  axovöuL  yaQ  E[^h  djst  vvv.  M.  tiov  7isdt]6ag  xaxa[k]L7t[cjv, 

z/]a£,  nsQLTcaxety  [7toe]ig  ^le  itSQiTilax^ov  noXvv  xuva] 

Die  Rede  des  Daos  hat,  wie  es  zwischen  diesen  beiden  zu  gehen 
pflegt,  auf  Moschion  Eindruck  gemacht ;  das  liegt  in  seinen  Worten 
V.  422  (151):  nicht  fragend,  sondern  (mit  Sudhaus  und  Robert) 
öoxelg  ksyecv  ^oi  z/a£  xi  TtdXiv.  Daos  benutzt  den  Vorteil  und 
fordert  ihn  zu  weiterer  Ueberlegung  auf:  doxt^aöov  a)ö\  ÖTtoiöv 
iöxiv.  Der  folgende  Gredanke  muß  sein :  'sie  hat  doch  gewiß  nicht 
ohne  Grund  Haus  und  Liebhaber  verlassen' ;  das  ganz  notwendige 
'nicht  ohne  Grund'  muß  in  ov  (plvag  —  liegen:  ov  (plvagovöa  oder 
(pXvdQcp  (wie  öTtovörj  u.  dgl.).  Daraus  folgt :  'laß  ihr  Zeit,  wenn  du 
sie  drei  oder  vier  Tage  in  Ruhe  läßest,  wird  sie  dir  gehören'. 
Zu  ßg  .  Xsl  bemerkt  Körte,  daß  für  B  auch  0,  für  O  auch  A  ge- 
lesen werden  kann  und  daß  vor  dem  X  ein  oder  zwei  Buchstaben 
fehlen.  Hiernach  darf  man  nicht  an  Tcavöei  oder  cpsv^ei  ^),  das  den 
Gedanken  einfach  ausdrücken  würde,  sondern  ernstlich  nur  an 
ßovXsL  denken.  Glykerion  xaxaXiXoiTCs  xijv  oixCav  xal  xov  bqdl0X)]v^ 
'wenn  du  nur  drei  oder  vier  Tage  lang  dasselbe  tun  willst  — ': 
zu  ßovXei  muß  verstanden  werden  xaxaXsiitsiv  xrjv  oixCav  xal  xi^v 
eQCD^evriv.  Es  ist  mir  sehr  wahrscheinlich,  daß  Menander  das  ge- 
wollt hat;  natürlich  unterstützt  das  rid^og  den  Ausdruck,  das 
zögernde  Sprechen  des  Daos,  der  einen  Wutausbruch  fürchtet. 
Daß  der  Gedanke  kein  andrer  war,  zeigt  das  Folgende  klärlich. 
Zunächst  lügt  Daos:  'sie  vertraute  es  mir  selber  an',  bisher  hat 
er  das  verschwiegen,  'jetzt  mußt  du  es  wissen'  (nicht  'ich'):  dxov- 
fsai  ydg  0[e  d]st  vvv.  Dann  bricht  Moschion  in  Klagen  aus :  tcov 
jiedr]6ag  xaxaXCitG)]  'wo  soll  ich  sie  festbinden,  ehe  ich  sie  verlasse?* 
d.  h.  wer  gibt  mir  Sicherheit,  daß  sie  nicht  während  der  Zeit 
davongeht?   'es   ist   ein    langes  Herumwandem,    auf  das   du  mich 


1)  Oder  atB7.Bt  mit  Sudhaus  Rhein.  Mus.  LXIII  286.    Mit  seiner  und  Roberts 
Auffassung  der  Stelle  treffe  ich  zusammen. 


Weitere  Beiträge  zu  Menander.  435 

schickst'.  Die  Situation  ist  ähnlich  wie  im  Ennuchus :  181  ego 
impetrare  nequeo  hoc  ahs  te,  hiäuoDi  saltcm  nt  concedas  solnni,  187 
riis  ibo,  ibi  Jwc  me  maceraho  hiduom,  der  TtsQiTtarcbv  629  ff.  Das 
G-anze  also: 

ov  yäg  ag  avXrjtQlg  ovd^  cjg  Ttogviöiov  tgtödd-Xiov 

rjkd's.    M.  vvv  dox£\tg  Xeyeiv  f*ot  Jäb  n  itdliv.    J.  8o7ii\ßc(,i5ov 

G}8\  bit^ollov  s6t]Lv '  ot^iaL,  TcaraXekocTCsv  ol%iav 

ov  q)XvdQ[a}  xov  t']    SQaöTrjv '  sl  6v  rgslg  iq   tszraQag 

il^BQag  ßovlsi,  TCQOöst^st  öoC  xig.  dvsxoivovrö  iioi  425 

TO-ör'  •  ccnovöai  ydg    6[8  8\8l  vvv.     M.  itov  jcsdr^öag  ^atakiTCco, 

z/a£ ;  TtsQLTCccTslv  Ttostg  iie  TtSQiTcatov  Ttokvv  tiva. 

Moschion  läßt  sich  überreden,  ruhig  ins  Haus  zu  gehn  und  sich 
zu  verhalten  wie  er  nachher  in  seinem  Monolog  erscheint,  mit  der 
Absicht,  sich  auf  einige  Tage  wieder  zu  entfernen.  ^)  Dann  kommt 
aber  Polemon  mit  seiner  Belagerung  dazwischen. 

Wichtig  ist,  nachdem  Sudhaus,  van  Leeuwen  (in  der  2.  Auf- 
lage) und  Robert  den  Polemon  aus  seiner  ersten  großen  Scene 
(447  ff.)  gestrichen  und  Sosias  dafür  eingetauscht  haben,  daß  Körte 
(S.  105)  am  Rande  von  V.  453  (183)  IIO  erkannt  hat,  wo  Polemon 
an  Myrrhines  Tür  klopft.  Der  Anfang  der  sehr  schlecht  erhaltenen 
Scene  (Körte  S.  106)  läßt  sich  herstellen.     Körte  gibt  Folgendes: 

ocvd^QcoTts  xaxööat^ov,  rC  ßovXsi ;  tC  yccg  €[x^]tg ', 

svTsvdsv  sig  rvxöv  dXlä  xC  .  .  oXov  .  ig^)  455 


d7tovev6i]öd'£  Ttgbg  d'sl&v]  .  .  .  s(.isß 
s%Siv  yvvalxa  Ttgbg  ß[ia]v  x  .  xvg  . 
xoXiiäxe  %axaKX£i6avx\e\g  :  Gig  xi  .  . 
STiLövxocpavxElg  o6x[i]g  [s]l  6v  tco  . 


.») 


') 


V.  455  gehört  offenbar  noch  dem  Oeffnenden.     Der  Apostroph  nach 
l  wird,  wie  ihn  Körte  als  zweifelhaft  bezeichnet,  eine  Täuschung 


1)  Moschions  Frage  V.  430 ccösl]  auf   die  Daos    antwortet  yiccl  ^dXcc, 

bedarf  noch  der  Ergänzung,  icpodt  ov%  bqag  fi  £%ovxa  geht  doch  wohl  auf  die 
gemeinsame  Keise  (Körte  hat  gelesen  '^%biv  tb,  wenn  mit  Recht,  so  würden  sowohl 
der  Infinitiv  als  der  Artikel  in  der  Diärese  Corruptel  beweisen). 

2)  Der    Apostroph   nach   X   zweifelhaft,    statt  v   auch   ql    oder   gri    möglich 
(Körte). 

3)  'Am  Schluß  des  Verses  ist  /x  nicht  ganz  sicher  und  statt  ß  auch  q  mög- 
lich' (Körte). 

4)  'Der  letzte  Buchstabe  ist  o  oder  g'  (Körte). 


436  Friedrich  Leo, 

sein,  denn  als  INTomen  bietet  sich  [ötJoAov  und  als  Verbum  [a]r()[£r£ '). 
Am  Schluß  von  V.  456  erscheint  so  deutlich  eX?.sß[oQ]t  — ^)  und 
paßt  so  gut  in  den  Zusammenhang,  daß  darauf  nicht  zu  verzichten 
*  ist,  obgleich  der  Vers  eine  Pluralform  nicht  verträgt;  man  muß 
also  :  hinter  dscbv  ansetzen.  Die  Ergänzung  von  457  ergibt  sich 
ohne  weiteres,  die  von  458  wenigstens  dem  Sinne  nach  {re%vG)iLBvou 
ist  für  den  angegebenen  Raum  zu  lang)  ^).     Ich  lese  also : 

z/.  avd^QcoTce  xaxodai^ovj  %i  ßovlsi ;  rt  yäg  £%si$ ; 
ivrev%^ev  eig  xv^öv  aXXa  xC  \px\6Xov  [a]l'(>[£T£] ; 
M.  a7iovhv6r[Q%E  icgog  d^e&v ;  z/.  [i)]  8Xksß[oQ]i[ag] ;  ^) 
M.  s%eLv  yvvalxa  TCQog  ßCav  x\o\)\  kvq\Cov\ 
xoX^axs  xaxaxXsLOavxeg ;  z/.  mg  xC  \xB%VG}iiBvoi ; 
imövxocpccvxslg,  oöxtg  sl  6v,  n6[Qi(pavG)g. 

V.  472  (201)  vielleicht: 

&07C6Q  %aQ^  riiilv  ovöav  si  oc[Qi]v6Lg  Tcdkai.^) 
V.  485  (214)  hat  die  Handschrift 

.  ...  ITC    oliB^^"   ov  xb  hbX^^l    b<5x\  ivd^ccÖB. 
Wenn  der  Raum  für  ob  xaxBX]L7C    oder  b^^  oltibV^itC  nicht  ausreicht, 
so  ist  das  V  bX\i%(bv)  mit  der  z.  B.  V.  388  (117)  und  'Etiixq.  280 
erscheinenden  unrichtigen  Apostrophirung  (vgl.  Körte  S.  110). 

In  der  Ila\iia  wird  zuerst  die  übel  zugerichtete  Stelle  V.  101  ff. 
durch  die  neue  Lesung  gefördert.^)  Aus  Körtes  Angaben  geht 
folgendes  hervor: 

{[^'jötd'  anqiß&^g  jcdv]xa  Ttal  jib  —  —  fia[L 

oxL  MoexCcüvdg  [ieiiv^]  ort  övvoiad-a  6v 


1)  Es  ist  kaum  anders  möglich,  als  daß  auf  q  noch  einige  Buchstaben 
folgten.  aroXov  algsiv  ist  aus  der  Tragödie  bekannt;  dergleichen  hat  sich  nun 
viel  bei  Menander  gefunden.  Daß  Polemou  nicht  allein  kommt,  zeigt  sowohl  diese 
Scene  (von  447  an)  als  der  (von  Körte  S.  109  nicht  richtig  aufgefaßte)  Schluß 
von  478  an. 

2)  M  und  AA  sind  in  der  Handschrift  oifenbar  leicht  zu  verwechseln, 
8.  z.  B.  Körte  S.  97  zu  V.  362. 

3)  Antiph.  frg.  5  K.  (hg  St}  av  xC  noiHv  Swccfisvog; 

4)  schol.  Ar.  Vesp.  1489  in  xov  iXltßogov  xai  ilXsßogiäv,  r6  iXXeßogov 
Siiod^ai,  tag  KctXXCag  (pr\GCv.     Meineke  II  p.  742.     Kv.FfjQag  2  icXV  7]  nagatpQOvstg  \ 

5)  V.  465  (194)  ist  mit  naidagiav  oder  716Xtccq£(ov  in  der  Handschrift  corrupt. 

6)  V.  70.  71  sind  in  van  Leeuwens  Fassung  (71  nach  Crönert)  gut;  Körtes 
ngbg  ^B&v  ist  wie  V.  93  itgbg  tfig  *EaxCug  gegen  den  Gebrauch  der  Formel.  V.  90 
ist  dii  vüv  nagafit'vsiv  nicht  annehmbar.  V.  109  ist  nicht  ^  Xiye  das  Wort,  auf 
das  Daos  änoXfoXa  rufend  davonläuft,  sondern  ijdri  ye. 


Weitere  Beiträge  zu  Menander.  437 

7C  . .  caö^ t.L  vvv  avtrj  tgscpsi :  ^) 

.  .  (.)  SCpi] (.)    OCJIX^    CCTtÖKQiVai    tOVXO    ftOi  * 

^(^[i'og]  iötCv ;  :  s a  xaXlu  Xavd-avsiv.^)  105 

Parmenon  sagt  V.  306  röv  evdov  a^oXöyijxs  xovxo  tig,  das  kann 
er  wohl  aus  den  Worten  des  Alten  gefolgert  haben,  aber  wahr- 
scheinlicher ist,  daß  dieser  es  vorgegeben  hat ;  also  xal  jts[(pQa6r 
i]^oC.  In  der  Handschrift  stehen  o  und  a  einander  in  der  Form 
sehr  nahe,  sie  werden  beständig  verwechselt.  Was  in  V.  103 
stand,  entspricht  wahrscheinlich  den  Worten  Parmenons  Y.  304 
ro  TtaiddQiov  el6f\X%'8v  eug  triv  olKiav  f^v  rj^stSQav  yjvsyTi'  ixelvos, 
ovx  iy6.  Die  Ergänzung  ist  hier  wie  im  folgenden  unsicher,  aber 
alles  fügt  sich  nun  doch  besser  zusammen: 

^.  syayid^   ccTcgißag  itdvra  Kai  7i^q)Qa6T'  f'Jftot, 

ort  Mo6%iG3v6g  iönv,  ort  ßvvoiöd-a  öv, 

7i[G>g]  di6x[oiiiöd'ri,  diä  't\i  vvv  avxr\  xgscpSL. 

n.  [xig]  scprj  [xdd^ ;  J.  ovdsCg^  ä]Xl^  aito'HQivai  xovxo  ^loi ' 

xCvog  B6xCv ;  II.  £\y  rdd'  otd]a,  xdXXa  Xav%'dvsiv.  105 

Zu  104  vgl.  157  xC  Tcoovöav ;  Ovdsv,  dXX'  sxstg  xb  %aidCov. 
V.  159  hat  seine  Lösung  gefunden: 

X.  oxi  tovt'  dvsiX6^7]v,  dtä  xovxo]  xal  —   ^/.  xi  xa^] 

diä  xovxo. 
Nur  muß  wohl  das  erste  diä  xovxo  auch  Antwort  des  Demeas  sein : 

X.  ort  xom    dv£tX6^rjv;  A.  diä  xovxo.  X.  xaC  —  z/.  xC  xaC] 

öiä  rovro. 
Er   wendet   an   was   er   sich    V.  139   vorgenommen   hat:    sxeig    ös 
jtQOcpaöiVj    oxi    xb    Ttatdiov    dvsiXsx^  *    i^cpaviörjg    yäQ    äXXo    ^rids    ev. 
Terenz  hat  eine  ähnliche  Stelle  Menanders  so  übersetzt  (Eun.  184): 
T.  jjrofedo  non  plus  h'idiiom  aut  —  P.  aut  nil  moror. 
V.  166  f.: 

f'Z^t]?  T^ä  öccvxfjg  Tidvxa'  TtQoöxC^rnii  6oi 

....  d'^agaTtaCvag^  XQVöC  '  £K  xfjg  oixiag 

CCTtid^i.  ' 

Vor  d-  fehlen  nach  Körte  nur  4  oder  gar  3  Buchstaben,  aber  die 
Ergänzung  vlöv  ist  nach  jtQoöxid-rj^i  nicht  richtig.  Die  jcdvtcc  sind 
das  Kind  (172  vibv  TCSTtorjKag,  Ttdvx  £%£ig)  und  das  Kleid,  das  sie 
anhat  (162 f.);   er  gibt   ihr   dazu    die   alte   Dienerin  (157  s%sig  ro 

1)  'Am  Anfang   könnte   man   lesen   'jt\aX'\cci  qv,,   aber  auch   anderes,   z.  B. 
7i[aL]dLqv  ist  mit  den  Resten  vereinbar'.    Körte. 

2)  'ri[vog]  scheint  mir  möglich';   der  Buchstabe  vor  rccUcc   'sieht  wie  ein  o 
oder  allenfalls  cc  aus'.    Körte. 


438  Friedrich  Leo, 

Tcaidiov,  rrjv  yQavv),  die  auch  V.  87  als  ihre  Helferin  erscheint; 
natürlich  nicht  die  alte  Amme  des  Moschion  (16  ff.),  denn  wie 
sollte  Demeas  die  Freigelassene  verschenken  dürfen,  nnd  wie  sie 
aus  dem  Hause  jagen,  ohne  den  Zuschauern  ein  Wort  davon  zu 
sagen?     Zu  ergänzen  ist  wohl:  [tadC'  ^]sQa7taivagj  xQvöCa. 

V.  211  stürzt  Nikeratos  aus  seinem  Hause:  zJt]^ea,  öwiötaxai 
ijc'  i^8  xal  TtdvösLva  Ttotsl  TtQayi.iad''  t]  XgvöCg :  sie  wiegelt  die  Frauen 
auf  und  hält  das  Kind  fest,  215: 

ov  %Q0i\ße6^ai  xa  (pr]6Lv,  (oörs  ^lij  d'av^a^^  iäv 

avx6%eiQ  avtf}g  yivcoiiai .  J.  tTjg  yvvaiKog  avxoiBLQ  ; 

N.  Ttdvxa  yäg  6vvoidev  avxiq. 
Daß  das  nicht  richtig  ist,  hat  van  Leeuwen  gesehen,  der  rijg  yv- 
vaixog  noch  zu  den  Worten  des  Nikeratos  zieht  und  avxri  für 
Lefebvres  ohne  Zweifel  unrichtiges  avxi]  setzt.  Der  Anstoß  liegt 
darin,  daß  Mkeratos  sagt,  er  wolle  die  Chrysis  ermorden,  und 
Demeas  darauf:  'du  willst  deine  Frau  ermorden?',  denn  nur  das 
kann  xfig  yvvccLKÖg  bedeuten  (235  xi}v  yvvalK'  äito'KxevG)  ei6i6v). 
avxfjg  xfig  ywaiKog  mit  Bezug  auf  Chrysis  läßt  sich  aber  nicht 
verbinden;  und  övvoidsv  verlangt  eine  deutlichere  Beziehung.  Es 
ist  ZQ  lesen: 

&ÖXS  ßij  d-av^a^^  eäv 

aifXÖxsiQ  avxfjg  yivG)nai  xTjg  yvvatxög  (r').  z/.  avxöxsi'Q', 

N.  Ttdvxa  yäg  övvoidev  avxfj. 
Nun  kommt  Chrysis  mit  dem  Kinde;  nach  Demeas'  erstem  6l6c3 
xQSxe  (224)  bleibt  sie  noch  auf  der  Bühne,  da  Nikeratos  sie  ver- 
folgend ihr  den  Weg  verlegt.  Demeas  stellt  sich  zwischen  beide; 
Nikeratos  (226):  zfrj^ea,  ixTtodhv  äjtsX^s.  Demeas  (229)  dXXä  xvnxr^- 
öeig  IIB]  Nikeratos  (wie  Körte  van  Leeuwens  Conjectur  bestätigt 
gefunden  hat):  ayoys.  Darum  schlägt  aber  Nikeratos  nicht  zu,  es 
kommt  überhaupt  zu  keiner  Prügelei  zwischen  den  beiden  alten 
Herren,  das  setzt  das  Folgende  außer  Zweifel.  Demeas  ruft  der 
Chrysis  zu:  ^äxxov  dCfp^^dgri^i  6v,  dann  erst  als  Antwort  auf 
iyoye  dem  Nikeratos  (230): 

dlXä  ^Yjv  ^[ccyG)]y[s'\,^) 
und  wieder  der  Chrysis:    (pevys,  xqslxxcov  bgxC  ftov,   denn  nun  hält 
er  den  Nikeratos   fest  und  Chrysis   rettet   sich  in  Demeas'  Haus. 
Die  folgenden  Verse  setze  ich  her,  wie  sie  sich  nach  Körtes  Lesung 
(S.  119)  darsteUen: 

N,  TiQÖxsQog  a7cx[si]  ^ov  6v  vvvC'  xovx^  iyh  iiaQxvgo^iai. 
jj.  OYA'€ OpP  .  .  yvvaixa  Xa^ßdvsig  ßaxxriQCav '  ^) 

1)  'Zwischen  x  und  y  fehlen  eher  4  als  3  Buchstaben'  Körte, 

2)  'Zwischen  (yböl  und  ywatyia  fehlen  9—10  Buchstaben,  deren  drittletzter 
ziemUch  sicher  P  war,  vor  diesem  zwei  runde  Buchstaben  (0,  C,  €,  0)'.    Körte. 


Weitere  Beiträge  zu  Menander.  439 

.  .  .  ädi]Keig^)    N.  övxoipavreig.    z/.  xal  0v  yccQ.    N.  tö  TtaiöCov 
ov  ÖLÖco]g  inoi',  zJ.  ysloiov  rot'/idi/;  N.  aAA'  ovx  sön  0Öv. 

'  CJVd-QCJTtOL  ^).       N.    XSXQaX^L.  235 

Dies  aittELv  (231)  ist  die  erste  Berührung,  Nikeratos  will  ihn  darum 
verklagen;  Demeas  hält  ihm  entgegen,  daß  er  sich  selbst  eines 
Vergehens  schuldig  macht.  Darauf  Nikeratos:  6oKog)avr£lg  'du 
willst  denunziren',  Demeas:  }cal  6v  yocQ,  wie  dein  iiaQtvQSöd-ai  be- 
weist. Was  Demeas  dem  Nikeratos  vorwirft,  zeigt  die  erhaltene 
zweite  Hälfte  des  Verses  klar;  die  Ergänzung  ist  gegeben,  sobald 
man  sieht,  daß  OYA'  für  CYA'  verlesen  ist^): 

6v  d'  i[jt^  sXsv]^SQ[av]  yvvcclTCa  ka^ßocvsig  ßaxrriQiav' 
^  yä^]  adixstg. 

Die  Ergänzung  gibt  eine  schöne  Probe  auf  die  Zuverlässigkeit 
von  Körtes  Beurteilung  der  halbzerstörten  Reste*).  Der  Doppel- 
punkt am  Schluß  von  V.  234  läßt  annehmen,  daß  dXX'  ovx  a6ti 
ööv  nicht  ohne  Antwort  bleibt;  und  der  Hilferuf  cbvd-Qco^oi  allein 
ist  grade  genug,  um  mit  xixQai^i  abgetan  zu  werden.     Also  etwa : 

[z/.    Xal    ^CCX\    N.]    OJV^QGiTlOL. 

V.  306    liest    Körte    xav    svdov    caiioXöyrjxs    rovro    tig    7cd[XaL. 
Aber  TtccXaL  paßt  nicht  zum  Perfect.  7ta[Q6v]  ?    V.  309 : 

riTtSLXfjÖS    IIOL 

öty^etv  [s^'  cog]  ^dd-r}[L  ti ']  diatpegsli, ]  (>V  ^) 

ddixcjg  [Ttadsiv]  tcöt'  rj  dixaicog. 


1)  Tür  otov  ä8i]'iiSLg  (van  Leeuwen)  reicht  der  Raum  zur  Not.'  Körte. 
Aber  olov  ist  nicht  richtig,  da  vor  övitocpccvtsig  nur  die  Tatsache  adiTisig  betont 
werden  darf. 

2)  'Vor  atvd^QOTtoL  fehlen  6,  höchstens  7  Buchstaben,  davor  (das  heißt  doch 
wohl  vor  covd'QcoTtoL)  Apostroph  und  eine  Hasta,  die  von  einem  M  oder  auch  N 
stammen  kann'  Körte,  der  l'dets  /x]  covd'QcoTtoi,  vorschlägt. 

3)  Ebenso  gleich  nachher  V.  263  CYA'  Lefebvre  für  OYA'-  Körte  S.  90 : 
*C  wird  gern  zum  fast  geschlossenen  Kreis,  so  daß  es  leicht  mit  0  verwechselt 
werden  kann.' 

4)  Demeas  droht  dem  Nikeratos  mit  einer  öiytri  ccUlccs  oder  ygcccpi]  vßgscos, 
die  es  in  Athen  sogar  wegen  Mißhandlung  von  Sklaven  gab  (Dem.  21,  46 ff.; 
Hyperides  frg.  120  Bl.  e^saav  ov  ^6vov  vTtsQ  x&v  sXsv&sqcov,  ccXXä  -nal  idv  tig 
Big  SovXov  ü&ficc  vßQLar],  ygcccpäg  sivai  %axk  tov  vßQiöccvtog).  In  Xcc[ißccvsig  ßa-n- 
triQiccv  liegt  das  äg^siv  %biq(üv  ccdLKcov  (Arist.  rhet.  1402 »  1  t)  sl'  tig  (paii]  tb 
xvnxBiv    xovg  sXsvd'egovg    vßgiv    sIvccl'    ov    yäg    Ttdvtcog,    aXX'  otccv    ccgxv    X^i'Qoav 

5)  Nach  dLaq)egs[L  ds  ti  bleibt  nach  Körte  'noch  gv  oder  gi  und  davor  eine 
Lücke  von  1—2  Buchstaben'. 


440  Friedrich  Leo, 

Die  Lücke  in  V.  310  scheint  sich  genau  zu  füllen  durch  die  von 

Herrn  stud.  0.  Wiebe    gefundene  Fassung   dLaq)8Q6[L  d'  ovSs  y]Qv, 

vgl.  frg.  364  dia(pSQet  XaigBcpcovro^  ovdl  ygv.     Freilich  kann  dann 

intt^rii  TL  nicht  richtig  sein ;  vielleicht  ötL^siv  [^s  ^e]^ad'r][xa)s,  nach 

van  Leeuwen. 

V.  320   hat  Körte  gelesen  (ich  setze  die  von   ihm  zur  Wahl 

gestellten  Buchstaben  nach  Studemunds  Weise  darüber): 

Aie    AH 
ovt og  xaxa^svsLV  ^oy  A600AI  d67]6sraL 

Es   scheint   daß   die  Handschrift  mit   van  Leeuwens  Emendation 
ftov'  vd^aÖL  übereinstimmt  {AI  ^=  N). 

V.  329  hat  Körte  gelesen: 

d^v^id^atL  .  .  .  .  at  ävdittetai  d^vy,at  'Htpatörov  ß(at. 
Er  glaubt  die  Corruptel  der  zweiten  Vershälfte  durch  Streichung 
von  ^v^ax'  zu  heben  (obwohl  er  bemerkt,  daß  d^v^ia^ia  und  d'v^ata 
nebeneinander  stehn  können,  und  auf  die  Stele  von  Lykosura 
Dittenb.  Syll.  939  hinweist) ;  aber  ccvdjtTsd''  'HcpaC<5tov  ßia  ist  keine 
'tadellose'  Vershälfte ^).  Ich  vermute,  daß  das  Greschriebene  be- 
deutet : 

d-v^Ltt^d  XL  \^v^^d  t'  dvdjcxsxai  d-v^d  r'  'Hcpaißxov  ßCac 
und   daß   sich   durch  Streichen  des   doppelt  geschriebnen  Wortes 
und  Zurechtrücken  von  xt  das  Richtige  ergibt: 

d^v^Ca^^  dvdjtxsxaC  xi  d"v^d  0"'   ^HipaCöxov  ßCm. 

Im  letzten  erhaltenen  Verse  (341)  hat  Körte  ....  rat  gelesen, 
aber  ol'xsxat  paßt  kaum;  Roberts  xdvxa  yäg  yCvexai  füllt  den  Sinn 
und  den  Raum. 

Zu  den  'Entxge^tovxss,  die  überhaupt  besser  erhalten  sind,  habe 
ich  nur  wenige  Bemerkungen.     V.  280: 

TtQÖXSQOV    aXsCvriV    l\xvg    SÖxCv,    AßQÖXOVOV, 

evgco^sv '  iitl  xovxg)  d'  i^oy  öv  vvy .  ga  .  .  . 
Körte  bemerkt,  daß  statt  ipLov  auch  f/Aot  zu  lesen  möglich,  daß 
das  g  fast  sicher  ist.  Er  ergänzt  xgdxsi,  nicht  recht  verständlich ; 
was  es  bedeuten  könnte  ('ich  stehe  dir  zur  Verfügung'),  paßt 
nicht,  da  Onesimos,  wie  die  Antwort  der  Habrotonon  zeigt  (oi>x 
ctv  dwaCfiriv),    von  dieser  etwas  bestimmtes  verlangt  hat.    Er  hat 

1)  Menanders  erhaltene  Tetrameter  haben  ohne  Ausnahme  die  Diärese  nach 
dem  zweiten  Metron,  und  zwar  nie  mit  proklitischera  Wort  vor  der  Diärese; 
auch  nicht  mit  Synalöphc  außer  den  3  Versen  frg.  879  SclXcc  x&v  %Qriox&v  ^%8i 
riv  inifieXsiav  xal  d^sög ,  924,  3  dt«  ^aldvTTis  Sit}  x6itov  rtv ,  ohxos  iavai  fAOi 
ßcctos  und  nBQLn.  405  (134)  oben  S.  433. 


Weitere  Beiträge  zu  Menander.  441 

V.  275)  gefragt :  rC  iqyi  noslv  k^s  vvv ;  Sie  hat  geantwortet :  'das 
ist  deine  Sache,  ich  rate  dir  aber,  dem  Herrn  mitzuteilen  was  ich 
dir  eben  erzählt  habe'.  Darauf  Onesimos :  'das  möchte  ich  nicht, 
ehe  wir  die  Mutter  entdeckt  haben',  Eni  xovtg)  d'  i^ol  6v  vvv 
[(p\Qd[6ov],  nämlich  xC  xQV  ^oslv.  Er  wiederholt  seine  Frage  mit 
einer  Einschränkung:  'unter  dieser  Voraussetzung  antworte  mir', 
darauf  sie:  'das  kann  ich  nicht,  denn  ich  finde,  daß  man  zuerst 
den  Vater  ausfindig  machen  muß'. 

Die  in  dem  Fragment  NT  enthaltene  Scene  kann  ich  auch 
nach  Körtes  Bemerkungen  auf  S.  130  nur  als  einen  Dialog  des 
Smikrines  und  Onesimos  ansehn  ^),  worin  Robert  mit  mir  überein- 
stimmt.    V.  529  (370)  wird  durch  Körtes  Lesung  gefördert: 

d[La]6x£ddv x  .  og 

Aber  die  Ergänzung  diaöxsddvvve'  6  oxvog  mit  der  Uebersetzung 
'jetzt  ruinirt  das  Zögern  der  Gäste  den  Kochkünstler'  gibt  keiaen 
möglichen  Ausdruck.  Das  Verbum  geht  offenbar  auf  das  Greld, 
dissipat  rem  familiärem:  vvv  ^Iv  ovVf  ovx  oiö'  oncag,  dLa6x6ddv[vv6' 
ao]x[v]og.     Vorher  geht  (526): 

O.  TCoixCXov 

aQL6xov  a.Qi[6]x{&niB]v.   g)  XQiödd'XLog 

kyh  xaxä  jtoXX  .  .  . 
Körte  bemerkt  ausdrücklich,  daß  die  beiden  X  in  528  (369)  deut- 
lich sind.  Ich  wage  die  Vermutung,  daß  Smikrines  ausruft:  ö 
xQLödd^Xiog  By6^  xaxa7t6XX[vg.  Das  Verbum  gebildet  wie  xaxano- 
Xavco.  Onesimos  fährt  ruhig  fort,  wie  wenn  er  trösten  wollte: 
vvv  ^£v  ovv  u.  s.  w.,  aAA'  iäv  utdXiv  — ,  wodurch  er  auch  nichts 
für  Smikrines  Tröstliches  einleitet. 

Der  bisher  unangreifbare  Vers  387  (403)  klärt  sich  durch 
Körtes  Lesung  auf.  Onesimos  V.  383  (399):  vTCoiiaivs^'  ovxog,  vij 
xhv  'AjcöXXco,  [laCvsxtti,  und  weiter  385  (401): 

thv  d£07t6xrjv  Xdya)  Xagiötov  %oAi) 

niXaiva  ngoöJtsjcxcjxsv  rj  xoiovxoy  —  ^)  % 

ri  .  %QavxL6 .  .  .  .  <J  .  .  .  yaXXoysyov  —  ^). 

Hier  haben  wir  die  axQd  neben  der  iisXacva  %oXyi.  Nicht  unmög- 
lich ist  ^  Gi%Qdv,  aber  wahrscheinlich  gehört  ^  an  den  Schluß  des 
vorigen  Verses  (s.  o.  zu  Usg,  390): 


1)  Hermes  XLIII  131  A. 

2)  So  Lefebvre,  Körte  bemerkt,  daß  mit  toiovxo  jetzt  der  Papyrus  aufhört. 

3)  'Statt  7}  auch  y  oder  n  möglich',  Körte,   ysyov  —  am  Schloß  gibt  Lefebvre, 
Körte  sagt  nur :  'ich  lese  t]  .  xQf^vtLg  .  ...  6  ...  v  aXXo\ 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Philolog.-histor.  Klasse  1908.     Hefk  4.  31 


442  Friedrich  Leo,  Weitere  Beiträge  zu  Menander. 

rj  tOLOvtov^  rj 
[G)]xQoiv  Tig  [äva6e]6[si,xs]v.  äkX  o  yiyov^  kQG)\. 
Das  Verbum  scheint  zu  viel  Raum  einzunehmen,  es  kann  durch 
ein  anderes  ersetzt  werden.  Der  Zweifel,  ob  es  die  dunkle  oder 
die  blasse  Gj-alle  sei^),  geht  auf  die  wechselnde  Gesichtsfarbe  des 
Charisios:  6  8'  [hg  %vxvä\  ^XXarxs  xQ6iiax\  avSgsg,  ovd'  sItcsiv 
xaXöv  (392). 

Dies  ist  weniges  von  dem  was  Körtes  Revision  der  Hand- 
schrift ergibt.  Die  Hoffnung  besteht  weiter  und  vsdrd  von  Körte 
selber  ausgesprochen,  daß  weitere  Bemühungen  erfahrener  Papyrus- 
leser die  Grrundlagen  des  Textes  noch  sicherer  befestigen  werden. 


1)  Vgl.  z.  B.  Galen  nsgl  x&v  nsnovd:  xonav  III  9  (VIII  p.  178  K.) :  xal  8ia 
xovxo  TJ)s  cpQSvtxiSog  7)  liiv  xig  iaxt  fiSTQiaxBQa,  xr\v  yivsatv  k%  xfjg  mxQ&g  e%ov6u 
%oXfigy  ij  di  xig  acpoSgoTsga,  trig  ^avd"fis  hyyovog  vTtdgxovaa '  Y.ui  xig  alXri  %"riQica8r\g 
xs  xal  fislayxoh'ni]  7taQaq>Q00vvri  yCvsxaij  v,axonx'riQ'BCar\g  xijg  lav-ö"^?  %oZ^s. 


Zu  Tacitiis'  De  origine  et  situ  Germanorum. 

Von 

Leo  Meyer. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  21.  März  1908. 

Nachdem  Tacitus  in  seiner  kleinen  Schrift  über  Land  und 
Leute  Germaniens  in  zwei  Capiteln  das  Grebiet  der  Chatten  — 
allerdings  in  sehr  wenig  klarer  und  nichts  weniger  als  präciser 
"Weise  —  umgrenzt  und  dann  noch  der  Bevölkerung  selbst  wegen 
ihrer  Kriegstüchtigkeit  und  ihrer  Tapferkeit  ganz  besonderes  Lob 
gespendet  hat,  fährt  er  im  zweiunddreißigsten  Capitel  folgender 
Maßen  fort:  Proximt  Chattis  certiim  jam  alreö  Rhenum  qviqve  terminus 
esse  sufficiat   JJsipi  ac  Tencteri  colunt. 

Diese  Stelle  ist  in  mehrfacher  Hinsicht  von  ganz  besonderem 
Interesse.  Sie  liefert  den  bestimmten  Beweis,  daß  Tacitus,  als  er 
seine  kleine  Schrift  über  Germanien  verfaßte,  das  germanische  Land 
aus  eigener  Anschauung  durchaus  nicht  kannte.  Denn  man  kann 
mit  Bestimmtheit  aussprechen,  wenn  er  das  germanische  Land  ge- 
kannt hätte,  so  würde  er  auch  den  Rhein  gekannt  haben.  Wenn 
er  aber  den  Rhein  wirklich  gekannt  hätte,  so  würde  er  über  ihn 
nicht  in  so  thörichter  Weise  geurteilt  haben,  wie  er  in  den  oben 
angeführten  Worten  es  gethan. 

Wo  soll  denn  der  Rhein  noch  nicht  ausgereicht  haben,  eine 
Yölkergrenze  zu  bilden?  Giebt  es  doch  Flüsse  von  allerb eträcht- 
lichater  Größe,  die  gar  keine  Völker  gegen  einander  begrenzen, 
und  auf  der  anderen  Seite  auch  ganz  kleine  Flüsse  oder  Bäche,  die 
zwischen  großen  Ländern  Grenzen  bilden?  Wo  will  man  am 
Rheine  von  seinem  Ausflusse  aus  dem  Bodensee  bis  zu  seiner  Mün- 
dung eine  Stelle  bezeichnen,  wo  er  nicht  ausreiche,  eine  Grenze 
zu  bilden?     Man  darf  es  hier  einmal  aussprechen,    daß    eigentlich 

31* 


444  ^®o  Meyer, 

alle  rein  geographischen  Angaben  unseres  Tacitus  mehr  oder 
weniger  unklar  und  nicht  von  sehr  hohem  Werte  sind.  Wie  weit 
aber  Tacitus  in  dieser  Hinsicht  geradezu  bis  zu  ganz  absurden  Aeuße- 
rungen  sich  zu  verlieren  im  Stande  war,  dazu  bietet  er  ein  ganz 
frappantes  Beispiel  schon  in  seinem  ersten  Satz:  Germania  ....  ä 
Sarmatis  Däctsqve  miduö  iiietü  aut  montibus  separätur.  Dem  gegen- 
über sagt  er  im  Schlußkapitel,  daß  er  in  Bezug  auf  die  Peukinen, 
Yeneten  und  Finnen  im  Unsichern  sei,  ob  er  die  Genannten  zu 
den  Grermanen  oder  Sarmaten  rechnen  solle.  Wer  fürchtet  sich 
denn  nun  vor  einander,  die  Peukinen  vor  den  Sarmaten  oder  vor 
den  Germanen  und  so  fort?  Die  gegenseitige  Furcht  kann  hier 
eben  so  wenig  als  Grenze  gelten,  als  „Gebirge",  von  denen  als 
wirklich  völkerbegrenzenden  hier  gar  keine  Rede  sein  kann.  Das 
za  Grunde  liegende  Thatsachliche  ist,  daß  Tacitus  über  das  Ost- 
gebiet Germaniens  gar  nicht  oder  nur  ganz  schlecht  unterrichtet 
war. 

Die  oben  angeführten  ganz  mißrathenen  Worte  beruhen  auf 
einem  besonderen  Mißgriff.  Tacitus  kannte  Germanien  nicht  aus 
eigener  Anschauung,  das  ist  der  Eindruck,  den  auch  jeder  unbe- 
fangene Leser  seiner  kleinen  Schrift  ohne  Weiteres  empfangen  muß. 
Wohl  aber  hat  Tacitus  als  fleißiger  ernster  Forscher,  wofür  sich 
uns  überall  bestimmte  Beweise  bieten,  alles  was  zu  seiner  Zeit  über 
pas  germanische  Land  und  seine  Bewohner  bereits  in  schriftlicher 
Darstellung  festgelegt  war,  mit  Umsicht  benutzt. 

Es  ist  durchaus  noch  nicht  bis  ins  Einzelnste  und  Kleinste 
untersucht,  weihe  bestimmten  Quellen  Tacitus  bei  der  Abfassung 
seiner  kleinen  Schrift  über  die  germanische  Welt  benutzt  hat. 

Zu  diesen  Quellen  aber  gehört  vor  allem  auch  die  bekannte 
kleine  geographische  Schrift  Pomponius  Mela's.  Bei  ihm  heißt  es 
(3,  2)  Rhenus  Älpibus  decidens  prope  ä  capite  duös  lacus  efficit,  Vene- 
tum  et  Aörönum  (in  welche  zwei  Theile  sich  nach  alter  Anschauung 
der  Bodensee  zerlegt),  mox  diu  solidus  et  certö  alveo  lapsus  haud 
procul  ä  man  hüc  et  illüc  dispergitur  ....  Hier  bezieht  sich  das 
diu  solidus  et  certö  alveo  lapsus  auf  vorheriges  Durchfließen  des 
Bodensees,  bei  dem  ein  deutliches  und  bestimmtes  Flußbett  natür- 
lich aufhörte,  während  Tacitus  sein  certum  jani  alveo  Rhenum  sich 
offenbar  erst  an  einer  viel  tieferen  Stelle  des  Rheins  vorstellt. 

Eine  andere  Stelle,  die  deutlichen  Zusammenhang  mit  Mela 
zeigt,  findet  sich  ganz  am  Schluß  der  Germania,  wo  es  heißt: 
cetera  jam  fähulösa :  Hellusios  et  Etionäs  ora  hominum  voltüsqve,  Cor- 
pora atqve  artns  ferärum  gerere.  Bei  Mela  heißt  es  6,  56 :  alias  ?w- 
snlae    videntur  .  ...  in    Jus    esse    Oeonäs  ....  esse   eqvints   pedihus 


zu  Tacitus*  De  origine  et  situ  Germanorum.  445 

Hippopodas.  Auf  dieselbe  Quelle  weist  Plinius  4,95;  feruntur  et 
Oeonae  in  qvis  .  .  .  aliae  in  qvibus  eqvtnis  pedihus  homines  nascantur 
Hippopodes  appelläti.  "Wahrsclieiiilicli  liegt  beiden  Pytbeas  zu  Grunde, 
den  Plinius  unmittelbar  vor  jenen  Worten  nennt  und  auch  unter 
den  Grewährsmännern  seines  vierten  Bucbes  neben  Mela  aujfführt. 
Von  den  Monstern  („Pferdehuf er")  welche  bestimmt  zu  benennen 
hat  Tacitus  vermieden. 

Die  einzige  bestimmte  Anführung  in  Tacitus'  Schrift  über 
Germanien  mit  Nennung  des  Gewährsmannes  findet  sich  zu  An- 
fang des  achtundzwanzigsten  Capitels;  sie  lautet:  validiores  ölim 
GaUorum  res  fuisse  sumnius  auctor  divus  Julius  trddit.  Sie  ist  aus 
Caesars  Gallischem  Krieg  (6,  24.  2)  entnommen,  wo  die  betreffenden 
Worte  lauten:  ac  fuit  anteä  tempus,  cum  Germdnös  GalU  virtüte 
superärent.  Es  ist  charakteristisch  für  Tacitus,  daß  er  den  von 
Cäsar  ausgesprochenen  Gedanken  in  völlig  eigene  Worte  umge- 
gossen hat. 

Daß  der  Anfang  von  Tacitus'  kleiner  Schrift  Germania  omnis 
ä  Gallis  RaeUsqve  .  .  .  separdtur  ganz  unter  dem  Einfluß  von  Cäsars 
(Gall.  1,  1)  Gallia  est  omnis  dtvisa  in  partes  tres  entstanden  ist, 
liegt  auf  der  Hand. 

Eine  weitere  Stelle,  deren  Inhalt  aus  Cäsar  entnommen  ist, 
ist  die  (Capitel  2),  die  sich  auf  die  Herkunft  des  Namens  Ger- 
■manen  bezieht.  Der  Name  sei  neu,  sagt  Tacitus,  und  erst  vor 
nicht  sehr  langer  Zeit  beigelegt,  weil  die,  die  zuerst  über  den  Rhein 
gegangen  und  die  Gallier  vertrieben  haben  und  jetzt  Tungern 
heißen,  damals  den  Namen  Germanen  gehabt  haben.  Das  Gebiet 
der  Tungern,  von  dem  Tacitus  hier  spricht,  ist  den  Römern  zuerst 
durch  Cäsar,  der  aber  die  Tungern  selbst  noch  nicht  nennt,  be- 
kannt geworden.  Er  berichtet  (2,  4,  1  und  7),  wie  er  weit  in  den 
Nordosten  Galliens  vorgedrungen  und  dort  von  remischen  Gesandten 
erkundet  habe  plerösqve  Belgds  esse  ortös  ab  Germdms  Bhenumqve 
antiqvitus  trdductös  propter  loci  fertilitdtem  ihi  consedisse  GalldsquCy 
qvi  ea  loca  incolerent^  expidisse.  Ihm  wird  dann  über  die  einzelnen 
Völkerschaften  mitgetheilt,  wie  viele  Streitkräfte  zu  stellen  sie 
sich  bereit  erklärt,  und  da  heißt  es  zum  Schluß  Condrusös  Ehuro- 
nes,  Caeroesös,  Paemdnos,  qvi  ünö  nomine  Germdni  appellantur,  arhi- 
trdri  ad  qvadrdgintd  milia.  Was  Tacitus  dann  noch  hinzufügt  über 
die  weitere  Ausbreitung  und  Verwendung  des  Namens  Germanen, 
darf  wohl  als  seine  ganz  eigene  Combination  gelten. 

Weiter  sind  hier  noch  die  Schlußworte  des  einundzwanzigsten 
Capitels  anzuführen,  victus  inter  hospites  cömis,  die  für  sehr  unbe- 
quem gelten,  von  Lachmann  durch  Conjectur  von  ihrem  natürlichen 


446  ^^^  Meyer, 

Sinn  weit  abgebracht,  von  Zernial  aber  frivoler  Weise  einfach  ge- 
strichen sind.  Schon  Selling  (f  1835)  hat  erkannt,  daß  die  frag- 
lichen "Worte  auf  dem  Schluß  des  dreiundzwanzigsten  Capitels, 
sechsten  Buches,  beruhen,  wo  Cäsar  sagt:  Msqce  (d.  i.  hospitihus) 
omnium  doniüs  patent  victusqve  communicdtur.  Tacitus  hat  darnach 
gebildet:  ricfiis  infer  Iwspites  commänis  (letzteres  hat  die  Ueber- 
lieferung  zu  comis  entstellt).  Grastgeschenke,  sagt  Tacitus,  sind  bei 
den  Grermanen  nicht  üblich;  was  aber  an  Lebensmitteln  vor- 
handen ist,  das  wird  mit  dem  Grast  getheilt. 

Wo  sich's  überhaupt  um  die  Quellen  von  Tacitus  Ausführungen 
über  die  germanische  Welt  handelt,  da  bleibt  immer  von  ganz  be- 
sonderer Wichtigkeit,  was  der  ältere  Plinius  an  einer  Stelle  seiner 
Naturgeschichte  und  zwar  im  45.  Capitel  des  siebenundreißigsten 
Buches  mittheilt.  Während  es  im  Allgemeinen  sehr  deutlich  ent- 
gegentritt; wie  nur  sehr  mangelhaft  Tacitus  über  den  Nordosten 
Germaniens  unterrichtet  ist,  fällt  es  sehr  auf,  wie  sich  plötzlich 
ein  helles  Licht  über  das  Bernsteingebiet  an  der  Ostsee  ausbreitet. 
Tacitus  lehnt  sich  hier  ganz  an  den  Bericht  des  älteren  Plitiius. 
Dieser  aber  schöpft  aus  einer  ganz  bestimmten  Quelle.  Er  be- 
richtet ridit  eqvcs  Bomänus  ad  id  (gemeint  ist  suclnimi  „Bern- 
stein") comparandum  missiis  ah  Jüliänö  cürante  gladiätörii(m  mnnus 
Neronis  principis,  qvin  tt  commercia  ra  et  lifora  peragrävit  .  .  .  Alsa 
ein  bestimmter  römischer  Ritter  ist  unter  Nero  in  das  Bemstein- 
gebiet  geschickt  und  hat  die  wichtigsten  Nachrichten  darüber  heim- 
gebracht. 

Zahlreiche  einzelne  Ausdrücke,  wie  advehi  rüde  bei  Plinius  und 
r>!de  Icgitur  bei  Tacitus  machen  den  Zusammenhang  der  beiden 
Schriftsteller  noch  ganz  deutlich,  insbesondere  aber  thut  es  das 
tibereinstimmende  Eingehen  auf  die  Entstehung  des  Bernsteins. 
Bei  Plinius  heißt  es  argüniento  sunt  qvaedam  intus  trälücentm,  td 
forniicae  adicesqve  et  lacertae,  qvae  adhaesisse  musteö  nön  est  dubium 
et  inclusa  dürescente  eödem  renuinsisse,  bei  Tacitus  aber:  qvi  terrena 
utqve  etiain  völucria  animälia  pleruniqve  Interlücent,  qvae  impUcätOt 
hnniore  mox  dürescente  mäterid  clüduntur. 

Eine  weitere  Mittheilung,  die  auf  einen  nahen  Zusammenhang 
zwischen  Plinius  und  Tacitus  hinweist  und  die  wir  hier  zum  Schluß 
noch  anführen,  bezieht  sich  auf  die  ursprünglichen  Geschlechter 
(j/cnera)  der  Germanen,  wobei  doch  auch  beachtenswerte  Verschie- 
denheiten entgegen  treten.  Plinius  (4,  99)  zählt  fünf  Geschlechter 
der  Germanen  {Gcrmdnorum  gencra  qvinqvc),  der  Reihe  nach: 
Vandili  —  Ingvaeones  —  proximi  autem  Khenö  Istvaeones  —  inedi- 
tcrränei  Henninonis  —  Feudni^    denen  im  Einzelnen  noch  Unter- 


zu  Tacitus'  De  origine  et  situ  Germanorum.  447 

abtheilungen  zugefügt  werden.  Tacitus  (Germ.  2)  kennt  nur  die 
drei  mittleren,  die  er  als  proxwii  Oceanö  Inr/aevones,  mcd'u  Herrn l- 
nones  und  ceterl  Istaevones  näher  bezeichnet.  Man  darf  wohl  be- 
haupten, daß  die  kleinen  Abweichungen,  die  Tacitus  hier  zeigt 
und  die  doch  wohl  von  ihm  selbst  herrühren,  das  medü  „die  mitt- 
leren" an  Stelle  von  mediterrdnei  „im  Innern  des  Landes  woh- 
nend^^j  und  dann  das  ganz  unbestimmt  abschließende  ceterl  durch- 
aus keine  erwünschte  Klarheit  in  die  Verhältnisse  bringen.  Die 
deutsche  Geschichte  nun  gar  in  diese  mythische  Gesellschaft  hin- 
einpressen zu  wollen,  wird  immer  ein  ganz  bedenkliches  und  will- 
kürliches Unternehmen  bleiben. 

Tacitus  baut  über  den  angeführten  Geschlechtern  noch  einen 
Stammbaum  auf,  von  dem  weder  Plinius  noch  sonst  irgend  ein 
anderer  alter  Schriftsteller  etwas  weiß.  Er  weist  zunächst  auf 
drei  Brüder,  die  in  gothischer  Form  etwa  Iggvja^  Jstra  und  Äir- 
mina  gelautet  haben  mögen,  die  als  Söhne  eines  Mannus  bezeichnet 
werden,  der  selbst  ein  Sohn  des  Tnisto,  falls  diese  Form  wirklich 
als  die  richtige  gelten  darf,  genannt  wird,  als  dessen  Mutter 
schließlich  die  Erde  bezeichnet  wird. 

Von  dieser  ganzen  Geschichte  hat  Pomponius  Mela  nichts  als 
den  Namen  Herminones,  der  3,  32  in  diesem  Zusammenhang  ent- 
gegentritt: in  eo  (das  ist  longo  superBUö)  sunt  Cimhrt  et  Teutoni, 
idträ  idtimt  Germäniae  Herminones,  was  nur  noch  neue  Schwierig- 
keit bringt. 

An  zahlreichen  anderen  Stellen,  wie  noch  kurz  angeführt  sein 
mag,  weist  Tacitus  auf  seine  Gewährsmänner,  doch  ohne  sie  mit 
Namen  zu  nennen  und  ohne  daß  auch  wir  sie  anzuführen  im  Stande 
wären.  So  heißt  es  8,  1 :  m emoriae  pro d itur  qväsdam  acies 
incUnätäs  jam  et  labantes  ä  feminis  restitütds ;  3,  1 :  fuisse  apud  eös 
et  Hercidem  m  emorant;  43,  18 :  deos  interjjretdtiöne  Römdnd  Casto- 
rem  FoUücemqve  m emorant-,  3,  10:  et  JJlixen  qvidam  opinan- 
tur  ...  adisse  Germdniae  terräs ;  4,  1 :  ipse  eorum  opiniönibus 
accedo  qvi  ...  arhitrantur ;  33,  2 :  nunc  Chamdvös  et  Ängrivariös  im- 
migrdsse  narr  dt  ur;  34,9:  superesse  adhüc  Herciäis  columnds  fdma 
volgdvit]  2,18:  qvidam,  ut  in  Ucentid  vetustdtis,  plüris  deö  ortos 
.  .  .  affirmant]  27,  11:  haec  in  commune  de  omnium  Germanorum 
origine  ac  mörihus  accepimu  s. 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler 
Klerikers  aus  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts. 

Von 
J.  Jak.  Werner. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  26.  Juli  1908  von  Wilh.  Meyer. 

Die  Handschrift  D.  lY.  4  (früher  E.  III.  5)  der  Basler  Univer- 
sitätsbibliothek ^) ,  auf  welche  nach  Pertz  ^)  Holder  -  Egger  ^)  die 
Aufmerksamkeit  gelenkt  hat,  ist  gegen  Ende  des  15.  Jh.  aus  ver- 
schiedenen Pergamenthandschriften  des  13.  und  14.  Jh.  zusammen- 
gestellt worden.  Beim  Einbinden  wurden  zwischen  einzelne  Teile 
unbeschriebene  Pergamentblätter  eingeschoben,  die  z.  T.  wieder 
entfernt  wurden:  es  fehlen:  Blatt  3  (hinterer  Teil  des  um  das 
Doppelblatt  1 — 2  gelegten  Doppelblattes),  die  Doppelblätter  28 
und  38,  65  und  66,  91  und  92. 

Ein  auf  der  innem  Seite  des  vordem  Deckels  aufgeklebtes 
Papierblatt  enthält  neben  dem  Namen :  Basilea,  eine  etwas  jüngere 
Besitzangabe:   Ex  libris  Bibliothecae  Academi^  Basiliensis.    1559. 

Die  gleiche  Hand  (also  wohl  der  Klosterbibliothekar),  welche 
im  15.  Jh.  die  Blätter  1 — 122  numerierte,  schrieb  auf  die  Rück- 
seite des  ersten  unbezeichneten  und  die  Vorderseite  des  Blattes  1 
ein  ausführliches  Inhaltsverzeichnis  (Contenta  in  hoc  libro:  Chro- 
nica ab  Adam  usque  ad  electionem  et  consecrationem  summi  ponti- 
ficis  fol.  1  u.  s.  w.).  Vielleicht  aus  gleicher  Zeit,  aber  von  anderer 
Hand,  stammt  der  Pergamentstreifen  auf  der  Außenseite  des  hintern 


1)  Für  freundliches  Entgegenkommen  bin  ich  Herrn  Oberbibliothekar  Dr. 
C.  Chr.  Bernoulli  zu  großem  Dank  verpflichtet. 

2)  Archiv  VII  S.  626—628. 

3)  M.  G.  SS.  XXXI.  S.  266 ff.;  N.  Archiv  XXVII  S.  502—504. 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    NacLrichten.    Philolog.-hist.  Kl.    1908.    Heft  5.  32 


450  J-  Ja^-  Werner, 

Deckels  mit  dem  kurzen  Verzeichnis :  Chronica  quedam ;  Item  ordo 
statutionum  (lies:  stationum) ;  Item  über  qui  dicitnr  provintialis ; 
Item  veteres  hystorie ;  Cum  aliis  in  principio  libri  signatis.  Q.  12. 
Auf  Blatt  l'",  welche  Seite  einst  aufgeklebt  war,  also  die 
Vorderdecke  der  ersten  Handschrift  gewesen  zu  sein  scheint,  schrieb 
eine  Hand  des  ausgehenden  13.  Jh. :  Fratris  Petri  de  May.  valet  XI  f. 
Die  Blätter  messen  245  x  180  mm  und  sind  fast  durchweg  in 
zwei  Spalten  geschrieben:  Die  Lineatur  wechselt  in  den  verschie- 
denen Teilen  von  30  bis  54  Zeilen.  Man  kann  folgende  selbständige 
Teile  unterscheiden: 

I:  Doppelblatt  1—2:  Erste  Hälfte  des  13  Jh. 
II:  4 — 37:  drei  Quaternionen ,  je  auf  der  letzten  Seite  be- 
zeichnet: 11: 1°";  19:  11^«;  27:  I1P^  Die  fehlenden  Blätter 
28  und  38  scheinen  das  äußere  Doppelblatt  der  vierten 
Lage  gebildet  zu  haben:  36  ist  ein  einzelnes  Blatt.  Die 
Cronica  apostolicorum  et  imperatorum,  die  fol.  4—20  füllen, 
hat  Holder-Egger  M.  G.  SS.  XXXI.  S.  266  iF.,  herausge- 
geben. Der  Rest  dieses  Teiles  zeigt,  wie  aus  den  von  Holder- 
Egger  mitgeteilten  Rubriken  hervorgeht,  große  Verwandt- 
schaft mit  dem  11.  und  12.  Ordo  Romanus.  Vgl.  Jos. 
Kösters,  Studien  zu  Mabillons  römischen  ordines  (Diss. 
Münster  1905)  S.  46  ff.  und  S.  87  ff.  Im  Provincialis  ist 
bemerkenswert,  daß  die  Bistümer  der  Diöcesen  Canterbury 
und  York  zweimal  aufgeführt  werden;  beim  zweiten  Mal 
werden  die  angrenzenden  Bistümer  genannt. 
III:  39—50  (6  Doppelblätter):  fol.  39'^:  Incipit  Betel  pro- 
logus  Magistri  Everardi  de  Heisterbach:  Exi 
parve  liber  .  .  .  502  Verse :  Geschichte  der  Stadt  Jerusalem 
nach  der  Bibel  in  zwei  Büchern, 
fol.  45*^:    Incipit  Gruiardinus: 

Care  nepos,   tibi  quod  sequitur  mea  cura  ministrat,  .  .  . 
Vgl.  Gruiardinus.    Bruchstücke  eines  lat.  Tugendspiegels  . . . 
hg.  V.  J.  Werner  (S.  A.  aus  Roman.  Forsch.)  Erlangen  1908. 
IV:    51 — 62:   Verse  auf  Papst  Innocenz  IV.  und  Kaiser  Frie- 
drich IL  s.  N.  Archiv  XXXII.     S.  591—604. 
63—68  unbeschrieben;  das  Doppelblatt  65/66  fehlt. 
V:    69 — 80:    Sechs  Doppelblätter,   in  zwei  Spalten   zu  je  49 
Zeilen  beschrieben.     Die  einzelnen  Stücke  sind  meist  durch 
eine   leere   Zeile  von   einander   getrennt    und    zudem   fast 
immer   durch   rote  oder   blaue   Initialen    oder  §  kenntlich 
gemacht,    s.  S.  452  u.  folgende. 
VI:   81:  Bruchstück:  Lateinische  Sprüche. 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        451 

VII:    82—89:  Quaternio  saec.  XIV  beginnt: 

quod  ad  penas  venio  mortis  infinite  |  .  . . 
Schluss:  nisi  hie  promiserit  satisfactionem  =  Vers  35  ff. 
der  Dispntatio  mundi  et  religionis  des  Gui  de 
laMarche.  Die  Personenbezeichnungen  papa,  religio, 
mundns  stehen  in  kleiner  Schrift  am  Rande.  Fast 
immer  sind  die  Langzeilen  durch  einen  schiefen  Strich 
in  zwei  Halbverse  geteilt ;  große  Anfangsbuchstaben  finden 
sich  gewöhnlich  je  bei  der  zweiten  Langzeile,  während  die 
Strophen  durch  §  geschieden  sind.  An  vielen  Stellen  sind 
die  Lesarten  dieser  Hft  dem  Texte  bei  Haureau  Bibl.  de 
Tee.  des  chartes  XLV  (1884)  S.  1—34  vorzuziehen;  z.  B. 
S.  10  per  nos  für  pueros,  ire  für  vie,  nolis  für  noli.  S.  11 
substratum  für  subjectum.     fol.  86^^^:  (Versus  medicinales) : 

[E]xperimenta  notes   minime  reprobanda  legenti  .... 
für  Ueberschriften  und  Initialen  ist  bei  jedem  der  88  Ab- 
schnitte =  330  Verse  Raum  gelassen.    Leyser,  bist,  poetar. 
medii  aevi,  S.  2076  weist  davon  68  Kapitel  in  einer  Helm- 
stedter Handschrift  nach. 

90 — 93:  unbeschrieben;  das  mittlere  Doppelblatt  91/92  fehlt. 
VIII:    94—105:  (Flores  Alexandri  metrice). 

E(i)  mihi,  non  tutum  est,  quod  ames  laudare  sodali, . . . 
Reichhaltige  Blütenlese  aus  klassischen  und  mittelalter- 
lichen Dichtern,  die  anderwärts  unter  verschiedenen  Namen 
wie  Poleticon,  Flores  u.  ä.  vorkommt  (vgl.  Ysengrimus, 
hg.  V.  E.  Voigt.  S.  XI— XIII;  auilelmi  Blesensis  Aldae 
comoedia  ed.  Lohmeyer,  S.  41 — 44;  Claudiani  carmina 
recens.  Birt,  S.  CLXXVI).  Leider  enthält  unsere  Hft  nur 
die  drei  Namen  Ovid,  Alexander,  (=  Alexandreis) 
und  Pamphilus,  so  daß  bis  jetzt  nicht  alle  Verse  identi- 
fiziert werden  konnten.  Da  diese  Sammlung  aus  mehreren 
zusammen  gearbeitet  zu  sein  scheint,  so  übertrifft  sie  die 
genannten  an  Ausdehnung:  sie  bietet  z.B.  auch  einige 
Verse  aus  Abälards  Carmen  ad  Astralabium. 
IX:  106—117:  6  Doppelblätter  s.  XIV:  fol.  106— 113^  Vanitas 
omnis  homo  ...  ist  wie  der  Index  vorn  angibt  eine  expo- 
sitio  super  ecclesiasten. 

fol.  113^^:  Rex  nobilis  diffensator  et  rector  .  .  .  Brief  des 
Saladin  an  Kaiser  Friedrich  L,  etwas  abweichend  vom  Text 
inN.  A.  XI  S.  575—577.  vgl.  daselbst  XXXIII  S.  538  note  3. 
114'^:  Perfectis  licet  repetere  sua  simpliciter  .  .  .  allerlei 
theologische  Notizen. 

32* 


452  J-  J^^-  Werner, 

X:    118 — 122:    zwei    unbeschriebene   Doppelblätter,    in   deren 
Mitte  ein  Blatt  (120)  mit  verschiedenen  Prologen  (Hierony- 
mus,    Gregorius  1111°^,    Albinus)    zum   ecclesiastes    einge- 
I  klebt  ist. 


Die  Sammlung  V  scheint  von  einem  Kleriker  herzustammen,  der 
fremde  und  eigene  Verse  aufzeichnete.  Neben  bekannten,  weit- 
verbreiteten Gredichten  wie  Taurum  sol  intraverat,  0  mores  per- 
ditos,  Yolo  virum  vivere  u.  a.  finden  sich  solche,  in  denen  persön- 
liche Verhältnisse  des  Dichters  berührt  werden.  Dieser  muß  gegen 
Ende  des  13.  Jh.  am  Hofe  des  Bischofs  von  Basel  sich  aufgehalten 
haben  und  gehörte  wohl  zu  dem  Kreise  ^) ,  in  dem  sich  Konrad 
von  Würzburg  bewegte.  Personen,  die  als  Gönner  der  Dichtkunst 
einen  Namen  haben,  werden  angebettelt,  wie  der  Domcantor  Die- 
trich (am  Orte)  und  Johannes  von  Wilon ;  Danksagungen  und  Lob- 
sprüche werden  an  den  Bischof  von  Basel  (Peter  Reich)  und  einen 
sonst  unbekannten  Juristen  und  Ratsherrn  Aegidius  gerichtet. 
Aus  den  spärlichen  Angaben  in  den  Gedichten  läßt  sich  nur  wenig 
über  die  Person  des  Verfassers  entnehmen.  Er  hat  in  Rappolts- 
wiler  (jetzt:  Roppenzweiler  im  Elsaß)  die  Kaplanei  des  h.  Mo- 
randus,  eines  bekannten  burgundischen  Heiligen  erhalten,  wird 
aber  im  Genuß  derselben  eingestellt:  infolge  seiner  Armut,  wie 
er  vorgibt:  sum  modicus  quia  re.  Die  Verse  über  eine  Feuers- 
brunst in  Breisach  legen  die  Vermutung  nahe,  daß  der  Verfasser 
zu  dieser  Stadt  in  gewissen  Beziehungen  gestanden  habe.  Da  die 
Anwendung  der  verschiedenen  poetischen  Formen,  wie  sie  diese 
Gedichte  zeigen,  zu  dem  Beruf  eines  magister  paßt,  ist  man 
versucht,  den  Verfasser  für  einen  Kleriker  anzusehen,  der 
neben  seinem  Amte  lateinische  (und  deutsche)  Verse  fabrizierte 
and  rezitierte,  um  sich  leichter  durchs  Leben  zu  bringen.  Der 
Zeit  nach  könnte  es  der  als  Minnesänger  bekannte  Schulmeister 
Walther  von  Breisach  ^)  sein;  doch  ist  bis  jetzt  sein  Aufenthalt 
nur  in  Breisach  (c.  1256—1269}  und  Freiburg  (1291—1303)  nach- 
gewiesen. Die  Handschrift  lag  zur  Zeit  des  Flacius  Illyricus  im 
Basler  Predigerkloster ;  es  könnte  also  ein  Insasse  dieses  Klosters 


1)  Vgl.  darüber:  W.  Wackernagel,  Ritter-  und  Dichterleben  Basels  im  Mittel- 
alter (=  kleinere  Schriften.  I.  S.  299);  J.  Bächtold,  Geschichte  der  deutschen 
Literatur  in  der  Schweiz,  S.  126  und  133;  Anmerkgn.  S.  3G;  Rud.  Wackernagel, 
Geschichte  der  Stadt  Basel.   I.    S.  91. 

2)  Frdr.  Pfaff,  Der  Minnesang  im  Lande  Baden  (Neujahrsblätter  der  bad. 
bist.  Komm.  1908)  S.  16. 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.       453 

der  Verfasser  sein ,  zumal  dort  die  Poesie  eine  Stätte  ^)  gehabt 
zu  haben  scheint. 

Die  Sammlung  enthält  über  50  Stücke,  von  denen  ungefähr 
ein  halbes  Dutzend  aus  z.  T.  älteren  Quellen  schon  bekannt  war. 
Unter  den  ungedruckten  Versen  sind  weder  formell  noch  inhaltlich 
so  bemerkenswerte  Stücke,  wie  sie  sich  in  den  bekannten  Samm- 
lungen mittellateinischer  Gredichte  finden.  Leider  sind  die  Hexa- 
meter der  gesuchten  Eeime  wegen  oft  schwer  oder  gar  nicht  ver- 
ständlich ;  zudem  sind  ihre  Beziehungen  meist  recht  dunkel.  Doch 
scheint  man  darunter  Anfänge  oder  Eeste  einer  poetischen  Bearbei- 
tung der  Taten  des  Königs  Rudolf  von  Habsburg  erkennen  zu  dürfen, 
die  leider  zu  gering  sind,  als  daß  sie  irgend  einen  Schluß  ge- 
statten, in  welcher  Weise  der  Dichter  den  Plan  ausgeführt  hat 
oder  auszuführen  gedachte. 

Neben  rythmischen  Zeilen  schreibt  der  Dichter  meist  gereimte 
Hexameter  und  Distichen ;  er  verbrämt  sie  mit  Akrostich  und  Te- 
lestich  besonderer  Art  (No.  VI — VIII,  XVI)  und  versucht  sich  auch 
in  kunstreicheren  Formen  (No.  XVII).  Aber  fast  immer  merkt  man, 
welche  Mühe  ihm  das  Suchen  nach  den  Reimworten  verursacht: 
doch  sind  seine  zweisilbigen  Reime  durchweg  rein.  Freiheiten 
wie  sie  sich  der  geistreiche  Primas  herausnehmen  durfte  (s.  Wilh. 
Meyer,  Nachrichten  1907  S.  138,  143),  kommen  selten  vor;  ein- 
mal reimt  er  in  einem  Paar  unisoni  XI  8:  gerit:  obedit;  XLI 11 
gessit:  nescit  darf  kaum  als  unreiner  Reim  bezeichnet  werden. 
In  den  einzelnen  Stücken,  die  allerdings  meist  kurz  sind,  wird  man 
höchst  selten  den  gleichen  Reim  wiederholt  finden  LXV  10: 
certe  :  per  te  =  27 :  certe  :  aperte.  Im  Schluß  der  Hexameter 
stehen  nicht  übermäßig  viele  vier-  und  fünfsilbige  Wörter;  ein- 
silbige sind  ziemlich  selten :  IV  6 :  quare  :  quia  re ;  VI  5 :  com- 
plete  :  e  te;   VII  4:  te  do  :  edo.     Vor   der  Caesur    findet  man    in 

der   Hälfte    der   Verse    die    Form  —  uu  | |  — ,    doch    ist   auch 

I I  —  ziemlich   häufig.    Der  Caesur  Verlängerung   (ectasis), 

die  durch  den  leoninischen  Reim  verursacht  wird ,  geht  er  nicht 
aus  dem  Wege,  und  zwar  sind  die  vokalisch  auslautenden  Formen 
auf  -a  und  -e  nicht  seltener  als  die  consonantisch  schließenden  vor 
beginnendem  Vokal.  Elision  kommt  nicht  vor ;  Hiate  finden  sich  nur 
an  kritisch  unsichern  Stellen.  Das  sog.  s  impura  bewirkt  bei  ihm  nicht 
Positionslänge;  er  bemüht  sich  deshalb  nicht,  es  nur  nach  Worten  zu 
setzen,  die  auf  lange  Vokale  ausgehen,   -ndö  ^)  braucht  er  einigemale 


1)  W.  Wackernagel,  kleinere  Schriften.    I.    S.  295. 

2)  Wilh.  Meyer,  Gesammelte  Abhandlungen  zur  mittellateinischen  Rythmik 
(1905)  I.  S.  76. 


454  J.  Jak.  Werner, 

auch  im  zweiten  (IX  3,  XLTI 3)  und  vierten  Fuße  (VIII 8).  In  den 
rythmischen  Gedichten  arbeitet  er  mit  den  bekannten  und  beliebten 
Zeilen,  die  er  in  einzelnen  Fällen  zu  neuen  Strophenformen  zu- 
sammenzustellen sucht  (No.  XX,  XXV,  XXXI).  Freilich  läßt  sich 
hier  ein  gemeinsamer  Verfasser  nicht  so  sicher  wie  bei  den  dakty- 
lischen Gredichten  nachweisen;  für  die  S.  452  genannten  ist  der 
frühere  Ursprung  schon  durch  ihr  Vorkommen  in  älteren  Samm- 
lungen sicher  gestellt. 


I.  fol.  69^11  (d.h.  69'«^to,  I.Spalte,  I.Zeile) 

Alma  redemptoris  mater,    que  pervia  celi 
porta  manes 

Porta  quidem  celi,      que  iugiter  Ezechieli 
In  te  visa  fuit      clausa,  deo  patuit. 

et  Stella  maris,  succurre  cadenti!  5 

Ut  de  peccatis       veniam,  mater  pietatis, 
Possit  habere  suis      vocibus  ille  tuis, 
surgere  qui  curat,  populo,  tu  que  genuisti 

luri  virgo  parens       camis  non  ordine  parens 

Expers  ipsa  paris       absque  dolore  paris  10 

natura  mirante  tuum  sanctum  genitorem 

Presignat  digne      rubus  incombustus  in  igne 
Omine  te  miro:       mater  es  absque  viro. 
Virgo  prius  et  cet. 

6  Ut  te  de  13  Omne  Die  berühmte  Antiphon  des  Hermann  Contractus 
(Anal.  hym.  50  =:  Hymnographi  Lat.  II.  S.  317)  mit  Distichen  tropiert;  die  leo- 
ninischen  Reime  sind  zweisübig  und  rein. 


IL  fol.  69'^»* 

a.    Gygas  nature  gemine 
a  patre  sine  semine. 


ex  virginis,  non  femine, 
procedet  alvo, 


a.     Ut  radius  de  lumine        5 
sacri  flatus  alumine 
divinitatis  numine 
in  carne  salvo. 


b.     Nos  de  hoc  puerperio, 

divino  quod  misterio  10 

die  coletur  crastino, 
benedicamus  dominol 


Poetische  Versuche  imc[  Samraliingen  eines  Basler  Klerikers  etc.        455 

1  Vgl.  geminae  gigas  substantiae  in  dem  Hymnus  Yeni  redemptor  gentium, 
V.  15;  usiae  gigas  geminae,  Dreves  Anal.  hymn.  20  n.  140,  4,  1.  3  et  6  alumine, 
vielleicht  =  alimonia  Wie  der  Schluß  zeigt,  ein  Ruf  für  den  Abend  vor  Weih- 
nachten in  dreiteiliger  Strophe:  auf  zweimal  drei  Zeilen  von  8  Silben  mit  stei- 
gendem Schluß  und  einem  Fünfsilber  mit  sinkendem  Schluß  folgen  vier  Acht- 
silber mit  steigendem  Schluß.  Die  Reime  sind  zweisilbig  (innerhalb  der  einzelnen 
Teile  meist  dreisilbig)  und  rein;  Taktwechsel  zeigen  Zeile  1,  6  und  11;  Hiatus 
findet  sich  nicht  innerhalb  der  Verse,  wohl  aber  V.  9  Vokalauslaut  vor  h. 


Prothoplasti  reatus 
cessavit  expiatus, 
est  deus  quia  natus 
hac  Sacra  die 


III.  fol.  69' 121 

a.     Non  consuetudinali  5 

more,  sed  speciali 
ex  alvo  virginali; 
ergo  Marie 


b.    Ipsins  matri  concinamus 

ore  laudes  ymnisono !  10 

iubilose  benedicamns 
et  incarnato  domino! 
Ein  ähnlich  gebauter  Weihnachtsruf.  Drei  Siebensilbner  und  ein  Fünf- 
silbner,  die  sinkend  schließen,  bilden  die  beiden  Stollen;  der  Abgesang  besteht 
aus  zwei  Teilen  zu  je  9  +  8  Silben.  Die  Reime  sind  (mit  Ausnahme  von  10 
und  12)  zweisilbig  und  rein ;  im  Innern  der  Verse  steht  kein  Hiatus ;  Taktwechsel 
haben  V.  1.  6. 

IV.  fol.  69^^128 

Conqueror  ecce,  deus,      tibi,  quod  princeps  Basilens 

Grratum  propositum      vertit  in  oppositum: 
Nam  mibi  post  mella      fei  subtribuendo  capella, 

Qua  prius  instituit,       me  modo  destituit. 
Causam  scire  puto       —  quam  pandam  murmure  muto  —       5 

Destituor  quare:       sum  modicus  quia  re. 
Essent  divicie      mihi  presidiumque  sopbye: 

Litem  prosequerer,       ius  quoque  consequerer. 
Sed  quoniam  desunt      bec,  iura  minus  mihi  presunt: 

Sic  vinci  merui,       spem  quoque  deserui.  10 

Prebuit  antistes      hos  successus  mihi  tristes, 

Spes  quibus  interiit      et  mea  res  periit. 
Quando  relaxavit,       sua  litera  quod  reprobavit, 

Latum  consilium      sustulit  auxilium. 
Huius  dedecoris      mendam  nisi  tollat,  honoris  15 

Immemor  esse  sui      creditur  atque  frui 
Moribus  ingratis,       qui  signum  mobilitatis 

Ostendent  in  eo.      Propterea  moneo 


456  J-  J^^-  Werner, 

Eins  virtutem,      iuxta  quam  quero  salutem, 

Ut  ius  inspiciat      et  mihi  proficiat.  20 

V.  für  mihi  ist  immer  m  geschrieben  7  psidiumq,  s  aus  d  corr.  conse- 
queret  14  concilium.  Der  Dichter,  vom  Bischof  von  Basel  einer  übertragenen 
Pfründe  beraubt,  klagt  über  diese  Zurücksetzung ;  ihre  Ursache  sieht  er  in  seiner 
Armut,  die  ihm  nicht  gestattet,  sein  Recht  vor  Gericht  zu  verfechten;  er  ver- 
sucht es  deshalb  mit  einer  Appellation  an  die  Gesinnung  des  Bischofs.  In  Nr. 
LIV  wendet  sich  der  Dichter  nochmals  an  die  Güte  seines  Herrn,  obwohl  ihm 
die  Furcht  die  "Worte  raubt.  Dort  wird  auch  die  Kaplanei  genannt,  um  die  es 
sich  handelt. 

V.  fol.  69-^°  1 

Barbara  queqne  caret      titulis,  quibus  nrbs  ea  claret, 
Anterior  rima      cui  nomen  prebet  et  ima, 

Sede  resignita      catbedrali  genteque;  Tita 

Incola  tranquilla       snus  utitur  omnis  in  illa, 

Lis  quia  submota      per  pacis  federa  tota  5 

Est  domino  dante  sibimet,  quam  moverat  ante: 
Ammodo  leta  manet,  pax  lesam  dum  modo  sanet. 
V.  2  Ueber  rima  die  Glosse  i.  e.  linea.  Die  Stadt  Basel  (Basilea  civitas 
ergibt  das  Akrotelestich)  wird  beglückwünscht  wegen  Wiederherstellung  des 
Friedens.  Die  Verse  beziehen  sich  vielleicht  auf  die  1286  von  König  Rudolf 
angebahnte  und  durch  den  Bischof  Peter  Reich  befestigte  Schlichtung  der  Partei- 
streitigkeiten. S.  H.  Boos,  Geschichte  der  Stadt  Basel  im  Mittelalter  (1877)  I. 
S.  86.  Vgl.  auch  XV. 

VI.  fol.  eo'^us 

E^cipe  mente  bona,  tibi  que  fero  metrica  dona, 
Gloria  non  fesse  laudis  solet  in  quibus  esse; 
Inclite  iure  baro,  tibi  pollens  dogmate  claro 
Discutis  in  lite      causarum  singula  rite; 

Ius  quia  complete       decreti  pullulat  e  te,  5 

Dicta  reservanti      corisentur  (?)  fore  tanti, 

Omnia  dulcoris  fomes  ut  sint  cordis  et  oris; 
Consilio  procerum      gravis  experientia  rerum 

Te  vetat  exclusum,       quod  et  est  te  sepius     usum. 
Ordinibus  retro       visis  hoc  anteque  metro  10 

Riga  tuum  nomen  prior  explicat,  ima  sed  omen. 
1  Eccipe  met'or  dono  7  über  fomes  die  Glosse:  i.  e.  nutriraentum.  Egi- 
d  i  u  8 ,  doctor  decretorum,  der  Empfänger  dieses  Lobspruches  läßt  sich  im  Basler 
Urkundenbuch  nicht  nachweisen.  Nach  V.  8  f.  scheint  er  ein  angesehenes  Mitglied 
des  Rates  gewesen  zu  sein;  doch  geht  aus  dem  Gedichte  nicht  hervor,  welche 
Dienste  (V.  9)  er  dieser  Behörde  geleistet  hat. 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        457 

Vn.  fol.  69'^n2o 

Corporeas  metas      tua  gaudens  conpleat         etas ! 
Arte  nota  fete      vir,  ut  Mc  tibi  nomino  tete 

Nomine  secreto,      non  carminis  ordine  spreto. 

Thema  mihi  te  do,       dum  quid  tibi  forsitan  edo. 
Optima  si  rite      tibi  do  preconia  yite,  5 

Rebus  ab  biis  mestus      ire  te  non  gravet       estus; 
Donec  enim  cista      mea  mens  est  sospes  in    ista, 
Ingenio  stringam,      te  carminibus  quoque       pingam. 
Egregias  laudes      laudo,  meruisse  quod  audes, 

Teque  sub  biis  laudo,       quem  totum  pectore   claudo.        10 
Rarius  binc  miram      tua  mens  sibi  colligat    iram, 
Immo  productum      gaudendi  det  tibi  fructum, 

Cum  laudes  mille      tibi  concinat  ille  vel         ille. 
Ecclesie  mute       cum  sis  vox  primula  tute 

Maiori  festo,       paciens  laudabilis  esto,  15 

Et  fac,  secrete,       pie  vir,  quod  postulo,  lete! 

2  nota  ist  Verbum:  nimm  wahr!  arte  fetus  ist  kein  geschmackvoller  Aus- 
druck. 14  Sit  zu  sis  corr.  Den  Gegenstand,  um  den  der  Dichter  den  als 
Gönner  der  Dichtkunst  bekannten  Domkantor  (V.  14)  Dietrich  a  fine  anbettelt, 
wagt  er  nicht  im  Gedicht  selbst  zu  bezeichnen ;  er  versteckt  seine  Ritte  (secrete 
quod  postulo)  kunstvoll  in  das  Akrostisch :  Cantor  Dietrice,  me  letifica  pie  veste  • 

VIII.  fol.  69^^1137 

lungat,  ut  opto,  bona      cum  sorte  deus  tibi  dona 

Ob  meritum,  lete      tociens  mihi  quod  fluit  e  te: 

Huius  enim  funis       vi  me  tibi  stringis  et  ynis; 

Ad  dandum  munus      varium  mihi  promptus  es      ynus. 
Non  tamen  illud  idem      facio  tibi  —  quod  queror  idem  —       5 
Nee  scio,  ni  mente,       grates  tibi  reddere  lente 

Exiguas  more      mimi,  qui  Carmen  ab  ore 

Suscitat  in  summis       modulando,  datis  sibi  nummis. 

Ein  in  anständigem  Ton  gehaltenes,  in  einen  Glückwunsch  gekleidetes, 
Bettelgedicht.  Das  Urkundenbuch  der  Stadt  Basel  erwähnt  II  S.  75,  13  für  1274 
einen  Johannes  quondam  de  Wilon  und  seine  Witwe;  einen  andern,  wohl  deren 
Sohn,  II  S.  227,  27  für  1282.  Es  ist  hier  wohl  der  ältere  gemeint,  der  vielleicht 
identisch  ist  mit  dem  von  Konrad  von  Würzburg  genannten  Johannes  von  Wil 
(Wyhlen  liegt  im  Großherzogtum  Baden).  Vgl.  Bächtold,  Gesch.  der  deutschen  Liter. 
in  der  Schweiz,  S.  125.  Der  schon  oft  beschenkte  Dichter  bedauert,  nur  in  Versen 
seinen  Dank  darbringen  zu  können;  er  scheint  (V.  7)  sich  ausdrücklich  von  den 
fahrenden  Künstlern  unterscheiden  zu  wollen. 

IX.  fol.  69'^n46 

Maguntine,  stüum,         cum  sis  mihi,  presul,  asilum, 
Dirigo  iure  meum        modo  pre  cunctis  iubileum 


458  J-  '^^^-  Werner, 

Applaudendo  tibi        verum,  quia  vix  ea  scribi 

Possent  ad  plenum,         que  consnevere  serennm 

Reddere  te,  princeps;         augentur  namqne  deinceps,  5 

Vt  tibi  collatus         testatur  pontificatus. 

Ergo  tibi  scripsi        breve  quid,  ne  detur  eclipsi 

lllud  idera  ceptum;         cur  finem  snmat  ineptum? 

E  tanta  laude        merito,  pater  inclite,  gaude! 

Id,  quod  honoris  habes,         numquam  simoniaea  labes        10 

Polluit  obscena;        tua  mens  rationis  habena 

Se  refrenavit,        quod  ei  non  appropiavit, 

Justicia  teste         quam  persequeris  manifeste: 

Semper  enim  tu  ius        fovisti,  nee  scelus.  Huius 

Causa  virtutis        auctor  deus  ipse  salutis  15 

Te  sublimavit        et  honeste  pontificavit 

Cläre  metropoli:        laus  binc  et  gloria  soli 

Te  sublimanti        sit  iugiter  altitonanti! 

5  princeps  über  der  Zeile  zugesetzt  13  quam  pro  persequeris  Begrüßung 
des  neugewählten  Erzbischofs  von  Mainz,  dessen  Tugenden  durch  diese  Erhöhung 
die  verdiente  Belohnung  erhalten  haben.  Es  kann  dies  nur  der  am  15.  Mai  1286 
ernannte  Heinrich  von  Isny,  vorher  Bischof  von  Basel,  sein. 

X.  fol.  69^1^« 

Menbra  regi  capite  lex  sanxit  gentis  avite; 

Hie  sacer  ordo  litus        promit  contraria  ritus: 

Pes  Caput  ascendit,        testudo  sub  etbera  tendit, 

Cum  renuente  statu         se  non  trabat  illa  volatu: 

Prob  dolor!  elati,  pocius  servire  creati,  5 

Seeptrigeri  temere  renuunt  se  iussa  tenere. 

1  sancxit  6  Septrigeri  Die  Leoniner  zeigen  zweisilbigen  reinen  Reim, 
einmal  Caesurverlängerung  in  offener  Silbe  (V.  1);  st  bewirkt  nicht  Positions- 
länge (V.  4).  Auf  welche  Partei  (bischöfliche  oder  königliche)  dieser  Spruch  ge- 
münzt ist,  bleibt  unklar. 

XI.  fol.  69^^28 

§  Aula  referta  bonis,        opulentis  inclita  donis, 
Vultu  diffuso,        letare!  dolore  retuso 
Principe  de  tali        virtute  nitente  reali, 
Qui  decus  est  cleri        cinctus  dyademate  veri. 
Miti  civilis,         sed  hero  fore  novit  herilis,  5 

Principibus  festus         armorum  fwlgura^  estus, 
Hostica  castra  terit,        vi  temptat  et  ardua  querit; 
Non  tarnen  arma  gerit,        sibi  militis  ensis  obedit; 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Baslers  Klerikers  etc.        459 

Asperat  hos  donis,         seges  hec  hiis  apta  colonis; 

En  Ciceronis  opes         promit  fortesque  Canopes  10 

Vincit  in  ingenio:         pluit  hec  donaria  Clyo. 

1  epulentis  Vgl.  Ovid.  met.  XIV  272 :  Diffudit  vultus  3  vielleicht  regali 
zu  bessern         6  falgur  ad        10  canopos;    gemeint   sind   die  Weisen  Aegyptens. 

Es  scheint  ein  Glückwunsch  von  Hofbeamten  zu  sein;  doch  ist  nicht  er- 
sichtlich, ob  die  Huldigung  dem  Bischof  von  Basel  oder  einem  anderen  Prälaten  gilt. 

XII.  fol.  69^133 

§  Quos  sine  frande  putat        istic,  mea  musa  salutat, 
Musa  iocosa  satis        humili  mitlsque  beatis, 
Invida  displosis,        satis  ac  austera  dolosis. 
Metri  flecto  stilum        querens  pietatis  asilum. 
Principis  ad  caltum        virtutum  ^cemate  /"ultum  5 

Spondet  sponsa  thorum,        perpes  cui  gloria;  morum 
Gratia  coniurat,        secam  que  vivida  durat; 
Demonstrat  fructus        a  tanto  presule  ductus, 
Quis  sit,  si  queris,        nee  in  hiis  plus  certificeris; 
Quem  reputo  dignum        proprio  pro  nomine  signum.       10 

XXIII.  fol.  70^17 

Curritur  hie,  munus      bravii  sed  suscipit  unus; 
Qui  metra  mellita      lingua  dictante  polita 
StiUat  et  obscenam      reliquorum  qnamque  camenam 
Estimat,  inde  dator      metri  cen  versiculator 
Grandiloce  spirans      et  totus  in  aere  girans  15 

Posset  ab  imbelli       circi  statione  repelli, 
Ni  dornet  ora  rato       linguam  stringente  lupato: 
Obmit  unda.  ratera,       nee  sustinet  anchora  vatem 
Na2(fragio  tactum,       tumidis  aquilonibus  actum. 
Nil  bonitatis  ago,       donec  furit  illa  vorago;  20 

Kepressi  citharam      nee  laudis  quero  thiaram. 
Lex  equitis  dura      vigilique  coercita  cura: 
Ut  loca  non  mntet,       quamvis  victoria  nutet. 

2  mitique  5  cemate  cultum  10  am  Rande :  Verte  folium  sequens  et  con- 
cinna :  Curritur  hie  etc.  (fol.  70^  1 7).  11  Nach  I.  Cor.  9,  24 :  omnes  quidem  cur- 
runt,  sed  unus  suscipit  bravium ;  vgl.  N.  A.  XXXII.  S.  598.  V.  221 ;  auch  Sextus 
Amarcius  III  559  f.  paraphrasirt  diese  Stelle  des  Korintherbriefes.  14  datur 
Hft,  dator  Wilh.  Meyer  17  lingua;  vgl.  Prudent.  Psychom.  191:  frenarier  ora 
lupatis;  Theodulf.  II  117  (P.  Lat.  Carol.  I,  S.  454):  Cuius  lingua  operis  propra  est 
frenata  lupatis.  18  umbra  zu  unda  corr.  19  Nafragio ;  Naufragio  tactum  auch 
LIV  13;  für  beide  Stellen  schlägt  Wilh.  Meyer  iactum  vor. 

Scheint  einen  großmäuligen  Versschmid,  der  über  andere  herzufahren  liebt, 
zu  verspotten.    Das  gleiche  Thema  liegt  auch  dem  folgenden  Stück  zu  Grunde. 


460  «J^-  J3,k.  Wer n  er, 

Xni.  fol.  69^1** 

Qui  tua  metra  facis,      demens,  verbis  sab  opacis, 
Uteris  glosa,       qua  clarifices  onerosa 
Verba,  quibus  sensus      non  est;  viciis  reprehensus 
Talibus  es  merito;       Collum  subpone  perito! 
Quid  vis  de  Remo,       cum  tu  de  rege  B9bemo  5 

Dicere  proponis;       vetat  illud  vis  rationis. 
Talia  finxit  anus;       qui  crederet,  ergo  profanus 
Esse  videretur,       quia,  quod  lupus  bec  loqueretur, 
Vocibus  humanis      fore  fabula  constat  inanis. 
Quis  valet  hoc  scire,      quod  debeat  *  *  *  *  *  10 

U  0 

2  honerosa  5  behemo  7  g,  nicht  g  Leider  entbehrt  der  vielver- 
sprechende Anfang   (Verspottung   eines   schwülstigen  Epikers)   einer  Fortsetzung. 

XIV.  fol.  69^n6 

Salve!,  flos  cleri,       quo  vult  Basilea  foveri 
Principe  sinceri      cordis  cultoreque  veri: 
In  te  mitis  beri      virtus  solet  usque  videri; 
Non  in  te  queri      scelus  aut  fraus  volt  nee  baberi 
Mite  cor  Assueri      manet  et  tibi  pectus;  Omeri  5 

Laus  tibi  preberi      decet,  hanc  scis  ipse  mereri. 
ÜSTon  parcens  eri      mihi,  queso,  velis  misereri: 
Spes  quit  adimpleri      mea  per  te,  non  removeri. 

3  Iure  5  et  schiebt  Wilh.  Meyer  ein  Begrüßungsgedicht  an  den  Bischof 
von  Basel,  in  welchem  der  Dichter  in  kunstvoll  gereimten  Versen  (16  Reime  auf 
-eri)  sich  dessen  Mildtätigkeit  empfiehlt. 

XV.  fol.  69^ni5 

Urbs  iocundare      Basilea!   Salus  vigilare 
Conspicitur  certe      simul  ac  Fortuna  super  te, 
Cum  tuus  effectus       sit  alumpnus,  qui  bene  rectus 
Noscitur,  bic  princeps;       ipso  mediante  deinceps 
Bella  profanabis      civilia,  fedus  amabis,  5 

Et  Concors  vives:  clerus  cum  milite  cives 
Unum  semper  erunt,      partes  quibus  ante  fuerunt. 
Ergo  letemur      omnes  letique  precemur, 
Ut  tam  sincerum       series  longinqua  dierum 
Hunc  comitetur  herum,      pia  sors  et  copia  rerum!  10 

1  Crbs  Irrtum  des  Rubrikators.  Auf  die  Wahl  des  Bischofs  von  Basel, 
jedenfalls  Peter  Reich  von  Reichenstein,  der  gleich  nach  seiner  Wahl  sich  be- 
mühte, die  Parteistreitigkeiten  beizulegen.  Vgl.  zu  V.  Die  acht  leoninisch  ge- 
reimten Hexameter  werden  durch  2  Unisoni  wirkungsvoll  abgeschlossen. 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        461 

XVI.  fol.  69^' «26 

Plus  metra  significant      hec  in  se,  quam  tibi    Dicant: 
Est  tibi  tranquilla      virtus  probitatis  et  lila 

Te  fovet  et  lenit,      a  qua  tibi  gloria  Yenit. 

Kes  per  inexpletas      te  nostra  quidem  probat  Etas 
Esse  pie  mentis,       pietatis  opus  quia  Sentis.        5 

Petrus  Reich  von  Reicheusteiu,  aus  einem  Ministerialengeschlecht  stammend, 
war  Archidiaconus  in  Basel  und  seit  1278  zugleich  Dompropst  von  Mainz.  Nach 
vergeblichen  Bemühungen  um  das  Erzbistum  Mainz  wurde  er  1286  Bischof  von 
Basel. 

XVII.  fol.  69^  "32 

Vestre  persone,       cui  verba  salubria  mando, 

Hoc  metrum  pando       ceu  vernanti  ratione, 

Notus  ut  inde  forem,       quod  duxi  scribere  vobis 

Theutonicisque  probis      vestrum  captando  favorem. 

Sed  minus  huic  bleso,       quia  curto  tempore  cudi  5 

Sensu  nempe  rudi,       clementer  parcite,  queso! 

Absint  insidie!       contra  quas  non  bene  staret; 

Nam  tutore  caret,       qui  polleat  arte  sophye. 

Hec  reliquis  debet      preferri  natio  digne, 

Cui  tam  presigne      nomen  Germania  prebet;  10 

Nam  quasi  Grermani,       cum  sit  Germanica  dicta, 

Federe  constricta      non  vi  terretur  inani. 

Hoc  sermo  quippe,       quem  moverat  Israbelitis 

Temporibus  litis,       probat  allegantis  Agrippe, 

Imperio  quando       frustra  cepere  re^uti  15 

Sueta  fraude  citi       sibi  ferre  tributa  negando. 

Huius  mota  malis,       velud  in  Josephe  reperitur, 

Quo  bene  colligitur,      fuit  allegatio  talis : 

Quo  ruitis  stulti?       vestri  nondum  bene  nostis 

Quis  sit  mos  bostis,       vesano  dogmate  /"ulti.  20 

Gens  Germanorum,       que  robore  mentis  babundat,  ^ 

Fortes  ut  fundat      gaudens  e  cede  virorum. 

Non  est  vincenda,       si  vos  parere  velitis 

Ecce  meis  monitis,       potius  sed  permetuenda; 

Contemptrix  mortis,       quia  cedere  respuit  unquam,  25 

Deficiet  numquam       sub  inique  turbine  sortis; 

Nee  fovet  exanimes;       hec  cum  sit  plena  vigoris, 

Nescia  terroris,       datus  est  Eenus  sibi  limes. 


'462  '^'  J*^-  Werner, 

Renenses  quare      plermnque  solent  alieni 

A  fluvio  Reni      nos  nostratesque  vocare.  30 

Ne  merear  cerni      lucem  sermone  tenere, 

Postquam  gaudere       soleant  brevitate  moderni, 

Versibus  biis  binis      sed  laude  data  prius  ipsi: 

Istud  cui  scripsi,       quod  metro  sit  volo  finis.  34 

8  poUeät  15  reuicti  16  sciti  20  sulti  Hft,  fulti  Wilh.  Meyer  27  cä 
34  fit.  Eine  Lobrede  auf  die  Deutschen,  in  der  besonders  ihre  Tapferkeit  und 
Todesverachtung  hervorgehoben  wird.  Vgl.  Josephus,  de  hello  jud.  II.  16 ;  Spiritus 
autem  maiores  corporibus  gerentes  et  animam  quidem  contemptricem  mortis,  indig- 
nationes  autem  vehementiores  feris,  nunc  autem  limitem  Rhenum  habent.  S.  das 
Zitat  in  XXXVIII.  Aus  der  nicht  leicht  zu  handhabenden  Form  dieser  cruciferi 
oder  serpentini  (vgl.  Wilh.  Meyer,  Ges.  Abhdlgn.  z,  mittellat.  Rythmik 
(1905)  I  S.  84)  erklärt  sich  die  sonst  nicht  so  häufige  Caesurverlängerung :  12,  23 
(-a);  10,  13,32  (-e).  Die  Reime  sind  zweisilbig;  wiederholt  sind:  -ando  1/2  und 
15/16;    -itis  13/14  und  23/24. 

XVIIL  fol.  70'i'8 

Abluo,  firmo,  cibo,  piget,  uxor,  ordinat,  ungit : 
Hec  sunt  ecclesie  Septem  sacramenta  vocata. 

Merkvers,  der  bei  Haureau,  Notices  et  extr.  IV.  S.  194  in 
abweicbender  Form  gedruckt  ist.  Hierauf  folgen  3  ähnlicbe  Merk- 
verse, die  durcb  vorangescbriebenes  vacat  getilgt  sind;  es  sind: 

a)  Septem  sunt  casus,  quibus  bec  transactio  nulla      3  Verse. 
Schluß:  'coniux,  alimenta'. 

b)  Error,    condicio,   votum  .  .  . ;    über  die  Ehehindernisse ,    ge- 
druckt bei  Haureau  N.  et  e.  IV  S.  192. 

c)  Si  vacat  Imperium,  si  negligit  aut  dubitetur, 
Si  subsint  omnes,  si  consuetudo  probetur, 

Connexum  faciunt,  sine  re  (Hft:  sinire)  sub  presule  stetur. 

XIX.  fol.  70'"» 

Ave  virgo  gloriosa, | celi  iubar,  mundi  rosa,  |. . . .  supernorum  civium. 

Je  die  erste  Halbstrophe  (I — VIII)  der  bei  Kehr  ein,  Lat. 
Seq.  No.  275,  Mone,  Lat.  Hymnen  No.  531  (IL  S.  318)  gedruckten 
Sequenz ;  hat  in  III  2  fälschlich  lucis  statt  maris. 

XX.  fol.  70' 1*7 
L    Senescentis  et  delire 

lire  cordas  renovo,  novo 
cantu  volens  expedire 

dire  mentis  socia;    ocia 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.         463 


circa  Syon  presides 

bene  tibi  provides. 
II.     Equitatur  aliquando, 
tuta  loca  peragrando 


III.     Capellanis  prelatorum 
maior  quies  clericorum, 


IV.    Cantes,  legas  et  alleges, 
non  sis  notus  apud  reges, 


V.    Et  si  Maro  vel  Lucanus, 
vulgo  presul  est  humanus; 


VI.     Ergo  cautus  sis,  Homere! 
mores  eius  reverere, 


si  des,  adde  propera  opera! 

5 
quando  iubet  dominus;  minus 
grando,  nix  et  glacies,  acies 
sagit^arum  ingruit: 
ruit  mors  per  gravia     avia 
et  inermcs  obruit.  10 

thorum  prebet  palea;     ea 
quorum  penas  video;      ideo 
retrabam  obsequia, 
quia  opes  temere  emere 

pondus,  est  non  gloria.  15 

leges  salutiferas  feras, 

eges  circa  presules,        ex?<7  es; 
nisi  quibus  servias, 
fias  Chodri  socius, 
contempleris  per  vias. 
canus  sive  iuvenis 
manus  fert  ad  loculos,  oculos 
reconformat  munere, 
ere  replet  dexteram,       exteram 
gentem  doctus  colere.  25 

mere  tibi  predico;  dico: 

here!  cuius  lateri  at^eri 

non  te  diu  perferet; 
feret  egros  sospites,       hospites 
suos  numquam  deseret.  30 


ocms 


venis, 


20 


Form:  Grundlage  der  Strophe  ist  der  trocbäiscbe  15-silbner; 
Eeiche  Reime  der  durch  die  Melodie  hervorgerufenen  echoartigen 
Wiederholungen  verzieren  die  Siebensilbner  und  verknüpfen  die 
einzelnen  Zeilen.  Jean  de  Garlande  in  seiner  Ars  rithmica 
400  ff.  (bei  Giov.  Mari  i  trattati  medievali  di  ritmica  Latina  1899. 
S.  48)  nennt  dieses  Kunststück  repetitio  immediata  und  fügt  bei: 
quidam  gaudent  tali  rithmo,  qui  suum  volunt  ingenium  experiri. 
Ob  nicht  diese  gekünstelten  Eeime  den  Einfluß  Konrads  von  Würz- 
burg verraten  ?  vgl.  Bartsch,  Deutsche  Liederdichter^  S.  LXIII. 
Taktwechsel  kommt  nicht  vor ;  die  Achtsilbner  zerfallen  regelmäßig 
in  4_u  +  4— u.  Zwischen  den  Zeilen,  besonders  dem  Echo,  ist 
der  Hiat  häufig ;  im  Innern  findet  er  sich  V.  14  quia  opes.  Zweimal 
steht  schließendes  -m  vor  anfangendem  Vokal:  8,  13. 


464  J-  J^^-  Werner, 

Der  Inhalt  ist  nicht  recht  klar:  es  scheint  ein  Selbstbe- 
kenntnis des  Dichters  zu  sein,  daß  der  Herrendienst  gefahrvoll 
und  undankbar  sei  und  nur  die  epischen  (historischen)  Dichter 
Geld  und  Gunst  erlangen. 

Zu  1  verweist  Wilh.  Meyer  auf  Her.  Sat.  II,  5,  71 :  senem  delirum. 
2 — 4  ist  eine  humoristische  Wendung  des  bekannten  und  viel- 
fach variirten  Spruches  Bis  dat  qui  cito  dat,  den  z.  B.  Guiardinus 
168  zu  Prompta  placere  scias,  tarda  sapore  carent  umgebildet  hat. 
8  sagitarum  10  inermis  13  ratraham  16  leges  habe  ich  nach 
Anleitung  des  Reimes  eingeschoben.  17  exides  19  Codrus  ist  seit 
Juvenal  (3,  203)  der  Typus  des  armen  Schluckers;  Wilh.  Meyer 
zitirt  Nachrichten  1908  S.  193  aus  den  Carm.  bur.  II  Str.  5: 
quia  Codro  Codrior  omnibus  abundas ;  vgl.  Alanus  de  planctu  nat. 
(ed.  Wright  S.  473)  et  Codrus  abundat  egeno.  27  mores  fehlt 
ohne  Bezeichnung  einer  Lücke,     ateri      28  perfert.      29  fert. 

XXI.  fol.  70'-n24 

MoUis  seu  dura      res  quelibet  est  peritura: 

Ergo  procura      felix,  homo,  regna  futura, 

Que  sunt  mansura,      que  meta  sunt  caritura. 

Observa  iura!       placato  deum  prece  pura! 

Sit  procul  usura!       pro  victibus  excole  rura!  5 

Nee  facito  plura!       sie  regnabis  sine  cura. 

Die  leoninisch  auf  -ura  gereimten  Hexameter  (Tiradenreim)  haben  viermal 
Caesurverlängerung,  resp.  syllaba  anceps  in  der  Caesur;  so  wird  der  Hexameter 
gewissermaßen  in  zwei  gereimte  Kurzzeilen  zerlegt. 

XXII.  fol.  70'"3i 
I.     0  mores  perditos       et  morum  federa! 

Non  curant  superi,       quid  agant  infera; 

Sinistre  manui      mentitur  dextera. 

Nee  carent  fraudibus      fraterna  latera. 
IL     Die,  mater  unica!       die,  Fides,  filio!  5 

Die,  ubi  habitas      in  hoc  exilio? 

In  imis  vallium       et  montis  cilio. 

In  casis  pauperum,       an  regum  soKo? 
IIL    A  primo  generis      humani  stipite, 

A  mundi  finibus      exempla  sumite,  10 

A  celi  cardine,      a  terre  limite: 

Nusquam  tuta  fides;      experto  credite. 
IV.    Hoc  ultrix  fidei      incumbens  gladio 

Elissa  cecinit      mortis  conpendio; 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.         465 

Pudori  consulens       et  vite  tedio  15 

Luctantem  animam      iuvit  incendio. 
V.     Olim  res  fidei,      mmc  umbra  colitur; 

Olim  sola  fides,      nunc  et  frans  fallitur: 
Nam  doli  macHna       dolo  repellitur; 
In  dolo  dolns  est      et  dolo  toUitnr.  20 

VI.     Sit  ergo  fraudibus      hec  meta  gaudii! 
Sit  hec  sceleribns       summa  stipendii! 
Mundanos  devorent      hostiles  gladiil 
Nee  mundo  serviant       solares  radii!        finita  est. 

Haureau  hat  Bibliotheque  de  l'e'c.  des  eh.  47  (1886)  S.  92  die  4  Strophen  der 
Pariserhft  Lat.  3549  saec.  XII./XIII.  fol.  168r  zum  Abdruck  gebracht.  Mit  5 
Lesefehlern  wiederholt  Dreves  Analecta  hymnica  21  S.  124  den  Text  aus  der 
gleichen  Hft.  Madan  hatte  Bibl.  de  l'e'c.  des  eh.  46  (1885)  S.  584  das  Gedicht  in 
der  Oxforderhft  Bodl.  Addit.  A.  44  fol.  65^  nachgewiesen.  Sechs  Strophen  bietet 
die  Baslerhft,  die  meist  vor  jede  zweite  Zeile  §  setzt.  Eine  Melodie  ist  nicht 
überliefert. 

1  0  fehlt  B  4  latere  B  5—8  nach  12  P  5  Die  mater  filio,  die  sodes 
unico  P  6  sie  ubi  P  7  an  imo  P  et]  an  P  8  In]  an  P  9,  11,  10, 
12  vor  5—8  P  11  celi]  solis  P  cardines  B  13—16  fehlen  P  13  fide  B 
incumbit  0  17  nunc]  nö  B  18  et]  est  P  sed  nunc  fraus  0  19  et  doli 
machina  dolus  P        20  et  dolus  tollitur  P        21—24  fehlen  PO. 

Für  den  Nachweis  der  Zitate:  12  aus  Verg.  Aen.  4,  873  und  11,  283;  16 
aus  Yerg.  Aen.  4,  695  =  Lucan.  Phars.  3,  578  und  der  Lesarten  aus  0  bin  ich 
Prof.  Wilh.  Meyer  zu  Dank  verpflichtet. 

XXIII.  fol.  70^17 
Curritur  hie  .  .  .    s.  No.  XII  V.  11-23. 

XXIV.  fol.  70^131 
Taurum   sol   intraverat  .  .  .     Die   von  W.  Wattenbach  in 

der  Zeitschr.  f.  deutsches  Alterth.  18  (1875)  S.  127—136  abgedruckte 
Streitrede  zwischen  Ganymedes  und  Helena  über  die  beiden  Arten 
der  Liebe.  Der  Text  dieser  Hft  enthält  neben  vielen  Fehlern 
und  Lücken  mehrere  gute  Lesarten ;  an  manchen  Stellen  stimmt  sie 
mit  den  Lesarten  von  "Wattenbachs  R  =  Cod.  Yat.  Christ.  344 
überein.  Nach  den  größeren  und  kleineren  leeren  Stellen  in  der 
Hft  zu  schließen  scheint  die  Vorlage  defekt  gewesen  zu  sein.  Ob 
in-  oder  im-,  con-  oder  com-,  -ti-  oder  -ci-  in  der  Hft  steht,  merke 
ich  nicht  an. 

1, 1  Maurum      2,  2  leue ;  oft  läßt  sich  nicht  unterscheiden  ob 
u  oder  n  gemeint  ist.       2,4  adeptus       4,2  allisisse      4,3  tales 
deos  (=  R)  fama  est  formas       4,4  mirabatur       4,4  parem 
5,  2  neque       5,  3  Phebe  litiget,  litiget  et      6, 1  thoris      6,  3  phi- 

Kgl.  Geti.  d.  Wiss.    Kacbiichton.   Philolog.-hietor.  Klasse  1908.    Heft  5.  33 


4ßß  J.  Jak.  Werner, 

gius[!],  aber  8,3  Phrigius      6,4  fatetur  fehlt;  leerer  Eanm  dafür. 
7,3  petitur      7,4   si  nö      9,4  bona  facie       10,3  terminant 

11.3  Lora      12,  2  De  secreto       12;2  cogitat  =  R      12,  3  Prolem 

13.1  Comes  erat  =  R       Nach  13,2  eine  Zeile  leer      13,3  mis- 
cet  =  R        13,3  inpares,   das   e   zerkratzt.        14,2  nature 
15,  3  Mirum       16,  3  deos  hec  (durch  Compendium)  v.  o.  iam.  c. 

16. 4  et  illa  r.   videt      17, 4  superbi      18, 1   intro   inferuntur 
18,  4  regias  =  RV      20,  2  vor  20, 1      21, 1  docenti      21,4  blande 

22.2  Adhuc  virgoprepudens       23,1   P.  coma  libera  nexu 
23, 1  —4  haben  die  gemeinsame  Endung  -ari      23, 4  paulum  =  R 
25,1  longiore       25,2   hincethincremovet  =  B       25,  3fa- 
cilis  similis       25,  4  für  das  fehlende  Ventura  ist  Raum  gelassen 
26,  1    undique    superos  =^  R        26,  2    Phebum    c.   Jovem    1. 
(=  RV)       27,1  Jupiter       27,  3  de  phrigio       28,1—4  gemein- 
same Endung  -erit      28,3  primitus  in  c.  e.  =  BV      28,4  ocu- 
los  curia  =  R      29,1  Heus  =  R       29,2  nach  29,3  =  RV 
29,  2  invidens      29, 4  non  fehlt      30, 1  liberos  liberis       30,  4  opti- 
matibus       31,1   decus  est  d.       31,2  nach  31,3       31,2  occidit 
32,  1  vor  reparari  undeutliches  Zeiches  für  et  oder  p      32,  3  per- 
turbari  =  B      32,4  In  me  facit  sentio      33,2  mutuo  feminam 
amplexu  =  R        33,  3  nat.  nexu        34, 1  debent        34,  4  coin- 
quinari      35,  2  uirum       35,  2  iungit  amor  lectus  =  R      36, 1  cum 
durch   das  Compendium   für   con  ausgedrückt.        38, 1   duxit  inde- 
corum       38,  2  forme  sir.  honestate       38,  3  geniale  =  ßV      40,  3 
fehlt,  Zeile  leer      41, 1  ascendit  =  R      42,  2  Vos      42,  3  dimitat 

42,  4  hoc hoc      43,  4  fehlt      44, 2  videat       44,  3  Quod  se  = 

RV  44,  3  ingerunt  44,  3  usurpat  etas  44,  4  puericio  Mit 
44,4  schließt  fol.  71''",  auf  fol.  71^i' beginnt  66,  1—67,4  worauf 
noch  8  Zeilen  (s.  no.  XXVII  1—8)  folgen;  dann  scheint  der 
Schreiber  den  Irrtum  (er  hatte  wohl  ein  Blatt  =  2  x  42  Zeilen 
überschlagen)  eingesehen  zu  haben :  er  fährt  weiter  mit  45, 1  Die  . . . 
45, 1  ateratur  45,  3  ventus,  falsches  Compendium  der  Endung 
46,2,  3, 1,  46, 1  cum  virginis  decor  evanescit  =  RV  46,  4  fehlt 
47,  2  Et  subesset  inguini  mulieris  c.  47,  3  iudice  48, 3  fehlt, 
leerer  Raum  dafür  gelassen  49,  3  loqui  =  R  50  turpiter  =  BV 
50,  2  hie  fehlt  51, 1  Oo  51,  3  studeant  51,  4  Meretrix  iam 
8.  t.  impune  f.  52,  3  ubi  tune  fehlen,  ist  Raum  gelassen.  52,  4 
thaide,  auch  im  folgenden  immer  th-  52,  4  sapina  53,  2  Quid 
54,  3  referat  54,  4  Sitis  55,  2  balfimum  55,  3  Quarum  56, 1 
Jupiter  medius  56,  2  ad  hec  se  56,  2 — 4  scheint  die  Vorlage 
am  Ende  der  Zeilen  ein  Loch  gehabt  zu  haben,  da  die  Schlußworte 
verti  (-t  ist  da)  prefert  it  und  stertit  fehlen      66;  4  litigat  ac 


Poetische  Versuche  und  Sanimlnngen  eines  Basler  Klerikers  etc.        467 

57, 1  Venus  vestra  57,  3  Dum  58,^  Fetens  antrum  58,  3  fehlt 
60, 1  res  est  60,  2  amata  =  B  60,  3  sed  non  erit  nostra  lex 
per  61, 1  prodit  61,  3  cum  te  subdit  maribus  h.  inp.  61,  4 
perdis  pura  61,  5  hominis  ibi  fit  =  E  62,  1  In  auditu  62,  2 
robur  63,  3  non  res  inq.  63,  4  loquor  64, 1  refert  equidem  =  R 
64, 1 — 4  haben  die  gemeinsame  Endung  -iscit     64,  2  iam  agnosco 

64.3  Ergo  nova  65,2  chorum  virginum  virgo  66,1—67,4  irr- 
tümlich nach  44,4  66,2  Approbat  coniugium  67,4  hoc  si 
fecero,  wie  Wilh.  Meyer,  Ges.  Abh.  1  S.  277  vorgeschlagen  hat 

67. 4  Sit. 

XXV.  fol.  72^1* 

I.  Post  hiemis  rigorem      et  senium 

movemur  ad  amorem      et  ocium: 
ver  adest  ad  honorem      dans  lilium, 
calor  äuget  calorem      venerium. 

Vulnus  habet  remedium  5 

apud  alium; 
Sed  hoc  est  incurabile,       nee  medico  curatur, 
et  numquam  est  sanabile,      ni  medica  tangatur. 
Una  tantum  pre  ceteris 
esset  curatrix  vulneris;  10 

et  sie  par  essem  superis 
sanus  a  plaga  Veneris. 
n.  Una  placet  amanti      pre  omnibus, 

sed  non  furi  precanti      pro  precibus, 
neque  faveret  danti      nee  dantibus;  15 

hec  non  sunt  ei  tanti      pro  talibus. 
Non  movetur  muneribus 
neque  precibus. 
Hec  sola  spernit  munera      —  quod  raro  solet  esse  — 
et  mavult  propter  cetera      quam  propter  hoc  subesse.     20 
Una  tantum  (u.  s.  w.) 
III.  Parem  pars  occidentis       non  hahuii, 

sensus  humane  mentis       obstupuit, 
mutatis  elementis      apparuit, 
vultus  dei  viventis      resplenduit. 

Parem  nuUum  adhibuit,  25 

parem  renuit. 
Hec  parem  nullum  recipit,      nuUi  vult  iungi  par^ 
et  sie  amantem  recipit,       quasi  nolit  amari. 

Una  tantum  pre  ceteris  (u.  s.  w.) 

33* 


468  J«  J^^-  Werner, 

Form:  Die  Stropte  ist  zusammengesetzt  ans  1)  vier  unter 
sich  reimenden  Sieben  silbnern  mit  fallendem  Schluß,  je  verbunden 
mit  einem  Viersilbner  mit  steigendem  Schluß  (Wilh.  Meyer,  Ges. 
Abhdlgn.  z.  mittellat.  Rythmik  I  S.  313):  4  x  (7-^ua  +  4u_b). 
2)  Mit  den  Viersilbnern  reimen  die  zwei  folgenden  Zeilen  von  8 
und  5  Silben:  8u_b  +  5u_b.  3)  Den  Abschluß  bilden  zwei  aus 
8u_c  -f  7_ud  unter  sich  reimende  zusammengesetzte  Zeilen 
(W.  Meyer,  a.  a.  0.  I  316).  Hiat  findet  sich  13  pre  omnibus, 
zweimal  -m  vor  vokalisch  anlautendem  Wort  (V.  8  und  25), 
ebenso  zweimal  zwischen  den  Halbzeilen  (V.  1  und  2).  Takt- 
wechsel kommt  in  den  18  Zeilen  zu  7  _  u  neunmal  vor ,  in  den 
9  Zeilen  zu  8u_  dreimal  (immer  in  der  gleichen  Zeile  der  Strophe); 
auch  der  aus  4x8u_eeee  bestehende  Refrain  weist  3  Takt- 
wechsel auf.  Das  gleiche  E-eimwort  haben  V.  14  und  18;  aber 
V.  14  gibt  keinen  ordentlichen  Sinn. 

V.  21  nach  non  ist  inde  multo  gravius  durchstrichen.  hü'it 
Ob  V.  24  das  von  mir  eingeschobene  resplenduit  das  richtige  ist? 
die  Hft  hat  keine  Lücke  angezeigt.  V.  27  iungi  parem  habe  ich 
nach  dem  Reimwort  der  folgenden  Zeile  geändert. 

XXVI.  fol.  72' 128 

I.     Reverendi  iudices!       quorum  habet  cura 
et  stare  pro  legibus      et  tueri  iura; 
Res  est,  quam  dicturus  sum,       cunctis  profutura 
et  neglecta  cunctis  est       eque  nocitura. 
II.     Licet  sit  quibuslibet      onerosa  satis,  5 

satis  tamen  continet      hec  pars  honestatis; 
cum  res  ergo  tanta  sit,       vos,  qui  iudicatis, 
vestram  audientiam      inihi  concedatis! 
m.     Breviter  edisseram      rem  modumque  rei: 

cum  nisi  per  Tetidem      feritas  Liei  10 

superari  nequeat,       voluere  dei, 
ut  Thetis  coniugio       iungeretur  ei. 

IV.  Justum  est,  ut  coeant      Thetis  et  Lieus, 
ut  deae  temperie      temperetur  deus; 

probo,  quod  legitimus       sit  hie  himeneus  :  15 

sed  hoc  adversariws  inprobab?^  mens. 

V.  Est  in  Bachi  viribus  parum  immorandum: 
cunctos  Bachus  efficit  promtos  ad  pugnandum; 

4  est  neglecta  Hft  sed  negl.?  Wilh.  Meyer  5  honerosa  8  m'  zu  m  corr. 
14  ut  deus        16   aduerearis        16  inprobabw  abgekürzt  geschrieben. 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        469 

mulieres  etiam      cogit  ad  prostandum; 

Bacho  turpe  nichil  est,      nichil  est  infandum.  20 

VI.    Bachus  amat  iurgia,       ^achus  odit  pacem 

et  confert  civilibus      animum  andacem. 

Dens  hie  de  timido      faeit  contumacem ; 

nee  Lombardus  ebrius      metuit  limacem. 
VII.    Deus  hie  letificat      animum  humannm  25 

et  inermis  hominis      armat  ipse  mannm; 

et  simplex  canonicus      putat  se  decanum, 

qnociens  incorporat      vinum  veteranum. 
Vin.     Diu  inter  principes      lis  est  conversata, 

sed  versata  tociens      non  est  terminata:  30 

ergo  5it  in  medio      iterum  prolata, 

ut  in  hanc  sententiam       proferatur  rata: 
IX.    Frenum  nescit  ponere      sue  Bachus  ire, 

quia  per  illicitum      multos  cogit  ire; 

est  ergo  consilium      honestatis  mire,  35 

quod  hwic  malo  poterit      modum  reperire. 
X.     Si  vos  Bacho  Thetidem      iungere  velitis, 

Thetidis  moUicie      Bachns  erit  mitis. 

Placet  hoc  consiliam      omnibns  peritis, 

placet  laicalibns,      placet  heremitis.  40 

XI.    Et  nos  decet  emulos      esse  Lonbardorum, 

qni  precellunt  omnibus       vilitate  morum: 

s^  exemplo  singnli      viverent  eorum, 

de  ferratis  Optimum      haberemus  forum. 
Xn.     Omne,  quod  superfluit,      illis  plus  est  gratum,  45 

quia  tantum  hauriunt      vinum  adaquatum: 

amant,  ut  sint  ebrii;       sed  mos  est,  ablatum 

purum  ventri  trudere      vinum  faleratum. 

XIII.  Talis  inter  monachos      mos  est  usitatus, 

quod,  si  vacet  cathedra       sive  prioratus,  50 

in  primis  considerant,       quis  sit  plus  inflatus 

XIV.  Istud  ergo  nemini      mirum  videatur, 
si  chiphus  ad  oculum      vino  inpleatur, 

19  zu  prostandum  vgl.  Guiardinus  346:  Ipsaque  Penelopes  hac  (i.  e.  ebrie- 
tate)  duce  Thais  erit.  21  Pachus  odit  22  Os  hie  =  Omnes  hie  29  versata 
Hft  hec  lis  est  versata?  Wilh.  Meyer  31  fit  32  hac  sententia?  Wilh.  Meyer 
36  hinc  37  tethidem  40  lacialibus  41  At  non?  Wilh.  Meyer  42  Novati, 
Attraverso  il  medio  evo.  S.  141  f.  zitiert  unter  anderm  aus  Jacques  de  Vitry  fol- 
gendes: Lombardos  avaros,  malitiosos  et  imbelles      43  sie      47  mox? 


470  ^-  '^^^-  Werner, 

et  quod  mensa  variis       cibis  oneratur :  55 

nam  vere  salvabitur       quisquis  erit  satur. 
XV.     Hoc  modo  sc  tendere      iactant  ad  virtutem 
et  preponunt  anime       corporis  salutem 
accincti  potentia       ad  inplendam  cutem: 
quam  mihi  si  replea?jt,      ego  non  refutem.  60 

Form:  Die  bekannte  Vagantenstrophe  von  7w—  x-f6  —  üb  hat  auf 
60  Zeilen  14  Taktwechsel  in  7u  — ,  darunter  aber  nur  einmal  mit  dreisilbigem 
Wort  59:  accincti.  Jede  Strophe  hat  besonderen  zweisilbigen  Reim.  Elision 
findet  sich  nicht;  Hiate  kommen  vor  V.  29,  <43>  und  54  und  in  der  Caesur  V.  31 
und  59;  viermal  findet  sich  -m  vor  anlautendem  Vokal  (V.  8,  13,  17,  22),  zweimal 
vor  h-  (1,  25). 

Inhalt:  Das  beliebte  Thema,  über  welches  sowohl  der  Primas  Hugo  von 
Orleans  (s.  Wilh.  Meyer  in  Nachr.  der  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen  1907  S.  149 f.) 
wie  "Walter  Mapes  (ed.  Wright  S.  87—92 :  Dialogus  inter  aquam  et  vinum)  Verse 
gemacht  haben,  wird  hier  in  einer  fingierten  Gerichtsrede  zu  behandeln  versucht; 
leider  hat  sich  der  Dichter  von  V.  41  ab  zu  Abschweifungen  verleiten  lassen,  die 
nicht  zur  Sache  gehören. 

Einzelnes:  V.  If.  Vielleicht  Anlehnung  an  Verg.  Aen.  7,  443:  cura 
tibi  divum  .  .  .  templa  tueri.  12  Vgl.  Carm.  bur.  179,5  S.  241:  Dea  deo  ne 
iungatur.  24  Anspielung  auf  das  hin  und  wieder  unter  Ovids  Namen  überlieferte 
Spottgedicht  de  Lombarde  et  Lumaca,  das  Fr.  Novati  in  Attraverso  il  medio 
evo  (1905)  S.  119—151  mit  Anmerkungen  herausgegeben  hat.  52  Die  Hft  hat 
kein  Zeichen  der  Lücke.        57  sese        60  repleat. 

XXVII.  fol.  71^19.    foi.  72rn38 

I.    Dudum  felix  modo  miser      id  quod  eram  defleo ; 
Olim  dives  modo  pauper      quod  amisi  doleo. 
Illum  statum  sie  mutatum      memorate  teneo, 
Yite  finem  destinatum      evenire  timeo. 
H.     Olim  census,  forme,  sensus       erat  mihi  copia,  5 

Tanto  gravat,  que  nunc  instat,       artius  inopia; 
Nam  quo  maior,  quo  fecunda      fuit  illa  gloria, 
Tanto  minus  est  agenda      Uliiis  memoria. 
in.     0  quam  dura      blandimenta      sortis  sunt  et  aspera, 

Que  tunc  nuta,i    et  plus  mutat,     cum  promunt?^r  prospera ;  10 
Nova  placent,     cum  iam  vacent,     que  fuerunt  vetera: 
Est  deiectus     et  despectus     vetus  inter  cetera. 
IV.     0  miranda     et  nefanda    vite  huius  novitas, 

Que  captata    et  amata    plus  quam  morum  probitas. 
Nova  redit,     et  iam  cedit    veterum  auctoritas ;  15 

Silet  verax,    vincit  mendax,    locum  habet  falsitas. 
V.  1—8  sind  durch  Irrtum  in  das  Gedicht  XXIV  geraten;  s.  daselbst  44,4. 
5  vor  census  ist  se  ausradirt.       6  arxius  (r  und  -us   durch  Abkürzung)      7  illis 
(is  durch  Abkürzung)       10  micat  llft,  nutat  W.  Meyer;      promüt.       14  captatur 
et  amatur?  Wilh.  Meyer. 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        471 

V.     Virtus  abit,     honor  fugit,     regnant  hiis  contraria; 
Venit  dolus,     redit  scelus     et  frans  multipharia : 
Amor  brevis,     fides  levis     est  et  momentaria, 
et  verorum     amicorum    non  sunt  tria  paria.  20 

VI.     Natus  patrem,     nata  matrem    machinata  fallere: 

Omnes  fallunt,     omnes  malunt    fraude  quam  nil  agere. 
Omnes  credunt,     si  non  ledunt,     ociosi  vivere; 
Hec  pro  certo     et  experto    mihi  possunt  credere. 
VII.     Gloriosam  domum  unam       dudum  notam  babui  25 

Et  magistram  domus  huius       non  pro  iure  colui: 
Si  quid  illi  displicebat,       miro  modo  dolui; 
Eins  Votum  mihi  totum      conplacere  volui. 
^       *      ^ 
Vin.     Invidere  cepit  quidam      sue  matris  filius, 

Machinator  sub  occulto       sibi  ipsi  conscius  30 

Rem  paravit  venenosus      perturbare  nequius; 
Cuius  vita  est  iam  scita,       sed  scietur  plenius. 
IX.     Si  quis  ortum  scire  velit,       Bachus  illum  genuit; 
Mater  Venus  hunc  in  curiis       annis  VIII  tenuit; 
Sciens  mala  prefutura,       ei?^s  ortum  tacuit,  35 

Sed  nunc  satis  per  immensum      facinus  innotuit. 
*       *      * 
X.    Tutus  loquor  nee  timesco,       quod  me  vincat  ratio: 
Si  quid  novit,  quo  me  ledat,      proferat  in  medio, 
Et  ad  causam  iudicandam      testis  adsit  conscio; 
Si  quis  nostrum  reus  erit,       dignus  sit  supplicio.  40 

XI.     Si  decretum  sit  conpletum,       quid  certemus  viribus? 
Vel  concessum  sit,  quod  armis       dimicemus  paribus. 
Victor  ero,  sicut  spero,       divis  adiuvantibus 
Et  si  cedo,  me  concedo       duris  mori  legibus. 
XII.     Si  loquamur  et  agamus       arte  dialectica  45 

Et  interdum  disseramus,       quid  agat  gramatica, 
Et  queratur,  quid  dicatur       color  in  rethorica, 
Respondebis:  „bibo",  „bibis"       et  de  arte  bachica. 
^       *      * 
XIII.     Huc  inclines  et  auscultes,     cara  mihi  domina! 

Condescendas  et  attendas,       que  sint  hec  certamina.      50 
Tandem  per  te  leniorem,       sicut  scis,  contamina. 
Hunc  elide,  iustum  vide,       causam  nostram  terminal 

18  venit  doctus  dolus,  aber  doctus  gestrichen.  19  est  fehlt.  21  machinatur? 
Wilh. Meyer  22  fraudem?  Wilh.  Meyer  32  vitä  35  prefutura  ist  wohl  pleo- 
nastische  Neubildung  35  eis  38  Si  quis?  Wilh.  Meyer.  42  fit  45  dyaletica 
52  eUd- 


472  J-  J3,k.  Werner, 

XIY.     Servum  tuum  ne  repellas      nee  contempnas  amodo, 
Qui  de  tuo  tamquam  suo       gratuletur  conmodo. 
Tibi  vivo,  tibi  plaudo,       semper  nitor,  quomodo  55 

Landes  canam  et  depromam      carmine  multimodo. 
XV.     Silet  musa,  cessat  dextra,       dicit  carta:  gaudeas! 

Quidquid  agas,  quidquid  dicas,      velle  bonum  habeas! 
Dia  vivas !  leta  fias !       quidquid  vis,  obtineas  ! 
Et  conpleto  fine  leto       sine  fine  valeas!  60 

53  nee  repellas  contempnas,  aber  repellas  getilgt.  54  te  zu  de  corr. 
gratulatur?  Wilh.  Meyer. 

Es  scheinen  entweder  Bruchstücke  aus  einem  größeren  Ganzen  oder  An- 
fänge zu  einem  solchen  zu  sein.  Die  rythmische  Form  ist  nicht  sehr  sorgfältig 
gehandhabt,  da  in  der  oft  durch  Reim  markierten  Neben-Caesur  nach  der  vierten 
Silbe  einige  Hiate  vorkommen. 

XXVIII.  fol.  72^1*2 

I.     Volo  virum  vivere      viriliter; 
diligam,  si  diligor       equaliter: 
sie  amandum  eenseo,      non  aliter, 
hae  in  parte  forcior      quam  lupiter. 

Nescio  procari  5 

eonmercio  vulgari, 
amaturns  forsitan  volo  prius  amari. 
IL     Muliebris  animi      superbiam 
gravi  supercilio       despiciam, 

nee  maiorem  terminum       subiciam  10 

neque  bubus  aratrum      prefieiam. 
Displieet  hie  usus 
in  miseros  diffusus. 
ma?o  ludens  plaudere  quam  plangere  delusus. 
m.     Que  cupit  ut  placea^,      huic  placeam;  15 

ipsa  prior  faveat,      ut  faveam; 
non  ludemus  aliter      Jianc  aleam, 
ne  se  granum  reputet,      me  paleam. 
Pari  lege  fori 
deserviam  amori,  20 

ne  prostemar  inpudens      femineo  pudori. 
IV.     Liber  ego  liberum      me  iactito 
casto  pene  similis      Ypolito  ; 
nee  me  vineat  mulier      tam  subito, 
ut  seducat  oculis      ac  digito  *  *  *  25 

2  si  diligar  Bu  4  Interpunktion  nach  Wilh.  Meyer  5  precari  8  Mulieris 
Bu  14  ma  ludens  Hft  plaudens  ludere  Bu  15  placeä  zu  placeat  corr.  16  prius 
prior,  das  erste  gestrichen  —  prior  ipsa  Bu        17  aus  Carm.  bur.  eingeschoben. 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.       473 


19  pani.  23  pene  fehlt  Bu,  fore  in  Bu  am  Rand  von  anderer  Hand  24  non 
me  Bu  24  vineit,  über  das  zweite  i  ist  a  geschr.  In  den  Carmina  hur. 
n.  139  S.  210  ist  die  4.  Strophe  vollständig;  es  folgt  sogar  noch  eine  weitere,  als 
Palinodie.  lieber  den  Bau  der  ersten  4  Zeilen  dieser  Strophe  4x7u  —  x-f-4*-'  —  a 
handelt  Wilh.  Meyer,  Ges.  Abhandlgn.  I.  S.  306.  Der  6.  Vers  hat  gegenüber 
dem  fünften  (6-^u)  eine  Vorschlagsilbe;  s.  a.  a.  0.  I  251.  Die  7.  Zeile  ist  eine 
Verbindung  von  7u [-7  —  ^  ohne  Reim  V.  11  Parallelen  zu  diesem  Sprüch- 
wort verzeichnet  Wilh.  Meyer,  Nachrichten  1906.  S.  61 ,  dem  ich  auch  für  die 
Mitteilung  der  Lesarten  aus  Bu  (=  Cod.  Lat.  monac.  4660)  verpflichtet  bin 
V  21  inprudens;  Wilh.  Meyer  weist  hin  auf  das  Wortspiel  in  inpudens  —  pudori. 


XXIX. 


fol.  72^"" 


I. 


n. 


ni. 


IV. 


V. 


VI. 


dulci  Progne  modulo 
ferit  vocis  iaculo 


fons  a  dextris  murmurat 
et  ver  fontem  -pur^ursit 

relabor  medullitus 
langTiet  milii  spiritus 


dum  Uli  commisceor 
transcendisse  videor 


nescis,  quia  legitur: 
semper  caris  agitur 


[leerj 
0  zoi  ca  ziace 


Dum  flosculum  tenera 
lactant  veris  ubera, 
dulcem  mulcet  aera, 
philomena  sydera. 
Eram  vacans  ocio 
sub  olive  pallio; 
aquarum  suspirio, 
flore  multiphario. 
Dum  Acres  inspicerem, 
aurem  cantu  pascerem, 
in  amorem  veterem: 
et  cor  bibit  venerem. 
Dum  contemplor  uterum 
et  recordor  uberum, 
et  semel  et  iterum : 
gazas  regum  veterum. 
Si  te  miles  equitat, 
amor  me  nobilitat; 
omnis  amans  militat, 
et  in  castris  babitat. 
Ut  autem  non  besitem, 
an  diligas  equitem, 

[leer] 
sine  tibi  militem. 


IG 


15 


20 


24 


3  pgne.  8  preparat  d.  h.  re  und  ra  durch  Abkürzung  15  commisseor. 
19  legitur  fehlt,  ohne  Lücke.  Das  von  Mone  im  Anzeiger  f.  Kunde  der  deutsch. 
Vorzeit  VII  (1838)  Sp.  291  aus  der  Hft.  v.  St.  Omer  351  (715)  saec.  XIII  abge- 
druckte Gedicht  gewinnt  durch  die  Baslerhft  nicht  viel  an  Verständnis.  Der  Zu- 
sammenhang zwischen  der  4.  und  5  Strophe  ist  nicht  bloß  durch  die  eine  in 
unserer  Hft  fehlende  Strophe,  die  vor  der  4.  in  der  Hft  St.  Omer  steht,  unter- 
brochen: im  ersten  Teil  schwelgt  der  Dichter  in  lachender  Frühlingslandschaft 
in  der  Erinnerung  an  die  frühere  Liebe.  Die  Zeilen  zu  7  ^  —  haben  8  Taktwechsel ; 
darunter  7  aquarum,  11  reläbor. 


474  J-  J*^-  Werner, 

XXX.  fol.  72^081 

I.     Ordinarat  ab  eterno      patris  prescientia 
visitare  de  superno       natos  in  miseria. 
II.     Sed  cum  venit  plenitudo       temporis  sab  gratia, 
inclinatur  altitudo,       ut  exaltet  vilia. 
m.    Intrat  aulam  virginalem      dei  sapientia;  5 

formam  sumpsit  corporalem,       non  relinquens  propria. 
IV.     Parit  ergo  stella  solem,       quo  relucent  omnia; 
admirandam  cunctis  prolem      viri  profert  nescia. 
V.     Nata  gignit  genitorem      estque  nati  filia; 

virgo  parit:  contra  morem       tanta  est  potentia.  10 

VI.  Celebremus  voto  pari  Christi  na^alicia, 
ut  cum  ipso  gloriari  possimus  in  gloria. 
1  rdinarat,  Initiale  0  fehlt.  3  con  durch  Compendium ,  verbessert  von 
Wilh.  Meyer,  der  auf  Galat.  4,4:  cum  venit  plenitudo  temporis,  misit  dcus  filium 
suum  verweist.  11  nalicia.  Weihnachtslied  in  trochäischen  Tetrametern,  die 
insgesamt  auf  -ia  reimen ;  die  8  —  u  reimen  paarweise  unter  sich  und  haben 
Nebencaesur  nach  4  —  u,  doch  ist  sie  reimlos.  In  den  7  ^  —  findet  sich  1  Hiat 
(V.  10)  und  ein  Taktwechsel  (V.  12);  einmal  -m  vor  Vokal  im  Innern  des  Verses 
(V.  12). 

XXXL  fol.  72'"^« 

A. 
Ia.     Lege  dura  mortis  dire 

dolens  deus  interire  genus  Ade  miserum, 

Ib.     Dei  splendor,  verbum  patris 

illibate  semper  matris  fecundavit  uterum : 

II.     Christi  natalicia  5 

vocawt  nos  ad  gaudia:      gaudeamus! 

B.  ' 

Celicus,     unicus,       beUicas        gigas        arce  patris 
mittitur;  clauditur,  nascitur       Christws  alvo  matris: 
Nato      dato     filio 
plaude  gaude  concio!  10 

C. 
Primus  homo  corruit,      quia  nos  perdiderat; 
sed  secundus  diluit,      primus  quod  comwdserat; 
eins  culpam  diluit,       dolens  quod  perierat, 
et  nos  vite  reddidit,      primus  quo5  abstulerat. 
D. 
Ia.     Secretorum  conscius  16 

mittitur  inferius  angelus  ad  virginem 

1  ege  ohne  Initiale  L.  6  vocat  8  ;upo.  9  a  nato.  12  comiserat. 
14  quod  Hft,  quos  Wilh.  Meyer  15  Secretorum  conscius  ist  auch  der  Eingang 
einer  andern  cantio  nach  Chevalier,  Rep.  h.  33424  (Mitteilung  von  Wilh.  Meyer). 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        475 

Ib.     Regis  ferens  nuncium; 

denegantera  vitium       sie  aifatur  humilem: 
II.  Virgo,  vale!  gentium 

paritura  gaudium,  20 

dei  patris  filium, 

deum  et  non  alium. 

E. 
I.     Rimetur  mens  hominis 

de  scripturis  intimis,       quod  completur  hodie; 
n.     Dum  nostra  miseria  25 

miranda  maneria  relevatur  hodie; 

III.  Adam  pane  vescitur 

et  sudor  detergitur         sui  vultus  hodie; 

IV.  Eva  parit  puerum 

neque  dolet  uterum,         sed  exultat  hodie;  30 

V.     Serpens  magis  callidus 

eunetis  animantibus         suifocatur  hodie; 
VI.     Gladius  versatilis 

toUitur  a  ianuis  paradysi  hodie; 

VII.     Noe  pro  diluvio  35 

clauso  foris  ostio  archam  intrat  hodie. 

E. 
I.     Res  iocosa,       quod  hec  rosa      sine  succo  floruit; 
novum  mirum:     virgo  viram       sine  viro  genuit. 
Hec  est  luna,       de  qua  deus       verus  sol  emicuit; 
hec  est  una,     per  quam  reus       suscitari  meruit.  40 

II.     Hec  est  mater,     per  quam  pater      deus  suis  profuit; 
hac  de  matre      deo  patre      deus  nasci  voluit; 
hac  medela      de  tutela      nostra  sors  non  timuit; 
in  ruina      medicina      nobis  hec  consuluit. 

a. 

Mirum  posse  deitatis :  45 

mire  deus  potestatis 

vas  non  fregit  castitatis; 

per  descensum  maiestatis 
opposito      conmercio       fit  gratie:       se  filie 
cubiculo      piaculo      mundi  deus  humanavit.  50 

H. 
Misterium  mirabile, 
19  vale  wegen  des  Hiatus  für  das  sonst  in  der  Anrede  an  Maria  gebrauchte 
ave !        33,  34  Vgl.  Gen.  3,24 :  coUocavit  ante  paradisum  ...  et  flammeum  gladium 
atque  versatilem        36  hostio       49  oppositorum  Hft;  opposito  Wilh.  Meyer;  die 
Verse  sind  unverständlich. 


476 


J.  Jak,  Werner 


n. 


III 


IV. 


miracalum  peratile      divina  mens  disposuit: 
Constabilis,  inlabilis, 

eternus,  inmutabili^      lumen  in  testa  latuit. 
I. 
Mundus  reformatur,  55 

exul  revocatur, 
hostis  inpugnatur, 
fides  roboratur. 
K. 
Eia!  gaude  Syon  filia! 

fidelium  ecclesia  60 

natum  veneretur! 

nature  vis  miretur,       quo  federe 

fit  in  puerpere     triclinio 

nova  dispensatio      nuptiarum. 


L. 

Vident  terre  termini      nocte  terminata 
salutare  domini: 

Ros  de  celis  cecidit;      terra  fecundata 
fructum  suum  edidit. 

M. 
Tribus  uni      rerum  principio 
gratuletur      fidelis  unio, 
resignata      felici  patrie 
non  meritis,       sed  dono  gratie. 

N. 
Florem  parit  virga  Jesse: 
deus  homo  fit  ens  esse; 
fit  eternus  temporalis 
et  inmensus  fit  localis. 


65 


70 


75 


0. 


Delictis  hominis 
in  aula  virginis 
Non  fit  introitus 
non  facit  coitus 


80 


submtrat  virgmem; 
assumit  hominem 
per  viri  coitum; 
talem  introitum, 
Hie  mortis  poculum      gustat  pro  populo 
a  morte  populam      solvi^  hoc  poculo 
0!  Christus  moriens      nobis  compatitur, 
nos  solvit  paciens,      nuncius  moritur,     mors  morte  noxia 
V.     Parit  hec  filium      patris  consilio; 

patris  cowsilium      erat  cum  filio  sine  distancia. 

54  inmutabili        62   natuare.        77   Elictis        79   per   virum.        82  solum 
84  nunc  eius  m,  mors  m.  n.  ?  Wilh.  Meyer        86  com  filium. 


regis  potentia. 

sed  virtus  regia. 

pietas  nimia. 


85 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        477 

VI.     Hec  orbis  oculum      parit  miraculo; 

uere  miraculum :      hoc  enim  oculo  relucent  omnia. 

P. 

I.     Virgo  parit  filium 

in  natura  geminum,  90 

in  persona  unicum;     nee  conceptus  virginem 
nee  assumens  hominem 
ledit,  sed  originem    mutat  humanitatis. 
II.     Landes  demus  melicas : 

hostis  per  exuvias  95 

est  ditata  civitas;  canle  ovis  redditi^r, 
dragma  restituitur, 
sancius  reficitnr,     non  merito  sed  gratis. 

Q. 

la.     Vergente  mundi  vespere 

sol  nascitur  de  sidere,       dum  virgo  fecundatur.  100 

Ib.    Ros  cernitur  in  vellere, 

fruetus  in  virge  germine,       dum  verbum  humanatur, 
IIa.     Par  pa^ri  sapientia 

ex  informi  materia      pene  primordialis 
IIb.     Potenter  formans  omnia,  105 

confederans  contraria      nature  coequalis. 

*  94  mellicas.  96  reddita  zu  redditur  corr.  99  Anfang  einer  Sequenz  bei 
Kehrein,  Lat.  Sequenzen  Nr.  252  103  pari,  corr.  Wilh.  Meyer  106  contraria. 
Eine  Reihe  von  längeren  und  kürzeren  Weihnachtssprüchen  in  wechselnden 
Rythmen;  einzelne  nähern  sich  der  Form  kurzer  Sequenzen  in  der  Stabat  mater 
Strophe.  Aus  je  5  jambischen  Sechssilbnern  (u  — )  bestehen  die  Strophen  in  V. 
77—88,  die  alle  durch  den  Reim  -ia  der  Schlußzeile  gebunden  sind.  Wilh.  Meyer 
macht  aufmerksam  auf  die  dort  vorkommende  Spielerei,  daß  kreuzweise  in  den 
Reimsilben  die  gleichen  Worte,  aber  in  anderm  Casus,  gesetzt  sind. 

XXXII.  fol.  73-- "*i 

Spes  promissa  lupo       de  gutturis  osse  remoto : 
Hanc  sibi  subtraxit       et  ei  se  nil  dare  dixit. 
Sit  non  illa  mea,       quia  res  incepta  peracta. 
Est  finis  libro;       nam  si  quid  dat  mihi  presto 
Frater  Cünradus,       non  fiat  in  hoc  mihi  surdus:  5 

Spes  promissa  mea      ne  sit  sua  conscia  lesa. 
Si  vacuus  fuero       per  fratrem,  non  ego  spero. 

4  iam?  Wilh.  Meyer.  Vielleicht  Begleitschrift  zu  einer  Handschrift,  die  be- 
stellt war:  Der  Schreiber  bittet  um  die  versprochene  Belohnung.  Ob  unter  dem 
Frater  Cuonradus  der  Camerarius  (1269 — 1285)  und  Decanus  Konrad  Golin  zu 
verstehen  ist,  bleibt  unsicher.  Im  Gegensatz  zu  andern  Stücken  haben  diese 
Verse  mit  Ausnahme  von  V.  7  einsilbigen  Reim. 


478  J-  ^^^'  Werner, 

XXXin.  fol.  73^^» 

I.    BoreaK  sevicia      dulcis  concentus  avium 

Sopitur  in  tristicia,       decor  et  florum  suavium 
Aret  brumali  glacie;      liiis  solare  tristiciis 
Me,  virgo  vernans  facie! 
n.     0  noxialis  socius,      Amor!  numquid  remedium  5 

Habes,  ut  tollas  ocius      mei  laboris  tedium? 
Corda  languescunt  saacia:      precor,  assit  concordia! 
dolenti  fer  solacia! 
III.     Rubentis  oris  osculis,       cuius  transfigor  iaculo, 

locnndor  plus  quam  flosculis       sub  amoris  signaculo.     10 
In  mei  cordis  domina,       cuius  cano  preconia, 
Salutis  florent  omnia. 
1  Borealis.         3  tristiciis  hält  Wilh.  Meyer  für  sehr  bedenklich        10  flos- 
culus,  das  letzte  u  zu  i  corr. 

Die  gleiche  Strophe  (7  jambische  Achtsilbner  mit  der  gleichen  Reimbildung) 
zeigt  das  Liebeslied  Carm.  bur.  No.  165  S.  228.  In  den  12  vorderen  Kurzzeilen 
kommt  4  mal  Taktwechsel  vor ;  die  9  hintern  haben  ohne  Ausnahme  Taktwechsel ; 
beide  ohne  damit  daktylischen  Wortschluß  zu  verbinden.  Die  gleiche  Zeilenzahl, 
aber  nur  zwei  Reime  haben  die  Strophen  des  politischen  Liedes  Rex  et  sacerdos 
prefuit  in  Anal,  hymnica  21  No.  243  S.  173. 

XXXIV.  fol.  73^1»* 

0  Magdalena!      margaritis  bona  Christi, 
Que  Septem  plena      viciis  peccando  fuisti; 
Graudia  quinque  tibi      debent  premaxime  scribi, 
Que,  dum  vixisti,       pro  Christo  promeruisti. 
Christus  mundavit      te  rore  sue  pietatis,  6 

Spiritus  afflavit,       qui  donat  premia  gratis. 
Lazarus  in  fremitu      tibi  germanus  redivivus 
Prodiit  ex  gemitu      penarum  iam  modo  divus. 
Prima  resurgentem      salvatorem  meruisti 
Cernere,  nolentem      se  tangi,  cum  voluisti.  10 

Cum  super  etAra  lesus      mieuit,  loca  sola  petisti, 
Potus  ac  esus      multis  annis  renuisti. 
Crederis  angelicis      ibi  cetibus  usa  fuisse, 
Laudibus  i/mnidicis      simul  ipsis  intonuisse; 
Tandem  munita      celesti  pane  migrasti  16 

Et  margarita      celestis  ad  astra  volasti, 
In  quibus  es  iuneta      genitori  cunctipotenti 
Secula  per  cuncta      semper  sine  fine  manenti. 
1  0  vorgeschrieben,  doch  B  rubriziert.     0  Maria  Magdalena  Hft,  von  Wilh. 

Meyer  corr.        6  q  =  que         10  Ev.  loh.  20,  17:  Dicit  ei  lesus:   Noli  me  tan- 

gere        11  etra.        14  puidicis  Hft,  ymnidicis  Wilh.  Meyer. 

Unter  den  verschiedenen  Hexametern,  aus  denen  diese  Lobrede  auf  Maria 

Magdalena  besteht,  finden  sich  2  leoninische  (V.  3,  4)  und  IC  coUaterales ,  über 


Poetische  Yersuclie  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        479 


•welche  vgl.  Wilh.  Meyer  Ges.  Abhdlgn  z.  mittellat.  Rythmik  I.  S.  83.  Aus  der  nicht 
häufigen,  also  nicht  leichten  Form  erklären  sich  die  langen  Wörter  am  Schluß 
der  Verse  (drei  fünfsilbige  und  5  viersilbige). 


XXXV. 


fol.  73^132 


Maria  Magdalena! 
der  gottes  minne  plena! 
Ich  bitte  dich,  vrowe  here! 
durch  dirre  vröden  ere, 
der  ich  dih  nu  ermanet  han, 
dastu  den  bresten  sehest  an, 
den  ich  an  miner  sele  trase, 


swa  ich  mih  alle  mine  tage 

han  wider  got  verschuldet; 

das  ich  gegen  im  gehuldet     10 

von  diner  bette  werde, 

siit  do  er  dir  uf  erde 

so  gross  gnade  hat  gegeben 

vnd  dort  mit  im  das  ewig  leben.  14 


Dieses  Gebet  ist  das  einzige  deutsche  Stück  der  Hft. 


XXXVI. 


fol.  73' I« 


I.        Ave!  maris  Stella! 
divinitatis  cella! 

genitrix 
II.        Hodie  salvator 
et  angelorum  sator 

nascitur 

III.  Umbra  vetustatis, 
enigma,  cecitatis 

Israel 

IV.  Eigor  perit  legis, 


cum  pro  peccato  gregis 

populus 
V.         Virgo  singularis! 
Maria,  Stella  maris 


virgo  castitatis, 
radix  sanctitatis, 
eterne  claritatis! 

mitis  et  devotus 
in  ludea  notus 
et  languet  ut  egrotus. 

transiit  in  lucem, 
profert  virga  nucem, 
dat  ex  Egypto  ducem. 

pastor  immolatur, 
hostia  mactatur, 
in  tenebris  salvatur. 


10 


15 


salu5  in  procella! 
regalis  puella 
dominum       pro  nobis  interpella!  20 

10  enigma  aus  Dreves,  norma  Hft  11  virgo  18  salus  aus  Dreves, 
salva  Hft.  20  pro  nobis  dum,  doch  corr.  Von  Dreves  Anal,  hymnica  20  No.  187 
S.  143  aus  einer  jüngeren  Hft  mit  Refrain  abgedruckt.  Chevalier  Repert.  hymnol. 
No.  1891  zitiert  noch  einen  Druck  bei  Klemming,  Hymni,  sequentiae  ...  II.  S. 
13 — 15.     Daß  die  drei  leoninischen  Hexameter 

Plasmator  rerum,      fons  lucis,  origo  dierum, 

pro  nostris  natus      peccatis,  passus,  humatus, 

surgens  scandisti      celum,  qui  pneuma  dedisti. 
in  der  Basler  Hft  mit  Unrecht  hier  angehängt  sind,  ist  offenbar ;  woher  sie  stammen, 
ist  mir  unbekannt. 


480  '^'  '^^^'  Werner, 

XXXVIL  fol.  73^°  »5 

I.     Quod  in  ligno  Moysi      aqua  dulcoratur, 
vel  ligno  oeneus      serpens  elevatur, 
quod  in  vase  vitreo      passus  inmolatur, 
quod  in  solitudine       hircus  destinatur. 
II.     Quod  Elie  vidua      duo  ligna  legit,  5 

quod  Sampson  Gasensulis      portas  nocte  egit, 
quod  idem  mandibula      mille  viros  fregit, 
quod  laternis  Madyan       Gedeon  subegit. 
III.     Quod  leptlie  in  filia      vicit  preliantes, 

quod  Raab  in  coccino       salvat  explorantes,  10 

quod  signantur  per  thau      literam  gementes, 
quod  relicta  lab^a      lob  sunt  circa  dentes. 
2  eneus        3  viteoli        10  Jos.  II  6:  operuitque  eos  stipula  lini        11  Sig- 
natur       12  labya  zu  labia  corr.        Es  ist  durchaus  unklar,  zu  welchem  Zwecke 
diese   in   der  sog.  Vagantenstrophe  aufgezählten   biblischen  Beispiele  zusammen- 
gestellt wurden. 

[XXXVin.]  fol.  73^n28 

Dicit  Josephus:  virtutem  et  magnitudinem  corporum  Germa- 
norum  sepe  vidistis,  Spiritus  autem  maiores  corporibus  gereutes  et 
animam  quidem  contemptibilem  (Hft:  cond.)  mortis,  indignationes 
(Hft:  indignatio  nos)  autem  vehementiores  feris,  limitem  Renum 
habent.  ...  die  in  XVII  21  f.  berührte  Stelle  in  Josephi  bell.  jud. 
IL  16,4. 

XXXIX.  fol.  73^1188 

0  Maria!      mater  pia  morte  sua;      prece  tua 

salvatoris!       summi  roris  hunc  implora,       quod  in  hora 

madens  vellus,      fons  novellus     mortis  dire      parcat  ire,  10 

et  conclusus,       quo  est  fusus       ne  dampnemur,      ut  meremur, 
deus  homo,       qui  de  domo       5     sed  adiuti      simus  tuti 
servitutis      vi  virtutis  per  te,  pia      o  Maria! 

nos  redemit,       cum  nos  emit 

1  0  mater  pia  Maria  2  summis  9  §  Hunc  Oratio  in  achtsilbigen 
Zeilen  mit  Binnenreim;  diese  Caesur  hindert  Taktwechsel;  Wilh.  Meyer  weist 
darauf  hin,  daß  in  ungewöhnlicher  Weise  fast  alle  Zeilenenden  dem  Sinne  nach  eng 
mit  dem  Anfang  der  nächsten  Zeile  verbunden  sind,  d.  h.  die  Caesur  die  Sinnes- 
pausen bezeichnet.    Hiat  hat  V.  4. 

XL.  fol.  73^ "48 

I.  Estatis  indicium 
et  veris  inicium 
nunciant  delicium 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        481 


migret  estivale. 


per  tempus  vernale. 


septentrionale. 


per  rosas  suaves. 


frugibus  propicium, 
cum  sol  ad  solsticium 
Caumatis  flagicium, 
gelu  precipicium 
et  nivis  supplicium 
pruineque  vicium 
sustinent  exicium 
Flavit  auster  lenius 
et  fugavit  plenius 
frigus  irrefrenius 
II.     Bemissis  frigoribus 
estivis  temporibus 
rident  prata  floribus 
irrigata  roribus, 
odora  odoribus 
Cantuum  clamoribus 
clangunt  sub  tenoribus 
campi  cum  nemoribus, 
gaudent  in  arboribus 
murmurum  dulcoribus 
Agri  virent  semine; 
meror  sit  in  nomine ! 
incitantur  femine,       ne  sint  viris  graves. 
III.     ßedit  cum  familia 
ver  linquens  exüia, 
Tempe  sit  sub  tilia: 
viole  et  lilia 
plus  quam  mille  milia 
Celi  volatilia, 
terre  gressibilia, 
maris  aquatüia 
et  vegetabilia 
sentiunt  auxilia 
In  cuius  presentia 
quanta  sit  potentia, 
terre  nunc  nascentia 


10 


15 


20 


festivantes  aves. 


25 


30 


sumunt  incrementum. 


35 


solis  et  fomentum. 


5  migrat?  Wilh.  Meyer        6- 


prebent  argumentum.  39 

9  vgl.  die  Stelle  aus  der  nach  dem  148  Psalm 


gedichteten  Sequenz  Cantemus  cuncti  (Kehrein,  Nr.  44) :  cauma,  gelu,  nix,  pruinae  . . 
28  relinquens  34  stellt  Wilh.  Meyer  vor  33  38  psentia  vor  potentia,  doch 
gestrichen.  Bemerkenswert  ist  V.  3  der  Singular  delicium ;  auch  V.  7  gelu  als 
<Jenitiv.  Die  drei  Teile  der  Strophen  sind  je  durch  den  Reim  der  Schlußzeile 
gebunden.  Die  siebensilbigen  Zeilen  7  u  — )  sind  in  den  ersten  vier  Silben  frei, 
nur   die   drei  Reimsilben  werden  gleich  akzentuiert.     Es   ist   die  Vagantenzeile, 

Kgl.  Oes.  d.  WiBS.   Nachrichten.    Fhilolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft  5.  34 


482  J-  *^*^-  Werner, 

deren  vorderer  Teil    2x5  und  3  mal  wiederholt  wird.     2   Taktwechael   in  6  —  u 
V.  10  und  18. 

XLl.  fol.  74'-i26 

Adventate  citi!       cytoas  tangendo  periti 
Decantate  melos!       pia  pulsent  Organa  celos 
In  landem  geniti      patris  de  virgine  miti, 
In  qua  natura       cecidisse  stupet  sua  iura, 
Integra  dum  prolem       gignit,  vitrum  quasi  solem.  5 

Partus  inauditus !       nee  eget  ratione  peritus, 
Quomodo  vel  quare       sie  virgo  queat  generare. 
Fabro  nature       fidi  hec  generatio  eure; 
Quam  dat  et  enumerat,       sibi  ius  speciale  reservat. 
Yirgo  parens  patris,       lactis  libamine  matris  10 

Obsequium  gessit,       matrum  sed  cetera  nescit. 
Mater  et  absque  pare      natum  devota  precare, 
Ut  lumen  veri       miseris  timet  misereri 
Et  pia  stirps  Jesse      devotis  semper  adesse.  14 

1  cyceras  4  quo  8  finit  9  für  enumerat  wünscht  Wilh.  Meyer  ein 
Yerbum  wie  observat  V.  12  ist  der  Ablativ  pare  durch  den  Reim  geschützt. 
13  an  Stelle  des  unverständlichen  timet  wünscht  Wilh.  Meyer  ein  Wort  im  Sinne 
von  faveat.  Der  lebhafte  Anfang  dieses  Weihnachtsgedichtes  wird  durch  die 
Lahmheit  der  nachfolgenden  Verse  fast  bis  zur  Un Verständlichkeit  abgeschwächt. 

XLII.  fol.  74'-i*» 

§  Aulica  turba  vacat,       epulis  genialia  placat; 
Gaudet  et  edilis,       sibi  se  conformat  erilis; 
Pastor  alendo  gregem       superam  vult  pandere  legem: 
Exempli  rore,       doctrine  pascit  odore 

Dans  geniale  bonum      manus  hec  triplex  pia  donum.  5 

Presul  ave  mitis!       stillans  donaria  vitis. 
Late  diffusa,       nullo  livore  retusa, 
Assidue  crescit,       eclipsim  laus  tua  «iescit; 
Tendit  ad  alta  nimis,       cultrix  fore  spernit  in  imis, 
Ignoraws  levum:       sie  vivida  durat  in  evum.  10 

5  bonum :  manus  hec  tr.  pia  donüm.  das  (d.  h.  exemplum,  doctrina,  largitio) 
ist  die  fromme,  dreifache  Schaar  der  (christlichen  und  priesterlichen)  Gaben. 
Wilh.  Meyer.        8  cressit  ....  uescit        10  Ignoras 

Es  scheint  ein  Gratulations-  und  Dankgedicht  der  Hofbeamten  eines  geist- 
lichen Herrn  (Bischofs)  zu  sein. 

XLm.  fol  74'"» 

Aspice  devote,       crucifixi  sanguine  lote, 
Effigiem  Christi!       quam  cernere  vix  meruisti, 
Et  reminiscaris,     ut  semper  eam  verearis 
Sicut  Veronica,       summi  rectoris  amica, 
Ut  te  conservet,      ne  tu  venias,  ubi  fervet  6- 

Ignis  sulfureus,       quem  possidet  ordo  letheuB, 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        483 

1  Asspice  4  ammica  6  lechirus,  us  abgekürzt.  Ist  wohl  als  Inschrift 
zu  einer  Passionsdarstellung  gedacht. 

XLIV.  fol.  74^  n  8 

Profero,  nee  scitis,      quis  sit,  quem  denoto,  Mitis: 
Re  tarnen  abstante       dubia  retro  lucet  et     Ante. 
Est  minus  elatus,       tamen  inclytus,  omme    (jratus, 
Prospera  fortuna       quia  secum  permanet       üna. 
Omnia  supremo       concludo  carmine:  Nemo  5 

Se  valet  equali       similare  statu  bene  Tali. 

In  probitate  quidem       constans  non  deficit  Idem; 
Turpia  devovit,       quia  turpis  non  fore  Novit. 

Ut  probo,  se  munde      conservat  in  omnibus  :  ünde 
Sit,  rogo,  longevus       dominus,  non  est  quia  Sevus !  10 

3  omne  9  mundo  zu  munde  corr.  Das  in  V.  2  angedeutete  Akrostich 
und  Telestich  Prepositus  Maguntinus  geht  auf  den  Dompropst  von  Mainz  und 
zwar  wohl  auf  Peter  Reich  von  Reichenstein,  der  diese  "Würde  1275 — 1286  be- 
kleidete. Wenn  die  Worte  Est  minus  elatus  (V.  3)  auf  seine  Bemühungen  um 
den  bischöflichen  Stuhl  in  Basel  sich  beziehen,  so  fällt  die  Abfassung  dieser  Verse 
in  die  Jahre  1274 — 75,  nachdem  er  1274  zum  Bischof  von  Basel  gewählt  aber 
nicht  bestätigt  worden  war.  Vgl.  J.  J.  Merian,  Geschichte  der  Bischöfe  von  Basel 
(1862)  IL  S.  46. 

XLV.  fol.  74'-°»» 

Non  ego  formicas       imitor,  que  tempore  spicas 
Estivo  servant      victumque  sibi  coacervant, 
Vt  valeant  yeme      bene  vivere:  non  ita  de  me 
Permanet;  immo  secus,       quia  consumpsi  quasi  cecus 
Res  estate  meas       festas  ducendo  choreas.  5 

Sic,  cum  frigus  erit,       mihi  nam  suftstancia  deerit; 
Pauper  et  absque  cibo       nates  operire  nequibo: 
Frigoribus  densis       incedam  more  Gralensis, 
Yel  sicui  Scotus       nudus  genitalia  totus. 
Hac  tanta  clade       socius  sum  parque  cicade,  10 

Que  tempus  mestum       non  prevenit,  immo  per  es  tum 
Cantat  secura,       non  curaus  dampna  futura; 
Quando  redit  bruma,       latet  infelix  sine  pluma 
In  gelido  lecto       mendicans  paupere  tecto. 
Cunctis  personis       ego  vilior  et  rationis  15 

Expers  sie  egi:       Catonis  dogmata  fregi 
Hoc  versu  spreto :       que  sunt  aversa  caveto! 
Irrationalis       scurre  sum  iure  sodalis, 
Qui  bibit  et  iurat:       pereat,  qui  crastina  curat!  19 

5  ducende  6  mihi  cum  s.  deerit,  schlägt  Wilh.  Meyer  vor.  sustancia  Vers 
8  und  9  verstehe  ich  nicht ;  9  für  das  hftliche  sum*  vermutete  Wilh.  Meyer  sicut. 

34* 


484  ^-  *^*^-  Werner, 

Vgl.  Carmina  bur.  S.  234:  No.  174,12:  Schuch!  clamat  nudus  in  frigore;  Ysen- 
grimus  I.  890:  Clunibus  impendet  Scotia  tota  meis ;  Hugo  Primas  X  50  (Wilh. 
Meyer  in  Nachrichten  der  Ges.  der  Wiss.  zu  Göttingen.  1907  S.  140):  Telemaco, 
qui  vix  tegit  inguina  sacco.  17  supto  Vgl.  Cato,  disticha  I  18:  Cum  fueris  felix, 
quae  sunt  adversa,  caveto.  Wllh.  Meyer  verbindet  die  in  der  Hft  durch  §  als  selb- 
ständig bezeichneten  Verse  18  f.  mit  den  vorhergehenden.  18  scurte.  Schlußsatz 
auch  Carm.  bur.  p.  240.  Durch  diese  Beichte,  die  auf  die  bekannte  Fabel  von 
der  Ameise  und  der  Cicade  anspielt,  sucht  der  Dichter  seinem  Gönner  eine  Gabe 
abzulocken.    V.  3, 10,  12  und  13  haben  sog.  Caesurverlängerung  oder  syllaba  anceps. 

XLVI.  fol.  74''°3ö 

§  Porto  dei  donisl       tantum  superest  rationis, 
Ut  gravis  esse  volo,       sensu  fruar  hoc  ego  solo: 
Frigoris  ob  gwerram      calidam  volo  pascere  terram; 
Si  mendico  fame,       quod  frigus  sit  procnl  a  me! 
1  ob  in  Farce  zu  ändern?  Porro  (=  procul  a)  d.  donis  t.  s.  rationis,  W.Meyer 
2  guis,  für  ut  guis  wünscht  Wilh.  Meyer  ein  Wort  auf  .  .  gius ,   das  hungrig  oder 
warm  bedeutet.        3  gram. 

XL VII.  fol.  74'°*2 

§  Ergo  pater  mitis,       virtutum  strennua  vitis, 
Nobilis  Henrice,       benedic  mihi,  dulcis  amice! 
Tu  vas  virtutum;       tua  me  benedictio  tutum 
iteddet,  quod  vere      poterit  mihi  nemo  nocere; 
Ut  vivas  sospes,       ne  me  premat  hostis  et  hospes;  5 

Quo  vis  me  mural      mea  mens  tibi  supplicat  uni. 
Nil  aliis  quero,       de  te  solo  bona  spero: 
Non  est  corde  dolus,       qwfo  tu  dominus  mihi  solus. 
6  num'i        7  sola        8  q,  =  quam  Hft;    quia   Wilh.  Meyer.     V.  7  und  8, 
die  durch  §  als  besonderes  Stück  bezeichnet  sind,  hat  Wilh.  Meyer  an  das  vorher- 
gehende Stück  angeschoben.        Möglicher  Weise   gehören  XLVI  und  XLVII  mit 
XLV  zusammen.       Diese  Bitte  scheint  an  einen  hohen  Geistliehen,  vielleicht  den 
Bischof  Heinrich   (1275—1286)   gerichtet  gewesen   zu  sein;    allerdings  war  dieser 
seiner  Herkunft  nach  kein  nobilis,   sondern  der  Sohn  eines  Handwerkers  in  Isny. 

XL VIII.  fol.  74^  ^2 

inticipata  nimis       nova  lex,  etatis  ab  imis 
Transiit  ac^utum      medium  quasi  bona  solutum: 
Quando  facit  saltum,      cum  vix  puer  esset,  in  altum 
Transvolat  annorum,      non  tempore  sed  vice  morum. 
Strennuus  Eaeides,       animosus  in  omne  Pelides  6 

Grandeat  ausore      simili  sibi  vel  potiore; 
Belliferis  rixis       prudencia  cedat  Ulixis. 
Flet  magnus  Macedo,       si  forcia  Cesaris  edo; 
Ille  potens  princeps      potuit  maiora  deinceps. 
Sic,  que  quisque  sibi       gaudet  per  singula  scribi,  10 

Omnia  solus  habet      nee  adhuc  caligine  tabet 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        485 

Indolis  expleta;      quam  tu  vix  ipse  poeta, 
Spiritus  ut  detur,       solum  tunc  quando  veretur 
Clarus  in  orbe  comes,       per  debita  carmina  promes. 
Forsan  Homere,  Staci,      Naso,  luvenalis,  Horaci,  15 

Quisque  laborares,       dum  metra  tibi  fabricares 
Consona  materie       de  pectore  philosopbie 
Cuncta  ministranti.       Nee  me  tarnen  estimo  tanti, 
Unde  mihi  nomen       tantum,  que  stella,  quod  omen 
Hoc  dabit  astrorum,       qui  vix  sum  fex  aliorum?  20 

Sint  centum  mille,       non  suffieit  iste  nee  ille. 
Ergo  duci  nostro       rudis  et  sine  sceinatis  ostro 
Si  male  presumo       ceco  ceu  volvere  fumo 
Thema  superpingue       gracilis  sub  ruwine  lingue 
Balbuciendo  viro       *  ^  veniale  requiro.  25 

Da  veniam,  tutor       viduarum,  sole  statutor 
Sanetarum  legum;       dignare,  püssime  regum, 
Parcere  scribenti       —  fateor,  nimis  alta  petenti  — 
Nobilium  gesta;       tum  hac  solummodo  presta: 
Vela  fer  et  remum,       ne  mergar,  ut  inde  Boemum  30 

Conflictum  tangam,  modico  quoque  carmine  pangam. 
2  accutum  bona  unrichtig.  Anticipans  animis  nova  rex  etatis  ....  quasi 
bonaso  lutum,  quando  f.  saltum.  versucht  Wilh.  Meyer  und  verweist  auf  Plin. 
nat.  bist.  YIII.  40  4  uite  8  Cesaris,  auf  Rasur  stehen  C  und  a  11  salus 
13  Wilh.  Meyer  vermutet  videtur  oder  feretur.  14  crimina  15  stari  16  Qui- 
que?  Wilh.  Meyer  21  id;  corr.  Wilh.  Meyer  22  stomitis  zu  stematis  corr. ; 
scematis  Wilh.  Meyer  seu ;  corr.  Wilh.  Meyer  24  runie  25  Lücke  im  Text 
angegeben.  29  hoc?  Wilh.  Meyer  30  feret ;  fer  et  Wilh.  Meyer  31  crimine. 
Die  nur  teilweise  verständlichen  Verse  scheinen  die  Einleitung  zu  einem 
Versuche  zu  sein,  den  Kampf  des  Königs  Rudolf  mit  dem  Böhmenkönig  dichterisch 
darzustellen.  In  das  gleiche  Gebiet  gehören  auch  die  folgenden  Verse,  die  ein 
Lob  Rudolfs  durch  den  Hinweis  auf  eine  Prophetie  enthalten,  worin  er  als  pro- 
videntieller  Nachfolger  Friedrichs  IL  bezeichnet  ist. 

XLIX.  fol.  74^"* 

Metriiicis  nodis       vel  plaudere  carminis  odis 
Nescio  Ridolfo,       musico  neque  ducere  sol  fo 
Audeo  sceptrigerum,       tot  per  momenta  dierum 
Optatum  mundo,       nee  enim  perfectus  habundo, 
Delfire,  musarum       tam  larga  messe  tuarum.  5 

Quam  nequit  audacis       lux  visere  ^«/cticoracis, 
Phebe,  tuos  radios,       tam  mens  mea  tangere  dios 
Gestus  non  audet:  nichilo  vicinia  gaudet 
De  titulis  huius,       audito  nomine  cuius 
Surgitur  a  sompnis,       stupet  orbis  et  intremit  omnis     10 


486  J-  Jak.  Werner, 

Pontus,  terra,  polus,       quia  subingat  omnia  solus. 

Hie  est  rex  ille,       quam  psalmodia  Sibille 

Virtutis  tante       iam  dudum  precinit  ante; 
^  Hie  est  Augustus,       pro  cnius  culmine  iustus 

Ille  deus  cell,       sibi  qui  pietate  fideli  15 

Omnia  procurat,       vult,  quod  sine  principe  durat 

Tempore  non  modico       decus  imperii.  Friderico 

Debita  solvente,       nee  successore  regente 

Sceptrum  regale,       regnum  vacat  imperiale: 

Sed  vacat,  ut  melius       de  stirpe  parentis  alius  20 

Provideat  terre       pereunti  mole  guerre 

Et  pacis  pro  re       disponat  liberiore 

Cursu  nature       meritum  tante  geniture. 

Si  tempus  detur,       potior  res  omnis  habetur. 
2  dicere?    Wih,    Meyer        3    septrigerum         5   Delfite        6    uicti    coracis. 
7  duos        8  nichüominus,  abgekürzt  geschrieben       12  psalmodie. 

L.  fol.  74^°» 

§  Non  humanatur       verbum,  non  enucleatur 

Sol  maris  ex  Stella,       mox  quando  laborat  Apella; 
Sed  pro  velle  patris      radix  Davitica  matris 
Germinat  in  calamum;       sibi  prepara^  inclita  ramum, 
PuUulet  unde  rosa      non  absque  mora  speciosa.  5 

Floruit  interea       seges  a  lolio  pharisea 
Et  bene  productum      profert  ficulnea  fructam 
Non  sine  dulcore       gustantis  et  uberiore 
Delectamento       visus,  suavi  quoque  vento 
Naris  et  olf actus      et  adest  armonia  tactus.  10 

Res  miranda  magis,       quod  in  omnibus  undique  sagis 
Omnis  sensus  amat;       ratio  velut  arbitra  clamat, 
Esse  reri  (?)  verum       fallax  concordia  rerum. 
Sensibus  acceptum       ratio  sibi  causet  ineptum, 
Ac  e  converso ;       quo  litis  turbine  merso  16 

Degenerare  quidem       fructus  maturior  idem 
A  sapido  nescit,       radim  scemate  creseit 
Flosculus  a  vite       sub  aromate  stirpis  avite. 
Roscidior  quanto       plus  fronduerit,  mage  tanto 
Deficiunt  grata       mihi  verba  vel  appropriata  20 

Continuare  virum;  subit  hoc  mirabile  mirum. 
Die  durch  §  getrennten  Verse  1—5  und  6  ff.  vereinigte  Wilh.  Meyer  2  applla 
4  prepara  5  spaciosa.  6  pharisea  nimmt  Wilh.  Meyer  =  separata  14  causat? 
Wilh.  Meyer  17  radi9  stemate;  corr.  Wilh.  Meyer  19  freduerit;  corr.  Wilh. 
Meyer  20  f.  appropriata.  Continuare  virum  subit .  .?  Wilh.  Meyer.  Der  Inhalt 
dieser  Verse  ist  durchaus  unklar;  der  Anfang  scheint  sich  auf  die  Geburt  Jesu 
zu  beziehen,  während  in  den  letzten  Versen  auf  persönliche  Dinge  angespielt  wird. 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.       487 

LI.  fol.  74^° 31 

Cum  pertractare       cupitis  nova  vel  recitare, 
iVunc  audite  nova,     que  sunt  novitate  iocosa: 
Sunt  simul  ecce  pares       doctrinis  quinque  scolares. 
His  servit  servus       ignorans  esse  protervus. 
Hie,  velud  est  moris,       solitis  deportat  in  horis  5 

Libros,  —  ut  fatur  —      quorum  gravitate  gravatur. 
It,  redit  et  currit,       facit  et  pos^  facta  recurrit, 
Ut  mos  servorum       semper  solet  esse  proborum. 
Dum  sie  servivit,       perpulcra  puella  cupivit 
nium;  flamma  furens       mox  eius  corda  perurens.  10 

Hec,  quid  agat,  nescit;       fervens  in  amore  calescit, 
Rem  secretorum      nulli  denudat  amorum. 
Est  timor,  ista  pater       eius  vel  conscia  mater 
Percipiant;  unde       5^milis  (fuif)  hec  furibunde: 
Ardens  igne  perit;       toto  conamine  querit  15 

Ignes  ardoram      tacite  relevare  suorum. 
Tandem  surrexit,       illum  de  mane  respexit 
Libris  sudantem,       quoque  magno  fasce  gementem. 
Pallescit  plorans,       tristatur  et  ingemit  orans, 
Ut  conburatur       onus  boc,  quo  sie  oneratur.  20 

Hec,  dum  tam  sevis       torquetur  sepe  querelis, 
Uli  dat  nutum       secreto  lumine  tutum. 
Hie  venit,  bec  fatur,       quia  flagrans  sie  cruciatur, 
Dicens :  „o  Symon!       quis  tanto  turbine  demon 
Fallit  te  stultum,       in  cunctis  maxime  cultum,  25 

Ut  sie  servires       et  tanto  fasce  perires; 
An  nescivisti,       mihi  quod  tantum  placuisti, 
Que  te  ditare       valeo  {quoque}  semper  amare". 
Hie  venit  et  crura      levat  iUi\  mox  sine  cura 
Libros  deiecit       et,  quod  voluit,  cito  feeit;  80 

Et,  dives  factus  dominantis  amoris  ob  actus, 
Sprevit  cunctorum  consorcia  mox  famulorum: 
Ivit  mox  dexter       biis,  quis  fuit  ante  sinister. 

1  Nam  2  Hüc;  hec?  Wilh.  Meyer ;  hinc ?  7  Id  —  p9  11  i  amore  14  funilis 
hec;  furit  hatte  ich  beigefügt,  was  Wilh.  Meyer  änderte.  17  Tantü  18  Wilh. 
Meyer  beanstandet  den  ungenauen  Reim,  wie  auch  in  V.  21  und  24  20  honus  — 
honoratur  21  torqueretur  26  sevires  28  quoque  habe  ich  zur  Ergänzung 
^es  Verses  nach  V.  18  eingeschoben;  W^ilh.  Meyer  schiebt  volo  ein.  29  ei, 
darüber  illi.  Es  ist  schade,  daß  diese  Erzählung  so  farblos  ist  und  weder 
Zeit  noch  Ort  irgendwie  angedeutet  werden.  Trotzdem  halte  ich  das  Stück  nicht 
für  eine  bloße  Schulübung  über  ein  gegebenes  Thema,  sondern  für  einen  versifi- 
-zierten  Bericht  über  ein  wirkliches  Ereignis. 


488  ^'  *^*^-  Werner, 

LH.  fol.  75'!»« 

Hü  sunt  versus  .  .  . :  Non  concordamus  ...  5  leoninisclie  Verse 
mit  Tiradenreim  über  die  Pabstwahl,  gedruckt  N.  Archiv  der  Ges. 
f.  ä.  deutsche  Gesch.  33  S.  536. 

LIK  fol.  75^122 

Item  hec  est  epistula  .  .  . :  Orbis  princeps  .  .  .  ein  Brief  Frie- 
drichs von  Thüringen  an  König  Enzio  vom  J.  1270  über  den  be- 
absichtigten Zug  nach  Italien;    gedr.  N.  Archiv.  33.   S.  556 — 538. 

LIII.  fol.  76^124 

§  Non  reor  effosse      terre  fieri  loea  posse, 
Des  nisi  maturum,       princeps,  ibi  surgere  murom. 
"Woher  dieses  Orakel  stammt,  ist  mir  unbekannt. 

LIV.  fol.  75^1" 

Ut  tibi  laus,  princeps,       vigeat,  Yelut  ante,  deinceps 

Retribuente  deo       semper  in  ore  meo, 
Snpplicis  ad  vota,       pie,  sint  tua  viscera  mota 

Et  non  despicias,       quin  mihi  subvenias. 
Nam  mihi  sunt  bella      snper  ipsa  mota  capella,  5 

Quam  tua  dapsili/as       contulit  et  bonitas, 
Sancti  Morandi      de  Rapolzwilre;  iuvandi 

Antidotum  quero:       si  dabis,  ultor  ero 
Heu!  vis  illate      mihi;  sed,  si  deseror  a  te, 

Nescio  quid  faciam;       turbine  deficiam.  10 

Hac  mihi  fortuna      causa  spes  est,  quod  et  una 

Non  inimica  fuit,       me  tibi  qnod  tribuit. 
Suscipe  naufragio       me  tactum  litore  dyo, 
Ut  grates  tibi  det,     qui  pia  facta  videt; 
Nee  sine  verba  dare      ventis  nee  litus  arare,  16 

Sed  me  soleris:       sie  mihi  portus  eris, 
Consüiumque  ratum       super  ablatis  mihi  /atum, 

0  pater  et  domine!       supplico  stare  sine! 
Si  ratione  precum       non  stet  tua  gratia  mecum, 

Intrabit  vocum      lacrima  multa  locum.  20 

Estimo  plura  fore,  que  sunt  excussa  pavore: 
Nam  mihi  cum  subeunt,  ore  quidem  pereunt. 
1  uult  an  6  dapsilidas  11  Ob  in  cä  etwas  anderes  steckt  als  causa? 
12  que?  Wilh.  Meyer  13  iactum?  Wilh.  Meyer,  was  er  auch  XII  19  vor- 
schlägt; dyo  (=  dio)  gibt  keinen  Sinn;  Dido?  Wilh.  Meyer.  15  Ovid.  her. 
II  25:  ventis  et  vela  et  verba  dedisti  15  Ovid.  trist.  V.  4,  48:  nee  sinet  ille  tuos 
litus  arare  boves.  17  latum  aus  ratum  corr.  Eindringliche  Wiederholung  der 
schon  No.  IV  ausgesprochenen  Bitte  um  Wiedereinsetzung  in  den  Genuß  der 
Kaplaneipfründe  in  Roppenzweiler  im  Elsaß. 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        489 

LV.  fol.  75^"i 

Non  ego  rege  satus      fueram  patre  rege  beatus, 
Anglia  me  generum       sibi  iunxit  in  ag(/ere  rerum. 
Annos  ter  senos       numeraram,  nee  bene  plenos: 
Solvitur  iste  Status;       Eeni  me  sorbsit  hiatus. 
Hartraann,   König   Rudolfs  Sohn   (geb.  1263,   als  Rudolf  noch   nicht  König 
war) ,   durch  Vermittlung  des  Bischofs  Heinrich  von  Basel    verlobt   mit  Johanna, 
der   Tochter   des  englischen  Königs  Eduard  I.,   ertrank   im  Alter  von  18  Jahren 
auf  einer  Fahrt  rheinabwärts   in   der  Nähe  von  Breisach  am  20.  Dezember  1281 
und  wurde   im    Basler  Münster   neben   seiner   kurz    vorher   verstorbenen   Mutter 
begraben;    vgl.    M.  G.    SS.  XVII.  284  u.  302;   Mart.  Gerbert,    Crypta  nova   San 
Blasiana.  S.  115;    Monuments  de  l'hist.  de  l'anc.    evechä  de  Bäle  p.  J.    Trouillat. 
II.    S.  346.    —    J.  J.  Merian,   Geschichte   der  Bischöfe  v.  Basel  (1862)   II.  S.  56 
nennt  ihm  22 jährig.        Wilh.  Meyer  hat  gesehen,   das  diese  vier  Verse  ein  Epi- 
taph  für    sich   bilden  und   in   der  Hft   zu  Unrecht  mit  den  folgenden  verbunden 
sind.        2  agere        4  re  nim. 

LVI.  fol.  75^  n  5 

Est  iter  ad  metas       mortis  —  sie  volvitur  etas, 
Proh  dolor  —  et  rursus       nnlli  fit  a&inde  recursus. 
Mentis  in  offensa       sollers  reminiscere,  pensa, 
Qno^  bona  fortuna       soli  mandaverit  una. 
Stirpe  nitente  satus,       opibus,  patre  rege  beatus,  5 

Delicüs  plenis       annis  adolevit  amenis. 
Instar  erat  f/oris,       stelle  dos  concolor  oris. 
Anglia  spe  nuptus       reg«i  vovit  sibi  fructus; 
Arrisit  vernum       capiti  dyadema  paternum. 
Eloridus  hiis  cunctis,       tarn  re  quam  spe  sibi  iunctis,    10 
Plus  quam  mortalis       celsis  fluitabat  in  altis; 
Mors  set  iniqua,  bonis       oblatis  totque  coronis 
Invida,  declinat       hec  prospera,  queque  ruinat: 
Vorticibus  Reni      decor  oris  mersus  ameni 
Sorte  novercante       redit  in  cinerem,  cinis  ante.  15 

2  ad  inde      4  Quod    Der  Dichter  verbindet  mit  Vorliebe  dem  Reim  fortuna : 
una,    s.  XLIV  4,    LIV  11.         6  amoris   zu   amenis   corr.  7    foris         8   regi 

9  vernus  =  heimisch?         11  ob  celsus?  altis  verstößt  gegen  den  Reim;  ob  alis? 

LVII.  fol.  75^1121 

Dum  mea  me  mater  gravido  gestaret  in  alvo, 

Quid  pareret  fertur  consuluisse  deos. 
Pbebus  ait:  mas  est;  Mars:  femina;  Iimo:  neutrum. 

Cumqne  forem  natus,  hermapbroditus  eram. 
Querenti  letum  dea  sie  ait :  occidet  armis ;  5 

Mars:  cruce;  Phebus:  aquis.  sors  rata  queque  fuit. 


490  J-  Jsik-  Werner, 

Inminet  arbor  aquis ;  conscendo ;  labitur  ensis. 
Quem  tuleram  mecum:  labor  et  ipse  super. 

Pes  ramis  hesit,  caput  insilit  amne,  tuliqne 

Femina  mas  neutrum  flumina  tela  crucem.  10 

Zu  dieser  Fassung  der  Baslerhft  füge  ich  die  Varianten  aus  der  Hft  C  148 
saec.  XIII.  fol.  23fn  der  Zürcher  Stiftsbibliothek  (auf  der  Kantonsbibl.)  1  geni- 
trix  Z  gravida  Z  3  uinoque  B  (so!)  Juno  Z  4  Et  cum  sum  genitus  Z  er- 
mofridicus  B  ermafraditus  Z  6  scis  B  7  Arbor  obumbrat  aquas  Z 
8  mecum]  casu.  Z  9  hesit  ramis  Z  insidet  Z  10  mas]  vir  Z  Als  Ver- 
fasser der  in  zahlreichen  Hften,  die  Ilaureau,  Les  raelanges  poet.  d'  Hildebert 
(1882)  S.  146  verzeichnet,  verbreiteten  Verse  hat  L.  Traube  0  Roma  nobilis 
S.  21—23  =  Abhdlgn.  der  philos.-philol.  Kl.  der  K.  bayer.  Ak.  XIX  (1892)  S. 
317—319  den  Matthaeus  Vindocinensis  erwiesen,  nachdem  Haur^au  a.  a.  0.  147 
das  auch  in  die  Anthol.  Lat.  rec.  Riese  No.  786  (II  S.  253)  =  Poetae  Lat.  minores 
rec.  Baehrens.  IV.  S.  114  aufgenommene  Gedicht  dem  Mittelalter,  resp.  Hildebert 
oder  Matthaeus  von  Vendöme  zugesprochen  hatte.  Vgl.  auch  Carlo  Pascal, 
Poesia  Lat.  medievale  (1907)  S.  64. 

LVllI.  fol.  76'^^^ 

Falsus  adulator      non  est  reputandus  amator: 

Ergo  de  tali      tibi  precaveas  animali. 
Omni  cautelii       tua  secretalia  cela. 
Rumor  de  veteri.       (soviel). 

LIX.  iol.  75^118« 

Aureus  in  lano  numerus  clavesque  novantur  .  .  .  Einzelne  Verse 
(1,  3,  6  U.S.W.)  aus  dem  weitverbreiteten  Computus  ecclesi- 
asticus,  der  z.B.  mit  dem  Commentar:  Licet  modo  in  fine  tem- 
porum  plures  constet  haberi  Codices,  qui  de  hac  arte  calculatoria 
.  .  .  in  der  Hft  C.  172  saec.  XIV  der  Zürcher  Stiftsbibliothek 
(auf  der  Kantonsbibl.)  fol.  22"'- 37^  sich  findet. 

LX.  fol.  76^18 

Cum  in  principio  cecidisset  dyabolus,  ira  repletus  contraxit  uxorem 
Maliciam  nomine,  de  qua  habuit  X  filias  primas. 
Prima  vocata  est  Symonia,  quam  desponsavit  clericis. 
Secunda  Yypocrisis,  quam  claustralibus  desponsavit. 
Tercia  Rapina,  quam  militibus  desponsavit. 
Quarta  Usura,  quam  burgensibus  desponsavit. 
Quinta  Dolus,  quam  menatoribus  desponsavit. 
Sexta  Sacrilegium,  quam  agricolis  desponsavit. 
Septima  Fictum  servicium,  quam  famulis; 
Oetava  Superfluitas,  quam  dedit  mulieribus. 

Nonam  et  decimam  ?2oluit  dare  propriis  maritatis,    quia   eas    plus 
ceteris  diligebat,  et  dedit  eas  omni  humano  generi  in  uxores. 

1  uxuorem  7  metricibus  10  Octavä.  11  voluit;  corr.  Wilh.  Meyer; 
maritis?  Wilh.  Meyer. 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        491 

Weitverbreitet  wie  die  Legende  von  den  vier  Töchtern 
Gottes  ist  die  Legende  von  den  Töclitern  des  Teufels,  deren  Zahl 
aber  verschieden  angegeben  wird.  Vgl.  Hanreau,  Journal  des 
savants  1884.  S.  225  und  Notices  et  Extr.  IV.  135—137;  Florü. 
G-otting.  No.  1  in  Eoman.  Forsch.  III.  S.  283;  Matheolus ,  Les 
lamentations  par  Van  Hamel  I  (Bibl.  de  l'ec.  des  h.  et. ;  sc.  philol. 
et  hist.  fasc.  95)  V.  1674—79. 

LXI.  fol.  76^' I '8 

Gaude  mater  luminis  |  •  .  •  Sequenz  von  4  Doppelstrophen 
mit  dem  Refrain:  Maria;  gedruckt  bei  Kehrein,  Lat.  Sequenzen 
No.  303  S.  227;  Mone,  Lat.  Hymnen  No.  584  (IL  S.  398).  Ab- 
weichungen von  Kehreins  Text:  1,2  numis  2,1  regina  3  Tu  vir- 
tutum  ...  4  Plena  dei  .  .  . ;  also  Eeihenfolge  wie  in  Cod.  Lat. 
Monac.  11004  und  S.  Gall.  546.  5,2  mater  8  Ut  nos  suo  tua 
prece  collocet  in  solio :  Maria ! 

LXII.  fol.  76'i2» 

I.     Salve  virgo  Davidis! 

salve  virgo  nobilis! 

cuius  par t US  admirabilis. 
IL     Salve  mundi  spes  et  domina! 

salve  virtutum  cellula!  5 

salve  paradysi  ianua! 
HI.     Salve  /*orma  pudicicie! 

Salve  norma  iusticie ! 

salve  mater  misericordie ! 
IV.     Tu,  castitatis  lilium,  10 

profudisti  filium 

miseris  in  auxilium. 
V.     Tu,  filia  lerusalem, 

progenuisti  in  Bethlehem 

gloriosam  progeniem.  15 

VI.     Tu  firmata  in  Syon 

virga  florens  Aaron, 

madidum  vellus  Gedeon! 
Vn.     Tu  satis  expresse 

stirps  es  illa  lesse,  20 

digna  dei  mater  esse. 
VIII.     Tu  porta,  que  soll  domino  pa^uit. 

/iortus,  in  quo  deitas  latuit: 

Stella,  que  solem  seclis  attulit. 


492  J-  J^k-  Werner, 

IX.     Tua  sunt  ubera      vino  redolencia,  25 

candor  lac  et  lilium, 

odor  üoreni  vincit  et  balsamum. 
X.     Te  expectant  delicie, 

te  laudant  adolescentule, 

te  sponsus  vocat  in  meridie.  30 

XI.     nie  tuus  unicus, 

ille  tnus  dilectissimus 

cipri  ftotrus  et  mirre  fasciculus. 
XII.     Yeni,  veni,  filia, 

intra  nostra  cubilia!  35 

XIII.  Surge,  surge.  propera! 
fugit  hiemps,  floret  vinea. 

XIV.  Vox  tua  vox  turturis, 
forma  desiderabilis. 

XV.     Tu,  mater  dei  et  hominis,  40 

confer  opem  miseris! 
consolare  flebiles 
sublevando  debiles! 
nostraque  tibi  preconia 

sint  laus  et  perhennis  gloria!    amen.  4 

7  norma  20  est  22  paruit  23  ortus  27  florens  Hft;  corr.  Wilh. 
Meyer  33  poteus  40  Tu]  Non.  An  Ausdrücke  des  hohen  Liedes  anklingendes 
Marienlied  in  freien  Rythmen. 

LXIII.  fol.  76'°'* 

I.     Honestatis  et  honoris  fructu  fecundissima ! 

IIa.     Gloriosa  virginalis  forma  pudicicie! 

nnitas  primordialis,  reparatrix  gratiel 

celesti  milicie 
nos  quandoque  collocari  5 

fac  semperque  delectari       vultus  tui  specie. 
IIb.     0  regina!  celi  digna  presidere  solio, 

Clemens,  mitis  et  benigna,  tuo  nos  presidio 

superno  convivio 
dignos  fore  nos  dignare  10 

teque  pio  collaudare  conregnantem  filio. 

3  unica  pr.  rep.?  Wilh.  Meyer.        7  0  fehlt         10  feri. 
Marienlied,  bestehend  aus  einer  einleitenden  Zeile  (8  —  u  -f  7  <->  — )  und  zwei 
Strophen,   deren  Grundlagen  auch  die  beiden  Teile  des  trochäischen  Tetrameters 
sind:  die  8 — u  reimen  je  zu  zwei  Zeilen,  die  vier  1  <j — weisen  in  jeder  Strophe 
nur  je  einen  Reim  auf ;  Taktwechsel  zeigen  am  gleichen  Orte  beide  Strophen  (4, 9). 

LXIV.  fol.  76'°28_79Tni& 

Heu!  quam  sunt  stulti       miseranda  fraude  sepulti  .  .  • 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        493 

Schluß:  Sic  ego  missus  ei       sum  pietate  dei. 

Finito  libro       reddatur  gloria  Christo. 

663,  z.  T.  lückenhafte  Verse  aus  der  dem  Hildebert  von  Lavardin  beigelegten 
Vita  Mahumetis.    Migne  P.  L.  171,  1345—1356. 

LXV.  fol.  79^°  ^5 

Volveris  et  volvi      non  cessas;  gaudia  solvi 
Precipis  in  lacrimas       'FoTÜina  u  — u;  opimas 
Res  veniens  ftindis,       sed  .  .  .  retundis, 
Tota  mali  plena,       facie  ridendo  serena, 
Arma  doli  condens,       dum  fallax  optima  spondens  5 

Pessima  persolvis;       ad  luctum  cuncta  revolvis, 
Rebus  ab  antiquis       fueris  cum  semper  iniquis 
Exagitata  maus      et  in  omnibus  exicialis. 
Exempli  novitas      per  res  monstratur  avitas. 

§  Troia  iacet  certe,       steterat  que  florida,  per  te.  10 

Troie  flamma,  cinis,       fera  depopulatio,  finis 
Exstitit  interitns,       per  vulnera  multa  petitus. 

§  Inclita  Cartago,       quam  flamme  dira  vorago 
Fortiter  inpegit       et  eam  sub  fata  coegit 
Per  tunc  florentis       Romane  prelia  gentis:  16 

Diruta  Cartago       fuit  exemplaris  imago, 
Quam  fueris  dura      veniens  cito,  mox  abitura. 

§  Victrix  terrarum,       domitrix  generalis  earum, 
Roma  diu  leta      thesauris,  plebe  repleta, 
Ne  non  agnosset,       tua  quid  currens  rota  posset,  20 

Tristis,  inops  facta      ferro  flammaque  redacta 
Turpiter  in  cineres,       miseri  fati  fuit  heres. 
Sed  quid  per  veterum       trahor  h.ec  exempla  dierum? 
Omnia  turbasti      loca,  tempora  cuncta  notasti 
Fraude,  nee  horrescis,       nee  adhuc,  fraudosa,  quiescis.  25 
Ecce  recens  pestis,       nova,  quod  sis  perfida,  testis 
Exclamat  certe,      proh!  iam  demonstrat  aperte 
Bris  ach,  castrorum      decus  et  locus  ille  locorum, 
Castrum  pre  castris       radians  quasi  lucifer  astris; 
Cuius  adhuc  sedes       per  fumantes  docet  edes,  30 

Quis  Situs  atque  status      fuerit  suus,  ante  negatus 
Vrbibus  et  villis;       tantus  decor  haut  fuit  illis, 
Huic  urbi  quantus;       si  vellem  dicere,  tantus 
Exstitit  aut  talis,       non  possem  dicere  qualis; 
Dicam,  quod  potero:       minus  ecce  per  omnia  uero.         35 

In  2  und  3  ist  Raum  für  fehlende  Worte  offen  gelassen ;  for  .  ,  ist  wohl  zu 
Fortuna  zu  ergänzen,  wie  V.  20  zeigt.  7  iniquis,  am  Rande:  i.  e.  indebitis. 
25  adhuc  fraudare  quiescis?  Wilh.  Meyer. 


494  '^-  Ja-k.  Werner, 

§  Urbs  antiquorum       fait  hec  antiqua  virorum, 

Urbs  harlungorum,       domus  hec  insigois  eonim, 
Magnatum  tan  tum,       mag>2orum  quippe  gigantum, 
Nobilium  terre,       quos  nee  discordia  guerre 
Terruit  aut  ensis ;       qnorum  quia  fama  /  orensis  40 

Est  et  vulgaris,       nichil  hinc,  mea  Musa,  loquaris ! 
§  Est  notum  notis,       vicinis  atqae  remotis, 

Quo/  bona  vicinis       Bris  ach  dedit  et  peregrinis: 
Tanto  fervore       studii  multoque  labore 

Tot  simul  expendens       bona,  non  sua  com^woda  pendens,       45 
Sola  sed  adiutrix      multorum  promptaque  tutrix, 
Dum,  quod  sint  tuti,       multorum  cauta  saluti 
Providit  caute,       redimens  convicia  naute 
Et  ratis  infestam       stratam  multisque  molestam 
Reno  spumante      nauta  remo  titubante.  50 

Sic  in  aque  fortis       cursu  dispendia  mortis 
Provida  dampnavit:       fr  acta  rate  qui  modo  navit, 
Transeat  in  reliqwum       nil  hie  passurus  iniqwum. 
§  Die,  Fortuna  levis!       velox  ad  tristia  quevis, 

Quid  meruit  triste,       mala  que  meruit  locus  iste,  65 

Quem  sie  punisti,       quem  flamme  seva  dedisti? 
§  Et  tu,  flamma!  furens       vastatrix,  tanta  perurens 
Menia,  tot  rebus       inimica,  boni  speciebus 
Invida,  structorum       destructrix,  summa  laborum 
Perdicio,  datrix       fletus,  simul  extenuatrix  60 

E/Crum  tantarum,       curtatrix  diviciarum, 
Usibus  humanis       primo  data,  siene  profanis 
Signis  degeneras,       ut  tollere  singula  queras, 
Que  per  se  nata       fuerant,  aut  arte  notata. 
§  Urbs  Brisacensis,       cuius  fuit  omnibus  ensis  65 

Hostibus  hostilis       et  in  ipsos  ipsa  virilis, 
Fervens,  intrepida,       sed  amicis  optima,  fida, 
Constans  et  lenis,       dum  laxis  vixit  habenis, 
Omnia  cunctarum       retinens  bona  deliciarum: 
Ecce!  iacet  floris       heu  nunc  oblita  prioris.  70 

38  magorum.  40  sorensis  43  Q/  =  Quod  45  comodo  53  reliqü  nil 
.  .  .  iniqü  61  Quorum,  dann  Quo  gestrichen  und  darüber  Re  geschrieben.  64  no- 
vata?  Wilh.  Meyer. 

üeber  diese  Feuersbrunst,  die  nach  den  Worten  des  Dichters  (V.  80)  sehr 
bedeutend  gewesen  sein  muß,  habe  ich  nichts  finden  können;  so  bleibt  es  sehr 
ungewiß,  ob  sie  mit  den  Kriegen  Rudolfs  in  Verbindung  gebracht  werden  darf, 
besonders  da  keine  Anspielung  darauf  gemacht  ist.  Für  die  damalige  Bedeutung 
der  Harlungenstadt   spricht   die  Kühnheit  des   Dichters,    der  sich   nicht   scheut, 


Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  Klerikers  etc.        495 

dieses  Brandunglück  mit  der  Zerstörung  der  berühmtesten  Städte  Troja,  Carthago 
und  Rom  zu  vergleichen.  Auch  von  der  in  V.  48  if.  erwähnten  Flußkorrektion 
ist  nichts  weiter  bekannt. 

LXVI.  fol.  SO'-" 

Zwischen  V.  35  und  36  des  vorangehenden  Stückes  stehen 
computus  -Verse  nebst  Erläuterungen  für  die  Jahre  1269 — 1318 
zur  Angabe  der  Sonntagsbucbstaben  und  des  Abstandes  von  Weih- 
nachten bis  Sonntag  Invocavit,  d.  h.  (nach  G-rotefend,  Zeitrechnung 
I  S.  99)  bis  zum  ersten  Fastensonntag  oder  sechsten  Sonntag  vor 
Ostern.  Eine  Fortsetzung  dieser  Versus  circulares,  aber  ohne 
Angabe  der  betreffenden  Jahre  1304 — 1372,  findet  man  auf  fol.  M'"  der 
aus  verschiedenen  Teilen  saec.  XI — XIV  bestehenden  Hft  C.  172 
der  Stiftsbibliothek  in  der  Kantons-  (Universitäts-)  bibliothek  in 
Zürich.  Damit  diese  scheinbar  tiefsinnig  klingenden  Verse  nicht 
auch  Andere  in  Verlegenheit  bringen,  möge  die  ganze  Reihe  folgen: 
Anno  ÜPCC^LX^IX«  Flos  equitando 

M^CC^LXXP    Delevit  Babilonigenas  armeia  gentes 
M<^CC^LXXV^  Fructificat  dubius  cito  Betlehemitis  alumpnis 
1*280  Flebilitatis  egestati  dea  consociatur 
1284  ^^mbiguis  Gad  ferramentis  extrue  tunbam 
1288  Belligeros  animos  generaliter  ebrie  datas 
(1284  lies:)  1294  Consiliando  beatis  Gob  famularis  egenis 
(1289  lies:)  1299  Diripiendo  bibentibus  arida  glorificaris 
1304  Forcia  debet  conmunicari  belliger  arma 
1308  !''ebricitans  eo  dinumerare  Cacuminus  abba 
1313  Gramaticis  foliis  en  combinabo  boantis 
1318  Altisonantia  Gallicus  Ebul  di(ssociavit). 

LXVII.  fol.  80'- II 3» 

§  Sponsa  mihi  cara!       pro  te  crucis  huius  in  ara 
Plector  morte  gravi:       sunt  testes  lancea,  clavi. 
Aufschrift  für  einen  Crucifixus. 

LXVIII.  fol.  80''ii^2 

Ve!  qui  predaris!       restat,  quod  idem  paciaris: 
Si  predo  fueris,       preda  faturis  eris.     u.  s.  w. 
107   meist  durch  §  als  einzeilige  und  zweizeilige  Sprüche  ge- 
kennzeichnete Verse,  die  im  nächsten  Heft  der  Romanischen  For- 
schungen zum  Abdruck  gelangen  sollen,   wofür   sie   seit  mehr   als 
einem  Jahr  gesetzt  sind. 

Alphabetische  Reihenfolge. 

NB.     Mit  *  sind  diejenigen  Stücke  bezeichnet,   die  mit  annähernder  Bestimmtheit 

als  Erzeugnisse  des  Basler  Klerikers  angesehen  werden  können. 

Abluo,  firmo,  cibo  XVIII.  Adventate  citi*  XLI. 


496  J-  JaJ^-  Werner,  Poetische  Versuche  und  Sammlungen  eines  Basler  etc. 


Aestatis  indicium  XL. 

Alma  redemptoris  mater  I. 

Anticipata  nimis*  XL VIII. 

Aspice  devote*  XLIII. 

Aula  referta  bonis*  XI. 

Aulica  turba  vacat*  XLII. 

Aureus  in  lano  LIX. 

Ave  maris  steUa  XXXVI. 

Ave  virgo  gloriosa  XIX. 

Barbara  quaeque  caret*  V. 

Boreali  saevitia  XXXIII. 

Caelicus  unicus*  XXXI B, 

Conqueror  ecce  deus*  IV. 

Corporeas  metas*  VII. 

Cum  pertraetare*  LI. 

Delictis  hominis*  XXXI 0. 

Dudum  felix,  modo  XXVII. 

Dum  flosculum  tenera  XXIX. 

Dnm  mea  me  mater  LVII. 

Ergo  pater  mitis*  XL VII. 

Est  iter  ad  metas*  LVI. 

Excipe  mente  bona*  VI. 

Eia!  gaude  Syon  filia  XXXI K. 

Falsus  adulator*  LVIII. 

Elorem  parit  virga  XXXI N. 

Flos  equitando  LXVI. 

Gaude  mater  luminis  LXI. 
Gigas  naturae  geminae*          IL 

Gloriosa  virginalis*  LXIII. 

Heu!  quam  sunt  stulti  LXIV. 

Honestatis  et  honoris  LXTIL 

lungat,  ut  opto,  bona*  Vni. 
Lege  dura  mortis  dirae*  XXXI. 

Maguntine!  stilum*  IX. 

Maria  Magdalena  XXXV. 

Membra  regi  capite*  X. 

Metrificis  nodis*  XLIX. 

Mirum  posse  deitatis*  XXXIG 

Mollis  seu  dura*  XXI. 

Mundus  reformatur  XXXII. 

Mysterium  mirabile*  XXXIH 


Non  concordamus  LIL 

Non  ego  formicas*  XLV. 

Non  ego  rege  satus*  LV. 

Non  humanatur  verbum*  L. 

Non  reor  effossae*  LIII. 

0  Magdalena  XXXIV. 

0  Maria  mater  pia  XXXIX. 
0  mores  perditos  XXII. 

0  quam  dura  XXVII. 

Orbis  princeps,  quos  LH*. 

Ordinarat  ab  aeterno*  XXX. 
Plasmator  rerum,  fons  XXXVI n. 
Plus  metra  significant*  XVI. 
Porto  dei  donis*  XLVI. 

Post  hiemis  rigorem  XXV. 

Primus  homo  corruit*  XXXIC. 
Profero,  nee  scitis*  XLIV. 

Protoplasti  reatus*  III. 

Qui  tua  metra  facis*  XIII. 

Quod  in  ligno  Moysi  XXXVII. 
Quos  sine  fraude  putat*  XII. 
Res  iocosa,  quod  hec  rosa  XXXIF. 
Reverendi  iudices  XXVI. 

Rimetur  mens  hominis*  XXXIE. 
Salve!  flos  cleri*  XIV. 

Salve!  virgo  Davidis*  LXII. 
Secretorum  conscius*  XXXID. 
Senescentis  et  delirae*  XX. 

Spes  promissa  lupo  XXXII. 

Sponsa  mihi  cara*  LXVII. 

Taurum  sol  intraverat  XXIV. 
Tribus  uni  rerum  XXXIM 

TJrbs!  iocundare*  XV. 

Ut  tibi  laus,  princeps*  LIV. 
Vae!  qui  praedaris  LXVIII. 
Vergente  mundi  vespere*  XXXIQ. 
Vestrae  personae*  XVJl. 

Vident  terre  termini  XXXIL. 
Virgo  parit  filium*  XXXIP. 
Volo  vir  um  vivere  XXVIIL 

Volveris  et  volvi*  LXV. 


Aporien  im  vierten  Evangelium 
IV 

Von 

E.  Schwartz 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  4.  April.  1908 

Dnrcli  die  in  Cap.  7  stehen  gebliebene  Aufforderung,  lesus 
solle  naeb  ludaea  übersiedeln,  und  durch  die  Lazarusgeschichte  sind 
wenigstens  die  großen  Linien  der  Handlung  für  das  ursprüngliche 
vierte  Evangelium  gegeben;  trotz  allem  Schwanken  im  Einzelnen 
hat  die  Analyse  ein  Ziel  auf  das  sie  zusteuern  kann.  Für  das 
Vorspiel  der  Tragoedie  die  mit  der  Eeise  nach  Jerusalem  einsetzt, 
liegt  die  Sache  übler:  hier  schreitet  die  Handlung  noch  nicht 
consequent  fort,  und  es  wollen  sich  die  Motive  nicht  entdecken 
lassen,  durch  die  die  einzelnen  Scenen  verbunden  werden,  man  kann 
nicht  von  einer  Scene  auf  die  andere  schließen.  Das  macht  jede, 
auch  in  noch  so  bescheidenen  Grrenzen  sich  haltende  Reconstruction 
der  ältesten  Form  des  Evangeliums  unmöglich,  und  die  Versuchung 
liegt  nahe,  ermüdet  und  mutlos  das  kritische  Messer  aus  der  Hand 
zu  legen  und  diese  Partien  in  der  Verwirrung  und  Unordnung  zu 
lassen,  der  sie  durch  die  lieber  arbeitung  verfallen  sind.  Aber  die 
Aufgabe  wissenschaftlich  zu  interpretieren  bleibt  bestehen,  auch 
wenn  die  Fragmente,  welche  eine  solche  Interpretation  auslöst, 
sich  nicht  zusammensetzen  lassen,  und  die  These  daß  jede  Aus- 
legung des  vierten  Evangeliums,  die  nur  mit  einem  Verfasser 
rechnet,  sich  unüberwindliche  Schwierigkeiten  schafft,  weil  sie  die 
vorhandenen  Schwierigkeiten  nicht  sieht  oder  sehen  will,  diese 
These  muß  auch  für  die  Strecken  bewiesen  werden,  wo  der  Be- 
weis einstweilen  sich  über  die  Negation,  über  die  Behauptung  daß 

Kgl.  Ges.  d.  Wi88.  Nachricbten.    Fhilolog.-histor.  Klasse.  1908.    Heft  5.  85 


498  ^-  ScLwartz 

das  was  da  steht,  von  einem  Verfasser  nicht  geschrieben  sein 
kann,  nicht  hinauswagen  darf.  Denn  in  der  neutestamentlichen 
Exegese,  vor  allem  in  der  des  vierten  Evangeliums,  sind  das  Be- 
wußtsein alles  verstehen  zu  müssen  und  die  Zuversicht  alles  ver- 
stehen zu  können  noch  immer  so  stark,  daß  wieder  und  wieder 
am  Object  demonstriert  werden  muß,  wie  viel  richtiger  und  nütz- 
licher für  die  Wissenschaft  es  oft  ist  auf  die  Erklärung  zu  ver- 
zichten als  sie  zu  erzwingen. 

Die  Greschichte  von  der  Speisung  der  Fünftausend  [6]  ist  wohl 
dasjenige  Stück  des  vierten  Evangeliums,  das  am  stärksten  mit 
den  Synoptikern  übereinstimmt,  auch  im  Wortlaut ;  nur  darin  tritt 
eine  Differenz  hervor ,  daß  lesus  selbst  die  Brode  verteilt  [6, 11], 
während  bei  den  Synoptikern  durchweg  [Mc.  6,41.  8,  6.  Mt.  14,19. 
15,  36.  Lc.  9,  16]  die  Jünger  die  Verteilung  besorgen.  Ferner 
sammeln  hier  die  Leute  selbst  [Mc.  6,43.  8,8.  Mt.  14,20.  15,37; 
nur  Luc.  9, 17  hat  das  unbestimmte  Passiv]  die  Ueberbleibsel  in 
Körbe,  so  daß  das  Wunder  der  Speisung  sich  einfach  fortsetzt: 
sie  werden  nicht  nur  satt,  sondern  sie  tragen  noch  etwas  fort 
[^^av].  Im  vierten  Evangelium  [6, 12]  giebt  lesus  den  Jüngern 
den  Befehl  die  Reste  der  Brode  zu  sammeln,  mit  der  ausdrück- 
lichen Motivierung  Lva  ftij  ti  aTtöXrjtca,  als  wenn  es  mit  den  Broden 
für  die  er  das  Dankgebet  gesprochen  hat,  eine  besondere  Be- 
wandtnis hätte.  Andererseits  spiegelt  sich  in  der  Verteilung  der 
Greschäfte  eine  Rangordnung  wie  dieser  Geschäfte  selbst,  so  auch 
der  sie  verrichtenden  Subjecte  ab.  Das  Bild  der  kirchlichen,  vom 
Bischof  und  seinen  Diakonen  abgehaltenen  Eucharistie  taucht  auf  ; 
die  Brode  sind  heilig  und  es  darf  nichts  von  ihnen  umkommen^). 


l)  Tertullian.  de  cor.  3  eucharistiae  sacramentum  .  .  .  omnibus  mandatum 
a  domino  .  .  .  nee  de  aliorum  manibus  quam  praesidtntium  sumimus.  Dem  wider- 
spricht Cyprian.  de  laps.  25  calicem  diaconus  offeire  praesentibus  coepit  nur 
scheinbar :  vgl.  constit.  apost.  8, 13  a.  E.  xal  6  fisv  iTtiayiojtog  ÖLdoToa  tijv  tcqoö- 
tpoQCiv  Xeycav  ...  6  ds  ÖLayiovog  ■natexstco  tb  TtotriQiov  v.aX  inididovg  Xsyito). 
Vgl.  auch  die  s.  g.  Kanones  des  Basilius  99.  100  [Riedel,  die  Kirchenrechts- 
quellen des  Patriarchats  Alexandrien  277.  278].  Dagegen  verteilen  bei  lustin 
[apol.  I  65  p.  97e]  die  Diakonen  auch  das  Brod.  Der  Interpolator  des  vierten 
Evangeliums  plaidirt  also  für  den  Brauch  der  dem  Bischof  die  Verteilung  des 
Brodes  reservierte.  —  Auf  den  für  das  vierte  Evangelium  charakteristischen  Zug 
daß  lesus  den  Jüngern  befiehlt  die  v.Xd6iiata  zu  sammeln,  fällt  das  richtige  Licht 
durch  die  Bestimmung  der  apostolischen  Constitutionen  a.  a.  0.  orav  ndvrsg  (isra- 
XdßcDCL  xal  näaai  [vgl.  im  Evangelium  6,  12  cb?  Si  ivsnXi]a^7iauv],  Xccßovrsg  ot 
Sid'Kovot.  tä  TtBQiaosvoavTa  slacpsgiraauv  stg  tcc  naOToq^ÖQia.  Die  Superstition 
die  verbot  daß  etwas  von  dem  Brode  umkomme,  wird  nicht  selten  bezeugt:  Ter- 
tullian. de  cor.  3   calicis   aut  panis  etiam  nostri  aliquid  decuti  in   terram   anxie 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  499 

In  den  Eeden  lesii  vom  Brod  des  Lebens  sind  die  Anspielungen 
auf  die  Eucharistie  seeundär  [vgl.  Nachr.  1907,  363J^);  in  der  Ge- 
schichte von  der  Speisung  der  Fünftausend  sitzt  die  Parallele  mit 
der  Eucharistie  fest:  also  ist  diese  ihrem  ganzen  Umfange  nach 
eingefügt,  und  der  Verdacht  den  die  starke  Anlehnung  an  die 
Synoptiker  erregen  muß,  nicht  umsonst.  Sie  ist  schlecht  einge- 
führt; 6,3  ist  Copie  von  Mt.  15,29,  über  6,2  vgl.  oben  S.  121; 
am  übelsten  wirkt  daß  die  wüste  Gegend  nicht  erwähnt  wird,  in 
der  sich  die  Menge  angesammelt  hat  [Mc.  6,  31.  8,  4.  Mt.  14, 13. 15. 
15,33.  Lc.  9,12],  und  damit  die  Motivierung  des  "Wunders  weg- 
fällt: wenn  es  freilich  ein  Typus  der  Eucharistie  sein  sollte,  ist 
es  begreiflich  daß  dieser  Zug  nicht  mehr  wesentlich  erschien.    Man 


patimiir.  Origen.  in  Exod.  hom.  13,  3  nostis  qiii  diuinis  mysteriis  Interesse  con- 
suestis,  quomodo  cum  suscipitis  corpus  domlni,  cum  omni  cautela  et  ueneratione 
seruatis  ne  ex  eo  par<u>um  quid  decidat,  ne  co?isecrati  muneris  aliquid  dildbatur. 
Kanon  des  Hippolyt  29  [Riedel,  a.  a.  0.  219]:  der  welcher  die  Mysterien  austeilt, 
und  die  welche  sie  empfangen,  sollen  scharf  aufpassen,  daß  nichts  auf  die  Erde 
falle,  damit  sich  nicht  ein  böser  Geist  dessen  bemächtige.  Kanones  des  Basilius 
97  [Riedel  275] :  die  Presbyter  welche  an  dem  Leibe  Christi  communiciren  lassen, 
und  die  Diakonen  und  die  ganze  Gemeinde  vor  ihnen  sollen  aufpassen  daß  nichts 
von  den  Mysterien  auf  die  Erde  falle  und  so  ein  Gericht  auf  ihnen  ruhe.  Ebenda 
99  [Riedel  277]:  beim  Zerbrechen  soll  nichts  davon  zur  Erde  fallen.  Sehr  genau 
und  rituell  Kyrill  von  Jerusalem  [cateches.  mystagog.  5, 21] :  Ttgoaimv  ovv  fii] 
tstafbivoLg  xol?  tcoi^  xBiqmv  KaQTtotg  TtQOGSQXov  (irids  diriiQri^svoLg  xoig  dccKrvXoLS, 
älXa  trjv  dcgiatsgäv  Q-qovov  noiriGag  ttjl  ds^iäi  dtg  nsXXovaiqL  ßaaiXia  vno8i%E6%'Cii 
%al  •üOiXdvccg  xr]v  TtaXdfiriv  88%ov  tb  6a>[i(x  rov  Xgiötov  STtiXeycov  tb  cc(i'i]v.  [ist 
ccöcpccXsLccg  ovv  äyidßag  tovg  6q)d-ccX}iovg,  tfjL  S7tcc(pf]i,  rov  ccyiov  em^atog  (iSTCcXdfi- 
ßccvs,  TtQOGBxcov  [IT]  itagaTtoXeGYiLg  xi  i%  xovxov  avxov.  otzsq  yccQ  iäv  ccjtoXsöriLg, 
xovxoL  mg  dnb  oI-abCov  dfjXov  oxi  BQri^m&rig  fisXovg.  st-Tts  yccQ  fiOL'  sl' xig  gol  ^öcotis 
ip'^yiiccxci  xQvaCov,  ov-n  ccv  fisxä  rcdcrig  aarpccXsLag  iyiQccxsig,  q)vXaxx6[i8vog  [iri  xi  avxav 
7tciQa7toX£6r\ig  v.a.1  ^miiav  v7toöxf]Lg ;  ov  tzoXX&l  ovv  ^äXXov  cc6g)ccX£6XEQ0v  xov  xqv- 

gCoV    'ACil   Xl^'COV   XL^LaV   XL^LmXEQOV    8La6V,0Ttri6£ig    V7t8Q    xov   [IT]    IpLXCiV    601    EV,7t£GBLV\ 

Bei  dieser  Gelegenheit  will  ich  nicht  versäumen  auszusprechen  daß  ich  den 
räthselhaften  Vers  loh.  13, 10  6  XEXov^hog  ovv,  b'xel  %?£tav  vLtpccG&cci,,  ccXX'  k'axcv 
ytad-ccgbg  oXog  nicht  mehr  für  den  Rest  einer  älteren  jetzt  zerstörten  Erzählung 
halten  kann,  wie  ich  Nachr.  1907,  347  vorschlug,  sondern  in  ihm  eine  Anspielung 
auf  die  Tradition  erblicke,  die  Tertull.  de  coron.  3  erwähnt:  ex  ea  die  [der 
Taufe]  lauacro  quotidiano  per  totam  hebdomadem  ahstinemus. 

1)  Ich  hätte  nur  mit  6,  60  ff.  nicht  so  schonend  umgehen  sollen.  Das  ganze 
Stück  bis  zum  Schluß  ist  eine  secundäre  Interpolation.  Denn  es  wird  die  Deu- 
tung des  Lebensbrodes  von  der  Eucharistie  vorausgesetzt  [6,  63]  und,  was  beson- 
ders wichtig  ist,  die  nicht  ursprüngliche  Vereinigung  der  Reden  über  das  Brod 
mit  denen  über  die  Berufenen  [6,  64.  65].  Es  sollte  das  Zeugnis  des  Petrus  hin- 
eingebracht werden,  das  bei  Lucas  [9, 18  f.]  unmittelbar  auf  die  Speisung  der 
Fünftausend  folgt. 

35* 


500  E.  Schwartz 

wird  einwenden,  daß  lesu  Reden  von  dem  wahren  Brode  ihren 
Anlaß  verlieren,  wenn  die  Geschichte  fällt.  Es  muß  aber  doch 
erstaunen  daß  in  diesen  Reden  nur  das  Manna  ^)  und  nicht  die 
fünf  Brode  mit  denen  eine  solche  Menge  wunderbar  gespeist  ist, 
das  Gegenstück  zu  dem  wahren  Brode  sind,  und  wie  kann  die 
Menge  sich  von  lesus  ein  Zeichen  erbitten  [6,30],  dieselbe  Menge  ^) 
die  eben  wegen  'des  Zeichens  das  sie  gesehen  hatte',  was,  nach 
dem  vorliegenden  Text  wenigstens,  nur  die  Speisung  sein  kann, 
lesus  für  'den  Propheten'  erklärt  hat,  der  'in  die  Welt  kommen 
soll'  [6, 14].  lesus  greift  nur  am  Anfang  seiner  Reden  auf  das 
Wunder  zurück  [6,  26] :  ^rjrsltE  ^e  ovx  ort  etders  örjfista,  aXX^  ort 
itpdyste  ix  r&v  ccqtov  xal  exoQtaöd'rjts:  die  Scheltworte  passen  zu 
der  Frage  des  Volkes  6,  30  in  keiner  Weise,  sind  auch  an  und  für 
sich  unmotiviert;  daß  die  Menge  ihm  nachgelaufen  wäre  um  sich 
noch  einmal  von  ihm  füttern  zu  lassen,  geht  aus  der  Erzählung 
wahrhaftig  nicht  hervor  ^).  Bedenklich  machen  muß  auch  der 
Plural  öri^staf    der   auf  6,2,   aber   nicht   auf  6, 14   zurückschlägt. 


1)  Das  himmlische  Brod  das  Israel  in  der  Wüste  aß,  als  es  noch  jung  war 
und  in  der  Zucht  stand,  wird  schon  Deuteron.  8, 3  mit  dem  'Wort'  parallelisiert, 
das  'aus  dem  Munde  Jahves  ausgeht'.  Es  ist  nicht  eigene  Weisheit,  sondern  die 
Tradition  der  jüdischen  Exegese,  wenn  Philo  [qu.  rer,  diu.  her.  s.  79.  191.  de 
congr.  erud.  gr,  170.  de  fuga  et  inuent.  138.  de  mut.  nom.  259]  es  mit  dem  &ELog 
löyog,  d.  h.  der  Offenbarung ,  oder  der  coqjia,  d.  h,  der  von  Gott  dem  Menschen 
gegebenen  Weisheit  die  die  Offenbarung  annimmt,  identificiert ;  daß  er  dabei  einen 
Paragraphen  der  stoischen  Logik  anbringt  [leg.  alleg.  2,  86.  3, 175.  qu.  det.  pot. 
ins.  118],  ist  eine  Renommisterei,  die  für  den  Sinn  der  Allegorie  nichts  ausmacht. 

2)  Chrysost.  t.  VIII  p.  262^  oidsv  tovrav  &vc(L69-riT6TEQOv,  o'bdev  ccXoymrsQOV 
xov  arifisiov  övtog  iv  ötpd'ccXfiois  ccvtcbv  m,    w?   o'ödsvbg  yEyovoTog,    ovrcog  ^Xtyov 

3)  lohannes  Chrysostomos  construirt  sich  ein  gutmütiges,  leichtsinniges 
Völkchen  zurecht,  das  nur  dem  Augenblick  lebt  und  deßhalb  einmal  durch  ein 
scharfes  Wort  zurechtgerüttelt  werden  muß  [t.  VIII  p.  256c]  :  a^iov  de  xal  h- 
xBvQ^Bv  6vvidBiv  TTjv  sijyioXov  avx&v  yrtJbju-Tjv.  ot  yug  Xiyovtsg  'ovtog  iariv  6  ngo- 
q>r]tTig\  ot  anovddt^ovxBg  ccQTidaca  xal  noifjoaC  ßaGiXea,  Evgovrsg  avxov  oiSev 
xoiovxov  ßovXsvovxai,  ScXXa  xb  d'aviicc  ^v.ßaX6vxeg,  eng  iyoayE  olfica,  o'^xart  Xoinbv 
vn^Q  xä)V  TtQOXBQcav  d-aviid^ovOL.  ölcc  xovxo  dga  ins^'^xovVj  ßovXofisvoi  naXiv  xga- 
ni^rig  &noXavBiv,  oTag  xal  tiqoxbqov  und  p.  258^  xb  srpotfrjv^ff  %al  Xbiov  oi  nctv- 
xaxov  %QriaLyi,ov,  &XV  ^axiv  Bxb  xal  xoü  7cXr]%XL%axBQ0v  Öbi  x&i  SiSaayidXmi.  Das 
ist  antike  exegetische  Technik  bester  Art,  die  den  Widerspruch  scharf  beobachtet ; 
die  unwissenschaftliche  Lösung  wirkt  angenehmer  als  in  den  XvoBig  der  'OfiriQL'ucc 
irixrniaxu,  weil  der  gewiegte  Prediger  sie  aus  seinem  Leben  und  seinem  Publicum 
nimmt;  er  schildert  ja  deutlich  sein  eigenes  antiochenisches  Publicum,  das  durch 
die  Schelte  des  Predigers  aas  seinem  gutmütig  animalischen  Dasein  aufgeschreckt 
werden  soll. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  501 

Also  ist  die  einzige  Stelle  die  eine  Verbindung  zwischen  dem 
Wunder  und  den  Eeden  herzustellen  scheint,  durch  Ueberarbeitung 
entstellt  und  so  ihrer  Beweiskraft  beraubt;  es  muß  dabei  bleiben 
daß  die  zu  einem  Typus  der  Eucharistie  umgebogene  Greschichte 
von  der  Speisung  secundär  mit  den  Reden  lesu  vom  wahren  Brode 
verbunden  ist.  Damit  ist  allerdings  der  Einwand  daß  dann  diese 
Reden  des  Anlasses  entbehren,  nicht  vollständig  widerlegt;  er  er- 
zwingt vielmehr  den  Schluß  daß  die  Greschichte  die  jetzt  dasteht, 
an  die  Stelle  einer  anderen  getreten  ist,  deren  Reste  in  6, 14. 15 
vorliegen ;  daß  diese  Verse  zu  dem  Vorhergehenden  nicht 
passen,  ist  schon  bei  anderer  Gelegenheit  [vgl.  oben  S.  172]  be- 
merkt. Was  nun  aber  dagestanden  hat,  läßt  sich  aus  diesen  Resten 
nicht  entnehmen;  sie  sind  zu  dürftig  und  harmonieren  auch  mit 
einander  nicht. 

Bei  Marcus  [6,  45  ff.]  und  Matthaeus  [14, 22  ff.]  folgt  auf  die 
Speisung  das  Wunder  auf  dem  See  von  Tiberias;  der  Verdacht 
liegt  nahe  daß  wie  jenes  erst  secundär  in  das  vierte  Evangelium 
eingetragen  ist,  das  Grieiche  auch  von  diesem  gilt.  Hier  trat  aber 
eine  Schwierigkeit  ein.  Bei  den  beiden  Synoptikern  steht  jedes 
Wunder  für  sich;  wo  das  Volk  bleibt,  nachdem  es  von  lesus  ge- 
speist war,  interessiert  sie  nicht  und  braucht  sie  nicht  zu  inter- 
essieren. Sollte  indeß  die  Speisung  der  Fünftausend  den  geschicht- 
lichen Hintergrund  der  Reden  Jesu  über  das  wahre  Brod  bilden, 
so  mußte  eben  das  Volk  das  gespeist  war,  das  Publicum  für  diese 
Reden  sein.  Dann  wurde  das  Wunder  auf  dem  See  unbequem, 
da  es  lesus  von  seinem  Publicum  entfernte,  und  der  oder  die  Be- 
arbeiter sahen  die  undankbare  Aufgabe  vor  sich,  die  Menge  eben- 
falls über  den  See  hinüber  zu  transportieren.  Was  jetzt  dasteht, 
ist  ein  wirres  Conglomerat  von  sprachlichen  und  sachlichen  Un- 
geheuerlichkeiten. Zwischen  6,  22  und  23  fehlt  die  Verbindung, 
und  der  Satz  mit  ors  6,  24  drückt  dasselbe  noch  einmal  aus,  was 
6,  22  schon  gesagt  war.  Wie  das  Volk  am  folgenden  Tage  sehen  ^) 
soll,  daß  am  Tage  vorher  nur  ein  Schiff  dagewesen  war  und  nur 
die  Jünger,  nicht  aber  lesus  dies  benutzt  hatten,  hat  noch  kein 
Exeget  plausibel  zu  machen  verstanden  und  wird  es  nie  fertig 
bringen;  man  kann  es  Blaß  nicht  übel  nehmen  daß  er  seinen  In- 
spirationsglauben  dadurch  rettet,    daß   er   dem  Evangelisten   das 


1)  Ein  einziger  Lateiner  liest  cum  scirent.  Mag  das  nun  auf  Verwechselung 
von  ddms  und  Idmv  beruhen  oder  überlegte  Correktur  sein,  jedenfalls  taugt  die 
Variante  nichts:  woher  soll  denn  das  Volk  wissen  daß  lesus  nicht  mitfuhr,  wenn 
es  bei  der  Abfahrt  der  Jünger  nicht  dabei  stand? 


502  ^-  Schwartz 

mißlungene   Cuncept   streng   und  gründlich   corrigiert ').     Es    sind 
hier  zwei  Versuche  ineinander  geschoben : 

I  II 

6  ox^og  6  e6triXG)g  jcsqocv  t7]g  ^a-  ttjl  iTtavQiov  akla  ^Xdsv  TtXoiaQia 

Xdöörig  eidov   ort    TtXoiccQiov  aklo  ix    Tcßagcccdog    iyyvg    rov    röitov 

ovK   tjv   exsl   et  ^r^  ev  xal  ort  ov  ozov  ecpayov  xov  cicQtov  ev%(XQi6xii\- 

övvsLörlXd^sv   Totg  ^ad^rjrcctg  avtov  öccvtog  rov  xvqCov  '  öra  ovv  elöev 

6  ^Irjdovg  slg  tb  Tckolov  äXlä  ^6-  6  o^Xog  ort  'Irjöovg  ovx  sdriv  ixsl 

voL  OL  ^a&riral  avtov  ccTtflXd'ov.  xal  ovds  ol  ^a&riral  avtov,    eveßriöav 

^Xd^ov  elg  Ka(paQvaovyL  ^ritovvtsg  avtol    elg   tä   TtXoiccQia  xal  i]Xd^ov 

tbv    ^Iriöovv    xal    evQovtsg    avtov  xtX. 
TCSQav  tf^g  d^aXdöörig  slitov  avt&t,' 
Qaßßscj  TCots  ä)ös  ysyovag', 


1)  Die  Abschreiber  und  Uebersetzer  sind  ihm  vorangegangen,  doch  nur  bis 
zu  einem  gewissen  Grade.  Als  Beispiele  stelle  ich  K  und  D  neben  einander,  ohne 
Orthographie  und  bloße  Schreibfehler  zu  berücksichtigen : 

K  D 

[22]  tfJL  InavQiov  6  öxXog  6  sßtcag  Tfsgav  [22]  rijt  ijtccvQiov  6  öx^og  6  sötTi'ncog 
rfjg  ^aXdoarig  sldsv  on  nXomQiov  aXXo  ntgav  xfig  Q'aXd66r\g  sldsv  ort  TcXotccgiov 
ovv.  Tiv  SV.SI  d  117]  fr  8v,slvo  stg  o  iva-  aXXo  ovv,  riv  ivsL  sl  (li]  fv  stg  o  iv^ßricav 
ßriaav  ot  ficcd^Tal  rov  'Iriaov,  vccl  oxi  ol  iia&rital  xov  [aus  avxov  durch  Rasur 
oi)  övvsXriXvQ'si  avxotg  6  'Ii]6ovg  slg  xb  corrigiert]  'IriGov  kccI  oxi  ov  cwEiaiiX^ev 
TtXoLOv,  aXXä  iiovoi  ot  (lad-rixccl  avxov.  xotg  fiad-Tixaig  avxov  6  'IViOovg  stg  xb 
[23]  STtEXQ^ovxav  ovv  x&v  tiXolcov  ev,  Tl-  nXoLov,  ccXXa  [lovov  ot  (la&rixal  avxov 
ßsQiddog  iyyvg  ovarig,  onov  xal  e'q)ayov  ä7tf]X^ov,  [23]  aXXtov  nXoLagiav  iX^ov- 
ccQxov  EvxaQLOX'^öavxog  xov  vvqioVj  [24]  xcov  i%  TißsQiddog  iyyvg  xov  xonov  onov 
val  tSovxsg  oxi  ovv  rjv  ivst  6  'Iriaovg  scpayov  xov  ägxov.  [24]  oxs  ovv  siÖEv 
ovds  ot  [Ltt^rixaC^  Scvsßriaav  Etg  xb  tiXolov  b  b^Xog  oxl  'Iricovg  ovv  SGxiv  ivst  ovSe 
Hxl.  ot  iia&rixal  avxov,  ^Xaßov  iavxoig  nXoi- 

ccQia  vxX. 
K  bringt  den  Hiat  zwischen  6,  22  und  23  hinaus,  aber  nicht  die  Dublette  6,  22~24; 
xb  nXotov  6,  24  ist  wohl  nur  Versehen.  Dagegen  läßt  D  durch  die  Wiederholung 
ot  (lad^rixal  xov  'Iri6ov  [oder  einfach  a-örov]  und  xoig  fiad-rixaig  avxov  noch  er- 
kennen daß  der  Relativsatz  der  ev  erklären  soll,  eine  Glosse  ist;  die  Schwierig- 
keit die  in  aXXa  rjXd^Ev  TiXotagia  liegt,  ist  doppelt  gelöst :  einmal  durch  Umsetzung 
in  den  gen.  abs.,  bei  der  nur  ovv  nicht,  wie  es  nötig  gewesen  wäre,  an  den  An- 
fang von  6,  23,  sondern  von  6,  24  gestellt  ist,  und  dann  durch  die  Variante  ^Xaßov 
iavxotg  nXoidgia  [ohne  Artikel],  welche  die  Streichung  von  6,23  voraussetzt: 
jetzt  ist  nur  E'hxctQi^atriGavxog  xov  vvqCov  weggelassen.  Leider  ist  die  Syra  Sin. 
an  diesen  Stellen  so  zerstört,  daß  sich  nicht  mit  Sicherheit  eruieren  läßt,  wie 
sie  sich  den  Text  zurechtgelegt  hat:  sie  scheint  die  Dittographie  6,22—24 
durch  Entfernung  des  Satzes  mit  oxe  6,  24  beseitigt  zu  liaben.  Die  Syr. 
Cur.  hat  die  Glosse  zu  eI  iiri  ev,  läßt  dagegen  &XXa—&7tfjXd-ov  aus;  der  Hiat 
zwischen  6, 22  und  23  wird  durch  eine  Uebersetzung  beseitigt,  die  zu  para- 
phrasieren  gefährlich  ist:  o)*-©  .  .  jjuaö?  ^Lj  #00  .  .  .  )|**j.  f^xaptartjffavros  xov 
%vq{ov  fehlt  wie  in  D.    In  der  Peschittha  steht  sUsv  und  die  Glosse  von  6,22 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  503 

Das  Volk  fuhr  also  in  der  einen  Fassung  nicht  zu  Schiff, 
sondern  gieng  um  den  See  herum.  In  der  anderen  Fassung  ist  an 
Stelle  dessen  die  geschmacklose  Erfindung  getreten,  daß  die  ge- 
sammten  Fünftausend  in  Schiffen  hinüberfahren;  der  Relativsatz 
07C0V  —  xvQLov  wird  außerdem  durch  scpayov  tbv  ccqtov  und  durch 
tov  KVQiov  als  jung  gekennzeichnet,  und  endlich  ist  hier  die  Frage 
6, 25  nicht  mehr  begründet,  da  das  Volk  bei  der  Abfahrt  der 
Jünger  nicht  dabei  ist,  sondern  nur  bemerkt  daß  lesus  sowohl  wie 
die  Jünger  nicht  mehr  da  sind.  Es  ist  aber  nicht  möglich  die 
Fassung  II  mit  einem  glatten  Schnitt  zu  entfernen:  mit  der  Zeit- 
bestimmung geht  der  Anschluß  ans  Vorhergehende  verloren.  Auch 
bleiben  noch  andere  Anstöße  übrig,  die  in  die  erörterte  Zerlegung 
in  zwei  Versionen  nicht  ohne  Weiteres  aufgehn.  Die  Ortsbe- 
stimmung 6,  25  TCSQav  TTJg  d'aXdöörjg  ist  nach  slg  Kag)aQvaov^  [6,  24] 
überflüssig,  ja  verwirrend.  Vorher  [6,17]  ist  gegen  die  doppelte 
Angabe  jtSQav  trjg  d-ald^^rig  elg  KacpaQvaov^  nichts  zu  sagen,  um 
so  mehr  gegen  die  unbestimmte  Angabe  6,  21  izl  trjg  yfjg  elg  i]v 
vTcfjyov:  warum  nicht  einfach  etiI  tijg  yijg  oder  der  Stadtname? 
Daß  vTcdyeiv  'fortgehen'  in  singulärer  Weise  gebraucht  wird  um 
den  Kurs  einer  Seefahrt  anzugeben,  will  ich  nur  nebenbei  er- 
wähnen. Da  nun  die  Localisierung  der  folgenden  Reden  lesu  in 
der  Synagoge  zu  Kapernaum  [6,59;  vgl.  Mc.  1,21]  ein  falscher 
Einschub  ist  [vgl.  S.  122],  so  werden  auch  die  ausdrücklichen  Er- 
wähnungen des  Namens  6,  17.  24  verdächtig.  Ferner  ist  die  Er- 
zählung des  Wunders  selbst  durchaus  nicht  in  Ordnung.  Man 
mag  den  Satz  6, 17  xal  s^ßdvtsg  slg  tcXoIov  tjqxovto  Ttegav  trjg  d-a- 
Xd^örig  dadurch  erträglich  machen,  daß  man  tjqx^'^'^o  als  Tempus 
der  unvollendeten  Handlung  faßt,  obgleich  diese  Deutung  durch 
die  Angabe  des  Ziels  der  Fahrt  so  gut  wie  unmöglich  wird  und 
jeder  Leser  auf  den  Gedanken  kommen  muß,  die  Fahrt  sei  schon 
beendet :  unmöglich  wird  gerade  bei  dieser  Auslegung  die  Situations- 
schilderung die  unmittelbar  folgt:  xal  öxoticc  ijörj  iysyövsi  xal  ovitco 
iXfilvd'st,  JtQog  avtovg  6  ^Irj^ovg.  Denn  wenn  '^'^;^oi/to  die  noch  an- 
dauernde Fahrt  beschreibt,  kann  dazu  die  Bestimmung  nicht  hin- 
zutreten, daß  'lesus  noch  nicht  zu  ihnen  gestoßen  war',  die  außer- 
dem eine  Verabredung  zwischen  lesus  und  den  Jüngern  voraus- 
setzt,   von   der   im   vierten  Evangelium  nichts   steht.     Nach   den 


hat  die  Form  sC  (ir]  hsivo  [ohne  sv  das  auch  bei  einem  Lateiner  fehlt]  etg  o  ivi- 
ßriaav  oi  [lad-riraL,  das  nachher  durch  roLg  yi,a^ritatg  ccvtov  aufgenommen  wird; 
ccXXä—ccTtfjXd-ov  fehlt  wie  in  der  Syr.  Cur.  Von  6,  23  an  stimmt  sie  mit  B ;  nur 
yvird  am  Anfang  von  6,23  ^j  eingeschoben. 


50^  E.  Schwartz 

Synoptikern  [Mc.  6,45.  Mt.  14,22]  läßt  lesus  die  Jünger  voraus- 
fahren; interpretiert  man  rJQxovto  xegav  Trjg  d'aXdöörjg  nach  dem 
Wortlaut  und  stellt  den  Zustandssatz  auf  die  Zeit  ein,  in  der  die 
Jünger  angekommen  sind,  so  ist  ein  richtiger  Zusammenhang  her- 
gestellt, der  dann  freilich  einen  anderen  Verlauf  des  Wunders 
fordert  als  den  der  bei  Matthaeus  und  Marcus  berichtet  wird: 
lesus  kann  die  Jünger  nicht  auf  dem  Wasser  eingeholt  haben, 
sondern  kommt  erst  über  den  stürmischen,  schon  dunkelen  See, 
als  sie  schon  am  Lande  sind.  Man  beachte  daß  der  Schluß  der 
Gescbichte  nicht  nur  sprachlich,  sondern  auch  sachlich  anstößig 
ist;  wo  bleibt  denn  lesus  selbst,  nachdem  das  Schiif  plötzlich  ans 
Land  gezaubert  ist?^)  Mit  der  Fassung  I  würde  sich  diese  Er- 
zählung des  Wunders  vereinigen  lassen.  Nach  alle  dem  neige  ich 
zu  der  Annahme  daß  derselbe  Bearbeiter  der  die  zur  Eucharistie 
umgewandelte  Speisung  der  Fünftausend  einführte,  auch  das  See- 
wunder in  einer  neuen  Form  eingesetzt  hat  und  ein  späterer  Inter- 
polator  dieses  wiederum  mit  den  Synoptikern  in  Uebereinstimmung 
zu  bringen  versuchte  [6, 19.  20  =  Mc.  6,  48—50.  Mt.  14,  25—27]. 
Das  Abenteuer  mit  der  Samariterin  hat  durch  den  Nachweis 
daß  die  Festreisen  die  vor  Cap.  7  fallen,  unecht  und  das  Ver- 
bindungsstück 4,  1—3  überarbeitet  ist,  seinen  Platz  verloren:  wo 
es  im  ursprünglichen  Evangelium  gestanden,  was  es  dort  bedeutet 
hat,  ist  um  so  schwerer  zu  sagen  als  es,  auch  abgesehen  von  der 
falschen  Einordnung,  in  seinem  eigentlichen  Bestände  nicht  unver- 
sehrt geblieben  ist.  Der  Brunnen  Jakobs ,  eine  tiefe  Cisterne 
[4,11],  wird  noch  jetzt  s.  von  Sichem  an  der  Straße  die  von 
ludaea  nach  Samarien  führt,  gezeigt :  das  scheint  sehr  vernehm- 
lich dafür  zu  sprechen,  daß  lesus  wirklich  von  ludaea  kommt  und 
nach  Norden  zu  wandert.  Es  tauchen  aber  bei  näherem  Zusehen 
allerhand  Schwierigkeiten  auf.  Was  heißt  4,  7  yvvij  ix  Tjjg  Za- 
^agiccg?  Die  Stadt  liegt  weit  ab,  nicht  nur  von  dem  Jakobs- 
brunnen sondern  auch  von  dem  Feld  bei  Sichem,  das  Jakob  seinem 
Sohne  loseph   schenkte^).     Ebenso    ungereimt   ist   es,   den  Namen 


1)  Lauteten  die  letzten  Worte  ursprünglich  a'b&eag  iyhsro  [lesus]  inl  ti)s 
yfis  f ^ff  T^v  'bnfiy Bv,  so  verschwindet  der  Anstoß  den  vnfiyov  jetzt  bereitet. 

2)  Gen.  48,  22.  los.  24, 32.  Gen.  33, 18  f.  Nach  diesen  Stellen  erklärte  Hie- 
ronymus  [quaest.  in  Gen.  66, 6]  Sychar  [4,  5]  für  eine  Corruptel  aus  Sychetn ; 
die  Syra  Sin.  setzt  denn  auch  p^Jüt  ein.  Theodor  von  Mopsuhestia  paraphrasiert 
[p.  94  Chab.]:  qjo^  . p>-^«  j-*,dä^?  )^\o  .^^^^  .viüi  i-vo^XM  .)-•;»*.?  jKWcL  jJL) 
OfVS  .o>CPO.\  .300X.  jooj  30^-j  l^-voj  Ixüt  '»-sx  =  ^p^ftat  sig  nöXiv  Tfjg  Zanagiag 
X€yo[iivriv  Zvxuq  tcXtiolov  tfjg  Timfirig  "KaXovusvrig  Zvxsfi'  xovxo  yuQ  xb  övofia  xfig 
%i»fji,r]is   r^v   idoKSv  'la%6i§    ^laaricp   xm   vim   wbxov.     Vgl.  außerdem   Eus.  onom. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  505 

vom  Lande  za  verstellen:  die  Oertlichkeit  soll  ja  in  Samarien 
liegen;  was  hat  es  dann  für  einen  Sinn  zu  sagen  'es  kam  ein  Weib 
aus  Samarien  nach  Samarien'  ?  Die  Samariterin  soll  in  der  nahen 
Stadt  Suchar^)  zu  Hause  sein;  es  fällt  auf  daß  sie  aus  der  Stadt 
zu  einer  Cisterne  an  der  Heerstraße  läuft,  während  die  Gegend 
um  Näbulus  [=  Neapolis  =  Sichem]  durchaus  nicht  quellenarm 
ist.  Offenbar  hängen  4.  5  und  4, 12  mit  einander  zusammen :  der 
Leser  soll  annehmen  daß  die  Cisterne  auf  dem  Jakobsfelde  lag. 
Es  ist  nur  übel  daß  4,  12  ro  cpgeag  und  4, 6  Ttriyrj  ^)  xov  ^Iccxcjß 
steht;  7ti]y7j  bedeutet  im  Griechischen  immer  die  natürliche  Quelle, 
im  Gegensatz  zu  xqtjvti,  dem  laufenden  Brunnen  der  Wasserleitung, 
und  zu  (pQsccQ,  dem  gegrabenen  Brunnen  oder  der  Cisterne:  wenn 
Theodor  von  Mopsuhestia  bemerkt  daß  ^rjyr]  hier  für  (pgeag  steht, 
so  beweist  das  zwar,  daß  er  gut  aufgepaßt  hat,  bringt  aber  den 
Widerspruch  nicht  weg.  Und  dieser  Widerspruch  steckt  auch  in 
der  Rede  der  Samariterin  4, 11  f,  verborgen :  es  ist  unlogisch  zu 
sagen:  'du  kannst  nicht  aus  der  Cisterne  schöpfen,  weil  du  ohne 
Zieheimer  nicht  an  das  Wasser  kommst;  woher  hast  du  das  Quell- 
wasser von  dem  du  redest?'  Aus  einer  Cisterne  ist  mit  oder  ohne 
Eimer  überhaupt  kein  Quellwasser  zu  holen.  Ich  muß  mich  damit 
begnügen  auch  diesen  Widerspruch  zu  constatieren,  es  kommen 
noch  mehr. 

Die  Samariterin  hält  lesus   für  einen  Propheten  [4, 19],   weil 


p.  150,  1  ZvxBfi  T]  Tial  ZUiiLa  ri  xal  JSccXrifi.  ndXig  'laHcoß  vvv  Bgr^io?.  SsUvwai 
ÖE  6  tonog  SV  nqoaoxBiois  [d.  h.  in  den  Gärten  vor  der  Stadt,  nicht  in  den  'Vor- 
städten'] Niag  noXscog  [der  von  Vespasian  gegründeten  Colonie  Flavia  Neapolis], 
tvd^a  xat  ö  xd(pos  dsUvvtaL  xov  'Io36r\(p.  Gen.  33,  18  f.  übersetzen  die  LXX  das 
verdorbene  QD®  ^"^"^  Oblö  lp5?^  i^l'»'!  -^cu  ril^sv  ^laiiaß  stg  ZccXr]^  TtoXiv  Ztm'fiav. 
Ich  bin  in  Versuchung  gewesen  dies  UaXrifi  mit  3,  23  iv  Alvcov  syyvg  xov  ZccXsifi 
zu  combinieren,  es  will  nur  kein  glattes  Resultat  dabei  herauskommen.  Daß  lesus 
in  Samarien  getauft  hätte,  ist  eine  undenkbare  Erfindung;  eher  ließe  sich  aus- 
tifteln  daß  ursprünglich  nicht  lesus  nach  Samarien,  sondern  die  Samariterin  zu 
lesus  nach  Galilaea  kam  [4, 7  sqxbxkl  yvvi}  i-K  xfjg  Sa^ctQCag'],  und  nicht  er, 
sondern  sie  um  einen  Trunk  bat.  Aber  diese  Fäden  sind  zu  fein  gesponnen  um 
zu  halten,  und  mit  unbewiesenen  Möglichkeiten  ist  nichts  gewonnen. 

1)  Die  Tradition  glaubt  sie  in  'Ain  'Askar  [Heerquelle]  wiederzufinden;  ob 
mit  Recht,  ist  sehr  problematisch.  Sichem,  nicht  Samaria-Sebaste,  war  der  Mittel- 
punkt der  Samaritergemeinde  [Wellhausen,  israel.  Geschichte  194] :  noch  die 
arabischen  Geographen  [Igta^ri  58.  Ihn  Xauqal  113]  wissen  zu  berichten  daß  es 
Samariter  nur  in  Näbulus  gebe. 

'2)  Das  Fehlen  des  Artikels  ist  ein  Semitismus  der  im  vierten  Evangelium 
sehr  auffällt. 


506  E.  Schwartz 

er  ihr  auf  den  Kopf  zu  sagt  was  sie  früher  getan  hat ;  das  ver- 
kündet sie  auch  in  der  Stadt,  mit  der  Vermutung,  lesus  möchte 
der  Messias  sein  [4, 29].  Dann  kann  ihr  lesus  nicht  unmittelbar 
vorher  gesagt  haben,  er  sei  der  Messias  ^) :  4,  25.  26  sind  eine  se- 
cundäre  Einlage,  die  ohne  Weiteres  entfernt  werden  kann.  Ick 
fürchte,  es  steht  mit  4, 22—24  nicht  besser.  Die  Verse  setzen 
4,21  nickt  fort,  sondern  sind  eine  Doublette  zu  ihnen,  wie  schon 
die  Wiederholung  von  sQ%ExaL  ojqo,  anzeigt;  sie  müssen  außerdem 
ganz  jung  sein:  es  ist  gerade  für  das  vierte  Evangelium  unerhört 
daß  lesus  sich  zu  den  Juden  rechnet,  die  'wußten  was  sie  anbeteten' 
[4,  22].  Das  giebt  er  sonst  nie  zu ,  und  hier  wird  ihm  dies  Lob 
der  Juden  auch  nur  in  den  Mund  gelegt,  um  den  auch  in  der 
Formulierung  rein  dogmatischen^)  Satz  anzubringen  r]  öatrjQia  ix 
tG)V  \[ov8aiG}v  66z LV. 

Uneckt  sind  ferner  alle  Stellen  an  denen  die  Jünger  vor- 
kommen. Der  Causalsatz  4,  8  et  yccQ  ^ad-rjral  ccvrov  ajtsX7]Xvd'£L6av 
etg  rriv  noXiv,  tva  rQoq)äg  äyoQdöcoGiv  begründet  nickt,  daß  lesus 
die  Samariterin  um  einen  Trunk  Wasser  bittet;  der  Uebersetzer 
der  Syra  Sin.,  mit  der  die  Syra  Cur.  übereinstimmt,  kat  es  ge-' 
sckeiter  gemacht  als  die  spintisierenden  Exegeten,  und  den  fehlenden 
Zusammenhang  durch  eine  umstellende  Paraphrase  hergestellt,  so 
daß  auf  iid  rijL  Ttrjyfji,  [4,6]  folgt:  %al  ol  ^ad-ijtal  avrov  —  ayoga- 
6(o6iv  und  dann  nachgetragen  wird  oJ^  ^^  oo»  ^o  (=  xal  öt'  ixa- 
%^bIexo  6  xvQtog),  coQu  fjv  mg  sxtr].  Eben  dieser  Nachtrag  verrät  den 
corrigierenden  Eingriff  in  die  Ueb erlief erung.  Wie  die  Jünger 
vor  dem  Gespräch  mit  der  Samariterin  weggeschafft  sind,  so 
mischen  sie  sich  auch  nicht  ein,  als  sie  wiederkommen  und  sehen 
daß  lesus  mit  ikr  sprickt  [4, 27].  Nack  4,  31  füllt  das  Grespräck 
lesu   mit   den   Jüngern   die   Zeit    aus,    welcke    die  Samariter   ge- 


1)  Chrysostomus  hat  die  Inconcinnität  bemerkt  [t.  VIII  p.  195^] :  cyioTtsi  n&g 
avver&g  Xiyu.  oi)  yäg  ilits  ^ösvts,  idsts  xhv  Xqigx6v\  ulXa  xai  avtr]  fiera  cvy- 
v,araßccas(og,  fisd"^  rjg  y.cil  6  XQiarbg  ccvrrjv  iaay^vevasv,  iTCian&tai  xovg  ävögccg . . . 
(i'q  XI  ovxog  iaxiv  6  Xg^axog;  oga  nccXiv  aocpiav  noXXrjv  yvvai-Kog.  o^xs 
&7(£(pT]vaxo  auifcbg  o^xb  iaiyriasv. 

2)  Rom.  9,  5  i^  ^v  6  Xgiaxbg  xb  xara  Gagucc.  i]  acorriQLa  bedeutet  nichts 
anderes  als  den  gekreuzigten  und  auferstandenen  Christus,  und  kommt  aus  guten 
Gründen  in  dieser  emphatischen  Bedeutung  in  den  Evangelien  nie  vor,  am  aller- 
wenigsten im  Munde  lesu.  Auch  6  6a)xi]Q  xov  ^oofiov  steht  nur  4, 42 ;  vgl.  Nachr. 
1907,  364.  üebrigens  ist  wohl  zu  bedenken,  daß  die  ältesten  Ketzer,  Simon  Magus 
und  Dositheus,  Samariter  waren :  die  Pointe  des  Gegensatzes  in  4, 22  zielt  viel- 
leicht auf  sie.    In  4,  23.  24  schwankt  die  Ueberlieferung  sehr  stark. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  507 

brauchen  um  den  Weg  von  der  Stadt  zu  lesus  zurückzulegen.  Aber 
4,  39  schließt  mit  4,  30  nicht  zusammen ;  die  Erzählung  springt 
zurück  und  erreicht  erst  4, 40  den  Anschluß.  Es  geht  nicht  an 
etwa  4, 39  zu  streichen ;  denn  4, 41  [jtoXXaL  TtXsiovg  87tC6tBv0av\ 
weist  darauf  zurück.  Nun  ist  allerdings  das  ganze  Stück  4,  39 — 42 
ein  schlechter  und  junger  Flicken ;  4,  39  wiederholt  4,  29  und  von 
4,  42  war  schon  die  Rede  [vgl.  S.  506^] :  aber  4,  30  muß  stehen 
bleiben ,  schon  wegen  der  Aufforderung  der  Samariterin  4,  29 
ÖEvts  l'dsts  ävd^QcoTtov,  og  SLJtsv  iioi  Ttccvra  a  £7tOLrj6a.  Man  er- 
wartet daß  sich  zwischen  den  Samaritern  und  Jesus  ein  Gespräch 
entspinnt,  sonst  steht  ihr  Auszug  aus  der  Stadt  in  der  Luft  ^) :  es 
kommt  aber  nicht  dazu  und  die  magere  Interpolation  4,  39—42  ist 
kein  Ersatz  dafür. 

Das  Gespräch  mit  den  Jüngern  zerfällt  in  zwei  Teile,  4,  31— 34 
und  4,35—38,  die  nicht  mit  einander  verbunden  sind.  Im  ersten 
Teil  ist  der  Anschluß  an  die  Situation  gewahrt;  der  überlieferte 
griechische  Text  bietet  an  und  für  sich  keinen  Anstoß.  Um  so 
räthselhafter  ist  die  zweite  Hälfte  des  Gesprächs;  hier  hat  die 
Uebermalung  arg  zerstört  und  die  neuen  Zusammenhänge  die  sie 
schaffen  wollte,  nur  in  sehr  unvollkommener  Weise  zu  Stande  ge- 
bracht. Man  erkennt  das  am  besten  an  dem  Schwanken  der  alt- 
kirchlichen Exegese.  Sie  ist  sich  zwar  darüber  einig  4,  38  unter 
'denen  welche  sich  gemüht  haben',  die  Propheten  und  Gerechten 
des  A.  T.  zu  verstehen  ^) ;  aber  während  Origenes  und  Chryso- 
stomus  die  welche  sich  mühen,  'mit  dem  Säenden'  4,  36  identificieren 
und  auch  bei  diesem  an  das  A.  T.  denken,  deutet  Theodor  von 
Mopsuhestia  ihn  auf  Christus,  den  'Schnitter'  auf  die  Apostel: 
daß  Christus   in  den  Aposteln  fortwirke,    sei  ein  Beweis  für  seine 


1)  Die  Syr.  Sin.  liest  4,  31  lio^A  >^o^x3i.  ^^qijJjj  w^o^o^^yM  oooj  ^x-^o,  ebenso, 
mit  nur  formalen  Abweichungen  die  Syr.  Cur.  Es  wird  also  iv  töbi  fisra^v  weg- 
gelassen und  fiEd''  71H&V  zu  (pdys  hinzugefügt.  Daß  die  Jünger  lesus  auffordern 
mit  ihnen  zu  essen,  kann  auffallen,  weil  er  das  immer  tut,  ferner  ist  iv  t&v 
lisTcc^v,  wie  Blaß  bemerkt,  im  N.  T.  eine  Singularität.  Ich  bin  in  Versuchung 
gewesen  den  syrischen  Text  für  alt  zu  halten  und  ot  (iccd-ritccL  als  Zusatz  zu 
fassen :  dann  schließt  4,  31  unmittelbar  an  4,  30  an  und  die  Samariter  bitten  um 
die  Tischgemeinschaft,  die  Jesus  höflich  abweist.  Obgleich  ich  nach  wie  vor  die 
Vermutung  für  mehr  als  discutirbar  halte,  habe  ich  sie  in  die  Anmerkung  ver- 
wiesen, weil  im  vierten  Evangelium  die  Syrer  so  frei  mit  dem  Text  umgehn ,  daß 
es  nicht  ungefährlich  ist  aus  ihren  Varianten  weittragende  Schlüsse  zu  ziehen. 

2)  Origenes  comment.  13,  325  f.,  der  außerdem  noch  in  Anlehnung  an  He- 
rakleon  die  Engel  hineinbringt;  Chrysost.  t.  VIII  p.  198».  Theodor.  Mops.  p.  104  Chab, 


508  E.  Schwartz 

Kraft  [4,  37].  M.  E.  haben  jene  Recht,  schon  darum  weil  sie  die 
Deutung  nicht  zu  verschieben  brauchen,  sonderlich  aber  wegen 
4,37.  Chrysostomus  faßt  Xoyog  =  Sprichwort  [t.  VIII  p.  198»]: 
fiB^vtirm  Ö6  xal  Xöyov  TtccQOi^iadovg  TtSQKpsQo^avov  TCccgä  TtolX&v. 
iv  yäQ  tovtcoL,  (prjöCv,  6  Xoyog  iötlv  [6]^)  äXri^Yig  ort  akXos 
e6xIv  6  6  7tBiQ(x)v  Kai  äXXog  6  d'sgC^cov.  ravra  ds  sXeyov  et 
::toXXoC,  eiTtote  ccXXot  ^hv  tovg  Ttövovg  vjtB0Tt]öav,  aXXoi  öa  tovg  xuq- 
novg  iÖQBTtovto ,  Tcal  XsysL  ön  ovxog  6  Xoyog  evtavd^a  ^dXiöxa  xriv 
aXri%^ELav  b%bl,  inovriöav  (ihv  yccQ  oC  jCQOcpfixai,  v^stg  de  xovg  xaQ- 
TCovg  xovg  ix  xav  exetvcov  Ttövov  d^äöds  ....  ijtSLÖrj  yag  e^eXXs 
kiyeiv  Ott  ccXXog  söTtetgs  xal  aXXog  ^egiisi,  Xva  fiTjxig  . ,  djtsöxsQfiöd'ai 
xovg  TtQOcprixag  vo^C^rii  xov  ^i6d^ov,  ^evov  xv  Xiysi  xal  ^agado^ov  xal 
xolg  ai6d't]X0ig  ov  öviißalvov,  dXXä  xcbv  TCvsv^axixcbv  e^aiQSXov  ov, 
SV  ^6v  yaQ  xotg  jcgay^aCu  xolg  atö&rixolg,  eäv  6v^ßi]i  bxsqov  öTCstQUL 
xal  BXEQov  ^sgCöai^  ov%  b^ov  %aCQ0v6LVy  dXXä  dXyov6iv  ol  öTCscgavxsg 
axs  ixegoig  xa^övxsg^  %aCgov6i  de  ol  d'sgi^ovxsg  ^övol'  evxav^a  de 
ovx  ovxcog,  dXXä  xal  ov  ^itj  d-egi^ovxeg  aTteg  eöTceigav,  o^OLCog  xotg 
a^cböL  xaCgov6iv'  o^ev  öfiXov  ort  xal  avxol  xoivcovovGi  xav  ^löd'av. 
Dieser  Sinn  kann  aus  dem  einfachen  äXrid-Lvog  nicht  herausgeholt 
werden,  auch  ist  ydg  dann  unmöglich.  Vor  allem  aber  gebietet 
der  feste  Sprachgebrauch  der  Briefe  und  des  Evangeliums  [vgl. 
Nachr.  1907,  365]  ev  xovtoi  mit  özl  zu  verbinden,  während  Chryso- 
stomus ort  auf  6  Xoyog  bezieht.  Theodor  versteht  unter  6  Xoyog 
die  Predigt  lesu,  den  Samen  den  er  ausstreut,  seine  Gnade  ^),  und 
das  ist  im  Wesentlichen  richtig,  so  singulär  der  Sprachgebrauch 
ist :  ich  habe  nichts  dagegen,  wenn  jemand  den  Logos  des  Prologs 
hier  wiederfindet.  Der  Logos  ist  wahr  insofern  er  zwei  Zeugen 
hat  [8, 17] ;  aber  diese  beiden  Zeugen  können  nicht  Christus  und 
die  Apostel  sein  —  deren  Zeugniß  ist  eins  — ,  sondern  die  Pro- 
pheten und  das  Evangelium  [5,  39. 46]^  die  beide  6  Xoyog  xov  ^eov 
[10,  35]  sind. 

Man  hüte  sich  davor  sich  bei  dieser  Erklärung  zu  beruhigen: 
sie  kann  dem  Text  nur  abgezwungen  werden,  und  er  ist  erst  durch 


1)  Die  Erklärung  zeigt  daß  er  icXri^rig  als  Praedikat  nahm,  der  Artikel  also 
fehlen  muß,  wie  in  kB,  Ebenso  interpretiert  Theodor  so  als  wenn  aXri^ivog 
Praedikat  wäre,  obgleich  in  seinem  Text  die  Lesung  der  Syrer  jv»jlj  )fc\»  steht, 
die  dem  uerbum  ueritatis  der  Lateiner  genau  entspricht.  Für  o  Xoyog  d  ccXri^ivös 
lassen  sich  als  älteste  Zeugen  nur  DA  anführen. 

2)  P.  104, 1  •  bsS}^  |i.i)  ^j  ,^  ^)  .  \li^  Ä^Jv-)^  )lQiä4J  ö>v^  Äj  ;*^  )jo>3 
>9rii.  K^oj-  )U—  o(iD  \iOf  =  iv  tovTcoi  yäg  xal  fj  Tr)g  jja(nro?  ScX'^d-sicc  fiaXLara 
driXoiJtaif  (in  diä  toü  oniQuatog  ov  ianBiqa,  toaavxriv  dvvcc(iiv  dedana  v^i^iv. 


Äporien  im  vierten  Evangelium  IV  509 

die  Bearbeitung  so  verdreht  und  verrenkt,  daß  der  angegebene 
Sinn  lierauskommen  soll.  Formell  ist  zunächst  anstößig  daß  der 
Numerus  4, 38  plötzlich  wechselt  oder ,  wie  mans  auch  nehmen 
kann,  daß  nicht  schon  4,  36. 37  die  Plurale  stehen,  die  wegen  des 
viiEtg  4,  38  nötig  sind.  Sodann  zwingt  die  Fassung  von  4,  38  eycD 
ccTisörsika  vy^äg  allerdings  dazu  unter  den  Angeredeten  die  'Apostel' 
zu  verstehen :  aber  was  soll  der  Aorist,  was  das  Perfectum  eiöeXri- 
Xvd-ats  bedeuten?  Die  Mission  beginnt  ja  erst  nach  der  Auf- 
erstehung, und  von  einer  Aussendung  der  Apostel  durch  lesns 
wird  im  vierten  Evangelium  nichts  berichtet;  sie  wird  hier  in  un- 
zulässiger Weise  nach  den  Synoptikern  vorausgesetzt.  Endlich 
ist  es  nach  alttestamentlichem  ^),  im  N.  T.  fortlebendem  ^)  Sprach- 
gebrauch alles  andere  als  lobenswert,  wenn  jemand  erntet,  was 
ein  anderer  gesät  hat:  das  tun  Tyrannen  und  Feinde.  Statt  die 
Worte  zu  drehen  und  zu  wenden,  wobei  man  im  besten  Falle  die 
Absicht  des  Ueberarbeiters  errät,  muß  man  auf  diese  sprachliche 
Thatsache  den  Finger  fest  drauflegen  und  schließen  daß  vyslg  ur- 
sprünglich nicht  die  Apostel  bedeutet  haben  kann,  das  ohnehin 
falsche  eye)  aTci^tsiXa  vyäg  also  ein  secundärer  Zusatz  ist.  Das 
reimt  sich  nun  aber  mit  den  übrigen  Anstößen  zusammen,  welche 
die  Erwähnung  der  Jünger  in  der  Geschichte  bereitet:  sie  müssen 
hinausgetan  werden.  Das  Motiv  von  4,  8  ist  aus  Lc.  9,  52  enttehnt. 
Mit  wem  redet  nun  aber  lesus?  Wenn  man  aus  4,30  die 
Consequenzen  zieht,  mit  den  Samaritern.  Sie  hatten  das  Gesetz 
Mose  angenommen  und  wollten  doch  keine  Juden  sein:  dafür  ist 
ccXkoL  xsxoTCLccKcc^Lv  Tcal  v^Big  alg  thv  xÖTtov  avrav  elosXriXv^ats  ein 
passender  Ausdruck.  Vom  christlichen  Standpunkt  aus  konnte  gegen 
die  samaritanischen  Urketzer  dasselbe  gesagt  werden.  Wie  dem 
aber  auch  sein  mag:  zu  dem  Zustand  der  4,38  geschildert  wird, 
bildet  4,  36  den  Gegensatz,  den  die  Ueberarbeitung  durch  die 
dogmatische  These  4,  37  vergeblich  zu  vertuschen  sich  bemüht  hat. 
Das  Normale  ist  daß  der  Schnitter  seinen  Lohn  bekommt  [lacob. 
5, 4]   und   dem   der  gesäet  hat,    d.  h.    dem  Herrn  des  Ackers,    die 


1)  'J)u  sollst  säen  und  nicht  ernten'  ist  eine  Drohung  lahvehs  für  'du  ver- 
lierst deine  Ernte  an  den  Feind'  Micha  6, 15  [vgl.  Iliob  31,8];  umgekehrt  schwört 
lahveh  les.  62,  8 :  Hch  ivill  dein  Korn  nicht  wieder  deinen  Feinden  zum  Fräße 
geben,  und  die  Fremden  sollen  deinen  Most  nicht  trinlcen,  um  den  du  dich  ge- 
müht: die  es  eingebracht  haben,  sollen  es  essen  .  ,  .  und  die  ihn  gelesen  haben, 
sollen  ihn  trinken.     Aehnlich  65,  21  f. 

2)  Mt.  25,  24  eyvcov  es  ort  eytXriQos  st  av&QOinog,  ^SQ^^av  oitov  ovv,  ^aitsiQag 
yiccl  Gvvdyoiv  0%'bv  ov  diS6v,6Q7ti6u$,    Aehnlich  in  der  Parallelstelle  Lc.  19,21. 


-510  E.  Schwartz- 

Frucht  in  die  Scheuer  bringt:  dann  freuen  sicli  Säemann  und 
Schnitter.  Das  ist  jetzt  verdreht  und  unverständlich  geworden 
durch  den  Zusatz  slg  ^corjv  alcoviov  und  dadurch  daß  dem  Bilde  von 
der  Ernte  die  Deutung  auf  die  Mission  aufgezwängt  ist,  nach  Mt. 
9,  37  =  Lc.  10,  2.  Darum  ist  r^dri  hinzugefügt,  um  die  ganz  all- 
gemeine Sentenz  zu  einer  metaphorischen  Schilderung  der  Gegen- 
wart umzuprägen;  so  wird  der  richtige  Gegensatz  zwischen  den 
allgemeinen  Singularen  4,  36  und  den  auf  bestimmte  historische 
Verhältnisse  weisenden  Pluralen  4,  38  gestört.  Auch  4,  35  muß 
fallen.  Der  Vers  bezeichnet  deutlich  die  bevorstehende  Mission, 
aber  grade  der  futurische  Sinn  der  in  dem  Bilde  von  den  schnitt- 
reifen Feldern  liegt,  reimt  sich  nicht  mit  dem  abgelohnten  Schnitter 
und  dem  Einbringen  der  Frucht;  das  geschieht  doch,  wenn  die 
Ernte  nicht  mehr  bevorsteht,  sondern  schon  vorbei  ist.  Der  Be- 
arbeiter konnte  eben  den  ihm  gegebenen  Wortlaut  von  4,  36  in 
den  Zusammenhang  nur  gewaltsam  hineinbringen,  und  hat  anderer- 
seits das  Bild  das  ihm  4,  36  an  die  Hand  gab,  nach  einer  anderen 
Richtung  gewandt.  Während  lesus  im  Voraus  weiß  daß  die 
Mission,  die  Bekehrung  zum  Glauben  an  ihn,  nahe  bevorsteht, 
ahnen  die  Jünger  davon  noch  nichts:  das  ist  der  Gedanke  der  zu 
Grunde  liegt,  aber  ungeschickt  ausgedrückt  ist ;  denn  in  Palaestina 
dauert  die  ganze  Vegetationsperiode  nur  4  Monate.  lesu  Rede 
soll  an  die  gegenwärtige  Situation  anknüpfen,  und  so  wächst  aus 
der  Metapher  von  der  Ernte  eine  jener  schlechten  und  confusen 
Zeitbestimmungen  heraus,  in  denen  die  TJeberarbeitung  des  ur- 
sprünglichen Evangeliums  am  deutlichsten  zu  Tage  tritt. 

Das  Füllstück  4,  43 — 45  hängt  mit  den  Festreisen  zusammen 
und  ist  schon  besprochen  [S.  120].  Es  folgt  das  Wunder  vom 
Sohn  des  Königischen  [4,46 — 54],  das  der  Geschichte  vom  Sohne 
des  Hauptmanns  zu  Kapernaum  bei  Matthaeus  [8,  5 — 13]  und 
Lucas  [7, 1 — 10]  entspricht.  Sie  steht  dort  unmittelbar  nach  der 
Bergpredigt  und  ist  das  erste  Wunder  in  der  Reihe  ^).  Wenn  es 
also  im  vierten  Evangelium  [4,  54]  ^)  als  das  zweite  bezeichnet  wird, 
so  ist  die  Zählung  nicht  müssige  Spielerei,  sondern  ausdrückliche 
Polemik  gegen  Lucas  oder  die  Vorlage  des  Matthaeus  und  Lucas: 
die  Zählung  ist  außerdem  alt,  da  sie  die  erste  Reise  nach  Jeru- 
salem ignoriert  [vgl.  2,  23.  3,  2.  4, 45]  und  die  Geschichte  nahe  an 
die  der  Hochzeit  von  Kana  heranrückt.     Es  ist  jedenfalls  zu  be- 


1)  Ueber  Mt.  8, 1—4  vgl.  Wellhausen,  Ev.  Matth.  35. 

2)  Ueber  die  verkehrte  Fassung  vgl.  S.  116 f.;  ursprünglich  mußte   es  ein- 
fach beiBen  iv  raliXaCui. 


Aporien  im  yierten  Evangelium  IV  511 

acliten,  wenn  auch  noch  keine  ausreichende  ^Erklärung  dafür  zu 
finden  ist,  daß  die  Tätigkeit  lesu  in  Kana  beginnen  soll  und  nicht 
in  Kapernaum,  wie  die  synoptische  Tradition,  historisch  gewiß 
richtig  berichtete :  daß  die  Erwähnungen  von  Kapernaum  in  Cap.  6 
alle  secundär  sind,  wurde  schon  oben  nachgewiesen.  Wie  bei 
Lucas,  fehlt  auch  im  vierten  Evangelium  die  antijüdische  Pointe 
die  die  Geschichte  bei  Matthaeus  erhält;  gegenüber  der  synoptischen 
Darstellung  ist  das  Wunder  vor  den  Glauben  des  'Königischen' 
geschoben.  Ungereimt  ist  daß  der  Glaube  dem  Königischen 
zweimal  kommt:  4,52.53  sind  ein  Zusatz,  wie  das  absolut  ge- 
brauchte STCLötsvösv  verrät,  das  so  steht,  als  wäre  er  mit  seinem 
Hause  [vgl.  Act.  16,  15.  31]  zum  Christentum  übergetreten:  das 
Datieren  nach  Stunden  scheint  eine  Eigentümlichkeit  des  Inter- 
polators  zu  sein  ^).  Ebenso  sind  4,  48.  49  interpoliert :  der  zweite 
Vers  wiederholt  4,  47,  was  nur  dann  aus  der  Situation  interpretiert 
werden  dürfte,  wenn  die  Wiederholung  ausdrücklich  gekennzeichnet 
wäre,  und  der  erste  enthält  eine  Abweisung  die  durch  nichts 
motiviert  ist  und  nach  der  Jesus  gar  nicht  handelt^).  Ein  solches 
grund-  und  zweckloses  Anfahren  wird  ihm  im  vierten  Evangelium 
mehr  als  einmal  zugeschrieben,  regelmäßig  so,  daß  es  den  Zu- 
sammenhang der  Eede  oder  Handlung  unterbricht,  wie  6,26  [s.  o.] 
und  7,6 — 8  [vgl.  S.  117J.     Am  ärgsten^)  geht  es  bei  der  Hochzeit 


1)  1,39  ist  die  Stundenangabe  hinter  ri]v  r]^EQav  e'aeCvtiv  geradezu  sinnlos; 
ähnlich  steht  sie  4,  6  nicht  bei  dem  Ereignis  das  die  Handlung  in  Gang  bringt, 
sondern  bei  dem  Zustand  der  sie  einleitet.  Am  ersten  läßt  sich  noch  19, 14 
verteidigen. 

2)  H.  J.  Holtzmann  merkt  mit  Kecht  an  daß  arifiSia  -nccl  rsQuta  nur  hier 
im  vierten  Evangelium  vorkommt.  Es  ist  das  alttestamentliche  D'^nS'a'^,  tl'^ni^  ; 
lesaias  [8,18.  20,3]  braucht  es  von  wirklichen  Vorzeichen  wie  es  auch  Sap.  Sal. 
8,  8  steht;  die  in  Exodus  [7,  3]  und  Deuteronomium  [4,  34.  6,  22.  7,  19.  26,  8.  29,  2] 
sehr  häufige  Beziehung  auf  die  aegyptischen  Plagen  und  das  Wunder  im  rothen 
Meer  findet  sich  meines  Wissens  zuerst  lerem.  32  [39],  20 :  Moses  wird  als  Werk- 
zeug Jahvehs  genannt  Deuter.  34,  11.  Sap.  Säl.  10,  16:  analog  Hehr.  2,4.  cnniBta 
'AUL  ttQava  als  Beglaubigung  eines  Propheten  Deuteron.  13,  2 :  nach  dieser  Stelle 
ist  Mc.  13,22  =  Mt.  24,24  gemacht,  danach  wiederum  2  Thess.  2,9.  Im  guten 
Sinne  redet  Paulus  von  den  'Zeichen  und  Wundern',  die  den  göttlichen  Beruf  des 
Apostels  erweisen  [Rom.  15,  9.  2  Kor.  12, 12],  und  mit  gleicher  Bedeutung  ver- 
wenden es  die  Apostelakten  sehr  häufig,  auch  in  der  Erzählung  [2,  43.  4,30.  5,12. 
6,8.  14,3.  15,12].  Dagegen  kommt  es  außer  der  einen  Stelle  im  vierten  Evan- 
gelium von  Wundern  lesu  nie  vor. 

3)  Die  Redensart  tt  ii^ol  nccl  aoC  [2,  4]  darf  nicht  metaphysisch  mißverstanden 
werden.  Sie  entspricht  dem  hebraeischen  ^'^  'ib  STD  mit  dem  eine  Bitte  oder 
AufiTorderung  abgewiesen  [2  Reg.  16,10  =  19,23.   4  Reg.  3,13],   eine  feindliche 


512  E.  Schwarfz 

zu  Kana  her  [2, 4.  5],  wo  auch  eine  ähnliche  Wendung  wie  7, 6 
gebraucht  wird :  hier  liegt  ebenfalls  secundärer  Einschub  vor.  Die 
Mutter  lesu  gehört  in  das  Wunder  nicht  hinein:  sie  ist  in  den 
Anfangssatz  [2, 1]  störend  eingeschaltet  ^),  und  es  ist  einfach  un- 
begreiflich, wie  sie  den  Aufwärtern  den  Befehl  geben  soll  ihrem 
Sohn  zu  gehorchen^);  ein  geladener  Grast  kann  sich  vom  Diener 
etwas  bringen  lassen,  aber  nicht  ihm  einen  Herren  setzen.  Uebrigens 
sind  die  Diakonen  ebenfalls  verdächtig.  Sie  erscheinen  nur  da 
wo  ihnen  die  Mutter  lesu  befiehlt  [2,  5],  und  in  einer  schleppenden 
Parenthese  [2, 9],  die  sie  als  Eingeweihte  charakterisiert,  fehlen 
aber  da  wo  das  Wunder  selbst  erzählt  wird:  da  steht  nur  das 
allgemeine  avtolg,  das  ebenso  gut  von  den  Grasten  selbst  verstanden 
werden  kann.  Ich  möchte  vermuthen  daß  die  Diakonen  in  dieser 
Greschichte  ein  Typus  der  christlichen  Diakonen  sind,  die  bei  der 
Eucharistie  den  Kelch  zu  reichen  pflegten  [vgl.  S.  498]:  nur  so 
vermag  ich  zu  erklären  daß  von  ihnen  mit  solchem  Nachdruck 
gesagt  wird :  'sie  wußten  woher  der  Wein  kam'.  Dann  bietet  sich 
auch  eine  Möglichkeit  2, 4  ovtcg)  i]X6i  rj  coqu  ^ov  zu  verstehen :  der 


Maßregel  für  unberechtigt  erklärt  wird  [lud.  11,12.  2  Paralip.  35,21  =  1  Esr. 
1,24]:  es  bedeutet  'laß  mich  in  Ruhe';  4  Reg.  9,18  Dlblöbn  ^b  TTü  =  'was 
Tcommst  du  mir  mit  dem  Friedensgruß ?^  Im  Aramaeischen  wirds  ebenso  gebraucht; 
die  Daemonen  bitten  lesus  sie  in  Ruhe  zu  lassen:  tC  rjiiiv  xal  coij  'Iriaov  Na^a- 
QTivi;  [Mc.  1,24.  5,7  =  Mt.  8,29  =  Lc.  8,28].  So  stammelt  in  den  Persern 
des  Timotheos  [162]  der  gefangene  Phryger  in  gebrochenem  Ionisch  iym  fioi  aoi 
Xü5?  xat  XL  7tqayiia\  das  ist  nichts  anderes  als  rC  ifiol  y.al  aot  'laß  mich  unge- 
schoren'. Durch  die  aramaeischen  Sklaven,  die  Zvqoi,  ist  die  Redensart  ins 
Vulgärgriechische  gekommen;  bei  Epiktet  ist  sie  nicht  selten  [2,19,16.  1,1,16. 
22, 15.  27, 13],  der  klassischen  Sprache  dagegen  fremd. 

1)  Blaß  [p.  XV  der  Ausgabe]  hat  den  Anstoß  vorzüglich  formuliert :  uulgata 
lectio  non  solum  mairem  lesu  ante  ipsum  facit  inuitari,  quod  utdeo  explicari 
posse,  sed  etiam  amhiguitate  quadam  laborat,  cum  rjv  het  post  iv  Kccva  rf^g 
raXiXaCag  ad  Cana  potius  refertur  quam  ad  yccfiog. 

2)  Nach  dem  recipierten  Text  [=  t<»B]  xal  vatSQ-^auvrog  oi'vov  Xiyu  7}  jU'^ttjp 
tov  ^IriGov  xrX.  lassen  sich  2,  3 — 5  nicht  glatt  ausscheiden.  Das  würde  zwar  zur 
Verteidigung  der  Interpolation  nicht  ausreichen,  es  muß  aber  angemerkt  werden, 
daß  der  absolute  Genetiv  nicht  fest  überliefert  ist.  Die  Lesung  von  K  xal  olvov 
ov-K  il%ov,  ort  GvvsxBXio^  6  olvog  tov  yd^ov,  die  auch  durch  die  Lateiner  be- 
zeugt ist  [vgl.  cod.  Corbei.  et  uinum  non  habehant,  quoniam  consummatum  est 
uinum  nuptiarum\  läßt  die  Interpolation  scharf  hervortreten,  weil  nunmehr  olvov 
üix  ^xovaiv  lästig  wiederholt  wird,  und  enthält  zugleich  das  allgemeine  Subject, 
das  mit  wbrotg  2,7.8  wieder  aufgenommen  werden  kann:  bei  dieser  Gestalt  des 
Textes  fallen  2,3—5  ohne  jede  Schwierigkeit  fort.  D  und  die  alten  syrischen 
Uebersetzungen  fehlen  leider  zu  der  Stelle. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  513 

Hinweis  anf  den  Tod  soll  andeuten  daß  das  Wunder  nur  ein  Typus 
der  den  Tod  lesu  feiernden  Eucharistie  ist. 

Die  Stellung  der  Jünger  zu  lesus  ist  im  vierten  Evangelium 
merkwürdig  unklar,  wenn  man  sie  mit  der  synoptischen,  nicht 
durchweg  geschichtlichen,  aber  durchsichtigen  und  leicht  auf  Gre- 
schichtliches  zurückzuführenden  Tradition  vergleicht.  Scharf  heben 
sich  in  ihr  die  beiden  Brüderpaare,  Petrus  mit  Andreas  und  die 
Söhne  Zebedaei  heraus;  sie  sind  die  nächsten  Genossen  lesu,  die 
gleich  am  Anfang  [Mc.  1,16—20.  Mt.  4, 18  —  22]  gewonnen  werden. 
Dazu  gesellt  sich  eine  unbestimmte  Anzahl  von  Anhängern  [^a- 
d'riraC]j  in  deren  Mitte  sich  lesus  bewegt,  denen  der  weitaus  größte 
Teil  seiner  Reden  gilt,  und  mit  denen  er  schließlich  nach  Jeru- 
salem zieht.  Daß  die  Zwölf,  d.  h.  die  Vorsteher  der  christlichen 
ürgemeinde  in  Jerusalem',  in  die  evangelische  Geschichte  nach 
rückwärts  projiciert  sind,  läßt  die  Ueberlieferung  jeden  noch  deut- 
lich erkennen,  der  nicht  mit  Willen  sich  die  Augen  zuhält:  die 
Aussendung  der  Zwölf  zur  Mission  [Mc.  3, 13—19.  6,  7—13.  Mt.  10. 
Lc.  6, 13—16.  9, 1 — 6],  zu  denen  bei  Lucas  [10, 1 — 24]  noch  die 
Siebenzig  hinzutreten,  sind  ebenso  ein  vaücinium  ex  euentu,  wie  das 
Orakel  über  das  Martyrium  der  Zebedaiden  [Mc.  10,  35—45.  Mt. 
20,  20 — 28] ;  in  dem  Bekenntnis  des  Petrus  zu  lesus  dem  Messias 
[Mc.  8,  27—30.  Mt.  16,  13—20.  Lc.  9,  18—21]  spiegelt  sich  die 
Offenbarung  des  Auferstandenen,  die  ihm  zu  Teil  geworden  war 
und  das  erste  Eundament  der  christlichen  Gemeinde  gebildet  hatte. 
Von  alle  dem  hat  das  vierte  Evangelium  nur  unordentlich  hin 
und  her  geworfene  Trümmer,  die  sich  zu  keinem  Bilde  zusammen- 
fügen. Seine  ursprüngliche  Erzählung  hat  das  Verhältnis  lesu  zu 
den  Jüngern  eigenartig  gestaltet :  in  der  Lazarusgeschichte  und 
bei  der  Verhaftung  ist  er  ihr  Führer,  dem  sie  folgen  bis  in  den 
Tod  und  der  ihnen  den  Tod  ferne  hält;  Thomas  [11,16.  14,5] 
scheint  besonders  hervorzutreten,  ferner  ludas  der  die  Kasse 
führt,  wenn  auch  die  Erzählung  von  seinem  Anteil  an  der  Ver- 
haftung verloren  ist.  Zweifelhaft  muß  bleiben  ob  die  Eeste 
eines  Gespräches  lesu  mit  den  Jüngern,  die  jetzt  in  die  Reden 
vom  Lebensbrod  eingeschaltet  sind,  zum  ursprünglichen  Bestände 
gehören^).    Die  Zwölf  sind  nur  durch  die  Ueberarbeitung  hinein- 


1)  6,  37—39».  43.  44».  45.  Der  Gedanke  liegt  zu  Grunde,  daß  die  christliche 
Gemeinde  jedem  offen  steht;  er  paßt  auffallend  gut  zu  den  eucharistischen  Ge- 
beten der  Apostellehre  [9,  3]  und  kann  also  mit  der  Umwandlung  der  Speisung 
der  Fünftausend   in   einen  Typus   der  Eucharistie  zusammenhängen.     Es  ist  nur 

Kgl.  Ges.  d.  Wlßs.    Nachrichten.  Philolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft  5.  36 


514  E.  Schwartz 

gekommen  [Naclir.  1907,  352];  ebenso  das  Bekenntnis  des  Petrus 
[6,  68.  69].  Ueberkaupt  sckrumpft  die  Rolle  die  Petrus  im  vierten 
Evangelium  spielt,  gewaltig  zusammen,  wenn  die  überarbeiteten 
Stellen  fortfallen  [13,  6.  7.  24.  14,  36-38.  18,  10.  12-27.  20, 
2 — 10;  ferner  das  letzte  Capitel]:  es  bleibt  so  gut  wie  nichts 
übrig,  und  Thomas  ist  mindestens  ebenso  wichtig  als  er.  Die 
Versuche  Andreas  zu  einer  selbständigen  Figur  zu  machen  sind 
mißglückt  und  offensichtlich  secundär,  von  dem  'anderen  ludas' 
[14,  22]  zu  schweigen  [vgl.  S.  185] ;  der  'Lieblingsjünger'  ist  eben- 
falls als  Zutat  erwiesen  [Nachr.  1907,  342  ff.].  Tn  den  eingeschal- 
teten Abschiedsreden  tritt  wohl  ab  und  zu,  meist  aus  synoptischen 
Parallelen  entlehnt,  der  Apostelberuf  der  Jünger  hervor^):  aber 
eine  ausdrückliche  ocTtoöroXrj  ist  dem  vierten  Evangelium  fremd  ^). 
Von  den  Abschiedsreden  abgesehen,  spricht  lesus  nur  ganz  selten 
mit  ihnen :  sein  Publicum  sind  im  jetzigen  Evangelium  die  jüdischen 
Gegner,  nicht  die  Jünger.  Dagegen  muß  ihr  Unverstand  öfters 
herhalten  um  einen  Weissagungsbeweis  daran  zu  explicieren  ^). 

Dies  muß  man  sich  vor  Augen  halten,  wenn  man  an  die 
Analyse  der  Jüngerwahl  im  vierten  Evangelium  herangeht.  Man 
hat  von  jeher  angenommen  daß  der  eine  von  den  beiden  lohannes- 
jüngern  die  zu  lesus  übergehn,  darum  nicht  genannt  werde,  weil 
in  ihm  der  Lieblingsjünger  stecke  und  dieser  als  Verfasser  des 
Evangeliums  im  Dunkel  bleiben  wolle.  Da  nun  aber  die  Gestalt 
des  Lieblingsjüngers  und  ihre  Identificierung  mit  dem  Apostel  und 
Evangelisten  Johannes  zwei  verschiedenen  Schichten  der  Bearbei- 
tung angehören,  so  könnte  erst  die  jüngste  Redaction  dies  Ver- 
steckspiel hineingebracht  haben:  es  ist  aber  nicht  nötig  das  Ver- 
schweigen des  Namens  in  dieser  Weise  zu  deuten*).     Denn  umge- 


merkwürdig,  daß  das  Bild  vom  Brode  nicht,  wie  in  j.^nen  Gebeten,  in  diesen  Ge- 
dankenkreis mit  hineingezogen  ist;  außerdem  wechselt  das  Publicum  6,41.  So 
yage  ich  keine  sichere  Entscheidung. 

1)  18, 16  [=  Mt.  10,  24.  Lc.  6, 40].  20  [=  Mt.  10,  40].  15,  27.  17, 18.  20.  21. 
Die  Stellen  fallen  aus  dem  Zusammenhang  der  Abschiedsreden  heraus,  am  deut- 
lichsten 17,  18.20.21,  die  dem  in  17,22.23  ausgesprochenen  Gedanken  vorgreifen: 
der  Widerspruch  liegt  darin  daß  die  ältere  Ueberarbeitung  in  15—17  Jesus  zur 
künftigen  Gemeinde  reden  ließ,  die  jüngere  die  'Apostel'  hineinbrachte  im  Gegen- 
satz zur  Gemeinde  [17,20]. 

2)  lieber  4,38  vgl.  oben. 
8)  2, 22.  12, 16. 

4)  Auch  der  'Lieblingsjünger'  hat  von  dem  der  ihn  erfand,  keinen  Namen 
erhalten,  vgl.  Nachr.  1907,  362.  Vortrefflich  bemerkt  Chrysostomus  [t.  VIÜ 
p.  107c]:   Tivog  ovv  tveyisv  xai  rb  xov  tregov  ovn    iyvwQiGsv   livo^w,   rivtg   tpaat- 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  515 

kehrt  ist  die  Art  sonderbar,  mit  welcher  derjenige  der  genannt 
wird,  Andreas,  als  Bruder  des  Simon  Petrus  eingeführt  wird 
[1,40],  ehe  dieser  in  die  Handlung  eintritt^).  Es  wird  eben  vor- 
ausgesetzt daß  jeder  Leser  weiß  wer  Petrus  ist;  diese  dem  Stil 
der  Evangelien  zuwiderlaufende  Manier  ist  immer  ein  Kennzeichen 
der  Interpolation  aus  den  Synoptikern.  Im  Folgenden  wird  ein 
leidlicher  Zusammenhang  hergestellt,  wenn  man  in  Vs.  43  ri^iXriaev 
i^sXd-eiv  slg  xriv  raXilaCav  ;cat  und  xal  Xeysi  —  axoXovdsi  fiot  als 
Zusätze  entfernt  [vgl.  S.  181^  und  Blaß  p.  XIV]:  dann  wird  An- 
dreas Subject  auch  zu  dem  zweiten  evqCöxel  [1, 43]  und  TtQcbtov 
[1,41]^),  das  jetzt  unverständlich  ist,  erhält  seine  Beziehung.  Bis 
zum  ursprünglichen  Evangelium  dringt  man  freilich  auf  diese  Weise 
nicht  vor.  Was  lesus  zu  Petrus  sagt  [1,4'2],  ist  eine  schlechte 
Copie  des  berühmten  Ausspruchs  bei  Matthaeus  [16,17.18],  die 
nicht  einmal  direct,  sondern  durch  Vermittlung  des  Hebraeerevan- 
geliums  zu  Stande  gekommen  zu  sein  scheint:  die  unselbständige 
Einlage  verrät  sich  schon  durch  das  Futurum,  das  ungeschickt  auf 


Siä  t6  avtbv  sivai  xov  ygäcfovta  xbv  'r]v,oXovQriv,6ta  [so  Theodor  von  Mopsu- 
hestia  p.  52,  20  ff.]  *  xivbs  8b  ov%  ovr©?,  äXV  ort,  i^scvog  ovxl  t&v  sitiariiiaiv  r^v. 
ovdev  ovv  nXiov  tcbv  avccynaCav  Xeysiv  ixQijv'  tC  yag  öcpsXog  in  tov  ^ad'Btv  insi- 
vov  ti)v  TtQOoriyoQLav,  STtsl  ovds  xcov  sßdo^'^yiovta  ovo  Xsyai  tu  6v6[Laxci.  Der 
in  der  antiochenischen  Rhetoren schule  gebildete  Presbyter  kennt  das  hellenische 
Stilprincip,  mit  Eigennamen  zu  sparen.  Den  Hellenen  würde  das  Gewimmel  von 
Namen  in  den  historischen  Büchern  des  A.  T.  oder  bei  den  Geschichtsschreibern 
des  Islam  arg  barbarisch  erschienen  sein. 

1)  Die  syrischen  Uebersetzer  haben  die  Inconcinnität  gefühlt  und  zu  be- 
seitigen versucht.  Die  Syr.  Sin.,  von  der  die  Syr.  Cur.  nur  unbedeutend  abweicht, 
schreibt  ^(i«%j|  oo^o  >9^^X2a.;  ^o^cl^j  joo^  o^:ojl  ,gDa«y|  ^a«; .  w.o^o«JäS.i.  >^o^  ;o  «^o 
o^  '♦»jo  liOQ-  OCH3  -o<Qu*j  >(;).\v^a\  )^»  d.  i.  v.a.1  stg  i^  insLvav  xcöv  fta-ö-TjTöv  ^loa- 
dvvov  •  ^AvÖQEccs  övo^cc  ccvxcbL '  äSsXcpbg  Zli^avog,  ovxog  6  'Avdqiag  bqai  SifKova 
xbv  aSsXcpbv  avtov  sv  £v,elv7\l  xf}i  riiiiqui  v,(u  Xsysi  avxm.  Mit  dieser  Fassung 
ist  die  umständliche  Vorstellung  des  Andreas  vermieden  und  das  vorangestellte 
ud£Xq}bg  Ztnavog  erträglicher  geworden,  weil  es  als  Apposition  in  die  Erzählung 
selbst  eingefügt  ist.  Wenn  der  gescheite  Uebersetzer  die  Apposition  adsXcpbg 
ZC^avog  ganz  gestrichen  und  das  überlieferte  ovxog  nicht  seinem  neugebüdeten 
Satze  accommodirt,  sondern  es  ebenfalls  entfernt  hätte,  wäre  eine  tadellose  Er- 
zählung herausgekommen,  aber  so  weit  wagte  der  Mann  sich  von  der  üeberlie- 
ferung  nicht  zu  entfernen. 

2)  Diese  Lesart  ist  durch  K^'B  bezeugt.  Die  Syrer  lassen  es  weg,  weü  sie 
es  nicht  verstanden;  einige  Lateiner  setzen  es  =  ngaC  mane.  D  fehlt  zu  der 
Stelle.  TCQcbxog  liest  K :  das  ist  wohl  nicht  Angleichung  an  ovxog,  sondern  eine 
Aenderung,  die  dem  Petrus  findenden  Andreas  lesus  der  Philippus  findet,  entgegen- 
stellt. Die  künstliche  Erklärung  die  ich  früher  [Abhandl.  YII  5,  48]  von  TtQ&tog 
gegeben  habe,  stammt  noch  aus  der  Zeit  in  der  ich  an  die  Einheit  und  Ursprüng- 
lichkeit des  vierten  Evangeliums  glaubte. 

36* 


516  E.  Schwartz 

jenen  Ausspruch  hinweist,  und  die  arge  Verschiebung  die  den 
Grund  weshalb  lesus  Petrus  den  Felsen  nennt,  das  Bekenntnis 
zum  Messias^),  gar  nicht  Petrus  selbst,  sondern  Andreas  zuweist: 
wie  entwertet  ist  dies  erste  Bekenntnis  zu  Christus  im  Vergleich 
zu  den  Synoptikern!  Philippus  kommt  eben  so  schlecht  weg  wie 
der  Apostelfürst:  auch  wer  den  überlieferten  Zusammenhang  von 
1,43  für  richtig  hält,  muß  sich  wundern  wie  rasch  und  mager 
er  abgespeist  wird.  Am  breitesten  und  eigentümlichsten  ist  die 
G-eschichte  Nathanaels  erzählt,  den  nur  das  vierte  Evangelium 
kennt ;  obgleich  er  durch  diese  Einführung  besonders  ausgezeichnet 
wird,  tritt  er  später  nicht  wieder  auf;  denn  21,  2  zählt  nicht. 
Sein  Bekenntnis  wird  dadurch  bewirkt,  daß  lesus  ihm  eine  Tat- 
sache mitteilt,  die  er  auf  natürlichem  Wege  nicht  erfahren  haben 
konnte:  er  hat  Nathanael  unter  dem  Feigenbaum  sitzen  sehn,  als 
Philippus  ihn  herzurief,  und  sagt  ihm  dies,  ehe  Philippus  es  ihm 
melden  konnte  ^).  Daran  erkennt  Nathanael  den  'König  Israels', 
d.  h.  den  Messias  und  bestätigt  damit  das  Lob  das  lesus  ihm  beim 
ersten  Sehen  zu  Teil  werden  läßt:  er  ist  ein  Israelit  ohne  Falsch, 
der  sich  nicht  sträubt  seinen  König  anzuerkennen.  Das  Gegen- 
stück zu  diesem  echten  Israeliten  ist  die  Samariterin,  die  lesus 
als  Propheten  begrüßt  [4, 19],  nachdem  er  ihr  gesagt  hat  wie  viel 
Männer  sie  gehabt  hat  und  daß  sie  jetzt  eine  Concubine  ist.  Diese 
scharf  und  praecis  concipierten  Geschichten  von  den  aQstaC  lesu 
werden  nur  verdorben,  wenn  sie  allegorisiert  werden:  grade  weil 
sie  von  den  Wundern  der  synoptischen  Tradition  so  völlig  ab- 
weichen, so  frisch  drauf  los  fabulieren,  sind  sie  für  den  Dichter 
des  echten  vierten  Evangeliums  charakteristisch.  Er  war  nicht, 
wie  jetzt  behauptet  wird,  ein  schlechter  Erzähler,  sondern  ein 
aQataXoyog  allerbester  Art ;  daß  die  Bearbeiter  von  dem  Geschichten- 
kranz, den  er  kunstvoll  geflochten,  nur  kümmerliche,  zerfetzte 
Reste  übrig  gelassen  haben,  ist  nicht  seine  Schuld.  Philippus  sitzt 
in  der  Geschichte  unlöslich  fest;  er  wird  damit  als  eine  Figur 
des    echten  Evangeliums   erwiesen,    womit   natürlich  nicht  gesagt 


1)  Das  aramaeische  Wort  (isaaiag  für  xQf-^^og  ist  in  der  altchristlichen 
Litteratur  verpönt :  es  kommt  im  ganzen  N.  T.  nur  hier  und  4,  25,  einer  sicher 
jungen  Stelle,  vor.  Vielleicht  geht  es  hier,  ebenso  wie  Kricp&s  für  nirgog  [Mt. 
16, 18],  auf  das  Hebraeerevangelium  zurück. 

2)  Vorzüglich  erklärt  Chrysostomus  [t.  VIII  p.  1 18»]  sC  fisv  yag  stns  ii6vov 
^ngb  tov  ^CXinnov  iXdsiv  ngbs  gb  sldöv  ae,  xav  vTtoaTttEvd^  mg  aixhg  cti)thv 
&neataXy,0Dg  nal  oidsv  fiBycc  Xiya>v  •  vvv  d\  rwt  xov  x6nov  sinsCv^  v.ad''  ov  diitgißs 
qxovovfisvog  nagu  tov  ^iXinnov,  xal  rov  divdgov  ti]v  ngoariyogCav  xal  xfig  Sia^ 
X(^S(os  TOV  -naiQdVf  Scvaii^iGßrjtTiTOv  xriv  ngoggriaiv  ^dsi^ev  ovaav. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IT  517 

ist,  daß  alles  was  von  ihm  bericMet  wird,  echt  wäre;  am  aller- 
wenigsten können  die  mageren  und  confusen  Verse  1,  43.  44,  durch 
die  Philip pus  Bekenntnis  [1,  46]  nicht  motiviert  wird,  die  anschau- 
lich dargestellte  Greschichte  einleiten.  So  bleibt  nur  diese  für  das 
echte  Evangelium  übrig:  1,  40 — 44  sind  secundär  und  niemand  kann 
erraten,  was  und  wie  viel  sie  verdrängt  haben.  Nur  ist  wohl  zu 
beachten  daß  das  Bild  Nathanaels ,  der  ruhig  unter  dem  Feigen- 
baume sitzt,  d.  h.  das  friedliche  Leben  genießt,  wie  der  alttesta- 
mentliche  Jude  es  sich  wünscht  und  von  dem  messianischen  Zeit- 
alter erhofft,  und  nun  plötzlich  aus  dieser  Behäbigkeit  hinweg^) 
zum  Jünger  berufen  wird,  in  raffiniertem  Gregensatz  zu  dem  synop- 
tischen Bilde  von  den  Fischern  erfunden  ist,  die  Jesus  von  ihren 
Netzen  wegruft :  es  ist  nicht  grade  wahrscheinlich  daß  der  Dichter 
des  vierten  Evangeliums  eine  schlechte  Copie  der  synoptischen 
Berufung  von  Petrus  und  Andreas  neben  seine  eigene  Erfindung 
setzte.  Dagegen  ist  der  Schluß  [1,  50.  51]  der  Geschichte  höchst 
wahrscheinlich  ein  Zusatz  der  eine  Anspielung  auf  den  Anhang 
der  Yersuchungsgeschichte  bei  den  Synoptikern  enthält  [Mc.  1,  13. 
Mt.  4, 11] :  wozu  kündigt  Jesus  diese  Angelophanie  an,  wenn  gar 
nichts  daraus  wird? 

Nach  dem  jetzigen  Text  sind  die  ersten  beiden  Jünger  lesu  von 
Johannes  zu  ihm  übergegangen;  vielleicht  hat  Lc.  7, 18  eingewirkt. 
Die  Frage  ob  dieser  sonderbare  Zug  dem  ursprünglichen  Evangelium 
angehört,  läßt  sich  von  der  anderen,  weiter  reichenden  nicht 
trennen,  wie  im  vierten  Evangelium  und  seinen  Bearbeitungen  das 
Verhältniß  lesu  zu  seinem  Vorgänger  aufgefaßt  ist.  In  der  syn- 
optischen Ueb  erlief  er  ung  sind  noch  deutliche  Spuren  davon  vor- 
handen, daß  die  christliche  Urgemeinde  eine  Concurrentin  der 
älteren  Secte  der  lohannesjünger  gewesen  ist,  von  der  sie  so 
wichtige  Dinge  wie  das  Gremeindegebet  [Lc.  11,1.  5,33]  und  das 
Wochenfasten  [Mc.  2,  18ff.  Mt.  9,  14ff.  Lc.  5,  33ff.]  entlehnte, 
selbstverständlich  erst  nach  dem  Tode  lesu,  da  er  zu  seinen  Leb- 
zeiten keine  Gremeinde  gestiftet  hat.  Daß  lesus  selbst  die  lohannes- 
taufe  empfangen  hat,  darf  schon  darum  nicht  bezweifelt  werden, 
weil  es  den  Christen  bald  sehr  anstößig  wurde,  daß  ihr  Christus 
sich    der    Taufe    zur    Vergebung    der   Sünden    unterzogen    haben 


1)  Vgl.  3  Reg.  5,  5.  Micha  4, 4.  Zacharias  [3, 10]  schüdert  die  messianische 
Zeit  mit  den  Worten:  jenes  Tages,  sagt  Jahveh  Zehaoth,  ladet  ihr  einander  ein 
unter  Weinstoch  und  Feigenbaum:  es  sieht  fast  so  aus,  als  protestiere  das  vierte 
Evangelium  gegen  diese  Prophezeihung,  wenn  es  Nathanael  unter  dem  Feigen- 
baum wegrufen  läßt,    i^^p  heißt  rufen  und  einladen. 


518  '  E.  Schwartz 

sollte  ^).  Aber  er  taufte  nie ;  die  christliche  Taufe  ist  erst  durch 
eine  Combination  der  lohannestaufe  mit  der  Proselytentaufe  ent- 
standen ^).  Um  dieser  Entlehnungen  willen  und  weil  die  That- 
sache  daß  lesus  dem  Ruf  des  Johannes  zur  Taufe  gefolgt  war, 
sich  nicht  fortbringen  ließ,  ist  sehr  früh  Johannes  Verkündigung 
daß  der  Messias  vor  der  Türe  stehe,  zu  einer  Weissagung  umge- 
deutet, die  auf  lesus  zielte:  der  Täufer  selbst  hatte  den  von  den 
Juden  erwarteten  Messias,  der  das  Grericht  bringt,  im  Sinne  gehabt. 
Freilich  sind  die  Spuren  des  Ursprünglichen  nicht  ganz  verwischt  ^) ; 
auch  ist  wohl  zu  beachten  daß  die  Stelle  von  dem  'Prediger  in 
der  Wüste'  bei  den  Synoptikern  außerhalb  der  Erzählung  steht*). 
Die  zweifelnde  Anfrage  des  Täufers,  ob  lesus  'der  sei  der  da 
kommen  solle'  [Mt.  11, 3.  Lc.  7, 19],  paßt  schlecht  zu  der  Rolle 
eines  prophetischen  Zeugen  für  lesus  den  Messias,  und  dieser  Ver- 
such ihn  mit  lesus  zusammenzubringen  schließt  streng  genommen 
die  Umdentung  seiner  Predigt  aus.  Es  mangelt  also  in  der  synop- 
tischen Ueberlieferung  nicht  an  Widersprüchen,  aber  es  sind  Wider- 
sprüche die  nicht  gegen,  sondern  für  die  Ueberlieferung  zeugen, 
weil  sie  aus  der  lebendigen  Entwicklung  herausgewachsen  und  re- 
flectirender  Kritik  oder  überlegter  Darstellungskunst  nicht  zum 
Opfer  gefallen  sind.  Mit  den  Incongruenzen  und  Inconcinnitäten 
des  vierten  Evangeliums  steht  es  anders:  sie  sind  nicht  Flecken 
und  Male  einer  Tradition,  die  mit  dieser  weiter  gegeben  werden, 
und  haften  nicht  am  Object,  sondern  an  dem  schriftstellernden 
Subject,  lösen  sich  auch  nicht  durch  historische  Betrachtung  des 
Geschehenen  auf,  sondern  führen  in  die  Gregensätze  hinein,  die 
sich  in  der  den  Anfängen  schon  femstehenden  Reflexion  und  Spe- 
culation  über  lesus  herausbildeten.  Die  Behauptung  daß  Jesus 
selbst  getauft  habe  [3,  22],  ist  eine  so  kühne  Negation  der  Ueber- 
lieferung,    daß    die    Ueberarbeitung    versucht    hat   sie   hinauszu- 


1)  Vgl.  Mt.  3, 14  ff.  Hebraeerevangel.  3.  Wellhausen,  Ev.  Mt.  7. 

2)  Der  Gedanke  daß  durch  die  Taufe  die  vor  ihr  begangenen  Sünden  ab- 
gewaschen werden,  entstammt  der  lohannestaufe;  dagegen  ist  der  altchristliche 
Name  der  Taufe,  qxotLafiög,  der  ursprünglich  den  Katechumenenunterricht  be- 
zeichnet haben  wird,  jüdischen  Ursprungs;  vgl.  lustin.  dial.  122  p,  351»  (die 
Juden  reden)  ot)  ytgbg  xhv  vofiov  XsyeL  %ccl  rovg  (pari^oiievovg  vtc*  a-öroiJ;  ovxoi  Sb 
daiv  OL  TtQoariXvtoi.  Zu  Grunde  liegt  les.  49, 6,  wo  Israel  die  Heidenmission 
zugewiesen  wird. 

3)  Mt.  3, 11.  12  =  Lc.  3, 16. 17.  Wellhausen,  Ev.  Mt.  6. 

4)  Mc.  1, 1.2  scheint  gradezu  ein  alter  Zusatz  zu  sein;  Mt.  3,3.  Lc.  3,4 — 6 
sind  auch  der  Form  nach  eine  Anmerkung  zum  Text.  Bekanntlich  ist  die  lesaias- 
Btelle  abgeändert,  damit  %vqCov  [=  rilST^]  auf  lesus  bezogen  werden  kann. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  519 

corrigieren  ^) :  beides  spricht  vernehmlich  dafür  daß  hier  ein  Rest 
des  ursprünglichen  Evangeliums  vorliegt,  das  die  Tradition  mit 
dichterischer  Freiheit  umgestaltete.  An  Stelle  der  schüchternen 
Versuche  der  Synoptiker  die  Zwölf,  das  Vorstehercollegium  der 
'Urgemeinde,  in  die  Zeit  lesu  zurückzuprojicieren ,  ist  hier  mit 
radikaler  Vergewaltigung  der  TJeb erlief erung  die  Erfindung  ge- 
treten, daß  lesus  selbst  bei  Lebzeiten  die  christliche  Gremeinde 
gestiftet  hat:  nur  das  kann  der  Sinn  der  von  ihm  selbst  voll- 
zogenen Taufe  sein.  Es  harmoniert  gut  dazu,  daß  diese  Gemeinde 
auch  schon  eine  Kasse  hat  [12, 5.  13, 29 ;  vgl.  oben  S.  178].  Im 
jetzigen  Evangelium  werden  der  taufende  lesus  und  der  taufende 
Johannes  als  Concurrenten  dargestellt,  und  man  sollte  erwarten 
daß  ein  Poet  der  davor  nicht  zurückschreckte  lesus  die  Taufe 
seiner  Gemeinde  zu  vindicieren,  diese  Concurrenz  mit  kräftigen 
Strichen  zeichnen  würde:  aber  die  Erwartung  täuscht,  wie  ge- 
wöhnlich im  vierten  Evangelium,  und  die  Erzählung  stolpert  un- 
klar und  verworren  voran,  um  bald  im  Sande  zu  verrinnen;  denn 
die  christliche  Predigt  in  die  jetzt  alles  ausläuft  [3,31—36],  ist 
kein  echter  Schluß  einer  Erzählung  [vgl.  oben  S.  152].  Diese 
selbst  zerfällt  in  zwei  Teile,  die  schlecht  mit  einander  verbunden 
sind.  Der  zweite  [3,  26 — 30]  umfaßt  ein  Gespräch  der  Johannes- 
jünger  mit  ihrem  Meister,  das  in  sich  zusammenhängt  und  richtig 
fortschreitet;  Johannes  gesteht  seine  Inferiorität  offen  ein.  Da 
3,29  das  synoptische  Wort  Jesu  Mc.  2,19.  Mt.  9,15.  Lc.  5,34 
benutzt  ist,  darf  man  schließen  daß  die  dortige  Rede  Jesu  über 
die  Johannes] ünger  zu  einem  Gespräch  des  Johannes  mit  seinen 
Jüngern  über  Jesus  umgebildet  ist :  3,  29  taucht  eine  typische 
Wendung  der  Johannesbriefe  auf  [vgl.  Nachr.  1907,  364].  Zu  dem 
Gespräch  selbst  paßt  nun  aber  der  einleitende  Vers  nicht  [3,  25] : 
eyivExo  ovv  ^YJrrjöLg  sk  xg)v  ftaO'T^röv  ^Icodvvov  ^stä  ^lovöccCov  TtsQl 
xad-aQia^ov.    Der  Jude  tritt  überhaupt  nicht  mehr  auf  ^),   und  von 


1)  4,2;  vgl.  S.  119.  Es  ist  auch  absichtliche  Correctur,  wenn  die  Syr.  Sin. 
3,22  dLSTQißsv  Mal  distQißsv  ^et   avtmv  übersetzt;  damit  wird  4,2  vorbereitet. 

2)  Die  antiken  Correcturen  suchen  die  Numeri  auszugleichen,  indem  ent- 
weder 'lovdcciov  in  'lovdaioov  verwandelt  [K  Syr,  Cur.]  oder  sv,  rä>v  (iccd-riratv 
'ladvvov  mit  ^iA*ci*j  ^C5jo»*icJ^JL  ^  »^A  =  <svl>  ix  tcöv  fta-O'rjrcov  'latccvvov  [Syr. 
Sin.  Pesch.]  übersetzt  wird.  Das  bringt  den  eigentlichen  Anstoß  nicht  fort ;  aber 
auch  die  moderne,  von  großen  Philologen  vorgeschlagene  Vermutung  ^lovSaiov  in 
'Iriaov  zu  ändern  hilft  der  Stelle  nicht  auf:  warum  wird  von  dem  Gespräch  nichts 
berichtet?  Es  bleibt  nach  wie  vor  dabei,  daß  die  Kede  der  lohannesjünger  nur 
den  Erfolg  Jesu  bei  dem  Volk,  aber  nicht  die  Disputation  mit  den  lohannes- 
jüngern  zur  Voraussetzung  hat. 


520  ^-  Schwartz 

der  Reinigung  ist  weiter  keine  Rede.  Außerdem  widerspricht  die 
Angabe  der  lohannesjünger  daß  alle^)  jetzt  zu  lesus  giengen 
und  sich  von  ihm  taufen  ließen,  der  Schilderung  von  Johannes 
Tätigkeit  am  Anfang  des  Abschnitts  [3, 23]  xal  TcaQsyLvovvo  xal 
ißaTttC^ovro:  mit  Recht  hebt  Bretschneider  [Probabilia  47]  hervor, 
daß  der  Johannes  der  3,21 — 30  spricht,  mit  dem  Taufen  aufhören 
mußte,  sobald  lesus  selbst  angefangen  hatte  zu  taufen.  Somit  ist 
das  Gespräch  3,  26 — 30  ein  Zusatz  des  Bearbeiters,  der  die  echte 
Fortsetzung  von  3,  25  verdrängt  hat.  Es  ist  aber  überhaupt  sehr 
die  Frage  ob  auch  in  dem  ersten  Teil  des  Abschnitts  der  Täufer 
Johannes  ursprünglich  ist.  Nach  den  Synoptikern  trat  Jesus  erst 
öffentlich  auf,  als  Johannes  in  den  ICerkern  des  galilaeischen  Te- 
trarchen  Antipas  verschwunden  war  [Mc.  1, 14.  Mt.  4, 12],  und  der 
ausdrückliche  Protest  des  vierten  Evangeliums  [3,  24]  gegen  diese 
Ueberlieferung  dürfte  demselben  Jnterpolator  angehören,  der  auch 
die  übrige  Chronologie  zu  verantworten  hat:  daß  die  Erzählung 
der  Synoptiker  von  der  Verhaftung  des  Johannes  ohne  Weiteres 
vorausgesetzt  wird,  ist  ein  schwerer  Verstoß  gegen  die  Autonomie 
des  Evangeliums  und  schon  darum  verdächtig.  An  das  Taufen 
Jesu  schloß  sich  im  ursprünglichen  Evangelium  eine  Disputation 
zwischen  ihm  oder  seinen  Jüngern  und  einem  Juden  über  'Reini- 
gung' :  nicht  in  ^lovdaiov  [3, 25] ,  sondern  in  'Icsccwov  steckt  der 
Fehler,  und  die  Ortsangabe^)  die  wir  nicht  besser  identificieren 
können  als  einst  Euseb  [vgl.  S.  119],  bezieht  sich  auf  das  Taufen 
Jesu,  nicht  das  des  Johannes.     JJeber  3,  22  vgl.  S.  119. 

Nach  10,40  taufte  Johannes  am  ö.  Ufer  des  Jordans,  in  der 
Peraea  ^j.  Das  hängt  mit  der  Flucht  Jesu  zusammen ,  welche 
zwischen  der  ersten  und  zweiten  Reise  des  ursprünglichen  Evan- 
geliums liegt  und  von  der  er  nach  Judaea  zurückkehrt:  Bethanien 
lag  an  der  Straße  die  von  Jericho  herkam,  und  auch  nach  der 
synoptischen  Tradition  passierte  Jesus  auf  der  letzten  Reise  nach 


1)  Daher  setzt  die  Syr.  Sin.  3,26  für  ndcvxsg  ein  noXXot. 

2)  Der  Causalsatz  otl  vdarcc  noXXa  tjv  i%sC  ist  sonderbar.  Er  soll  jetzt 
wohl  motivieren,  daß  Johannes  nicht  mehr  [vgl.  10,40]  im  Jordan  tauft,  leistet 
aber  nicht  was  er  soll,  denn  so  tief  waren  die  Quellen  doch  nicht,  um  wie  im 
Jordan,  darin  unterzutauchen.  Sollte  das  Sätzchen  ursprünglich  nur  Alvmv  = 
IjW^'P  erklären  oder  ist  es  aus  dem  Namen  erschlossen? 

3)  Durch  den  Zusatz  tb  nQ&rov  ist  die  Stelle  mit  8,  23  verklammert,  aber 
das  Folgende  zeigt  daß  es  sich  um  den  einen  und  bestimmten  Schauplatz  von 
lohannes  Tätigkeit  handelt,  und  der  war  am  unteren  Jordan. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV.  621 

Jerusalem  die  Peraea^).  Weil  nun  lesus  von  dem  'Ort  in  der 
Peraea,  wo  Johannes  taufte',  nach  Bethanien  reiste  [11,  1.  18],  hat 
ein  Interpolator,  der  von  der  Geographie  Palaestinas  auch  nicht 
die  geringste  Vorstellung  hatte  und  11,  7  ayco^sv  etg  rr)v  ^lovdaCav 
verkehrt  mit  Mc.  10, 1.  Mt.  19, 1  combinierte,  wo  die  Peraea  zu 
ludaea  gerechnet  wird,  die  sinnlose  Ortsbezeichnung  1,28  erdacht: 
tavxa  SV  Br^d^aviuL  iysvsto  jtegav  tov  'logddvov  otcov  rjv  6  ^ladvvrjg 
ßaztiicov,  die  man  weder  mit  Origenes  und  der  Syra  Sin.  durch 
die  Conjectur  BriQ^aßagcc-)  noch  durch  die  Erfindung  eines  homo- 
nymen Bethanien,  die  Origenes  unmöglich  macht  ^),  beseitigen  soll. 
Die  Erzählung  fährt  10,  41  fort :  viele  kamen  zu  Jesus  und 
sagten  ort  ^Icodvvrig  iisv  ör^^etov  STCOLrjösv  ovdav,  Ttävta  ös  o(?a  sijtev 
'lcodvvi]g  TtSQl  Toi'Tov,  dXrid^T]  rjv.  In  dieser  Fassung  ist  der  Gregen- 
satz  schief.  Er  konnte  lauten  daß  Johannes  zwar  kein  Zeichen 
getan,  aber  richtig  von  Jesus  prophezeit  hätte:  dann  mußte  ^isv 
bei  öYi^elov  stehen,  und  der  Name  des  Johannes  durfte  nicht  wieder- 
holt werden.  Und  was  soU  denn  all  das  sein,  das  Johannes  über 
Jesus  gesagt  hatte?  Etwa  3,27 — 36?  Wenn  die  Leute  in  der 
Peraea  das  sofort  begriffen,  müßten  sie  von  einer  singulären 
Grlaubenskraft  gewesen  sein.  Nach  dem  Wortlaut  erwartet  man 
vielmehr,  daß  dem  ^Icodvvrig  ^ev  im  ersten  Gliede  im  zweiten  ein 
6v  de  entspricht:  'Johannes  hatte  keine  Wunderkraft,  wohl  aber 
du',  oder  wie  immer  man  das  formulieren  will.  Weitere  Ver- 
mutungen über  das  was  einst  dagestanden  hat,  sind  unzulässig; 
nur  das  darf  man  ahnen  daß  in  der  ursprünglichen  Fassung  das 
im  ersten  Glied  enthaltene  ungünstige  Urteil  über  Johannes  durch 
das  zweite  nicht  wie  jetzt  abgeschwächt,  sondern  verstärkt  war. 
Es  fehlt  nicht  an  Spuren  die  in  die  gleiche  Richtung  weisen.  5,  32  f. 
macht  Jesus  zunächst  von  dem  'Zeugnis'  des  Johannes  ein  großes 
Wesen*),  dann  folgen  aber  merkwürdige  Worte  [5,35]:  exslvog  rjv 

1)  Mc.  10,1.46.  Mt.  19,1.  20,29.  Lc.  9,52.  17,11  stehen  zu  18,35.  19,1 
im  "Widerspruch,  vgl.  Wellhausen,  Ev.  Lc.  46. 

2)  Origenes  [comm.  in  loh.  6, 204]  bezeugt  daß  Brid-avCai  in  so  gut  wie  allen 
Hss.  stehe,  auch  schon  von  Herakleon  gelesen  sei.  Ob  er  selbst  Brid-aßccga  con- 
jiciert  oder  es  in  einer  Hs.  schon  gefunden  hat,  wofür  G%s8bv  iv  tc&gi  roig 
ccvTLyQdtpoig  spricht,  sagt  er  nicht;  keinenfalls  stammt  die  Lesung  j'Qv  J^*:^  in 
der  Syr.  Sin.  aus  ihm,  sondern  beide  sind  unabhängig  von  einander  der  Tradition 
gefolgt,  die  lohannes,  wie  es  nahe  lag,  an  einer  Furt  des  unteren  Jordan  locali- 
sirte  [Orig.  205] :  dsiKwod-ai  8s  Xayovai  Ttaga  TfJL  öx^rii  tov  ^loQÖdvov  xk  Bt]- 
d-aßuQcc,  evd-cc  iötoqovglv  xbv  'ladvvriv  ßsßccjtTL-nevaL. 

3)  A.  a.  0.  dn'  ovös  ofimvvfiog  tfji  Bri%-avCai  xditog  iaxlv  nsgl  xbv  'logddvriv. 

4)  Die  lahme  Correktur  5,34  gehört  in  die  Kategorie  der  Stellen  die  ich 
S.  167  behandelt  habe. 


522  E.  Schwartz 

6  Xvxvog  6  xttiö^svog  xal  (paivav,  vfistg  dl  rid-slrl^ats  ayalXiad-rjvm 
jCQog  cjQccv  iv  rat  (pcozl  avtov.  Auch  hier  ist  der  Gegensatz  schief: 
niemand  will  nur  'zeitweilig'  an  einer  Sache  stolze  Freude  emp- 
finden, und  daß  ein  Licht  brennt  und  leuchtet,  versteht  sich  von 
selbst.  Dagegen  kommt  ein  passender  Sinn  sofort  heraus,  wenn 
man  jtQog  coQav  ins  erste  Glied  stellt:  'ihr  habt  euch  an  lohannes 
gefreut,  obgleich  sein  Licht  nur  für  eine  Weile  leuchtete'.  Das 
'Verlöschen  des  Lichts'  ist  ein  nicht  seltenes  alttestamentliches 
Bild  für  den  Untergang,  und  Philo  stellt  mit  jüdischer,  nicht 
griechischer  Metapher  den  Leuchter  der  Sonne  entgegen  [qu.  rer. 
diuin.  her.  s.  89] :  tov  yccQ  ^v%^g  o^^arog  ßgaivtatri  ^otga  ol 
xatä  tb  öcj^a  otp^aliioC'  xo  ^sv  yaQ  soLxev  riXCai^  kvxvovxoig  da 
ovtoi  ^sXercjöLv  s^aTtTsöd^ai  ts  xal  ößsvvvöd^at.  Der  Sinn  ist  deut- 
lich: 'lohannes  ist  verloschen  wie  ein  Licht;  er  war  nicht  der 
wahre  Prophet,  das  bin  ich'.  Damit  ist  die  Position  welche  die 
synoptische  TJeberlieferung  gegenüber  dem  Täufer  einnimmt, 
wesentlich  verschoben :  ist  er  dort  aus  dem  Prediger  des  jüdischen 
Messias  zu  einem  Vorläufer  des  wahren  Messias  oder  zu  einem 
geworden,  der  mehr  ist  als  ein  Prophet,  so  wird  er  hier  aus- 
drücklich ausgeschaltet;  der  Stolz  der  Juden  auf  ihn  hat  sich  als 
eitel  erwiesen.  Es  ist  nicht  nötig  und  nicht  richtig,  hinter  dieser 
veränderten  Auffassung  Polemik  gegen  die  lohannesjünger  zu 
wittern,  die  grade  an  den  entscheidenden  Stellen  des  vierten 
Evangeliums  nicht  vorkommen  und  3,  25,  wie  schon  gesagt,  ver- 
dächtig sind.  Das  Andenken  des  Täufers  lebte  auch  in  der  rein 
jüdischen  Ueberlieferung  fort,  die  eine  schwere  Niederlage  des 
Herodes  Antipas  zur  Strafe  für  seine  Hinrichtung  stempelte 
{loseph.  AI  18, 116 ff.],  und  die  scharfen  Urteile  des  vierten  Evan- 
geliums könnten  an  und  für  sich  ebenso  gut  gegen  die  Hoch- 
schätzung des  Täufers  bei  den  Juden  ^)  wie  gegen  die  lohannes- 
jünger gerichtet  sein.  Tatsächlich  streitet  es  gegen  die  christliche 
Tradition,  die  sich  in  den  Synoptikern  niedergeschlagen  und  Jo- 
hannes Auftreten  an  die  Spitze  des  Evangeliums  gestellt  hatte; 
diese  Verknüpfung  wollte  das  vierte  Evangelium  als  lesu  nicht 
würdig  lösen,  wie  es  ihm  ja  auch  die  Taufe  vindiciert  hatte.  Die 
Unebenheiten  und  Störungen  die  es  verhindern  diese  Polemik  deutlich 
zu  erkennen,  sind  nachträgliche  Correcturen  die  den  Widerspruch 
gegen  die  Synoptiker  abschwächen  sollen:  auch  diesmal  hat  die 
originale  Umdichtung  des  vierten  Evangeliums  sich  gegen  die  Wucht 
der  Ueberlieferung  nicht  durchsetzen  können. 


1)  So  schon  Chrys.  t.  VIII  p.  73». 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  523 

Wer  die  Erfindung  wagte,  daß  lesus  selbst  taufte,  und  dem 
entsprechend  den  Täufer  Johannes  als  eine  ephemere  Erscheinung 
hinstellte,  der  das  Ansehn  nicht  verdiente,  dessen  er  sich  bei  den 
Juden  erfreute,  der  kann  für  das  Problem  das  die  überlieferte 
Taufe  Jesu  durch  Johannes  der  ältesten  Christenheit  aufgab,  nur 
die  radikale  Lösung  gefunden  haben,  daß  er  diese  Taufe  strich. 
Zwar  scheint  sie  im  jetzigen  Text  vorhanden  zu  sein.  Die  Er- 
zählung 1, 19 — 34  ist  dem  Anschein  nach  in  drei  Abschnitte  zer- 
legt: das  Grespräch  des  lohannes  mit  den  Priestern  und  Leviten 
[19—23],  dessen  Fortsetzung  mit  den  Pharisacern  [24 — 28],  und 
die  Taufe  am  Tage  danach  [29 — 34] ;  sie  entsprechen  dem  lesaias- 
citat,  das  bei  den  Synoptikern  [Mc.  1, 2.  Mt.  3, 3.  Lc.  3, 4]  den 
Tauf bericht  einleitet,  der  darauf  folgenden  Rede  des  lohannes  an 
die  Juden  [Mc.  1,7.8.  Mt.  3,7-12.  Lc.  3,7— 17]  i)  und  der  Taufe 
selbst  [Mc.  1,9-11.  Mt.  3,13—17.  Lc.  3,31.22].  Nur  ist  diese 
Trichotomie  so  mangelhaft  durchgeführt  und  widerspricht  der  Er- 
zählung selbst  derartig,  daß  es  unmöglich  ist  sie  für  ursprünglich 
zu  halten:  sie  ist  vielmehr  nachträglich  eingeflickt  um  eine  not- 
dürftige Concordanz  mit  den  Synoptikern  herzustellen.  Obgleich 
der  schlecht  stilisierte  Satz  xal  ccns^raX^evoL  ri^av  sk  rav  CDa^t- 
6aLcov  [1,  24  vgl.  Mt.  3,  7]  andere  Unterredner  einführt^),  also  etwas 
Neues  einleiten  soll,  lauft  das  Grespräch  des  ersten  Abschnittes 
ruhig  weiter:  die  Frage  der  Pharisaeer  1,25  setzt  das  voraus, 
was  lesus  den  Priestern  und  Leviten  geantwortet  hat.  Wollte 
man  annehmen  daß  die  Pharisaeer  ja  von  Anfang  an  dabei  ge- 
wesen sein  könnten  und  nunmehr  die  Unterredung  weiterführen^), 


1)  Speziell  aus  den  Synoptikern  entlehnt  ist  1,26  mit  Ausnahme  der  Worte 
(leaog  vfi&v  6xriv.SL  ov  vfisig  ovk  ol'dats.  Ich  will  die  Gelegenheit  benutzen  um 
einen  Irrtum  zu  verbessern,  der  mir  S.  142  untergelaufen  ist:  lustin.  dial.  88 
p.  316«  ist  einfach  eine  Combination  von  Mt.  3, 11  und  Lc.  3, 15. 

2)  Origen.  in  loann.  6, 49  iydi  d'  oaov  iy.  tfig  Xi^sag  sati  GTOxdßaa&ccL^ 
etTtoiii  av  xQCtr\v  slvai  ^aqtvQiav  [außer  1,  19  ff.  und  1,  15  ff.]  xov  Ttgbg  xovg 
ccTtoaxaXivxag  ano  xä>v  ^ccqiGaCav  Xoyov. 

3)  Origenes  kennt  diese  Ausrede  nicht;  er  redet  deutlich  von  zwei  Sen- 
dungen [in  loann.  6,  50] :  8vo  äitoöxoXcu  yivovxcci  Ttgbg  xov  ßccTtxLax-^v,  fiicc  [isv 
ccTTo  ^IsQOGoXviicov  vTto  'lovöaLcov  nsiiTCovxcov  tsQELg  y-ccl  AsvLxag . . . ,  sxiga  dl  ^ccql^ 
cccCcov  cc7to6xeXX6vx(ov  xat  Tcgbg  xrjv  ysysviqfisvriv  Sc7t6yiQL6iv  xotg  uqbvöiv  v-al  ÄEvCxaig 
inccTtoQovvxav.  Er  denkt  sich  also  daß  die  Priester  und  Leviten  mit  lohannes 
Antwort  zurückkehrten  und  nunmehr  die  Pharisaeer  eine  neue  Gesandtschaft 
abschickten:  auch  das  hätte  natürlich  gesagt  werden  müssen.  Von  einer  ähn- 
lichen Auffassung  geleitet  übersetzt  die  Syra  Cur.  oj\  ^'♦»Jo  oooj  ^i^a^oo,  als 
hätten  die  Juden  in  Jerusalem  eine  zweite  Gesandtschaft  geschickt.  Die  jüngere, 
schon  Chrysostomus  bekannte  üeberlieferung  der  griechischen  Hss.,  die  Peschittha 


524  E-  Schwartz 

SO  ist  zu  erwidern  daß  das  etwas  deutlicher  hatte  gesagt  werden 
müssen.  lieber  die  ungebeuerliclie  Ortsangabe  1,  28,  die  offenbar 
den  zweiten  Abschnitt  abschließen  soll,  ist  schon  das  Nötige  be- 
merkt; die  unmittelbar  folgende  Einleitung  zur  Taufe  ist  in  ver- 
dächtiger Weise  aus  1,35.36  wiederholt.  Im  Taufbericht  selbst 
oder  dem  was  ihn  vertreten  soll,  muß  das  doppelte  xdya  ovx  riLÖeiv 
ttvtov  um  so  mehr  auffallen,  als  auch  ^AO^oi/  syb  iv  vöan  ßuTtrL^cjv 
[1, 31]  dem  auf  das  zweite  xocya  ovx  iJLÖsiv  avrdi/  folgenden  6 
Tts^tl^ag  ft£  ßantilsiv  ev  vdazi  entspricht  und  1,  33^.  34  nur  eine  Aus- 
führung von  1, 32  sind.  Die  Doublette  ist  von  Usener  bemerkt 
[Weihnachtsfest  54 f.];  sein  Versuch  zwei  Erzählungen  herauszu- 
schälen ist  allerdings  daran  gescheitert,  daß  er  nicht  alle  Schwierig- 
keiten gesehen  hat.  Zu  denen  die  ich  schon  hervorgehoben  habe, 
kommt  schließlich  noch  die  Inconcinnität  des  Anfangs  [1, 19] :  xal 
avxYi  B6tlv  1]  ^ttQtvQCa  rov  ^lodvvov '  ors  dniöxsiXav  JtQog  ccvtbv  oi 
^lovdatoL  fj  'IsQOöoXviicov  IsQstg  naX  AsvCxag^  Xva  sqcot'^öcoölv  avtbv 
'6v  Tig  sV  ]  xal  G)iioX6yrj6£v  xal  ovk  rjQvt^öato,  xal  cj^ioXöyrjöEv  oti, 
iyca  OVK  sl^l  6  XQL6t6g.  Ich  habe  die  richtige  und  notwendige 
Interpunction  wieder  eingeführt,  die  den  ersten  Satz  als  eine  An- 
kündigung von  der  Erzählung  absondert,  so  daß  diese,  wie  es  sich 
gehört,  mit  dem  Temporalsatz  beginnt ;  die  gewöhnliche  Auffassung 
die  ors  mit  dem  Demonstrativsatz  verbindet,  wird  schon  dadurch 
widerlegt,  daß  es  dann  zum  mindesten  rjv  statt  eötC  heißen  müßte. 
Nun  ist  allerdings  richtig  daß  bei  correcter  Interpunktion  der 
Temporalsatz  ohne  Apodosis  im  Sande  verläuft;  das  beweist  um 
so  weniger  gegen  sie,  als  xal  cj^oXoyrjasv  xal  ovx  i]QVTfi6aro  xal 
G)^oX6yri66v  ohnehin  unsinnig  ist;  daß  in  einzelnen  Hss.  und  Ver- 
sionen das  zweite  xal  a^oloyriasv  gestrichen  ist,  ist  Correctur  und 
eine  schlechte  Correctur.  .Denn  sie  beseitigt  nur  den  einen,  sofort 
in  die  Augen  springenden  Fehler  der  Wiederholung,  aber  nicht 
den  anderen  daß  nach  dem,  durch  die  Negation  des  Gegenteils 
noch  besonders  hervorgehobenen  a^oXöyri^Ev  ein  positiver,  nicht  ein 
negativer  Objectsatz  verlangt  wird  ^).  Es  ist  also  xal  aiioXöyrjösv 
ort  iyco  ovx  si^l  6  Kgiötög  eine  Einlage,  die  die  alte  Fortsetzung  des 
Satzes  mit  or«  zerstört  oder  unklar  gemacht  hat.  Auf  die  Geschmack- 


und  die  Lateiner  schieben  ot  vor  &7ts<stalfisvoi>  ein  um  die  beiden  Gesandtschaften 
in  dne  zusammenzuschieben:  das  ist  eine  durchsichtige  Correctur. 

1)  Die  Syra  Cur.  übersetzt  daher  xal  wfioXoyriasv  xal  o^x  rjQvi^aaTo  mit 
yojo  -jojo.  Auch  Origenes  stößt  sich  an  der  negativen  Antwort  auf  die  Frage 
cv  zCg  ü  comm.  in  Joh.  6,  56.  Die  Correctoren  welche  xa/  vor  dem  zweiten  co/io- 
loyriaBv  strichen,  sind  dem  Echten  am  nächsten  gekommen :  dadurch  wird  wenigstens 
der  Temporalsatz  richtig  abgegrenzt. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  525 

losigkeit  das  von  den  Christen  umgestaltete  lesaiascitat,  das  die  Syn- 
optiker von  sich  aus  der  Erzählung  einfügen,  lohannes  direct  in 
den  Mund  zu  legen,  will  ich  nur  kurz  hinweisen  ^).  Er  kann  zu  den 
Juden  nicht  eher  sagen  [1,  26]  ^eöog  v^av  ött^xst  ov  v^stg  ovk  oidats, 
als  bis  ihm  bei  der  Taufe  geoiFenbart  war,  wer  dieser  Unbekannte 
war:  was  er  1,  30ff.  erzählt,  muß  zeitlich  dem  Gespräch  mit  den 
Pharisaeern  vorangehen.  Dem  scheint  1,  29  zu  widersprechen;  denn 
daß  lohannes  lesus  zu  sich  herankommen  sieht,  klingt  so  stark  an 
Mt.  3,  13  an:  röts  TtaQ  ayivst ccl  6  ^Ir}6ovg  cctco  rfig  FaXikcciag  stiI 
rbv  loQÖccvr}v  TtQog  rov  ^I(occvv7]v  tov  ßaTtTLöd-fivac  vn*  avtov,  daß 
der  Leser  meinen  muß,  lesus  kommt  zur  Taufe ^).  Der  Vers  ist 
jedoch  mitsammt  dem  Folgenden  verdächtig  und  vielleicht  erst 
bei  der  letzten  Ueberarbeitung  zugesetzt;  das  ganze  Stück  1, 28 — 30 
läßt  sich  entfernen  als  ein  mißlungener  Versuch  nach  der  synop- 
tischen Ueb erliefe rung  die  Taufe  lesu  von  der  Predigt  des  Täufers 
zu  trennen.  Jene  rückt  dann  um  so  deutlicher  in  die  Vergangen- 
heit, und  was  die  Rede  des  lohannes  an  Zusammenhang  durch  die 
Aussonderung  des  trennenden  Einschiebsels  gewinnt,  das  vermehrt 
zugleich  den  schweren  Anstoß  daß  die  Taufe  nirgendwo  deutlich 
erzählt,  sondern  nur  vorausgesetzt  wird.  Man  soll  bei  der  Epi- 
phanie  des  Greistes,  die  lohannes  1, 32. 33  andeutet  und  die  den 
wesentlichen  Inhalt  seines  1,  19  pomphaft  angekündigten  Zeug- 
nisses bildet,  an  die  Taufe  denken,  und  alle  Interpreten  sind  dem 
Wink  gehorsam  gefolgt:  sie  hätten  sich  nur  klar  machen  müssen 
daß  ein  volles  Verständnis  der  Stelle  nur  dann  möglich  ist,  wenn 
die  synoptischen  Berichte  hinzugezogen  werden.  Damit  ist  aber 
ein  stilistisches  Grundgesetz  der  Evangelienschriftstellerei  verletzt, 

1)  Ohne  große  Mühe  läßt  sich  die  Trichotomie  beseitigen  und  ein  fort- 
laufender Text  in  folgender  Weise  herstellen:  (19)  xai  avtrj  iarlv  i]  (laQxvQia 
TOV  'Icodvvov.  ots  anioxHlav  ngog  avxov  ot  'IovScclol  i^  ^IsgoGolvfiav  lagstg  kccI 
AsvLtccg  i'vcc  iQcoti^GcoGLv  avxov  'cv  xl<s  fl';  mccI  miioXoyriosv  v.a.1  ovv.  rjQvqöaxo 
(sc.  xig  ^v),  (21)  TiQcoxriGav  avxov  'rt  ovv;  'HXiag  fl';  xat  XiysL  'o^x  f^/Ltt'. 
'6  TtQocprlxrig  sl  ov ;  xal  ccTCsxQLd'ri  'ov  [das  ist  nach  Mc.  6,15.  Lc.  9, 7  f.  ge- 
macht]. (25)  yial  7]Q6ixr\6av  avxov  kul  scTtav  avxa>L  'rt  ovv  ßaTtxi^sig,  d  ov  ov% 
sl 'HXiag  ovSs  ö  ngocp-^xrig^ ;  (26)  äni:V.QL^ri  avxotg  6  'Icadvvrig  Xiycov  ^^soog  vft&v 
tfrijHft  ov  ov-K  ol'daxs  (31)  %aycb  ovyi  i]l8elv  avxov,  dXX'  i'va  q)av£Q(üd'fJL  xmi 
'JoQar]X,  diä  xovxo  rjX&ov  eya  sv  vdaxi  ßanxc^cov'  [man  beachte  wie  durch  die 
Streichungen  Kayo)— avxov  in  den  richtigen  Zusammenhang  rückt  und  8ia  xovxo— 
ßa7txt^(üv  zur  praecisen  Antwort  auf  die  Frage  1, 25  wird],  xat  ifiagxvQTiosv 
Io)dvvT]g  [jetzt  wird  die  Ankündigung  von  1,  19  erfüllt]  Xiyoiv  ort  ts^iaiiat  ro 
7CV8v(ia  "Kaxaßaivov  wg  Ttsgioxegav  e^  ovgavov  y.al  Sfisivsv  in*  avxov. 

2)  Durch  die  erweiternde  Doublette  {1, 33. 34  soll  vielleicht  ifiaQxvQriosv 
'Icadvvrig  die  scharfe  Beziehung  auf  1, 19  verlieren  und  so  verstanden  werden,  als 
sei  das  Zeugnis  bei  oder  unmittelbar  nach  der  Taufe  abgelegt. 


526  E.  ScTiwartz 

wie  um  so  mehr  betont  werden  muß,  als  die  landläufige  Exegese 
grade  solche  Stilregeln,  die  keine  bequeme  Entschuldigung  für 
Inconcinnitäten  und  Incongruenzen  liefern,  zu  ignorieren  gewohnt 
ist.  Jedes  echte,  nicht  durch  Correcturen  entstellte  Evangelium 
muß  gewissermaßen  autonom  sein ;  es  kann  andere  Evangelien  be- 
nutzen, tut  es  sogar  in  der  Regel,  aber  es  muß  sie  dann  in  sich 
aufnehmen  und  darf  sie  nicht  einfach  voraussetzen. 

Die  Vermutung  daß  das  ursprüngliche  vierte  Evangelium  die 
Taufe  lesu  durch  Johannes  nicht  kannte  oder  richtiger  nicht 
kennen  wollte,  hat  sich  bei  eingehender  Prüfung  des  Textes 
bewährt.  Wiederum  ist  die  synoptische  TJeb erlief erung  später  ein- 
gedrungen und  hat  die  straffe  Logik  der  ursprünglichen  Erfin- 
dungen zerstört.  Sie  hat  dabei  eine  eigentümliche  Form  ange- 
nommen insofern  als  die  Handlung  der  Taufe  vollständig  ver- 
schwindet hinter  dem  Zeugnis  des  Johannes,^)  das  gegen  alle 
Ueberlieferung  ins  Ungeheure  gesteigert  ist.  Während  nach  der 
ältesten  Tradition ;  die  bei  Marcus  [1,10]  und  Matthaeus  [3,16] 
noch  deutlich  erhalten,  bei  Lucas  [3,  21  f.]  freilich  schon  verdunkelt 
ist,  lesus  allein  den  Greist  auf  sich  herabsteigen  sieht,  wird  in  der 
Ueberarbeitung  des  vierten  Evangeliums  Johannes  zum  bewussten 
Träger  dieser  Offenbarung;  dort  ist  die  Taufe,  weil  lesus  durch 
sie  zum  Messias  berufen  wird,  im  vollen  Sinne  der  Anfang  des 
Evangeliums,  hier  bildet  sie  nur  den  Rahmen  für  ein  prophetisches 
Zeugnis  das  in  dem  dogmatischen  Beweisapparat  für  lesus  Christus 
eine  besonders  vornehme  Stelle  einnimmt;  dadurch  daß  es  vor 
den  Juden  abgelegt  wird,  wird  die  Schuld  ihres  Unglaubens  we- 
sentlich vermehrt  [5,31 — 33]. 

Für  das  Zeugnis  des  lohannes  von  lesus  ist  es,  da  er 
den  Vorgang  bei  der  Taufe  erzählt,  nicht  nötig  daß  lesus  selbst 
dabei  ist;  es  wäre  sogar  für  die  Erzählung  selbst  besser,  wenn 
er  fehlte,  und  die  Stelle  welche  ihn  am  deutlichsten  mit  dem  Täufer 
zusammenbringt  [1,29],  ist  spätester  Zuwachs.  Trotzdem  scheint 
die  Erinnerung  an  die  Synoptiker  so  stark  gewirkt  zu  haben,  daß 
lesus  doch  an  die  Stelle  gebracht  ist,  'wo  lohannes  taufte'.  Es 
ist  unnatürlich  n86os  vnäv  6r)]Kei  nicht  concret  zu  verstehen,  und 
wenn  sich  auch  1,  29  ausscheiden  läßt,  so  doch  nicht  das  Original 
dazu  1,  35.36,  das  zugleich  die  Ueberleitung  zur  Jünger  wähl  bildet. 
Es  liegt  in  der  Linie  der  Auffassung  von  dem  Täufer,  die  die 
Bearbeitung  im  Gegensatze  zum  ursprünglichen  Evangelimn  durch- 


1)  3,  26  wird  nur  das  Zeugnis,  nicht  die   Taufe   erwähnt :    op  7]v  iibtu  öoü 
Ttiqav  xov  ^logduvoVf  wt  t6  (iE^aQrvgri'KaSi  l'Ss  ovtos  ßccnxi'^H. 


Äporien  im  vierten  EvaHgelium  IV  527 

führt,  wenn  sie  ihm  eine  christliche  Metapher,  die  erst  nach  lesu 
Tod  Sinn  hat,  in  den  Mund  legt  und  diesem  Ausspruch  eine  so 
wunderbare  Wirkung  zuschreibt,  dass  zwei  seiner  Jünger  sofort 
zu  lesus  übergehn^).  Echt  kann  dieser  sonderbare  Einfall  nicht 
sein.  Die  Geographie  geht  völlig  in  die  Brüche.  Um  von  1,  28 
abzusehen,  muß  man  sich  Johannes  am  unteren  Jordan  denken,  in 
der  Peraea  [3,26.  10,40],  nicht  weit  von  Jerusalem  [1,19].  Ist 
es  schon  sehr  sonderbar  gesagt  daß  lesus  von  dort  'nach  Galilaea 
hinausziehen  wollte'  [1, 43] ,  so  ist  es  einfach  Unsinn ,  wenn  er 
jetzt  wo  er  doch  von  Galilaea  weit  weg  ist,  drei  Galilaeer  aus 
Bethsaida  zu  Jüngern  gewinnt  und  'am  dritten  Tag'  —  von  wo 
an  soll  gezählt  werden?  —  eine  Hochzeit  in  Kana  mitmacht. 
Hier  treibt  dieselbe  Ignoranz  ihr  Wesen  wie  1,28.  Ich  kann  es 
auch  nicht  anders  als  ungeheuerlich  finden  daß  lesus  während  er 
bei  lohannes  weilt,  in  der  Wüste  [1,  23],  die  Jünger  auf  ihre  Bitte 
mit  in  seine  Wohnung  nimmt.  Hatten  sich  dort  Gasthöfe  etabliert 
um  die  Scharen  aufzunehmen,  die  zu  lohannes  hinausströmten? 
Ursprünglich  können  die  Fragen  der  Jünger  und  lesu  Antwort 
1,  38  f.  nur  gestellt  und  gegeben  sein  an  dem  Ort  wo  lesus  wirklich 
seinen  dauernden  Wohnsitz  hatte;  beide  dürften  ein  Rest  der 
echten  Erzählung  von  der  Jüngerwahl  sein,  der  jetzt  dadurch  un- 
gereimt geworden  ist,  daß  die  Ueberarbeitung  die  Jüngerwahl 
mittelbar  an  den  von  ihr  geschaffenen  Ersatz  für  den  Taufbericht 
anschloß.  Hier  wirken  die  Synoptiker,  vor  allem  Marcus  [1,16  ff.] 
nach.  Dagegen  fehlt  die  Versuchung,  ebenso  wie  alle  Heilungen 
von  Besessenen,  und  ist  nur  durch  eine  schwache  Andeutung  er- 
setzt, die  an  die  Jüngerwahl  angehängt  ist;  s.  o. 

Daß  das  von  Gott  eingegebene  Zeugnis  des  lohannes  zum  dog- 
matischen Beweis  des  Christentums  gehört,  wird  im  Prolog  gra- 
dezu  gesagt  [1,6  f.]:  iyavsro  äv&QCjTCog  ccTceöraXuevog  Ttagä  ^eov^ 
ovo^ia  avxcii  'Icoccwrig'  ovtog  fjXd^sv  elg  ^aQxvQiav  ^  Iva  ^ccQtvQrJ6ric 
jcsqI  xov  cpozog^  Iva  Ttdvreg  7tL6tev0(ü6 iv  öl  avrov:  das  ab- 
solute Tti(5xEVHv  ist  zu  beachten.  Der  Gedanke  kehrt  in  gezwun- 
gener Fassung  5,  34  wieder :  'ihr  habt  zu  lohannes  gesandt  und 
er  hat  für  die  Wahrheit  gezeugt,  iyh  ös  ov  nagä  äv^Q&Ttov  xriv 
^agxvQtav  ^a^ßdvco,  äXXä  xavxa  Xsyco^  Iva  v^stg  öad^r^xe ,  d.  h.  des 
Beweises  aus  dem  Zeugnis  des  lohannes  bedarf  lesus  nicht,  da 
er  stärkere  Beweise  hat,  aber  die  Juden  die  auf  lohannes  stolz 
gewesen  sind  [s.  o.],  sollen  sich  durch  ihn  überzeugen  lassen.     Bei 


1)  Die  Syra  Cur.  sucht  wiederum    durch    ein   Targum   die   Seltsamkeit   des 
Textes  abzuschwächen,  indem  sie  vor  lös  6  cc^ivos  tov  dsov  einschiebt  Ja**jüd  jo». 


528  E.  Schwarfz 

Marens ,  und  wenn  man  die  Geburts-  und  Kindsheitgeschicliten, 
wie  billich,  bei  Seite  lässt,  auch  bei  Matthaeus  und  Lucas  beginnt 
das  Evangelium  mit  dem  Auftreten  des  Johannes;  der  Anfang 
jenes  oben  ausgeschriebenen  Satzes  im  Prolog  des  vierten  Evan- 
geliums sieht  auch  so  aus,  als  sollte  er  die  Erzählung  mit  Wucht 
einleiten.  Aber  schon  1,  7  beginnt  das  Raisonnement,  das  auf  die 
Abstraktionen  der  vorhergehenden  Verse  zurückläuft,  und  gar  1,8 
wird  durch  das  negative  Urteil  die  Spannung  des  Lesers  enttäuscht. 
Zwischen  1.  8  und  1,  9  klafft  es :  denn  zu  ^v  tö  cpag  tö  dlr}d'tv6v  fehlt 
das  Subjekt,  und  Johannes  verschwindet  zunächst.  Die  Ankündigung 
1, 19  xal  ccvrrj  iözlv  i]  ^ccQtvQia  tov  'Icodwov  will  den  verlorenen 
Faden  wieder  aufnehmen ;  aber  es  geht  nicht  an,  sie  ohne  Weiteres 
auf  1,  6  ff.  zu  beziehen ,  als  sollte  das  dort  angedeutete  Zeugnis 
des  Täufers  nunmehr  nachgetragen  werden:  ein  anderes  Zeugnis 
desselben  Täufers  drängt  sich  dazwischen,  das  schon  vorher  [1,  15] 
berichtet  ist.  Um  die  Verwirrung  voll  zu  machen,  erscheint  dies 
Zeugnis  noch  einmal,  in  der  Erzählung  die  den  Taufbericht  der 
Synoptiker  ersetzen  soll  [1, 30]  *).  Es  sollte  einfach  zugegeben 
werden  daß  das  kein  ursprünglicber,  von  einem  Schriftsteller  ver- 
fasster  Text  sein  kann.  Blaß  hat  wenigstens  das  Verdienst,  der 
Schwierigkeit  offen  ins  Auge  gesehen  zu  haben;  er  wußte  nur  so 
zu  helfen ,  daß  er  1 ,  15  strich.  Aber  1 ,  16  schließt  mit  Nichten 
an  1, 14  an,  wenn  die  älteste  und  best  bezeugte  Lesart  ort  ix 
TOV  TtXrjQcb^iatog  avtov  rj^slg  Tcdvtsg  sXccßo^sv  beibehalten  wird ;  daß 
Blaß  die  jüngere  Correctur  xaC  aufnehmen  muß,  um  den  Zu- 
sammenhang zwischen  1, 14  und  1, 16  herzustellen,  empfiehlt  seinen 
Vorschlag  nicht.  Das  stärkste  Gegenargument  aber  wird  durch 
die  Wiederholung  1 ,  30  geliefert.  Stellt  man  beide  Fassungen 
nebeneinander : 

1,15  1,30 

ovtog  ^v  bv  siTtov  6  onCöG)  {lov  ovxog  l6tiv  vitsQ  oh  iya  sItcoV 
iQXOfisvog  e^TCQOöd^ev  ^ov  yeyovev,  6%i6G)  ^ov  egiaxai  dv^Q  bg  ^/i- 
otL  TtQ&tög  [lov  Tjv  7tQo6&tv  fiov  yByovsv,  ort  TCQ&TOg 

flOV  ^v 

so  zeigt  sich  daß  der  Spruch  1,30  sprachlich  glatter  ist,  da  das 
anstößige  Imperfect  ^v  in  iöti  corrigiert  ist :  dagegen  verschlechtert 
die  Angleichung  an  Mc  1,7  =  Lc.  3, 16  igietau  6  löivgorsgog  nov 
dnCöcj  fiov  den  Sinn,  indem  nunmehr  zwischen  dem  futurischen  Sinn 
von  £^;i;£Tat  und   dem   praesentischen  Perfect   yiyovsv    ein   Wider- 


1)  Chrysost.  t.  VIII  p.  72«  noXvg  iaxiv  ovtog  6  i'ixxyyBUariis  &v<a  xal  xaro 
rbv  ^Icadvvriv  atg^tpav  xal  r^v  (laQTVQ^av  aiytov  7(oXXa%oi  nsQitpBQcav. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  529 

Spruch  entsteht,  der  nur  durch  gewundene  Deutungen  beseitigt 
werden  kann.  Das  spricht  vernehmlich  dafür  daß  diese  Fassung 
eine  jüngere  Doublette  ist,  die  das  in  1,15  vorliegende  Original 
oberflächlich  verbessern  möchte,  und  dies  Resultat  wird  ferner 
dadurch  bestätigt ,  daß  1 ,  30  in  einer  Versreihe  vorkommt ,  die 
schon  oben  als  jüngster  Zusatz  erwiesen  wurde.  Umgekehrt  be- 
weist die  Wiederholung,  daß  1 ,  15  ovr og  ^v  ov  slitov  die  älteste 
erreichbare  Lesart  ist.  Das  ist  darum  nicht  gleichgiltig,  weil  die 
Variante  ovtog  ^v  6  siTtav  durch  die  erste  Hand  des  Vaticanus, 
den  ältesten  Corrector  des  Sinaiticus  und  Origenes  [Hautsch,  de 
evangeliorum  codicibus  ürigenianis  38]  vortrefflich  bezeugt  ist 
und  die  Construction  so  stört,  daß  man  versucht  wird,  den  Grrund- 
satz  auf  sie  anzuwenden,  daß  die  schwerer  verständliche  Lesart 
als  die  überlieferte  zu  gelten  hat.  Die  Doublette  in  1, 30  ver- 
bietet das  und  zwingt  in  6  elicav  eine  Correctur  zu  sehen ,  die 
sei  es  das  Imperfect  ^v  sei  es  das  Zurückgreifen  des  Johannes  auf 
einen  nicht  berichteten  Ausspruch  beseitigen  sollte;  sie  griff  wohl 
ursprünglich  weiter  und  hatte  xccl  KsxQays  Xeycov  entfernt.  Als 
dies  wieder  eindrang  und  durch  omog  ^v  6  slnav  in  unerträglicher 
Weise  von  dem  Ausspruch  selbst  getrennt  wurde,  entstand  die 
dritte  im  Altertum  nachweisbare  Lesung:  ovrog  ^v  6  6%C(Sg3  iiov 
eQxo^isvog ,  bg  e^TCQOöd'sv  ztX.:  sie  steht  im  Sinaiticus  von  erster 
Hand,  und  ihr  folgen  Euseb  [de  eccles.  theol.  1,  20,  30]  und  Theodor 
von  Mopsuhestia  [p.  38, 11  Chab.]. 

Wie  der  Ausspruch  des  Täufers  jetzt  dasteht,  macht  er  ihn 
zum  Zeugen  für  die  Praeexistenz  Christi.  Das  ist  noch  sehr  viel 
mehr  als  die  Verwandlung  des  synoptischen  Taufberichts  in  das 
Zeugnis  des  Johannes;  es  sollte  einleuchten  daß  diese  nicht  mehr 
emphatisch  als  das  Zeugnis  des  Johannes  eingeführt  werden  kann, 
wenn  jenes,  das  eine  viel  tiefere  Einsicht  in  die  christliche  Dog- 
matik  verrät,  vorangegangen  ist.  Der  Ausweg  1, 15  zu  entfernen 
ist  versperrt;  mit  einfachen  Mitteln  ist  hier  überhaupt  nichts  zu 
machen:  denn  der  ganze  Vers  hält  einer  scharfen  Analyse  nicht 
Stand,  er  ist  das  Resultat  einer  IJeberarbeitung.  Um  von  den 
Praesentia  des  Einführungssatzes  nicht  zu  reden,  die  so  aussehen, 
als  sollte  nicht  ein  lebendiges  Wort ,  sondern  das  Citat  aus  einer 
Schrift  folgen,  so  entzieht  sich  zunächst  das  Jmperfect  ^v  der 
Erklärung,  wenn  es  Johannes  in  den  Mund  gelegt  wird:  man  er- 
wartet ovrog  ^v  bv  sItcsv  ^Icoccvvrig,  womit  ich  natürlich  nicht  be- 
haupten will  daß  dies  die  ursprüngliche  Fassung  gewesen  sein  müsse. 
Das  Wort  des  Täufers  endlich  selbst  bekommt  erst  dann  Sinn 
und    Verstand ,    wenn    der  Causalsatz    ort   TtQ&tög   [lov  ^v  wegge- 

Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Philolog.-hist.  Klasse  1903.    Heft  5.  37 


530  ^'  Schwartz 

lassen  wird:  erst  dann  treten  die  beiden  Bilder  in  den  rechten 
Gregensatz  zu  einander :  'der  der  hinter  mir  geht ,  ist  mir  voran 
gekommen'.  Nicht  aus  einem  metaphysischen  Grunde;  ein  solcher 
Gedanke  hätte  mit  6  ÖTtLöco  fiov  egxo^evog  Tcgatog  ^ov  rjv  leichter 
und  schärfer  ausgedrückt  werden  können;  sondern  der  Täufer 
will  einfach  sagen:  lesus  der  später  auftrat  als  ich,  hat  mir  den 
Erfolg  weggenommen,  er  tauft  mehr  als  ich.  Nur  auf  diese  Weise 
kommt  das  praesentische  Perfect  zu  seinem  Recht,  dessen  Schwierig- 
keit die  antike  Interpretation  ehrlich  und  richtig  empfindet,  wenn 
sie  eingesteht  daß  es  nur  als  Perfect  der  Weissagung  verstanden 
werden  kann^).  Wenn  so  die  Umdeutung  in  ein  Zeugnis  für  die 
Praeexistenz  Christi  entfernt  ist ,  rückt  der  Ausspruch  des  Jo- 
hannes in  Zusammenhänge  deren  Spuren  auch  an  anderen  Stellen 
aufgedeckt  sind  und  die  dem  ursprünglichen  Evangelium  zuzu- 
schreiben darum  nicht  zu  kühn  sein  wird ,  weil  sie  weit  von  den 
Synoptikern  abführen.  An  Stelle  der  Taufe  lesu  durch  Johannes 
muß  es  Aussprüche  des  Johannes  selbst  gesetzt  haben,  in  denen 
er  lesus  größeren  Erfolg  selbst  zugab :  damit  sollte  der  Stolz  der 
Juden  auf  ihn  widerlegt  werden.  Weiter  läßt  sich  nicht  vor- 
dringen, vor  allem  nicht  ahnen,  wie  der  echte  Evangelist  die  Stellung 
die  Johannes  selbst  zu  Jesus  einnahm,  geschildert  hatte:  nur  das 
kann  mit  einigem  Schein  angenommen  werden  daß  auch  er  wie 
die  Synoptiker  mit  dem  Bericht  über  Johannes  das  Evangelium 
begann. 

Durch  IJeberarbeitung  ist  auch  das  was  auf  das  'Zeugnis'  des 
Johannes  1, 15  folgt,  zerstört.  Jch  habe  früher  [Nachr.  1907 ,  367] 
mich  mit  Origenes  und  Theodor  von  Mopsuhestia  ^)  dafür  erklärt 
daß  die  Rede  des  Täufers  weiter  läuft,  und  kann  auch  jetzt  noch 
Origenes  nicht  tadeln,  wenn  er  wegen  der  Partikel  ort  diese  Inter- 
pretation für  die  allein  zulässige  erklärt  [Comm.  in  Joann.  6,  34] : 
ävayxalov  ös  xal  ovzcog  dieXey^ai  63g  ßsßLaönsvriv  xal  ävaxoXovd^ov 
xriv  Ex8o%riv  [die  1, 16  ff.  dem  Evangelisten  giebt]*  ndvv  yäg  ßiaiov 
TÖ  oleö^at  ai(pviöiov  olov  ei  axaigog  dLaxÖTCxeöd^aL  zbv  vov  ßanxLörov 
Xöyov  vnb  xov  k6yov  xov  ^a^tjxov,  xal  navxl  xm  xal  ixcl  noöbv  äxoveiv 


1)  Chrysost.  t.  VIII  p.  7G»  %al  ttcos,  q>ri6Cv ,  d  thqX  tfjg  hcpccvascag  rfjs  slg 
Scvd-Qmnovg  7]v  xal  rrjg  iisXXovorig  tipEG^ccL  Ttap'  ccitiov  do^rig  d  Xoyog,  t6  firidina 
xiXog  alXricpbg  wg  '^dri  ysysvrifiivov  X4yti\  ov  yäg  eins  'ysvi]a£Tcci\  ccXXa  yiyovsv. 
ort  ^Q-og  xovxo  xotg  ngocpriTSvovöLV  ava^iv  iaxLv  cos  tisqI  ysyevrifiivav  TtoXXaxov 
nsgl  x&v  (isXX6vx(ov  dLuX^ysad-ai.     Ebenso  Theodor.  Mops,  p.  39,  IG  ff. 

2)  Chrysostomus  durfte  ich  nicht  anführen;  er  sagt  t.  VIII  p.  79»  aus- 
drücklich tb  yccQ  ix  xov  7tXriQ&(iatog  a'öxoi)  ijfietg  nüvxsg  iXdßo(i£v 
oi  xov  nQOÖQOiiov  iaxl  (ij(icCf  &XXä  xov  fia^'i^roi». 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  531 

6v^g)Qcc6S(Dg  Xsyo^evcov  BTtLöxaiiivcoi,  6aq)£g  xb  tov  slq^ov  rfjg  XE^sog. 
Andrerseits  muß  zugegeben  werden  daß  es  unmöglich  ist  mit  ihm 
und  Theodoros  rj^etg  Ttävtsg  auf  die  alttestamentlichen  Propheten 
zu  beziehen,  in  die  sich  Johannes  d.  T.  mit  einschließt :  dem  wider- 
spricht SK  TOV  7tXriQ6^atog ,  da  die  Offenbarung  des  A.  T.  doch 
eben  nicht  'aus  der  Fülle'  ergieng,  sondern  nur  ein  Abbild  dessen 
war,  das  da  kommen  sollte.  Die  Worte  setzen  allerdings  den 
Sinn  von  1,14  fort;  aber  —  und  das  muß  immer  wieder  ent- 
schieden betont  werden  —  sie  schließen  nicht  an ,  und  über  die 
widerspenstige  Causalpartikel  ist  nicht  hinwegzukommen.  Sie  ist 
auch  nicht  die  einzige  Schwierigkeit.  Das  Imperfect  sXdßo^sv 
paßt  nur,  wenn  unter  tj^stg  die  persönlichen  Jünger  lesu  ver- 
standen werden;  dann  rückt  der  Satz  auf  eine  Linie  mit  der 
Interpolation  [Nachr.  1907,  367]  in  1, 14  xal  id-eccöd^sd^a  xr]v  dd|av 
&>g  ^ovoysvovg  TtccQa  naxQog^  die  söxrivcoösv  iv  rj^itv  unzulässig  ver- 
engt :  das  Gegenbild  der  exrjvy]  des  alten  Bundes  ist  das  'neue 
Volk' ,  die  christliche  Gemeinde  ,  nicht  nur  die  welche  Jesus  mit 
Augen  sahen.  Umgekehrt  fügt  sich  der  Zusatz  von  ndvxsg  nur 
dann  glatt  ein,  wenn  Vir'  die  Gemeinde  bedeutet,  um  nicht  an 
den  allgemeinen  Sinn  zu  appellieren,  der  sehr  verbessert  wird, 
wenn  das  7cXy]Qai^a  Christi  und  seine  Gemeinde  die  sich  ent- 
sprechenden Glieder  des  Gedankens  sind.  Das  reicht  alles  hin 
um  eine  Ueberarbeitung  zu  erweisen,  die  das  was  sie  vorfand, 
gründlich  zerstörte  und  doch  keinen  klaren  Gedanken  zu  Wege 
brachte :  weiter  vermag  ich  zunächst  wenigstens  nicht  vorzu- 
dringen. Dagegen  steht  fest  daß  mit  xal  xccqlv  dvxl  x^ptrog  ein 
Zusatz  eingeleitet  wird ,  der  ebenfalls  der  Ueberarbeitung  zuge- 
schrieben werden  kann,  keinesfalls  aber  ursprünglich  zu  dem  Satz 
gehört  hat:  denn  an  das  allgemeine  Object  von  sXdßo^sv ^  das 
wegen  sk  xov  JtXriQa^axog  suppliert  werden  kann ,  darf  nicht  mit 
xac  ein  bestimmtes  angeschlossen  werden,  und  die  Uebersetzer  die 
dies  xaC  häufig  weglassen ,  verraten  ein  feineres  Sprachgefühl  als 
die  Interpreten  die  sich  damit  abquälen  oder  darüber  schweigen. 
Warum  jetzt  die  antike  Exegese  aufgegeben  wird,  die  unter  der 
einen  Gnade  das  Gesetz ,  unter  der  anderen  lesus  Christus  ver- 
stand, sehe  ich  nicht  ein.  Wie  mich  Wellhausen  überzeugt  hat, 
wird  x^Q^'S  ^od  «AtjO-ft«  hier  in  einem  jüngeren,  dogmatisch-christ- 
lichen Sinne  gebraucht  als  vs.  14,  wo  es  dem  alttestamentlichen 
T\"üi<^  "lOn  zum  Mindesten  sehr  ähnlich  ist:  dort  sind  es  Eigen- 
schaften des  fleischgewordenen  Wortes  Gottes,  hier  ist  es  der 
Doppelausdruck  für  ein  Concretum,  das  von  Christus  der  Welt 
gebrachte    Heil.      Daß    ein   und   derselbe   Schriftsteller    zwei    so 

37* 


532  E.  Schwartz 

wichtige  Begriffe  kurz  hinter  einander,  ohne  jeden  Uebergang,  in 
total  verschiedener  Ausprägung  gebraucht  haben  sollte ,  ist  un- 
glaublich. Daß  der  'Eingeborene'  nur  in  wenigen,  jungen  Stellen 
vorkommt,  ist  früher  bemerkt  [Nachr.  1907,  364*]. 

Der  Prolog  ist  schon  in  der  alten  Kirche  zu  einem  geheimnis- 
vollen Tempel  geworden,  in  dem  die  Dogmatik  in  philosophischem 
Pomp  thronen  sollte.  Es  liegt  mir  fern  mich  in  diese  Mysterien 
einzudrängen,  die  Deutung  und  Verständnis  zugleich  heischen  und 
zurückstoßen;  mir  kommt  es  lediglich  darauf  an  zu  zeigen  daß  die 
wirklichen  Räthsel  anderswo  liegen,  als  da  wo  die  Dogmatik  sie  sucht. 
Dabei  muß  ich  freilich  voraussetzen  daß  das  Ziel  ist  zu  verstehen 
was  der  oder  die  Verfasser  der  von  den  Exegeten  zerquälten 
Verse  haben  sagen  wollen,  und  nicht  etwa  loci  prohantes  für 
irgend  eine  Metaphysik  ihnen  entnommen  werden  sollen.  Auch 
hier  ist  es  vor  allem  nötig  die  Risse  und  Sprünge  des  Gredanken- 
ganges  mit  rücksichtsloser  Schärfe  aufzudecken  statt  allen  Scharf- 
sinn aufzubieten,  damit  unter  allen  Umständen  irgend  ein  Sinn 
herauskommt,  auch  da  wo  des  Exegeten  erste  und  nächste  Auf- 
gabe ist  einzugestehen  daß  ein  Sinn  nicht  vorhanden  ist.  Mit 
1, 14  setzt  wuchtig  und  paradox  der  Gredanke  ein ,  der  die  Ver- 
kündigung von  lesus  Christus  enthält:  Tcal  6  koyog  Cccq^  iysvsro 
xal  e0X7]V(o6sv  sv  ruilv  TtXrjQrig  x^Qitog  Kai  älri^'Biag.  Das  steht 
gegenüber  dem  Beginn  des  Granzen,  dem  Anfang  wo  das  Wort 
bei  Gott  ist  und  alles  erschafft:  die  nachdrückliche  Wiederholung 
ovxog  ^)v  SV  ccQxfjg  itgog  xov  &e6v  zielt  wohl  auf  Prov.  8,30  und 
will  sagen  daß  die  weltschaffende  Weisheit  zur  Seite  Gottes  eben 
das  Wort  [*^1^]  war.  Störend  und  verwirrend  drängen  sich 
zwischen  diese  beiden  Pole  der  Speculation  über  das  Wort  alle 
die  Stellen,  die  die  Epiphanie  des  Wortes  auf  Erden  schon  vor- 
aussetzen und  damit  die  Kraft  des  Satzes  lähmen,  der  1,14  das 
Herabsteigen  des  Wortes  in  sichtbarer  Gestalt  als  das  Neue,  als 
die  größte  Tat  des  Wortes  die  seit  der  Weltschöpfung  geschehen, 
einführt.  Dieser  Vorwurf  trifft  zunächst  1, 11  und  12.  13;  ferner 
1,  5  Tial  TÖ  (pag  ev  tfJL  ökotCccl  (paCvsi  xal  17  öxoria  avtb  ov  xaze- 
Xaßev:  die  Worte  können  nur  auf  Christus  bezogen  werden,  den 
der  Tod  nicht  überwältigt  hat  und  der  in  der  Gemeinde  fortlebt. 
Auch  dem  Satz  1 ,  9  ^v  (man  soll  ergänzen  6  Xöyog  was  freilich 
weit  entfernt  ist)  tö  q)&g  rb  aXri^Lvov^  o  (ptoxClei  ndvta  av^-ganov 
igXoyLBvov  eig  töv  KÖöfiov  ^)  wird  nur  diese  Deutung  gerecht ,   weil 


1)  Es  sollte  zugegeben  werden  daß  iQx6fisvov  stg  rhv  ^6afiov  nur  auf  nuvra 
ävd-Qanov  bezogen  werden  kann:   das   verlangt  die   Sprache  unbedingt.     Die  alt- 


Aporien  im  viertea  Evangelium  IV  533 

sie  allein  den  Wechsel  von  Imperfect  und  Praesens  erklärt:  'das 
auf  Erden  erschienene  Wort  war  das  wahre  Licht  das  jeden  Men- 
schen der  geboren  wird  [vgl.  16,  21],  erleuchtet'.  Die  Anspielung 
auf  die  berühmte  Stelle  über  Israel  les.  49,  6  tritt  deutlich  hervor, 
und  im  Gregensatz  zu  dem  jüdischen  Sprachgebrauch ,  nach  dem 
die  Proselyten  durch  das  Gresetz  erleachtet  werden  ^)5  nimmt  die 
neue  Religion  alle  Menschen  in  Anspruch.  Es  ist  an  und  für  sich 
möglich  die  folgenden  Worte  [1, 10]  sv  rm  xöe^coc  tjv  Tcal  6  xö^^og 
di"  avrov  eyevsro  xal  6  Koößos  ccvrbv  ovk  Jyva  auf  das  Wort  zu 
beziehen,  das  vor  der  Epiphanie  Christi  in  der  Welt  war,  nämlich 
im  Gresetz  und  den  Propheten.  Aber  die  Beziehung  ist  nicht  klar, 
und  sowohl  1,9  wie  1,11  müssen  dazu  verführen  auch  hier  an 
das  fleischgewordene  Wort  zu  denken;  freilich  wird  dann  der 
Gedankenzusammenhang  durch  %al  6  koö^os  öl  ccvtov  sysvsto  ge- 
stört. Daß  die  Stelle  über  Johannes  [1,  6 — 8]  den  Zusammenhang 
unpassend  unterbricht,  wurde  schon  gesagt;  auch  sie  versteht 
unter  (pag  nichts  anderes  als  den  auf  Erden  erscheinenden  Jesus 
Christus  und  ist  mit  Rücksicht  auf  1,5  stilisiert,  wird  also  von 
demselben  Urteil  wie  dieser  Vers  getroffen. 

Damit  dürfte  der  Nachweis  geführt  sein,  daß  der  Prolog  des 
echten  und  originalen  Zusammenhangs  entbehrt.  1, 14  wird  das 
Erscheinen  lesu  auf  Erden  als  die  Epiphanie  des  göttlichen  Wortes 
hingestellt,  trotzdem  setzen  die  Antithesen  und  Bilder,  die  vor- 
hergehen, nicht  nur  diese  Epiphanie,  sondern  das  gesamte  Werk 
lesu  mitsamt  seiner  Gremeinde  voraus  und  überwuchern  das  ein- 
fache und  kräftige  Widerspiel  zwischen  dem  weltschaflenden  und 
dem  auf  Erden  erschienenen  Wort.    Daß  dies  Widerspiel  ein  ge- 


kircliliche  Exegese  hat  es  auch  nicht  gewagt  dem  was  nun  einmal  dasteht,  eine 
unmögliche  Deutung  aufzuzwingen:  zu  der,  recht  unvollständigen,  Sammlung  der 
Zeugnisse  bei  Tischendorf  hat  Resch  [TU  10,  4,  55]  Hippol.  5,  9  p.  172,  13  hinzu- 
gefügt; außerdem  können  noch  angeführt  werden  Clem.  exe.  ex  Theod.  41.  Ter- 
tuUian.  adv.  Prax.  12  p.  246,  9  Kroym.  und  von  späteren  Äthan,  c.  Arian.  1,  43. 
Festbriefe  3  p.  29  Cureton.  Erst  bei  Theodor  von  Mopsuhestia  taucht  der  Versuch 
auf,  BQxoiisvov  auf  t6  cpmg  zu  beziehen ;  zu  der  modernen  Erklärung  die  in  uner- 
hörter Weise  i]v  und  ig^o^srov  zusammennimmt,  hat  auch  er  sich  nicht  verstiegen. 
1)  Vgl.  oben  S.  SIS^  und  Philo  de  fuga  et  inu.  139.  de  spec.  legg.  1,  288, 
wo  die  'Weisheit'  die  jüdische  JTJ2Dn  ist,  wie  stets  bei  ihm;  leg.  alleg.  3, 167 
gjco?  ipvxfjs  TtaiSsLcc  [  =  "^DIÜ]  '■>  ^^  opif.  mundi  31  rö  aogcctov  xojI  voritbv  (p&g 
instvo  &SLOV  Xoyov  yeyovsv  ftxcbv  rov  diEQ^rivsvoccvros  X7]v  yivsGLv  ccvtov ,  der 
Schwulst  bedeutet  nichts  anderes  als  daß  das  Gesetz,  die  Thora  das  'Licht'  ist. 
Sap.  Sal.  18,  4  tovg  vtovs  gov,  öl    av  i](isXXsv  rb  äcpQ'aQXOv  vo^ov  tpms  tm  ccC&vl 


534  E.  Schwartz 

woUtes  gewesen  ist,  verrät  die  Thatsache  daß  der  Name  6  Xoyog 
nach  1,1  erst  1,14  wiederkehrt:  in  den  Zwischenstücken  ist  er 
durch  rö  (p&g  verdrängt.  Der  Uebergang  steckt  in  1,  4  und  soll 
durch  den  MittelbegrifF  der  goij  zu  Stande  kommen,  tut  es  aber 
nicht.  In  der  zweiten  Hälfte  des  Verses  sind  zwei  periphrastische 
Bezeichnungen  Christi  nebeneinander  gestellt;  das  Imperfectum 
zwingt  auch  hier  an  den  Christus  zu  denken^  der  auf  Erden  'war' : 
der  an  und  für  sich  mögliche,  echt  jüdische  Gedanke  daß  das  welt- 
schaffende Wort  dasselbe  ist  wie  das  das  die  Menschen  erleuchtet, 
konnte  nicht  in  die  Vergangenheit,  sondern  nur  ins  Praesens  oder 
das  Futur  der  Vergangenheit  gesetzt  werden.  Im  Anfang  des 
Verses  steckt  das  wirkliche,  mit  unseren  Mitteln  nicht  zu  lösende 
Räthsel  des  Prologs.  Die  Citate  die  von  Tischendorf  und  Resch 
[TU  10,  4,  52]  in  reichlicher  Menge ,  wenn  auch  nicht  vollständig  ^) 
gesammelt  sind,  lassen  keinen  Zweifel  darüber  aufkommen  daß 
die  gesamte  alte  Kirche  1,  3  in  der  Fassung  gelesen  hat :  ncivta 
di  ccvtov  eyevero  xal  ^captg  avtov  iyevsvo  ovds  ev.  In  der  zweiten 
Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts  hat  die  Polemik  gegen  die  Pneu- 
matomachen  die  Interpunktion  aufgebracht,  ^)  von  der  nur  Lachmann 
sich  zu  emancipieren  gewagt  hat :  xal  xcoqIs  avtov  iysveto  ovöe  sv  b 
yeyovsv.  Sie  ist  falsch ;  erst  die  sich  versteinernde  Trinitätsdogmatik 
hat  das  in  der  älteren  Exegese  noch  lebendige  Sprachgefühl  abge- 
stumpft, das  davor  warnte  das  scharf  betonte  ovde  ev  vom  Ende 
des  Satzes  wegzubringen  durch  einen  Zusatz,  der  an  und  für  sich 
leer   ist   und   zum   mindesten   hv   yeyovsv  hätte   lauten   müssen^). 

1)  Wichtig  ist  ein  heidnisches  Zeugnis,  das  des  Neuplatonikers  Amelius  bei 
Eus.  PE  11, 19,  1  tial  ovtog  ccqcc  t]v  6  X6yo£  v.a^'  ov  ia\  övta  rä  yivofisvcc  iyC- 
vsTO ,  ag  av  v.ccl  6  'HgatiXeLrog  Sc^imaeisv,  y-ccl  vi]  dC  ov  6  ßägßaQog  cc^lol  iv  xfji 
xfig  &QXVS  rä^SL  ts  v.aX  cc^lccl  Ha&iatri'iiotcc  Ttgbg  &sbv  sivai  -nal  &s6v  slvat'  dt'  ov 
7tdv&^  änXüg  ysyevfjö&ai '  iv  cot  tb  yevo^svov  ^mv  -aal  ^(üi}v  kccI  ov  Ttecpvn^'vat,  xal 
slg  ta  G&yLccta  TCiTttsiv  nal  oägv-a  ivSvad^svov  cpavtd^saQ'ai  avd-Qconov  xt/1. 

2)  Vgl.  vor  allem  Chrysost.  t.  VlII  p.  35»  oi  yäg  di]  xt]v  xsXsCav  axiyiiriv  x&t 
oiSe  8v  iTtid^-^aofiev  yiaxä  xovg  aiQBXL-novg'  1-hhvoi  ya^»  ßovX6[i£voL  xb  Tcvsv^a  nxiaxbv 
elnsLVf  (pccalv  oysyovsvivavx&L,  ^wrj  ^v:  daß  so  zu  interpungicren  ist, 
lehrt  die  folgende  Auseinandersetzung,  vgl.  namentlich  p.  35*  sl  8h  i]  ^ai]  6  Xöyosy 
3  Se  yiyovEv  iv  avrooi,  ^ai}  tJv,  ccbxbg  iv  ccvx&l  nal  dt'  eavxov  yiyovs  yiaxcc  xr]v 
ScväyvcoaLv  xavxriv  und  p.  3Ge  bI  yccg  xb  cp&g  xb  &XTid'ivbv  ö  vt6g  iaxiy  xb  dh  q)mg 
xovxo  ^(ari  ^v,  r}  öh  ^ojtj  y^yovBv  iv  avx&i,  dvdyKri  nccaa  xovxo  GvvEVixQ-fjvai  xara 
xriv  itisCvaiv  ccvccyvaxsiv.  Theodor  von  Mopsuhestia  erwähnt  außerdem  noch  die 
Lesung  [p.  26,  19  ff.] :  %cö(>ts  a'bxov  iyivsxo  oifSs  'iv  o  ytyovEv  iv  avzüi :  sie  ist  na- 
türlich ebenso  verkehrt  wie  cbSe  'iv  o  yiyovEv,  verrät  aber  eine  richtige  Empfindung 
dafür  daß  man  wohl  sagen  konnte  'der  Logos  war  Lebend  aber  nicht  'in  ihm' 
oder  'durch  ihn  war  Leben'. 

3)  Der  Sprachgebrauch  von  o^dl  «ff  und  oidl  %v  lä6t  sich  in  der  Komoedie 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  535 

"Wenn  die  neueren  Exegeten  sicli  darauf  berufen  daß  ö  yiyovsv  iv 
avtm  ^a)Y)  ijv  sicli  nicht  deuten  läßt,  ist  dagegen  zu  bemerken  daß 
aucb  SV  avxCbi  ^coii  r^v  schief  und  nichtssagend  ist  und  der  Sprung 
von  dem  weltschaffenden  Wort  auf  das  in  der  "Welt  erschienene 
Licht  der  Menschen  nach  wie  vor  bleibt :  es  wird  also  durch  die 
sprachwidrige  Interpunktion  nach  o  yiyovsv  nichts  gewonnen. 
Allerdings  wird  jeder  der  die  Versuche  der  jüngeren  Yalentinianer, 
des  Clemens  und  Origenes  u.  a.  mit  den  "Worten  ö  yiyovsv  h  av- 
tcot  ^(DYi  Yiv  fertig  zu  werden  vorurteilslos  durchmustert,  durch 
eben  diese  Versuche  bestätigt  finden ,  was  er  sich  von  vornherein 
hat  sagen  müssen :  daß  die  Worte  sich  nicht  befriedigend  erklären 
lassen  und  auch  die  alte  bis  ins  zweite  Jahrhundert  zurücklau- 
fende Conjeetur  die  wegen  yiyovsv  rjv  in  iörcv  änderte,  vergeblich 
war.  Es  hilft  kein  Drehen  und  Wenden:  hier  hat  ein  Ueberar- 
beiter  einem  überlieferten  Wortlaut  einen  neuen  Sinn  aufzwingen 
wollen,  indem  er  ihn  teilweise  änderte  und  teilweise  stehen  ließ, 
und  es  ist  aussichtslos  das  Ursprüngliche  wiedergewinnen  zu  wollen. 
Nur  unsicher  läßt  sich  ahnen  was  der  TJeberarbeiter  meinte ,  da 
er  seine  eigenen  Worte  mit  fremden  vermischt  hat:  ich  möchte 
glauben  daß  die  Deutung  bei  Clem.  exe.  ex  Theod.  19  dem  Rich- 
tigen am  nächsten  kommt  ^). 


verfolgen;  ich  bringe  folgende  Stellen  zusammen:  Krates  14.  Kratinos  302, 
Aristoph.  Frö.  928.  Plut.  138.  1115.  1182.  Plat.  52.  Theopomp.  14.  Antiphan. 
85.  Eubulos  9.  Nikostratos  30.  Amphis  20.  44.  Anaxilas  22.  Aristophon  3.  9.  10. 
Alexis  25.  27.  48.  110.  125.  146.  219.  220.  Klearchos  3.  Dionysios  5.  7.  Xenar- 
chos  7.  Philemon  4,  11.  71.  91.  97.  117.  123.  134.  Diphilos  71.  94.  Menander 
2a(i.  140.  'Enitg.  69.  99.  193.  243.  307.  516.  nsQi%.  59.  frg.  4.  51.  65.  130.  169. 
418.  466.  535.  547.  571.  746.  Apollodor  6.  Philippides  16.  Hegesippos  1.  2. 
Euphron  12.  Baton  2.  Straton  1.  Poliochos  1.  ine.  108.  189.  Dazu  kommen  ein 
paar  Stellen  aus  Herondas  erstem  Gedicht  [43.  45.  48].  Wer  die  Stellen  durch- 
sieht, wird  finden  daß  ovds  ev  sehr  häufig  am  Ende  des  Satzes  oder  Satzteiles 
steht,  dagegen  sehr  selten  einen  Relativsatz  neben  sich  hat  und  diesen  stets  in 
der  Form  daß  das  Relativpronomen  im  partitiven  Genitiv  des  Plurals  steht: 
Amphis  20  firids  'ev  nliov  av  ßovXstcci,  ÖQav.  Philemon  123  =  Strat.  1  ovds  %v 
03V  av  liyriL  6vvCr\iiv.  Etwas  anders  ist  Philemon  117  ovv.  sar^  ovds  sIs  ai  ^rj 
Y.av,6v  XI  yiyovEv. 

1)  XBV.VOV  tov  iv  tavxoxriti  loyov  6  öcorrjQ  sl'Qritai *  Siä  tovto  sv  ccQXV f- 
7iv  6  X6yog  xal  6  Xoyog  rj  v  Ttgbg  tbv  d'sov  o  yiyovsv  iv  avtoa,  ^at] 
satLV,  ^(oi]  Se  6  ytvQLog.  xal  6  Uccvlog  [Eph.  4,24]  evdvacci  tbv  -Aaivbv 
a.vQ'Q  (üitov  tbv  KccTcc  d'sbv  -KViod'  svtcc,  OLOV  stg  ccvtbv  TtLötsvöov  tbv  vTcb 
tov  &80V  v.atcc  d-Eov,  tbv  iv  ds&L  Xoyov,  v,tia%-ivtcc.  Er  versteht:  'Jesus  Christus 
=  ^(ori  ist  durch  den  Logos  geworden,'  und  das  ist  allerdings  die  Deutung  die 
am  nächsten  liegt.  Es  stört  nur  das  Neutrum  und  daß  Christus  hier  unmittelbar 
und  unvermittelt  nach  der  Weltschöpfung  eingeführt  wird. 


536  E.  Schwartz 

Ans  diesen  Tatsachen  läßt  sich  so  viel  schließen  daß  die  Identi- 
fication des  weltschaffenden  Wortes  mit  lesns  Christus  nicht  erst 
durch  die  letzte  Ueberarbeitung  in  das  vierte  Evangelium  ge- 
kommen ist;  eine  andere  Frage  ist  ob  sie  dem  ursprünglichen 
Evangelium  angehört.  Es  hilft  nicht  weiter,  daß  in  der  übel  zu- 
gerichteten Stelle  4, 37  der  Logos  noch  einmal  vorzukommen 
scheint ,  und  10, 35  wird  grade  auf  lesus  der  Name  nicht  oder 
wenigstens  nicht  ausdrücklich  übertragen,  so  daß  auch  diese  Stelle 
sich  nach  keiner  Seite  hin  verwenden  läßt.  Doch  verdient  es  Be- 
achtung daß  der  Interpolator  des  ersten  lohannesbriefs  den  Aus- 
druck koyog  nur  als  Citat  braucht  und  daß  ferner  die  gesamten 
Abschiedsreden,  die  zum  größten  Theil  der  Ueberarbeitung  ange- 
hören, mit  dem  Namen  nicht  operieren,  während  umgekehrt  der 
Prolog,  von  den  erweislich  jungen  Stellen  1,14  und  1,18  abge- 
sehen, nicht  von  Sohn  und  Vater  redet:  daß  Xoyog  und  vlös  corre- 
late  Begriffe  sind,  muß  dem  Text  des  vierten  Evangeliums  wie  er 
nun  einmal  geworden  ist,  untergelegt  werden.  Es  nimmt  dieser 
Beobachtung  nichts  an  Grewicht,  daß  die  dazu  nötigen  Mittelbe- 
griffe leicht  und  zwanglos  aus  der  jüdischen  Speculation  entnommen 
werden  können,  und  sie  legt  die  Vermutung  nahe,  daß  allerdings 
der  ursprüngliche  Evangelist  an  Stelle  des  Jesus  den  die  Taufe 
durch  Johannes  zum  Messias  machte,  das  fleisehgewordene  Wort 
setzte,  dessen  aQStai  zu  erzählen  er  unternahm. 

Wie  dem  auch  sein  möge,  die  Tatsache  bleibt  von  größter 
Bedeutung ,  daß  an  der  Spitze  eines  kanonisch  gewordenen  Evan- 
geliums ein  Begriff  stand,  der  zu  metaphysischen  Constructionen 
direct  herausforderte  und  denn  auch  wirklich  das  Tor  geworden 
ist,  durch  das  die  philosophierende  Dogmatik  in  die  Kirche  einzog. 
So  bereitwillig  ich  zugebe  daß  diese  Dogmatik  große  Anleihen 
bei  der  griechischen  Philosophie  gemacht  hat  und  daß  die  Ausdeu- 
tungen des  Logos  unendlich  viel  Hellenisches  enthalten,  um  so 
energischer  muß  ich  dagegen  protestieren,  daß  der  Name  und  Be- 
griff selbst  aus  der  griechischen  Metaphysik  hergeleitet  wird:  er 
ist  und  bleibt  im  Kern  und  Wesen  jüdisch.  Im  vierten  Evan- 
gelium heißt  Xöyog  Wort  und  nicht  Denken  oder  Vernunft;  das 
hält  der  spätere  Interpolator  noch  fest^):  das  Wort  hat  die  Welt 
geschaffen,  wie  in  der  Weisheit  Salomonis  ^) ,  und  es  war  bei  Grott 


1)  Vgl.  mit  1  loh.  1,1  tov  Xdyov  tijg  ^afjg  6, 63   tä   (rjliara   a    iym    XsXd- 
Xri%a  vfi,iv,  Ttvsviid  iariv  xal  ^a-q  iariv. 

2)  9, 1  6  TCOLTJoae  rä  ndvxa  iv  X6ym  cov.   Daneben,  nach  den  Proverbien,9, 9 
ftcra  aov  ii  oo(fCa  rj  dövCu  tu  iQya  cov  nccl  nagoiicu  ots  inoietg  xbv  'K6ciioVf  xat 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  537 

wie  die  Weisheit  der  Proverbieii;  die  Speculation  ist  in  eclit 
jüdischer  Weise  aus  der  Exegese  erwachsen,  durch  Combination 
von  Gren.  1  und  Proverb.  8.  Kein  griechischer  Philosoph  konnte 
auf  den  Gedanken  verfallen  daß  das  Denken  Fleisch  wurde ,  er 
würde  auch  nie  den  Ausdruck  6ccq^  eysvsto  gebraucht  haben  um 
die  Epiphanie  des  Göttlichen  zu  bezeichnen ;  dem  Juden  der  ge- 
wohnt war  das  'Wort  des  Herrn'  als  eine  lebendige  Eealität  zu 
empfinden,  dem  das  Gresetz  und  die  Propheten  als  Reden  Jahvehs 
galten,  lag  der  Grlaube  an  eine  leibliche  Erscheinung  dieser  Kraft 
Gottes  durchaus  nicht  fern. 

Man  hat  versucht  den  alexandrinischen  Eabbiner  Philo  zu 
einem  griechischen  Philosophen  zu  stempeln ,  der  den  Logos  des 
vierten  Evangeliums  aus  der  hellenischen  Speculation  hergeholt 
habe ,  und  man  hat ,  in  dem  richtigen  Gefühl  daß  jener  flache 
Schwätzer  es  nicht  verdient  zum  Träger  eines  der  bedeutungs- 
vollsten Processe  in  der  Geistesgeschichte  erhoben  zu  werden, 
zwischen  dem  philonischen  und  johanneischen  Logos  eine  Scheide- 
wand aufrichten  wollen.  Beides  ist  verkehrt.  Der  Logos  Philons 
und  des  vierten  Evangeliums  ist  der  Herkunft  nach  derselbe,  wenn 
auch  die  schließliche  Prägung  des  Begriffs  bei  beiden  verschieden 
ist ;  aber  die  Herkunft  ist  nicht  die  stoische  oder  platonische  oder 
irgend  eine  griechische  Philosophie,  sondern  die  jüdische  specula- 
tive  Exegese.  Das  muß  besonders  für  Philo  sehr  bestimmt  be- 
hauptet werden.  Aus  dem  Talmud  läßt  sich  freilich  der  Beweis 
nicht  oder  doch  nur  sehr  partiell  führen;  denn  der  Talmud  lehrt 
nun  einmal  für  das  vorhadrianische  Judentum  blutwenig,  weil  er 
die  hellenischen  Bildungselemente  denen  gegenüber  das  Judentum 
des  1.  nachchristlichen  Jahrhunderts  noch  weitherzig  war,  ab- 
sichtlich ausstößt:  wer  aber  auch  nur  mit  so  geringer  Kenntnis 
des  A.  T.  wie  ich  sie  besitze ,  Philo  selbst  liest  und  sich  um  die 
Darstellungen  seines  'Systems'  nicht  kümmert,  der  ist  über  die 
Fülle  der  Berührungen  und  Beziehungen  überrascht,  die  Philo  mit 
den  späteren  Teilen  des  A.  T.  verbinden.  Von  griechischen  Philo- 
sophemen  findet  sich  nur  Einzelnes ,  das  aus  dem  Zusammenhang 
gerissen  ist;  die  Fetzen  platonischer,  stoischer,  neupythagoreischer, 
skeptischer  Doctrin,  so  wertvolles  sie  ab  und  zu  erhalten  haben, 
widerstehen  hartnäckig  dem  Versuch  sie  zu  einer  einheitlichen 
Lehre  zusammenzuordnen.  Kratzt  man  aber  die  philosophische 
Tünche  ab,  entschließt  man  sich  in  den  griechischen  Termini  nichts 


iTtiatafievT)  xC  ccgsarbv  iv  öcp&ccXfiOLg  cov  -aal  xi  svd'es  ^v  ivxoXaig  6ov  :  die  Weis- 
heit ist  zugleich  ethische  und  kosmische  Potenz. 


538  ^-  Schwartz 

anderes  als  die  dünne  Hülle  zu  sehen,  durch  die  die  jüdischen 
Vorstellungen  durchschimmern,  dann  schwinden  die  Widersprüche 
und  Ungereimtheiten  und  das  Bild  des  Juden  tritt  hervor ,  dem 
alle  Philosophie  doch  nur  eins  von  den  Mitteln  ist,  das  Gesetz  zu 
commentieren  oder  als  höchste  ethische  Offenbarung  zu  preisen. 
Philo  ist  der  charakteristische  Typus  des  Rabbiners  der  mit  seiner 
philosophischen  Bildung  prunkt,  aber  beileibe  auf  die  Rolle  nicht 
verzichten  will,  der  gesetzestreue  Lehrer  der  Gemeinde  zu  sein: 
von  einer  Aufklärung  die  das  Ritualgesetz  auflöst ,  will  er  nichts 
wissen,  weil  das  dem  Ansehn  bei  der  Gemeinde  schadet  ^),  und  die 
Renegaten  die  das  Gesetz  und  den  Glauben  an  den  Vorzug  des 
auserwählten  Volkes  bestreiten,  ^)  verfolgt  er  mit  demselben  Eifer 
wie  ein  orthodoxer  Sadducaeer.  Von  dem  Vorrang  seines  Volkes 
denkt  er  sehr  hoch:  es  ist  von  Gott  eingesetzt  als  Hoherpriester 
der  für  alle  Völker  betet  um  Segen  und  Gnade  ^) :  die  Fürbitte 
der  Synagoge  für  den  Kaiser  schimmert  durch.  Ihm  ist  auch  die 
richtige  Deutung  des  'Gerechten'  auf  Israel^)  keineswegs  unbe- 
kannt; trotz  aller  Spiritualisierung  melden  sich  in  de  praemiis  et 
poenis  [163  ff.]  die  Hoffnungen  des  Deuterojesaias  auf  eine  Wieder- 
vereinigung der  'Zerstreuten'  deutlich  an ,  und  der  echte  Jude 
verrät  sich  in  dem  Gedanken  des  unerbittlichen  Gerichts,  das  den 
ungerecht  Bedrückten  hilft,  ^)  in  der  Lehre  vom  'Rest  der  Frommen^, 


1)  De  migr.  Abrah.  89  stoL  tiveg  ot  tovg  qritovg  vofiovg  cvfißoXa  vo7]x&v 
nQCcy[idx(ov  v7toXa(ißdvovrsg  tu  [ihv  ayav  rjnQißcooav,  rav  dl  QUid-v^ag  mliyrngriöccv ' 
ovg  iiBfitpaCfiriv  av  fyays  Tfjg  EvxBQBiag.  bSbl  yccQ  ccfi^otegcov  iTti^sXrid^fivcii,  ^riti^' 
asas  rs  tmv  Sc(pavä)V  ccyiQLßsorBQccg  %al  raniBiag  t&v  cpavBQ&v  avBTttXrinxov.  .  .  . 
90  6  LBQog  Xoyog  SiddayiBi,  XQriüxfig  vnoXriipBcog  TtBcpQOvxLHBvccL  xal  (iridBv  x&v  iv 
xotg  t^Böi  XvBiv,  a  d-BOTtiaioi  tial  (iBi^ovg  dvÖQBg  ?)  v.ced''  Tjfta?  mgiaar  ...  93 
ccXXä  XQV  TCfVTa  [ibv  üm^axL  Boiv-ivui  vofii^fiv,  ij^vxfjt,  Sb  iKtcrcc '  cÖgubq  ovv  Gm- 
ftaros,  iTtBiSr}  ipvxfig  iaxiv  olttog,  Ttgovorixiov,  ovxm  -nal  xäv  Qr]x&v  vofiav  IniyLB- 
XrixBov '  (fvXaxxo^Bvav  yccQ  xovxcov  dgidriXoxBQOv  kSckbivu  yvcoQia&^aBxat,  mv  bIciv 
ovxoL  öviißoXa,  ngbg  x&i  v,al  xäg  &7t6  x  ibv  tcoXX&v  ^BfitpBig  nal  -kccxti- 
yoglag  &7t  od  iSgaa-nB  iv. 

2)  Vgl.  de  confus.  ling.  2.  qu.  rer.  diuin.  her.  s.  81.  de  mut.  nom.  60. 

3)  De  Abrah.  98  og  [Abraham]  ovn  ^^ibXXbv  ÖXiyav  Scgid^^bv  vt&v  .  .  yBvv&v, 
&XX'  oXov  Bd-vog  xal  id^vibv  xb  d'BocptXBaxaxov  o  fiOL  douBt  xijv  vtiIq  Ttavxbg  &v- 
d-Qa)7t(ov  yivovg  tBQoaavvriv  %al  TtgotprixBiav  XaxBiv.  Vit.  Moys.  1,  149.  Vgl.  Ps.  71  (72). 

4)  De  praem.  et  poen.  125  yiB(paXr]v  fiiv  xov  dv^gartBiov  yhovg  BOBG&aC  <priai 
xbv  anovSttiov  stx  b  av  S  q  a  b  tx  b  Xa  6v. 

5)  De  migr,  Abr.  225  oi)  yccg  igrifiCa  ys  t&v  ßori9'Tiü6vxa)v  xotg  nccgaonov- 
dovfiBvoig  iaxLV,  &XXä  xav  oi(ovxai  xivBg  ^  olriaovxai  (i6voVf  ScTtBXByx^VOOvxuL  dh 
TÄt  Bgycai  ipBvSoSo^ovvxBg.  ^axiv  ydg,  ?axiv  i^  (iioojtSvrigog  xai  ScfiB^Xtiixog  xal 
ddiKOviiBvoav  dgcaybg  itnagccCxrixog  dCuri. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  539 

um  deren  willen  Grott  seine  G-nade  auch  den  Unwürdigen  schenkt  ^). 
Die  Vergeltung  auf  Erden  ist  ein  Problem  dem  kein  Jude  aus 
dem  Wege  gehn  konnte;  und  wenn  es  bei  Philo  auftaucht^),  so 
ist  es  ein  Symptom  dafür  daß  er  trotz  aller  angelernten  Philo- 
sophie doch  Jude  geblieben  ist.  Eindringlich  schärft  er  die  Pflicht 
des  Dankgebetes  ein,  das  zugleich  das  Bekenntnis  zu  dem  einen 
Grott  ist,  der  Himmel  und  Erde  geschaffen  und  dem  der  Mensch 
alles  verdankt  ^) :  wer  sich  selbst  und  seine  Vernunft  für  die 
Ursache  der  Werte  hält,  alles  für  eigenen  Besitz  und  nicht  für 
Grottes  Eigentum  erklärt,  ist  ein  arger  Sünder  ^) ;  er  wird  nicht 
müde  vor  (piXavtia  und  olri^ig  auf  das  eindringlichste  zu  warnen  ^). 
Man  erkennt  welch  centrale  Stellung  für  das  Judentum  ausserhalb 
Jerusalems   das  dankende  Bekenntnis   zu  Grott  dem   Schöpfer   ge- 


1)  De  special,  leg.  2, 47  mit  deutlichem  Anklang  an  les.  42, 3.  de  sacrif. 
Abel  et  Cain  124.  de  migr.  Abr.  124. 

2)  De  special,  leg.  1,313  f.  de  gig.  56  ^rcog  sl-aog  iöoxQovLovg  eIvccl  rovg 
vTtccLTLOvs  [die  Sünder]  tm  navaocpcoi  ytal  TtQOcprJTriL ;  de  opif.  mundi  80  f. 

3)  De  plant.  126  SKccGTri  fiev  ys  t&v  ccQsrmv  iati  XQfjiia  ayiov,  Bv%ccQi6tCa  8e 
vTtsgßuXXovTcos '  ^saL  8s  ovn  i'vsari  yrriGicog  EvxccQißrf]6ai  öl  '  wv  vofii^ovOLV  ot 
noXXol  ■ncctccG'nsv&v  ccvad-ri(idtcov  %-v6iSiV  .  .  .  ccXXa.  dC  inaLvcov  xat  v^vcov  :  die 
darauf  folgende  Parabel  ist  echt  jüdisch,  de  agr.  172.  de  somn.  2,  268.  de  sobr. 
58.  qu.  d.  s.  imm.  7  tlvl  sv%aqi6trixiov  aXXan  nXj]v  &£a)L\  de  migr.  Abr.  25.  Man 
beachte  besonders  den  universalen  Inhalt  der  EvxaqiGxCcc,  de  spec.  leg.  1,210  f.  qu. 
d.  s.  immut.  107.  leg.  alleg.  3, 78.  svxaqiGxBiv  —  EloiioXoyst6%-ai  =  Gott  be- 
kennen leg.  alleg.  1,82.  2,95.  de  ebr.  117  tiiiTiaai  TtgsTtovrag  tb  ov  [=  T\^'n^] 
8lcc  tov  6ccq)eaTaTcc  m^oXoyri'asvcii  oxi  d&QOv  saxLv  ccvxov  xods  xb  nav.  Ygl.  Sap. 
Salom,  8,  21  yvovg  oxi  ovv,  aXXoig  bgo^ch  iyzgux-^g,  iäv  [ir]  6  d'sbg  8m,  xal  xovxo 
S'tjv  (pQ0vri6E(ag  xb  siSsvcct  xCvog  rj  x^Q'-?-     lÖ,  28  8eL  cpd'dvsLv  xbv   ^Xiov    sn     sv- 

XCCQlÖXtaV   60V. 

4)  De  opif.  mundi  169  b8sl  xb  xav  av&'QmTtcov  yevog,  sl  xrjv  &q[i6xtov6ccv 
BfisXXE  SCuriv  vTCo^EvEiv,  r}cpccvi6&cii  8LCi  xT]v  Ttgbg  xbv  EVEQyExr\v  yiaX  acoxiiqa  &Ebv 
ccxaQiaxLav.  de  sacrif.  Abel,  et  Cain  2.  54.  leg.  all.  3,  30  f.,  wo  die  Gottlosen  in 
epikureischen  Formeln  reden,  de  poster.  Cain  36  ist  der  mißverstandene  Satz 
des  Protagoras  hineingezogen,  de  somn.  1, 244  ^dxatog  oaxLg  firj  Q'e&i,  cxriXtiv 
avaxC^riGLv,  aU'  euvx&i.  de  agr.  171.  de  poster.  Cain  115.  175.  de  Cherub.  64  f. 
71.  leg.  all.  3, 195.     de  fuga  et  inu.  199. 

5)  De  congr.  erud.  grat.  130  at  {ipvxcd)  .  .  .  ^aviiä^ovaai  xbv  8i86vxa  yta-nbv 
(ii'yiöxov,  q)iXavxiccv,  ayuQ-m  xeXelcoi,,  &£06£ßELai,  Siad-ovvxai.  de  posterit.  Cain  21.  de 
agr.  173  8Lä  cpiXavxiccv  .  .  .  ovx  vTtofievovöL  xbv  (piXoSagov  yiccl  xeXe6(p6qov  &Ebv 
cci'xiov  ccTtocpTjvcci  x&v  dyccd-äv.  de  conf.  ling.  128.  qu.  deter.  pot.  ins.  sol.  32  if. 
paraphrasiert  die  Raisonnements  die  das  A.  T.  den  Gottlosen  in  den  Mund  legt; 
Philo  gleicht  sie  den  Sophisten,  was  nicht  täuschen  darf,  vgl.  auch  leg.  alleg.  3, 
231.  de  migr.  Abr.  74.  leg.  all.  1,  49  (pCXavxog  kccI  aQ-sog  b  vovg  oCofiEvog  i'aog  Etvai 
Q'E&i.  oi'riGLg  de  Cher.  57.  de  spec.  legg.  1, 10.  de  poster.  Cain.  46  xatr'  ccQExfig 
tfjXov  [d.  h.  aus  Frömmigkeit]  cxiXXovxEg  savxovg  dnb  oiSovarig  o^asa^. 


540  E«  Schwartz 

Wonnen  hat.  Es  ist  das  öv^ißoXov  in  dem  sich  die  Juden  aller 
Orten  zusammenfinden,  das  ihnen  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
den  Tempelcultus  ersetzt,  und  die  Kirche  ist  auch  darin  die  Erbin 
der  jüdischen  Gemeinde,  daß  sie  bei  ihrer  Gemeindefeier  der  Eucha- 
ristie die  bevorzugte  Stelle  einräumt,  die  dem  Ganzen  den  Namen 
gibt;  im  Dankgebet  der  Meßliturgie  lebt  der  echtjüdische  Brauch 
fort  bis  auf  den  heutigen  Tag.  So  sehr  übrigens  der  Alexan- 
driner Cultus  und  Tempel  spiritualisiert :  ihm  ist  doch  der  Hohe- 
priester, der  Vertreter  der  Theokratie,  die  höchste  Erscheinung 
des  Heiligen  auf  Erden  ^);  zu  der  sinnlichen  Pracht  des  Lobge- 
sangs den  lesus  Sirach  auf  den  Gesalbten  Israels  anstimmt,  kann 
er  sich  aus  inneren  und  äußeren  Gründen  freilich  nicht  mehr  er- 
heben, aber  bei  den  Allegorien  mit  denen  er  den  Hohenpriester 
umkleidet,  kommt  es  mindestens  ebenso  auf  die  exceptionelle 
Stellung  an,  die  er  ihm  durch  jene  anweist,  als  auf  die  Deutungen 
selbst. 

Machtens  die  Worte  allein,  so  könnte  man  schon  versucht 
sein  Philos  ethische  Begriffe  aus  der  hellenistischen  Philosophie 
herzuleiten:  er  redet  oft  von  svdai^ovi'a  und  aQStaC,  die  vier 
Tugenden  der  Stoiker  mit  ihren  Definitionen,  die  aXoyoi  og^av  = 
Tccid-ri,  die  seit  dem  5.  Jahrh.  v.  Chr.  in  Umlauf  befindlichen  Sche- 
mata der  Erziehungslehre,  (pvöig  ccöxrjeig  ^dd"r}6ig,  und  vieles  andere 
machen  sich  breit  genug.  Wer  sich  durch  diesen  Flitter  nicht 
blenden  läßt  und  schärfer  zusieht,  merkt  bald,  daß  das  alles  nur 
oberflächlicher  Bildungsstolz  ist ;  im  Grunde  rührt  sich ,  immer 
wieder  durchbrechend,  die  Moral  des  Judentums.  Gelegentlich 
liegt  stoisches  und  jüdisches  dicht  nebeneinander  ^) ,  so  daß  man 
sieht  wie  der  Rabbi  unorganisch  die  angelernte  griechische  Defi- 
nition auf  das  Jüdische  draufgeleimt  hat;  es  fehlt  aber  auch  nicht 
an  Stellen,  wo  eine  Summe  reinjüdischer  Moralgebote  ^)  zusammen- 


1)  De  somn.  2, 185  ff.  de  fuga  et  inu.  108. 

2)  Als  Beispiel  möge  genügen  leg.  alleg.  1,  87  6cnovs(ir]ri')ti]  t&v  xar  a^i'av 
iötlv  ^  dinaioavvT]  xal  rfVaxrai  o^xe  ytara  xbv  liaxriyoQOv  o^xs  xaros  xbv  anoXo- 
yovtiEvov,  ScXXcc  -kuxcc  xbv  diyiaax^v.  utaTceg  ovv  6  ÖLyiaaxrjg  o^xs  vi-nfioaC  xivag 
TCQO'^iQrixai,  0^X8  noXifiTjauL  tiai  xai.  ivavxKod^fjvai ,  yvmfiriv  öh  cc7tocpTivcc(ievog 
ßQaßsvsi  xb  8C%aioVy  ovrw?  17  dinaioavvri  oiÖEvbg  ovaa  ccvxCdinog  änoviyiti  xb 
xdr  &ziav  ituHaxat,  ngäyiiaxL.  Die  stoische  Definition  die  wie  gewöhnlich  auf 
ältere  schon  im  4.  Jahrb.  nachweisbare  Anschauungen  zurückläuft,  ist  hier  zu 
der  jüdischen  Auffassung  verdreht,  die  bei  der  Gerechtigkeit  immer  an  den  Richter, 
uämlich  Gott  denkt:  in  dem  Schlußsatz  kann  Gott  einfach  für  ÖL-KaioavvTi  ein- 
gesetzt werden. 

3)  De  post.  Cain  181  xmag  yovimv,  iTtifieXsiav  yvyaixos,  naCScov  <iyö)yag, 
jjpijactff  djÄf/A^TTOVs  oUsxav  [les.   Sir.  7, 20 ff.],   knixQonr]v    oUiagy   noXeag   [d.h. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  541 

geordnet  ist:  ja  die  Art  wie  der  fromme  Jude  sich  in  der  Welt 
benehmen  soll,  weiß  Philo  ähnlich  wie  lesus  Sirach  zu  schildern  *) ; 
es  war  offenbar  ein  stehendes  Thema  der  Weisheitslehrer.  Frömmig- 
keit und  Nächstenliebe  zu  coordinieren  ist  jüdisch,  wie  das  Al- 
mosen -),  das  bei  Philo  nicht  fehlt ;  der  Unterschied  freiwilliger 
und  unfreiwilliger  Sünden^)  ist  ein  Problem  der  jüdischen  Ge- 
rechtigkeit ,  die  immer  nack  der  Rechtfertigung  vor  Grott  strebt, 
sowie  Buße  und  Umkehr  kein  griechisches  Moralgebot  ist,  am  aller- 
wenigsten wenn  sie  das  Correlat  zur  göttlichen  Gnade  ist*),  Es 
liegt  weit  von  jeder  hellenistischen,  auch  von  der  platonischen 
Ethik  ab,  die  svösßsLa  für  die  vornehmste  und  erste  Tugend^)  zu 
erklären,  und  Philo  bestimmt  die  svöai^ovca  ^),  für  die  er  das  Wort 


der  Gemeinde]  TtgocraGLav,  ßsßaLojGiv  vo^av,  qpvAaxrjv  i&av ,  ttjv  ngog  TtQEoßvri- 
Qovs  aidco,  X7]v  TtQos  tovg  tsvsXsvTij'noTag  svcpri^LCCv  [les.  Sir.  7,  23.  8,  7],  ti]v  ngog 
rovg  ^cüvvag  ^oivcoviav,  ti]v  Ttgog  rö  &slov  iv  Xoyoig  xal  tgyoig  svGsßsLuv.  Aehn- 
lich  qu.  d.  s.  immut.  17.  de  mut.  nom.  40.  226 ;  vgl.  auch  de  ebr.  17  ff.  [Eltern- 
liebe, Almosen,  Erfüllung  des  Ritualgesetzes]. 

1)  De  fuga  et  inuent.  29  ff.,  ein  Stück  das  von  Philos  sonstigen  ethischen 
Auseinandersetzungen  sehr  absticht,  aber  echt  jüdische  Anschauungen  aufweist; 
vgl.  les.  Sir.  14,13.  29,1.  10.  34, 16  ff.  25  ff. 

2)  De  Abr.  208  r^s  avriig  (pvGsmg  iariv  svGsßf]  ts  sIvul  v.cn  (piXdvQ^Qa'itov. 
Ueber  Almosen  vgl.  außer  den  S.  540^  angeführten  Stellen  de  agr.  90  5iv  «x  tfig 
ot'A.Cag  LTtTcav  ^hv  ccyUcii  Kcctevaxri^svcov  ccsl  nqo^QXOvxai,  ccvd-gmjtcov  ds  snoiievcov 
ovds  Big  BQdvov  slg  STtccvoQd^aaiv  evSsCctg^  ov  daQsäv  slg  TCBQiovaCav  svQiß'nofisvog. 
Philo  braucht  iXsri^oavvri  aus  Gründen  des  Stils  nicht,  sondern  ersetzt  es  durch 
tgavog,  dagscc,  xaqtXBaO'aL. 

3)  De  opif.  mundi  128.  de  sacrif.  Abel  et  Cain  48.  quod  det.  pot.  ins.  sol. 
97.  qu.  d.  s.  imm.  128.  de  conf.  ling.  178. 

4)  De  somn.  2,  292  ccAoXav.svxai  v.a,l  ccdB-Adatan  XQV^dfisvoi  6V(ißov?.(ot  fisra- 
voiai,  xriv  tXsco  xov  övxog  [==  niiT^]  Svva^iv  s^sviieviadfisvot  nccXivoÖLCcig  avxl 
ßsß-qXcav  isgatg,  ccfivriGxiciv  svqt^govxui,  navxsXf].  1, 91.  qu.  det.  pot.  ins.  sol.  95. 
Cherub.  2.  leg.  alleg.  3,211.  de  post.  Cain.  178.  leg.  all.  3,106  dsiTivvvxog  xov 
tsQOv  Xoyov  oxL  ovde  xotg  cciiaqxdvovGiv  BvQ^vg  ini^Biaiv  6  ^«o?,  ccXXcc  dtdaat  %q6vov 
Big  (iBxdvoiav.  Echt.jüdisch  auch  qu.  det.  pot.  ins.  sol.  146  i-nBXBvaiifv  [das  phi- 
lonische  Wort  für  'beten']  ovv  xov  d^Bov  ot  cvvBidriGBi  x&v  ot-nBLav  ccdL-iirifidxoiv 
iXByxofisvoL  yioXdoKL  ^äXXov  fjnäg  t)  nagBivai. 

5)  De  opif.  mundi  154  xrjv  p,Byi6xriv  x&v  dQBx&v  &B06BßBiccv.  de  Abr.  60 
i^Btvog  xoLvvv  BvGBßBiag,  ccQBxiig  '^^'S  ccvaxdxfo  yiccl  fiByiaxTig,  ^riXaxr^g  ysvoiisvog 
ianovdaGBv  BTtBG&at  O'fcot  nal  7iaTa7t£Ld'r]g  Bivai  xoig  7CQ06tccxTO[iBvoig  vn'  avxoVj 
eine  den  Griechen  gänzlichj  fremde  Bestimmung  der  BvoBßBia.  Cherub.  107  xb 
öovXbvblv  d^BcäL  fiByLOTov  u^xw^-  ^^  sacrif.  Abel  et  Cain  37  ist  der  stoische 
Ttovog  auf  die  niJl''  tli^  THIÜ  =  ^BQccTtBicc  xov  &bov  bezogen,  und  das  jüdische 
, Gefallen  vor  Gott'  geschmacklos  mit  der  stoischen  Tugend  combiniert:  ttjv  ngög 
Q'sbv  '/.aX  ccQBxriv  ccQB'aKBiav. 

6)  De  poster.  Cain  12.  185  ^bov  xi^av  yial  xijg  XsLxovQyiag  avxov  nsQii- 
XBoO^cci'  nriyj]  yccQ  Bvdainovtug  xal  ßiov  fiaHQattovog  i]Sb.    qu.  d.  s.  immut.   118  cct 


542  E.  Schwartz 

der  hellenisti sehen  Philosophie  entlehnt,  nicht  gemäß  dieser ,  son- 
dern nach  Deuteron.  30,  20.  Gottesfurcht  und  Grottvertrauen,  das 
als  Grlaube  und  als  Hoffnung  erscheint '),  sind  alttestamentliche 
Tugenden,  die  in  dem  stoischen  niva^  ccqstcjv  keinen  Platz  haben, 
aber  darum  nicht  weggelassen  werden  dürfen,  wenn  von  der 
philonischen  Ethik  eine  richtige  Vorstellung  gegeben  werden 
soll.  In  der  griechischen  Philosophie  ist  es  seit  den  Rationalisten 
des  vierten  Jahrhunderts  Brauch  geworden  die  Postulate  und  Con- 
flicte  der  Ethik  auf  die  Figur  des  Weisen  zu  projicieren,  die  ur- 
sprünglich wenigstens  ein  paedagogisches,  nicht  ein  philosophisches 
Ideal  war ;  mit  anderem  stoischen  Inventar  hat  der  alexandrinische 
Rabbiner  auch  den  öocpog  übernommen,  ihm  aber  doch  einen  Rock 
angezogen,  der  von  dem  XQißav  des  Originals  recht  verschieden 
ist.  Eines  stoischen  Weisen  Sache  wäre  die  Buße  nicht  gewesen  ^), 
und  wenn  die  hellenistische  Thesis  d  avvTtagxTov  rj  6oq)ia ,  von 
Philo  bejaht  wird,  weil  es  keinen  sündlosen  Menschen  gebe^),  so 
würde  diese  Motivierung  von  keinem  griechischen  Philosophen  ac- 
ceptiert  sein:  schon  der  Ausdruck  avvjtaLTiog  paßt  nur  auf  den 
jüdischen  Gerechtigkeitsbegriff.  Es  ist  deutlich  der  6og)6g  zum 
Frommen  geworden,  und  sein  stoischer  Gegensatz,  der  c<(pQ(ov, 
zum   Gottlosen*):   im  A.  T.   sind  Torheit   und   der    ethische  Un- 


7CQ0£LQri(i£vat,  agstciL,  xo  av&Qconov  [=  Xoyiyiovl  slvai^  xh  di-naiov  slvai,  xb  xi- 
Xsiov  ilvaiy  xb  &8äit.  svccgsaxf^Gui  •  onsg  ineLdr}  xat  xBXsünraxov  fiv  xal  Zqos  xijg 
cc-KQag  svdai[iovLCig ,  icp'  anuGiv  [=  zuletzt]  ü'Q7\xaL.  de  opif.  172  wer  sich  zum 
Monotheismus  bekennt,  fiuKagiccv  v.al  svdcci'fiovcc  ^arjv  ßi(o6sxaL  86yfia6Lv  [d.h.  den 
Geboten]  svGsßsiag  y.ccl  ooioxrixog  %ccQcc%%^Btg.  Die  Gotteskindschaft  erscheint  de 
sobr.  56  ö  ^xav  xbv  v.Itjqov  xovxov  tvequv  Öqojv  ccv&Qanivi^g  Evöamoviccg  7iQosX't]Xv9'S ' 
fiovog  yuQ  svysvrjg  uxs  Q'sbv  iTtiysyQccfifiEvog  naxsga  nal  ysyovoig  elanoirixbg  avTÄi 
liovog  vioff,  vgl.  Sap.  Sal.  2,  13.  16.  18.  5,  5. 

1)  De  plant.  88.  92.  de  poster.  Cain  26.  de  Abr.  7.  268.  qu.  det.  pot.  ins. 
sol.  138.  leg.  all.  3,228.  de  conf.  ling.  31.  de  migr.  Abr.  43.  132. 

2)  De  fuga  et  inuent.  157  xb  (isv  (iriSev  cciiuqxslv  I'Slov  &£ov  ^  xb  ds  fisxcc- 
voitv  aotpov. 

3)  De  mut.  nom.  36  ovxl  "ncel  (ibxqi-  vvv  xmv  cpiXocotpiai  xsxsXsaiiivav  slai 
rivBg,  OL  XiyovGiv  6c.vv7tciqv.xov  bivul  cocpiav,  insiSi]  v.al  xbv  aotpov;  ^riösva  yccQ 
Sc7t  ScQxfig  ccv&Q(o7toiv  yBvscsiog  äxQi  xov  itagovxog  ßi'ov  xara  xb  nuvxBXBg  &w- 
naCxLOv  vo^iia&fivaL'  hccI  yuQ  ädvvccxov  bIvccl  &v8qI  Q-vr\xiüi  cdifiaxL  ivSBÖBfiBvov 
Big  unav  B'bduiiLovfjßai,  [vgl.  Sap.  Sal.  9, 15].  Zum  Sprachgebrauch  von  vnccixiog 
und  &vvnaCxiog  vgl.  de  opif.  mundi  151.  qu.  det.  pot.  ins.  sol.  97.  de  gig:  56.  de 
somn.  2,  73.  qu.  d.  s.  immut.  61. 

4)  De  conf.  ling.  162.  196  f.  de  Cher.  121.  de  conf.  ling.  119  xbv  xQÖnov 
x&v  &(p{}6v(üv  Siaavviaxriaiv,  dl  naixoi  [iByioxav  ini-KQBiiaiiBvav  cöx  &d'qX(og  ScXX* 
i%  xov  (puvBQOv  noXXcLv.i.g  xlikoqi&v  ScSl-kbiv  ofiag  oiv.  6-iivov6i.  qu.  d.  8.  imm.  68. 
de  post.  Cain  179  Q'BotpiXrig  bvxV  .  •  .  ^v  ovöbvI  x&v  atpQovav  f^BCxt.  Tcoiijaaad'ai, 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  543 

glaube  an  Gott  —  der  theoretisclie  steht  überhaupt  dort  nicht 
zur  Discussion  —  identische  BegriiFe.  Das  will  beherzigt  sein, 
wenn  die  philonische  öo^ia  richtig  verstanden  werden  soll :  sie  ist 
nüDn  und  n^n,  das  moralische^)  Wissen  von  Grott,  seiner  Einzig- 
keit, seiner  Allmacht  und  seinen  Geboten  und  keine  theoretische 
Wissenschaft  im  griechischen  oder  modernen  Sinne. 

Freilich  sucht  man  nach  den  D^Tcn  der  Psalmen  bei  Philo 
vergeblich;  von  deren  Hoffnung  und  Verzweiflung,  von  der  Qual 
und  dem  Jauchzen  dieses  Glaubens  an  den  Gott  Israels  weiß  seine 
flache  Seele  so  wenig  wie  sie  je  den  Freiheitsstolz  der  hellenischen 
Philosophen  im  Kern  begriifen  hat.  Es  ist  ganz  richtig:  obgleich 
in  manchen  philonischen  Schilderungen  der  alttestamentliche  \^ 
und  2^tJ^  unschwer  zu  erkennen  sind^),  ist  ihm,  im  Ganzen  ge- 
nommen, der  jüdische  Gegensatz  der  Frommen  und  Gottlosen  zu 
der  aus  der  stoischen  Ethik  entlehnten  Antinomie  von  Vernunft 
und  Lust  geworden  und  damit  aus  der  Gemeinde  und  dem  Volk 
in  die  Seele  des  Einzelnen  verlegt.  Der  platonisierende  Dualismus 
zwischen  Geist  und  Materie,  der  bei  Philo  neben  jener  Antinomie 
herläuft,  wirkt  ebenfalls  dahin  daß  ihm  sowohl  jener  aus  der  Ge- 
schichte Israels  und  der  Juden  hervorgewachsene  Gegensatz  wie 
der  damit  organisch  verbundene  zwischen  dem  gedrückten  Volke 
Gottes  und  der  triumphierenden  Weltmacht  zu  psychologischen 
Trivialitäten  verdampfen.  Und  doch  wäre  es  ein  folgenschwerer 
Irrtum,  wollte  man  die  Formen  die  er  seiner  Predigt  von  der 
Flucht  aus  dem  Gewordenen  zum  Seienden,  von  der  Unterdrückung 
der  Leidenschaften  gegeben  hat,  für  die  These  verwerten,  daß  die 
griechische  Philosophie  in  der  philonischen  Ethik  des  Judentums 
Herr  geworden  sei.     Weltflucht   und  Apathie    sind   ihm   nicht  das 


rrjv  l'diov   7]8ovj]v   avxo  fiovor  &riQCö(i8vcov,  xk  S'aXXa  TtXaxvv  ysldixci    ^ccl    %Xivriv 
voni^ovxav:  das  sind  die  Qi^b  der  Psalmen. 

1)  De  poster.  Cain  136  wird  cocp^a  dsov  mit  6  ccQsxris  Xoyog  identificicrt 
und  der  oi'riaig,  dem  eitlen  Vertrauen  des  Menschen  auf  sich  selbst,  entgegenge- 
stellt, de  mut.  nom.  2G0  xi]v  ovqccviov  oocpLccv,  rjv  avoj&sv  tTttTCi^nsi  xatg  i'fiSQOv 
ccQsx^g  ixovocctg  ipvxcci^s  o  (pQovi^öscog  svd^riviccv  v,ul  8vsxT]Qtav  txiav.  Das  'Suchen 
Gottes'  ist  die  Hauptsache,  und  dieses  'Suchen'  wird  rein  moralisch  gefaßt:  leg. 
all.  3,  47  eI  t^xiig  Q'eov^  m  SidvoLUy  B^BX%'ov6a  ccnh  eavxfjg  avu^rixei  .  .  .  .  sl  ds 
^i^xov6cc  svQi]6£Lg  dsov,  adjiXov  .  .  .  i^ccgyiSL  fisvtOL  Ttgbg  ^exovglccv  ccyccQ'oiV  xal 
tpiXbv  xo  ^rixELv  [Lovov  •  asl  yaq  ut  inl  xä  Y-aXcc  oQficcl  "nav  xov  xtXovg  ccxvx(ö6ij 
xovg  XQOiiiivovg  7tQOEV(pQaCvov6iv. 

2)  Qu.  det.  pot.  ins.  sol.  34.  de  mut.  nom.  103.  de  conf.  ling.  48.  117.  qu. 
rer.  diu.  her.  s.  201  dicaiQLvavxog  .  .  .  xov  ^socptXovg  xolg  oöCovg,  dt  ^iöciv 
cc^svS&g,  unb  t&v  ccvoct'av,  oV  xsd-vrjyiaaL  nqbg  ccX'^&siccv,  Xoyia^iav. 


544  E.  Schwartz 

absolute  Ziel,  das  um  seiner  selbst  willen  anzustreben  ist,  sondern 
sie  laufen  am  letzten  Ende  auf  die  ^BQCLTCEia  ^eov  hinaus'),  auf 
die  n'^n'i  ri^  r'Tiö  des  A.  T.,  und  ihr  Lohn  ist  nicht  die  hellenische 
evdai^ovCa,  sondern  die  Ekstase  die  im  Gebet  mit  Grott  verkehrt 
und  von  ihm  Offenbarungen  empfängt''^).  Damit  werden  die  Be- 
rufe   des    Leviten   und   Propheten^)    von   Philo    in   ideale  Höhen 


1)  Wie  die  jüdischen  und  stoischen  Moralpraedicate  zusammengekoppelt 
werden,  zeigt  z.  B.  qu.  rer.  diu.  her.  s.  203  vnb  tov  (piXoTtccd-ovg  %al  äd-iov  rb 
iy-agcctlg  kul  ^socpiXeg  ysvog  ovyiir  si'aas  8Loayis6&cii.,  wo  noch  die  Verfolgung  der 
Frommen  durch  die  Gottlosen,  ein  typischer  Zug  des  jüdischen  Empfindens,  hin- 
zukommt, leg.  alleg.  3,212  6  a&sog  Kai  (fi.X7]dovog  rgonog.  de  gig.  43  yi.aXbv 
fir}  XiTtotwuryaui,  ^sv  tf]g  tov  d'sov  td^scog  .  .  .,  ccvTO^oXf]aaL  ds  ngbg  xriv  ävuv- 
ÖQOv  xorl  7isyiXaa(iiv7iv  rjdov^v.  de  migr.  Abr.  21  t6  i[i7iaL^SLv  ini&v^Lotv  xal 
Tcdvtcov  TtaQ-av  ccfistQicag,  rb  (poßsLcd-ai  tbv  &£6v.  de  congr.  erud.  gr.  80  cpi- 
XoaocpLa  f-yv-gätudv  [iev  yaotgogj  syv.Qdt£iccv  8s  t&v  ^srä  yaöTsga,  iynQccTSiccv  8s 
v,al  yXmttrig  ccva8iSäGv.si.  xavta  Xsystca  ^sv  slvai  8i  avrcc  aiQStd^  öSfivorSQa  8h 
(paCvoiv  ccv,  s  C  &SOV  tL(irjs  nal  agsa-nsiccg  svs-ku  i^tiT  tiS  svoito.  de  ebr. 
69  oacc  oUsia  kccI  cpCXa  ti]L  6aQ-AC,  dnov,67ttov6i  [die  Priester]  xfig  8iavoCag  sav- 
x&v,  svTtQsntg  slvai  vo^i^ovxsg  xoig  %SQansvxaig  xov  fiovov  aocpov  ysvrioo^svoig 
Tcdvxav  06a  ysvsaiv  siX7i%sv,  dXXoxQiovßQ^ai  'Aal  näaLV  ojg  s^^goig  "Aal  8vafi£vs6- 
xdtoig  nQ06q)SQsa&ai,  vgl.  de  somn.  1,218.  leg.  alleg.  3,11  XQStg  ^aiQovg,  co  '^vxVi 
xovtsaxL  xbv  xqi^sqfj  %q6vov  GvfiTtavxa  ificpavi^g  icsl  yCvov  &sm,  fir}  xb  Q-fjXv 
atc9-7}xbv  nd&og  scpsX-AO\isvri,  ccXXu  xbv  ccv8qslov  Kai  KagxsQi'ag  dGtiriTrjv  Xoyie- 
libv  iy.d^v{iL(ö6a :  das  dreimalige  Erscheinen  vor  Jahveh,  d.  h.  die  drei  Jahresfeste 
sind  ein  Dienst  Gottes  und  dieser  Dienst  wird  zur  Apathie  spiritualisiert.  Vgl.  auch 
de  somn.  1, 232  xoig  doomdxoig  v.al  &SQa7tsvtQLCLv  avxov  ipvxaig :  die  Attribute  be- 
dingen sich  gegenseitig.  Gottes  Gnade  ist  nötig  um  sich  vom  Irdischen  loslösen  zu 
können:  de  ebr.  145  dvsv  d'siag  x^gitog  dfL'qxavov  rj  Xntoxav.xi]Gai  xa  Q'VJixa  ^ 
xotg  dcpd^dQxotg  asl  nagafistvai.  leg.  alleg.  3, 136  8si:  xbv  vtcsq  ScQSxf]g  novov  fi^ 
suvxfjL  "jtQOßdysLv  xr\v  ipvxriv,  dXX'  d(psXsLv  dcp'  savxfjg  xal  ^sül  ccvsvsynstv,  6(io- 
Xoyovauv  oxl  ovx  V  i(>X'"S  avxijg  ov8s  i]  8vvaiiig  nsQLSitOL7]üS  xb  %aX6v ,  dXXä  6 
%al  xbv  SQcoxa  x^Qi^occt^^vog. 

2)  Vgl.  leg.  all.  3, 42  ff. ;  die  Exegese  der  dort  angeführten  Stellen  faßt  die 
Ekstase  als  die  Ekstase  des  Gebets. 

3)  Qu.  rer.  diuin.  her.  s.  259  navxl  cccxslol  7tQ0(pi]xstav  6  tsgbg  Xoyog 
[Gen.  20,  7]  iiaqxvgsi'  TtQocprixrig  yciq  1'8lov  (isv  ov8lv  drcocpd'syysxai,  ccXXoxgia  8s 
ndvxa  vnrixovvxog  txsgov  qpavAcoi  8''  oi)  &t^ig  sgiirivsL  ysvsaQ^ai  9sov^  moxs  yivgitog 
Hox^rigbg  0'{}8slg  iv&ovciai,  ^6vai  8s  GotfCa  xavx'  ^(pagfioxxsi,  insl  xal  (lovog 
ögyavov  dsov  iaxiv ,  rix^tov  y,gov6iisvov  yial  nXrixxofisvov  dogdxiog  vn*  a'btoü. 
Vgl.  auch  ebenda  69.  Sehr  viel  häufiger  spricht  er  von  den  Leviten,  den  'Dienern' 
und  'Betern';    die  Levitenstädte   sind   ein  Sinnbild  der  Weltflucht,    die  wiederum 

dem  heiligen  Dienst  gleichgesetzt  wird,  de  sacr.  Abel  et  Cain  120  ^sgunsCag  6 
Asvi  iaxl  GTiiisiov  ...  6  KSXQ^lliBvog  dgsxfjt  xtXsiai  Asvi  .  .  .  xi)g  8s  xsXsiöxritog 
8siyiia  Ivugyiaxaxov  ngoGtpvya  ysvsG&ai  ^sov  %axuXi,'3i6vxa  xijv  x&v  iv  ysviasi 
TCgayyLuxsiav,  qu.  det.  pot.  ins.  sol.  02  xotg  xug  yvwyiag  tsgaxdxoig  AsvCxaig  .  .  . 
Siv  .  .  TiX^gog  .  .  ,  (lövog  d^LOXQic^g  b  87i(iiovgyügj  tat  TtgoanscpsvyuGiv  t-ntxai  yvijGioi, 
yiu]  ^sgdnovvsg  uItoü  yiv6(ievoi,    xb    €piXo8sanoxov    8iä    xf/g    Gvvexovg    vnrigsGiug 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  545 

hinaufgeschraubt,  jener  noch  mehr  als  dieser,  obgleich  man  er- 
warten sollte  daß  dem  von  der  individualistischen  Philosophie  des 
Hellenismus  inficierten  Rabbi  die  auf  der  Persönlichkeit  ruhende 
Prophetie  näher  lag  als  der  Stand  der  Leviten;  es  ist  derselbe 
innere  Widerspruch  wie  der  daß  er  das  Judentum  als  höchste 
Philosophie  glorificiert  und  doch  nie  im  eigentlichen  Sinne  Propa- 
ganda für  das  jüdische  Gresetz  treibt.  Wer  Philo  in  die  Gre- 
schichte  der  griechischen  Philosophie  einreiht,  vermag  mit  diesen 
Widersprüchen  nicht  fertig  zu  werden;  vom  Boden  des  Judentums 
aus  gesehen,  lösen  sie  sich  leicht  und  einfach  auf.  Zwischen  der 
das  jüdische  Leben  beherrschenden  Hoffnung  auf  eine  Zukunft  die 
des  auserwählten  Volkes  würdig  sei,  und  den  realen  Verhält- 
nissen in  denen  die  Juden  unter  der  directen  oder  indirecten 
römischen  Herrschaft  leben  mußten,  bestand  eine  ungeheure  Span- 
nung, mit  der  jedes  jüdische  Empfinden  in  irgend  einer  Weise 
fertig  zu  werden  genötigt  war.  Es  muß  in  Alexandrien  Kreise 
gegeben  haben,  die  diese  Spannung  so  zu  lösen  suchten,  daß  sie 
die  Formen  und  Riten  der  nationalen  Religion  streng  festhielten, 
aber  die  Leiden  und  Schmerzen  der  zugleich  nationalen  und  reli- 
giösen Hoffnung  dadurch  los  wurden,  daß  sie  den  Inhalt  der  über- 
lieferten Religion  aus  der  den  Juden  feindlichen  Welt  in  das 
spirituelle  Gebiet  transponierten.  Als  Hebel  dienten  ihnen  viel- 
fach philosophische  Formeln,  die  überall  bereit  lagen;  die  philo- 
sophierende Allegorie  ist  in  Wahrheit  nicht  aus  dem  Bestreben 
entsprungen  irgend  eine  philosophische  Lehre  mit  der  Bibel  aus- 
zugleichen, sondern  aus  dem  Sehnen  und  Trachten  jene  Spannung 
zwischen  religiöser  Hoffnung  und  geschichtlicher  Wirklichkeit  auf- 
zulösen, die  an  und  für  sich  die  von  Tempel  und  Cultus  entfernt 
wohnenden  Juden  der  Zerstreuung  noch  stärker  mitnehmen  mußte 
als  die  Palaestiner  und  Jerusalemer,  denen  der  Schein  der  Theo- 
kratie  immer  noch  sinnlich  vor  Augen  stand.  Daß  nicht  nur 
hellenistische  Philosopheme ,  sondern  auch  orientalische,  bis  jetzt 
nicht  sicher  zu  fassende  Theosophien  bei  dieser  Spiritualisierung 
mitgeholfen  haben,    soll,    solange  das  Mittel  nicht  als  Ursache  an- 


xal  T^ff  T&v  ijtiTQanevrav  ocov,vordtrig  iytiSsiKVvusvoi  (pvXccni'ig.  de  fug.  et  inu.  88 
slg  rag  ccnovsfirid-siaccg  Aevitaig  [lövoig  n6Xug  (psvysiv  Sis^gritca  iidvv  ngoarj- 
novrag-  aal  yccg  ot  AsvLtccL  tgoTtov  rtva  givyddsg  eIgiv,  8vsv.a  ccgsönsiccg  d'sov 
yovsig  Tiul  rs-Kva  -iiccl  Scd£Xq)ovg  xat  nccGuv  rr^v  &'vritr]v  üvyysvsiccv  ditoXslontorsg. 
Diesen  idealen  Levitenstand  fand  Philo  verwirklicht  bei  den  jüdischen  Asketen  in 
der  Nähe  Alexandriens,  die  er  daher  auch  ^sgccTtevtccL  und  hirai  nennt.  Er 
schloß  sich  ihnen  nicht  an,  weil  die  alexandrinische  Judenschaft  ihn  nicht  losließ, 
de  special,  legg.  3, 1  ff. 
Kgl.  Ges.  d.  Wiss.    Nachrichten.    PhUolog.-bist.  Klasse.    190S.    Heft  5.  38 


546  ^-  Schwartz 

gesehen  wird,  gerne  zugegeben  werden.  Specifiscli  jüdiscli  ist  nun 
wiederum,  daß  dieser  eben  geschilderte  Proceß  sich  nicht  so  sehr 
in  den  Individuen  als  in  Gremeinden  oder  richtiger  Conventikeln 
vollzog,  wie  in  jenen  Therapeuten,  deren  Schilderung  bei  Philo 
den  Modernen  darum  so  anstößig  und  sonderbar  erscheint,  weil 
sie  von  dem  Irrtum  nicht  loskommen  in  Philo  einen  individuellen 
philosophischen  Denker  zu  sehen.  Man  braucht  nur  die  Schilde- 
rung des  Paschafestes  der  Therapeuten  zu  lesen  um  sofort  zu  be- 
greifen daß  es  sich  um  eine  jüdische  Sondergemeinde  handelt;  daß 
in  diesem  Conventikel  die  Thora  spiritualis tisch  ausgelegt,  die  dem 
damaligen  Judentum  keineswegs  fremde  Askese  hochgesteigert 
wurde,  ist  nichts  wunderbares,  sobald  man  die  Schilderungen  die 
das  N.  T.  und  losephus  von  den  palaestinischen  Juden  geben,  nicht 
generalisiert  und  sich  der  aus  Philo  zu  gewinnenden  Erkenntnis 
nicht  verschließt,  daß  es  in  der  alexandrinischen  Judenschaft  Kreise 
gab,  die  in  eigentümlicher,  aber  doch  immerhin  noch  jüdischer 
Weise  ihr  religiöses  Leben  gestalteten.  Aus  diesen  Kreisen  stammt 
der  philonische  Spiritualismus.  Mögen  immerhin  seine  Kenntnisse 
der  hellenistischen  Schulphilosophie  etwas  gründlicher  sein  als  die 
der  Therapeuten,  mag  diese  nähere  Verbindung  mit  dem  Griechen- 
tum ihn  zum  Schriftsteller  gemacht  haben  —  die  ganze  Denk- 
weise ist  nicht  sein  persönliches  Eigentum,  und  er  hat  für  sie 
nicht  einmal  einen  besonders  tiefen  und  kräftigen  Ausdruck  ge- 
funden. Weil  sie  einem  Conventikel  angehört,  pflegt  sie  keinen 
Individualismus,  fühlen  sich  die  Therapeuten  den  Leviten  näher 
als  den  Propheten ;  über  dem  weltfremden  Spiritualismus  ist  ihnen 
der  Eifer  abhanden  gekommen  das  Licht  des  Gesetzes  in  der  Welt 
zu  verbreiten  und  so  der  nationalen  Hoffnung  Israels  zu  dienen: 
sie  wollen  diese  Hoffnung  ja  nicht  mehr  haben. 

Nachdem  der  Boden  geschildert  ist,  auf  dem  die  philonischen 
oder  richtiger  die  von  Philo  zu  Papier  gebrachten  Exegesen  der 
Thora  gewachsen  sind,  kann  die  Betrachtung  sich  dem  viel  be- 
rufenen Logos  und  seinem  Wesen  und  Ursprung  zuwenden  ohne 
von  vorne  herein  auf  einen  falschen  Weg  zu  geraten:  es  wird 
jetzt  einleuchten  daß  es  verkehrt  ist  bei  der  Analyse  dieses  Be- 
griffs vom  Griechischen  auszugehen  und  das  Jüdische  zu  ignorieren. 
Die  Speculationen  über  die  göttlichen  Kräfte  sind  nicht  aus  einer 
philososophischen  Theologie  hervorgegangen,  sondern  aus  der 
Superstition  des  späteren  Judentums,  die  den  Gottesnamen  nicht 
in  den  Mund  zu  nehmen  wagte:  Gott  hat  keinen  Namen,  sondern 
nur  seine  Kräfte^),   und   es   entspricht  dem  schwankenden  Wesen 

1)  De  mut.  nom.  11  tJv  ovv  &yi6Xov&ov  rb  iiriS'  övo^tcc  nvQiov  iyti(pri(iia9^fjvai 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  547 

dieser  Kräfte  daß  sie  zahlreiche  Namen  tragen^)  und  in  keiner 
Weise  von  einander  abgegrenzt  sind.  Im  Grunde  sind  es  eben 
immer  Manifestationen  Gottes  von  ebenso  unendlicher  Mannigfaltig- 
keit, wie  seine  Allmacht  unendlich  und  unbegrenzt  ist.  Wie  in 
der  jüdischen  Speculation  ^)5  werden  auch  bei  Philo  die  Kräfte  der 
Barmherzigkeit  und  der  Gerechtigkeit  auf  verschiedene  Namen 
Gottes  zurückgeführt  und  wenn  er  einmaP)  die  ^vi^^ri,  das  Ge- 
denken Gottes  die  Kraft  nennt,  aus  der  das  Dankgebet  und  das 
Loblied  Gottes  hervorgehen,  so  wird  das  erst  verständlich,  wenn 
man  bedenkt  daß  die  Späteren  den  'Namen  seiner  Heiligkeit'  [ütä 
ItJ'lp]   mit   dem  *i"Ülp  ^DT  identificieren :    das  'Gedenken'  haftet  am 


SvvkgQ-ul  x&i  övtL  TtQog  ccX7]d'SLccv.  leg.  alleg.  3,  207  SiKorag  ovSslg  ö(ivv6L  kcct^ 
uvTOv,  oti  ys  ov  Ttsgl  xfig  cpvascog  avxov  diayv&vat,  dvvcctai,  &XX'  ccya'jt7\x6v,  säv 
<xara>  xov  övo^ccxog  avxov  dvvrid'ä>}isv,  OTtsg  r]v  xov  eQ(iriv8cog  Xoyov  ovxog 
yag  rj^äiv  x&v  axsX&v  av  sl'r]  &s6g,  xStv  da  aocpöbv  xal  xbXbCcov  d  Tcq&xog.  de 
plant.  86  cci  .  .  .  TtQoaQtjöSig  xäg  tvsqI  xb  6v  i[iq)ccLvov6L  dwccfieig.  Daß  die  ganze 
Lehre  von  den  göttlichen  Kräften  keine  philosophische,  aus  Schlüssen  aufgebaute 
Theorie,  sondern  superstitiöse  Theosophie  ist,  verrät  sich  in  der  Heimlichkeit  mit 
der  Philo  sie  umgiebt:  de  sacr.  Ab.  et  Cain  60  KS-nQvcpd-aL  dsc  xov  lsqov  Ttsgl 
xov  ccysv^xov  accl  x&v  dvvd^sav  avxov  ^vaxriv  Xoyov,  iitsl  dsLcov  TtaQaytaxa&T^Y.riv 
OQyLcav  ov  navxog  iaxi  q)vXd^aL.  131  aidsrai  ds  xig  >ial  xoiovxog  iv  ccTtOQQi^xoLg 
Xoyog,  ov  d-noaLg  TtgeoßvTSQcov  TcaQav.axaxC^EöQ'ai  %Qr]  vscdXSQcov  mxa  iTticpQcc^avxag: 
es  folgt  die  Lehre  von  der  wohltätigen  und  der  strafenden  Kraft,  die  unmittelbar 
mit  den  Namen  Gottes  zusammenhängt,  s.  u.  De  Cher.  27  behauptet  Philo  gar, 
diese  Lehre  durch  persönliche  Offenbarung  erhalten  zu  haben,  obgleich  er  sie 
sicher  schon  überkommen  hat. 

1)  De  somn.  2,  254  x&v  TtoXvcavoiicov  xov  övxog  Svvd^sav.  de  conf.  ling.  146 
xov  TtQcoxoyovov  avxov  Xoyov,  xov  ayyeXcav  TTQEGßvxaxov,  cbg  av  dgxdyysXov,  no- 
Xvcovv[Lov  vTtdgxovxa '  v.ui  yap  dqxri  xal  övo^a  d'sov  -aal  Xoyog  xal  6  %ar'  slv,6va 
dvd-Qconog  Kai  6  dgöbv,  ^lagariX,  TtQoaayoQSvsrai.  leg.  alleg.  1, 43  xr]v  (iSxdgaLOv 
tial  ovgdvLov  cocpiav  TtoXXoLg  övoiiaßL  TtoXvcovv^ov  ovßav  dsd'qXcoy.s  •  nal  yäg 
ägX^v  Kai  SLKova  v.al  ogaaiv  ^sov  x£xZ7j%£ :  vgl.  leg.  all.  2,  86  rj  aocpca  xov  &£ov 
,  .  .  ^v  dyigav  v.aX  TtgoaxLöxriv  h^iEv  dno  x&v  iavxov  dvvdfiscov. 

2)  Vgl.  Siegfried,  Philo  213  f.  Das  Buch  giebt,  so  ungeschickt  es  disponiert 
und  geschrieben  ist,  eine  sehr  viel  richtigere  Vorstellung  von  dem  philonischen 
Denken  als  der  straff  aufgebaute  Abriß  Zellers  III  2,  385  ff. 

3)  Philo  erzählt  de  plant.  127  f.  die  jüdische  Parabel  von  der  Entstehung 
der  Psalmen  zum  Lobe  des  Schöpfers  und  schließt  sie  mit  den  Worten:  x6  ndfi- 
Hovoov  %al  v^vaidov  dvacpavfjvaL  ysvog  sk  [iiäg  dtj  x&v  nsgl  avxov  öwdybEmv 
Ttagd-^vov  fivrifirigj  rjv  MvrifioGvvriv  ^tagaxgsTtovxsg  oi  TtoXXol  [soll  heißen,  die 
heidnischen  Griechen;  der  Rabbi  vermeidet  den  gehässigen  Ausdruck  xa  sO-i/rj] 
xo^vo^ia  KaXovöiv.  Die  Mutter  der  Musen  ist  nur  von  außen,  obgleich  in  diesem 
Fall  nicht  ungeschickt,  hineingetragen;  in  iivruLri  steckt  "ID'lp  IDT  =  "MSlp  DIU 
Vgl.  Olshausen  zu  Ps.  30,5. 

38* 


548  E.  Schwartz 

Namen  nnd  zum  Namen  Gottes  bekennt  sich^)  der  Jude  In  der 
Eucharistie  und  im  Psalm.  Vor  allem  aber  ist  es  unmöglich  die 
Lehre  von  den  Kräften  von  der  Angelologie  zu  trennen.  Wie  sich 
ans  superstitiösen  Gründen  im  A.  T.  die  Offenbarung  durch  den 
nirri  ^^blß  an  Stelle  der  directen  setzt,  ist  bekannt:  Kräfte  und 
Engel  sind  dasjenige  am  göttlichen  Wesen,  das  von  den  Menschen 
erfaßt  werden  kann,  daher,  für  Philo  ^)  wenigstens,  identisch.  An 
zahlreichen  Stellen^)  nennt  er  die  Engel  köyoL  d-sov:  darunter 
können  nur  'Eeden'  verstanden  werden*),  nichts  anderes;  die  Engel 
sind  eben  Manifestationen  Jahvehs^)  und  Jahvehs  Wort  ist  eine 
Manifestation  von  unmittelbar  concreter  Realität.  Philo  deutet 
selbst  an  daß   er  die  Gleichung  äyysXoL  =  koyoi  %^bov  übernommen 


1)  Vgl.  de  migr.  Abr.  56  rov  8s  (isyB&ovs  xal  nX'^&ovg  toav  ^aX&v  &Q%i\ 
%al  riXog  r)  ädidetaxog  nsQu  Q-eov  iivr]iir\. 

2)  De  conf.  ling.  174  f.  f'crrt  8\  xal  xaroc  xov  Scega  il)vx&v  Scßco^aTcov  tspco- 
tuTog  xoQog  önocdbg  t&v  ovqccvlcov  ayy  sXovg  tag  i})vxccg  tccvrag  el'(oQ-s  v.ccXslv 
6  &EG7CL(oiSbg  X6yog.  iidvt'  ovv  tbv  ctqaTov  [i5ü]  succGrav  iv  xatg  ocQ^iotrov' 
aaig  diansKOG^rnisvojv  tcc^BGiv  vTCrigitriv  v-oi  Q'SQan£vxr\v  slvca  aviißeßri'AS  rov  Slu- 
tioG^'^aavTog  r]ys[i6vogj  ai  xa^iaQ%ovvxL  'Autä  8C%r\v  v,a.l  d'SGfibv  tTtsrai  •  Xinota^i'ov 
yuQ  ov  d-sfiig  äX&vaC  Ttors  tb  ^slov  GTQcitsvfia  [vgl.  les.  45,  12.  48,  13].  ßccGLXsi 
dh  xcctg  iavtov  dvvdfisGLv  [der  Doppelsinn  von  'Truppen'  und  'Kräften' 
ist  beabsichtigt]  i^TTgsneg  öhlXslv  ts  yiai  xQfjß^f^i'  ^Qbg  rag  t&v  xolovtcov  TtQccy- 
ficcTcav  vTtriQSGiagy  olgtcsq  ccq^ötzsl  ^i]  vnb  ^ovov  n^yvvG&ai  &80v.  Kürzer  de  opif. 
mundi  46.  Es  ändert  an  der  GesamtaulFassung  nichts,  wenn  de  spec.  legg.  1,66 
die  Engel  wiodid.v,ovoi  der  göttlichen  Kräfte  genannt  werden. 

3)  Die  Engel  Gen.  19  bezeichnet  er  de  fuga  et  inu.  144  mit  rovg  tsgovg 
xal  &[iidvTovg  Xoyovg,  ebenso  de  somn.  1,70  die  von  Gen.  18,  1,147  die  der 
Jakobsleiter,  de  sobr.  G5  6  rrjv  Tcgbg  iiäQ^  ndXriv  ysyvfivuGiisvog  'Iwutoß,  ScyyeXoig 
dcXsiTtTUig,  Xoyoigj  ;u(>a>|Li£i;os.  de  migr.  Abr.  173  6  tno^LBvog  &Em  yicctu  tccvccyyiaCov 
cwodoLTtogoig  %Qr]taL  xoig  a.v.oXov&OLg  avxov  Xöyoig,  ovg  övond^SLv  fd-og  dyyeXovg. 

4)  De  somn.  1,115  f.  ij  dGnritiyij]  SidvoLcc  .  .  .  orai;  iisv  sv^pogfii  xai  ngbg 
tb  w}}og  ai'qritui^  tatg  dQxsxvrcoig  -nai  ocGafidroLg  dv.tLGi  tfjg  XoyiKTjg  Ttriyijg,  tov 
ttX£G(p6Qov  &SOV,  TtSQiXd^TtstaLj  oxav  8\  v.axaßaLvr]L  xal  dcpogfiL,  tatg  iv.iCvüiV 
ilnoGiv,  Scd-avdxoig  Xoyoigj  ovg  v.ciXs£v  k'&og  ccyyiXovg.  8l'  o  -kuI  vvv  cpriGLV  [Gen. 
28,11]  Scn'^vxriGs  xonai'  k'dv  yag  6  ^Xiog.  oxccv  yäg  xrjv  '\})vxi]v  dnoXC- 
TKöGiv  at  xov  &£ov  u'öyaC,  di'  &v  GatpEGxaxcci,  cct  xibv  ngay^dxcov  yCvovxai  xara- 
Xi^^Biiy  ScvatiXXsi  tb  devxBgov  xal  da&svtcxegov  Xoyav,  ov-hsxl  Ttgayfucxav  (psyyog. 
Der  Gegensatz  Ttguyiiaxu  und  der  Plural  beweisen  daß  unter  Xoyoi,  Reden  zu 
verstehen  sind. 

5)  Vgl.  z.  B.  de  Abr.  115  &yysXoi  .  .  .  tsgal  xal  ^sicci  <pvGBig,  vnoSid-Kovoi 
%ul  vTcagxoi  xoü  ng&xov  d-soü,  8l  wv  olcc  ngtaßsvxuiv  oaa  av  Q^fX-^crit  x&i  yivH 
rifiöav  ngo^saniauif  öiuyyiXXu.  Die  Frage,  ob  die  Engel  eine  eigene  Persönlichkeit 
haben,  würde  Philo  für  töricht  oder  lästerlich  erklärt  haben:  wenn  sie  Gottes 
Willen  verkünden,  sind  sie  eben  'Reden  Gottes',  nicht  mehr  und  nicht  weniger. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  549 

hat  ^) :  thatsäcUicli  nennt  die  salomonisclie  Weisheit  [18, 15]  den 
Engel  der  die  aegyptische  Erstgeburt  tödtet,  'das  allmäclitige  Wort 
Gottes'.  Ist  der  Logos  Grottes  nacli  Philo ''^)  also  der  'älteste  der 
Engel',  so  kann  das  nur  bedeuten  daß  er  das  'Wort  Gottes'  ist 
und  nicht  das  immanente  stoische  Weltgesetz.  Und  dieses  'Wort 
Gottes'  ist  bei  ihm  ebenso  wie  in  der  Weisheit  Salomonis  [9, 1] 
und  dem  vierten  Evangelium  dasjenige  das  die  Welt  geschaffen 
hat^).  Man  lasse  sich  durch  die  Verquickung  mit  den  platonischen 
Ideen  nicht  irre  führen*).  Wie  völlig  Philo  in  der  jüdischen 
Speculation  stecken  geblieben  ist,  verrät  nichts  mehr  als  die  Ver- 
mischung und  Vertauschung  des  göttlichen  Worts  mit  der  gött- 
lichen Weisheit^).  Für  denjenigen  der  die  philonischen  Begriffe 
auf  Plato  oder  die  Stoa  oder  alle  beide  zurückführen  will,  bleibt 
diese  Identification  ein  unentwirrbares  Räthsel,  und  die  Versuche 
seine  Exegese  systematisch  darzustellen,  sind  grade  an  dieser 
Klippe  gescheitert.  Dem  Juden  ergiebt  sich  von  selbst  aus  der 
Combination  von  Gen.  1  und  Prov.  8  die  Identität  des  Wortes 
das  das  Licht  ins  Dasein  rief,  und  der  Weisheit  die  vor  allen 
Creaturen  bei  Gott  war  ^)  und  an  deren  schaffendem  Spiel  er  seine 
Freude  hatte,  und  dies  vor  weltliche  Dasein  der  Weisheit  dürfte 
die  Speculation  des  xo^^ios  voritög  erzeugt  haben:  die  platonischen 
Ideen  sind  nur  Etikette. 

Die  Vereinigung   von  Wort   und  Weisheit   setzt   sich  in   der 
philonischen  Ethik  fort.    Ganz  natürlich :  denn  die  göttliche  Offen- 


1)  Vgl.  ov$  sd-og  dvofid^SLv  ayyiXovg  de  migr.  Abr.  173.   de  somn.  1,115. 

2)  Vgl.  z.  B.  die  oben  [S.  547 ^J  angeführte  Stelle  de  conf.  ling.  146. 

3)  Qu.  d.  s.  immut,  57  didaai  Xoyojt  xQot^^vog  vnriQBtrii  dcoQS&v,  Sa  -aal  xov 
KOG^ov  Elgycc^sro.  Das  Wort  Gottes  kann  als  v7tr\QBtrig  gefaßt  werden,  nicht  das 
Denken,  vgl.  de  sacrif.  Ab.  et  Cain  8  8ia  qrnLaxog  xov  alxCov  [=  Gottes]  iiBxa- 
viGxcixai  [Moses,  nach  Deut.  34,5],  di'  ov  v.al  6  aviinccg  yioa^og  idri^LovQysLto, 
Lva  nccd'riig  oxi  xov  60(pbv  L6Öxt[iov  xdffjtKat  6  d'sbg  r^yEnccL,  xSn  avxcbi  Xoyoa  v,a.X 
xb  Tt&v  sgycc^ofiEvog  xal  xbv  xilsiov  aitb  täv  TtSQiysLcav  ävdyav  mg  eccvxov. 

4)  Die  Exegese  von  Exod.  33,18  identificiert  die  Sö^a  xov  dsov  [=  ^I^D] 
mit  den  Kräften  =  nii^l3i :  de  spec.  legg.  1,  45  dö^ccv  öijv  sIvccl  vo{il^co  xäg  tcsqI 
ßs  SoQV(poQOvGag  dvvd^sig,  av  dicccpevyovacc  rj  'Kaxdlriipig  «%(>t  xov  Ttagovxog  ov 
(iL'KQbv  ivegyd^sxaL  fioL  nod-ov  xfig  dLccyvmaeag.  Dieser  rein  jüdische  Begrijff  wird 
dann  in  grotesker  Weise  mit  den  platonischen  Ideen  gleichgesetzt,  weil  auf  die 
göttlichen  Kräfte  das  zutrifft,  was  die  Platoniker  von  den  Ideen  aussagen :  daß  sie 
nämlich,  selbst  unsichtbar  und  unsinnlich,  der  sichtbaren  Welt  Bestimmtheit  und 
Gestalt  gegeben  haben. 

5)  Leg.  all.  1,65  x^g  xov  d-sov  cotpt'ccg-  ^  $e  ioxLv  6  d-sov  Xoyog.  Andere 
Stellen  bei  Zeller  III  2,  420\ 

6)  Vgl.  z.  B.  de  ehr.  30  f.,  wo  Prov.  8, 22  direct  citiert  wird. 


550  ^-  Schwartz 

barung  ist  die  Quelle  der  Lebensweisheit,  und  umgekehrt  kann 
die  Weisheit  nicht  zur  Offenbarung  in  Widerspruch  geraten  ^). 
Philo  hat  hier  die  Gelegenheit  benutzt  den  stoischen  oQ^bg  Xöyog 
xfjg  (pvöecjg  anzubringen^),  indem  er,  wie  nicht  selten,  (pvöLg  für 
^eög   braucht'):   achtet   man  darauf  wie  er  den  jüdischen  Begriff 


1)  Das  Beste  darüber  hat  R.  Smend  in  der  Einleitung  zum  lesus  Sirach 
gesagt  [XVIIIJ :  die  Weisheit  bedeutete  für  die  Israeliten  und  Juden  niemals  reine 
Erkenntnis,  sie  war  vielmehr  die  Erkenntnis  von  Gut  und  Böse,  d.  h.  vom  Nütz- 
lichen und  Schädlichen.  In  diesem,  Sinne  war  sie  auch  Speculation  über  den 
teleologischen  Zusammenhang  der  Welt,  aber  zunächst  war  sie  Lebensiceisheit .  .  . 
Aus  der  Energie,  mit  der  die  Einzelnen  eine  übermenschliche  Lenkung  ihrer 
Schicksale  forderten,  erwuchs  eine  für  die  Folgezeit  bedeutsame  speculative  Idee, 
übrigens  fast  die  einzige,  die  das  A.  2\  kennt.  Die  Lehre,  die  man  zum  Leitstern 
des  Lebens  nahm  [das  Gesetz],  erschien  auch  als  die  Macht,  die  das  Lebensglück 
ihrer  Jünger  schuf  [d.  h.  als  die  Weisheit].  Sie  sollte  identisch  sein  mit  der 
großen  Teleologie,  die  die  gesamte  Welt  durchwaltete  und  durch  die  das  All  einst 
von  Gott  erschaffen  war.  Es  entspricht  diesem  Durcheinandergehn  von  'Wort' 
und  'Weisheit',  wenn  Philo  bald  diese  zur  Quelle  jenes  macht,  bald  umgekehrt: 
de  somn.  2,  242  xarftcyt  ds  möJtSQ  ccjtb  jrrjy  ^g  trig  GotpCag  itota^ov  tgonov  6  d'SLog 
Xoyog.     de  fuga  et  inu.  97  tbv  ävavdta)  Xoyov  Q-eiov  og  aotpiag  iarl  Ttriyq. 

2)  De  opific.  mundi  143  6  tfjg  cpvGEag  oQ&bg  Xoyog,  og  -kv  qlcot  sgai. 
y.Xi^aEL  TtQoaovoiid^ETaL  dso^og,  vo^og  &si^og  cov.  de  spec.  legg.  1,191.  uit.  Mos. 
1,  48.  de  spcc.  legg.  2,  29  6  r^g  (pvGscog  ÖQ^'bg  Xoyog  .  .  .  i-nTQScpSL  Ttorifioig  ö6y' 
fiaöiv,  a  TicciSsia  %al  60(pia  %oQriyovaLv.  Daß  unter  den  Ttörifia  Soyfiava  die 
Thora  zu  verstehen  ist,  zeigt  besonders  deutlich  die  Stelle  über  die  Sabbatsvor- 
lesung in  der  Synagoge  de  spec.  legg.  2, 62  avanintaxuL  xaig  sßS6{iatg  [ivgicc 
xara  nuGccv  tcoXlv  ÖLSaayiaXsLa  (pQovriaeag  v.cd  GcocpQOßvvrig  xal  dvögsLug  xal 
di,y.aioGvvrig  xal  twv  äXXav  dQ8t(bv,  iv  olg  ol  iisv  iv  ytoo^ai,  nad^L^ovrca  avv  tjov- 
%Cai,  xd  mxa  dvaQd-ia-KOxeg  fisxd  TtQoaoxfjg  Ttdong  ^vsiia  xov  diijjfjv  X6y<ov  Ttoxi^KoVy 
dvaaxdg  Si  xig  x&v  i^TCSigoxdxcav  vcpriyBixai,  xd  dqiaxa  kccI  gvvoCgovxu  olg  .dnug 
6  ßiog  iTfLÖmasL  ngbg  xb  ßsXxLOv. 

3)  Vgl.  qu.  rer.  diuin.  her.  s.  114flf.  182  17  xov  x&v  d-voL&v  aifiaxog  i6ri 
diavoiLT]  riv  6  dgxiSQSvg  Mcovafig  cpvaEi  [!]  8L8aav.dXoiL  xqriGdyLivog  dvivsiyLB.  de 
agr.  8  wird  Gen.  1,28  paraphrasiert  mit  dem  Satz  xovxov  (den  Menschen)  yd^ 
dqxovxa  r}  q>vGLg  8bv8q(ov  xe  xal  ^caiav  xa>v  dXXav  ogu  &vr}xdj  dvta^  dndvxav 
dvEÖEi^Ev.  de  opif.  mundi  133.  de  sacrif.  Abel  et  Cain  93  ^vQia  r]^Lv  rj  cpvGig 
iTCißdXXovxa  dvd-QmTtcov  yivEi  dEÖcoqrixcii,  u)V  dfiixoxog  dndvxcav  IgxIv  ccvxi],  ysvEGLv 
dyEvrixog  ovacc,  tQoq)7]v  xQO(pf]g  ov  ÖEoiievri,  a^^riGiv  iv  öiiolcol  fiivovGcc  %xX. :  die 
Negationen  mit  denen  sonst  Gott  aus  der  Welt  hinausgeschoben  wird,  werden 
hier  der  Natur  gegeben.  Durch  diese  Identification  bringt  der  Rabbi  es  fertig 
den  jüdischen  Gehorsam  gegen  das  Gesetz  mit  dem  ethischen  Princip  der  Stoa 
zusammenfallen  zu  lassen:  de  migr.  Abr.  127  f.  Xsysxcci,  8h  i^f^g  [Gen.  12,4]  ort 
inaQ  Erd-ri  Ußgaafi  yiad'aTt  eq  iXdXriGEv  ctvx&i  yivgiog.  xovxo  8e  Igxl 
xh  Ttagd  xoig  dgiaxa  (piXoGocprjaaGLv  di86(iEvov  xiXog,  xb  d%oXov^(og  xfii  cpvGEt.  ^ijv' 
yCvETCti  di,  oxav  6  vovg  slg  xt)v  dqBxfig  dxgccnbv  iXd^av  xar'  üxvog  dgd^ov  X6yov 
ßaCvrii  Mxd  em]xai  d-E&ij  x&v  ngoaxd^Eoav  wOxov  8icciisiivri(iBvog  xal  ndcctg  &bI  xal 
•ndvtaxoi  ?gyot^  xs  xal  Xöyag  ßEßat.ov[iEvoe. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  551 

des  iDTa  [=  TCccLdeicc]  hineinmengt  ^),  wie  er  Qij^a  und  Xoyog  zu- 
sammenstellt-), wie  gar  nicht  selten  für  den  Singular  die  Plurale 
Xoyoi  eintreten^),  die  sich  mit  der  stoischen  Weltvernunft  unbe- 
dingt nicht  vertragen,  dann  kann  man  sich  der  Erkenntnis  nicht 
verschließen  daß  auch  hier  nicht  die  stoische  Philosophie,  sondern 
der  jüdische  Offenbarungsglaube  zu  Grrunde  liegt.  Das  'Wort 
Grottes'  ist  das  Gesetz ;  wenn  Philo  in  stoischer  Terminologie  von 
dem  alle   vernünftigen    Wesen   verbindenden   Weltgesetz   redet*), 


1)  Vgl.  die  oben  angeführte  Stelle  de  spec.  legg.  2,29;  ferner  de  ebr.  143 
voiiov  Tial  itKiSeCag.  qu.  det.  pot.  ins.  sol.  16  dv'  ccycayfjs  vofiLfiov  iq  ■nccl  Ttaidsv- 
6scog  dQd'Tjg.  de  somn.  2,  71  tä>v  itaidsCtis  •aal  GocpCag  ^saQri^drcav.  73  tccLs  Ttca- 
Seiag  vTtod'ijyiaig. 

2)  De  poster.  Cain.  102  rr/v  ßciaiXi'iir]v  yovv  tavxriv  ödov,  ^v  cclrid'i]  hccI 
yv^CLOv  tq)a[isv  slvca  cpiloGotpiav,  6  vo^og  [der  Pentateuch]  hccXsl  d^sov  qf^ia  v.cu 
Xoyov.  Nach  Deuteron.  8,  3  wird  de  fug.  et  inu.  137  das  Manna  gedeutet  als 
Qfin,a  Q^Eov  xal  Xoyov  dscov,  ebenso  leg.  alleg.  3,  173. 

3)  Besonders  deutlich  ist  der  Wechsel  des  Numerus,  obgleich  der  Begriff 
der  gleiche  bleibt,  de  somn.  1,  68  Xoycoi,  %'sCoii  xcc  ccgiara  vcpriyovfiivcoi  yiccl  oacc 
ngoacpoQcc  xotg  yiaigotg,  ccvccSidccG-KOVTi.  ov  yag  ä^imv  6  d-ebg  stg  cclcQ'tiölv  £q- 
XSöd'at,  tovg  sccvrov  Xoyovg  iTCLnovQLccg  svs-kcc  tcbv  cpiXccgstcov  a'jtoGtsXXsL,  vgl.  Sap. 
Sal.  16,  1 1  slg  vitoiivriaiv  r&v  Xoyiav  6ov  ivsyisvtQL^ovto  xat  o^Bcog  disocoi^ovto  .  . . 
Hat  yccQ  ovts  ßotdvT]  oi;r£  (idXccy^ia  id'EQccnevasv  ccvtovg,  aXXcc  6  abg,  hvqlSj  Xoyog 
6  Ttdvta  twfievog.  qu.  det.  pot.  ins.  sol.  13  tovg  iBQOcpavTr\%hxag  Xoyovg  fihv 
d-£ov,  voiiovg  ds  ävd'QoJTtav  d'SocpiXaVy  ähnlich  leg.  all.  3,  204.  de  migr.  Abr.  47 
TOvg  tov  d'sov  Xoyovg  ot  xQ^f^i^ol  cpcotbg  TQOTtov  oQcaiiEvovg  ^irivvovaL  [Exod.  20,  18] 
.  .  ,  STtEiS'^TtSQ  .  .  .  T]v  .  .  .  (piyyog  ccQEtfjg  xb  TtEQiavyeatcctov,  XoyiTiiig  ccdtacpo- 
Qovv  Ttriyfjg.  de  conf.  ling.  81  votitccig  ccgExatg  ag  XaXEt  6  &Ebg  ccdiacpoqoveag 
Xoyoiv  QeCcov  [die  'intelligiblen  Tugenden'  sind  einfach  die  Gebote  Gottes],  qu.  d. 
s.  immut.  83  [lovädag  [iev  ovv  d^Qatovg  6  &Ebg  XuXel'  ov  yccQ  iariv  6  Xoyog  avtan 
ysycovbg  ccsQog  TtXfj^ig  [stoische  Schuldefinition],  ccvaiMyvv(iEvog  aXXon  tb  mccgaTtccv 
ovÖEVLf  ccXXcc  dacoiiaxög  xe  v.cu  yv^vog,  ccdiacpOQ&v  fiovddog.  Die  Praeexistenz 
kommt  dem  Plural  ebenso  zu  wie  dem  Singular:  de  poster.  Cain  89  tovg  d'  oQovg 
tovtovg  ovx  V  ■accd''  r](iäg  yEVECig  EatriOEVy  dXX'  ot  Ttgb  rjfiav  xal  navxbg  tov 
yEmdovg  TtQEüßvtEQoi  XoyoL  %al  Q'eloi.  Nur  weil  er  das  Wort  Gottes  ist,  kann 
der  Logos  =  tli'll  gesetzt  werden :  de  somn,  2,  223  tr]v  nXriqri  %ccqLt(üv  diad-^-urjv 
Eccvtov,  voiLog  d'  ^6tl  yiccl  Xoyog  t&v  övtcov  6  TtQEoßvtcctog,  vgl.  237.  qu.  det.  pot. 
ins.  sol.  68  in  der  Exegese  von  Deut.  33, 10  xat  Xoyav  %ccl  di,ccd^7]%rig  ^sov  (pvXa^ 
6  äatSLog  ECtiv. 

4)  De  migr.  Abr.  130  ist  die  stoische  Definition  von  vo^iog  auf  das  mosa- 
ische Gesetz  übertragen :  vo^og  ovöev  dga  iq  Xoyog  Q'ELog  TtQoatdttcov  a  dst  ■accl 
DCTtccyoQEvmv  a  ^rj  XQV  [vgl.  Arnim,  frgm.  Stoic.  2,  1003.  3,  314],  dtg  (iccQtVQEt  cpdö- 
v,oiv  Ott  idi^ccto  ccTtbt&v  Xoycov  «-üto v  vd/*ov  [Deuteron.  33,  4].  de  poster. 
Cain  185  tb  &vd-Qm7tcov  yivog  vnb  v6(iov  cpvöEcog  ÖLdcca-no^Bvov  aQEtrig  [verdorben] 
d-sbv  tifiäv  yial  tfig  XEitovqyCag  ccvtov  itEgiEXEC^cci :  das  'Naturgesetz',  das  den 
Dienst  Gottes  befiehlt,  ist  das  mosaische ;  drastisch  zeigt  das  die  Stelle  de  ebr.  37 
MoiViSEOig  .  .  .  tdg  ts  TtQOGtd^sig  -acd  tovg    tsQOitdtovg  vo^iovs  ävadLÖdanavtas  .  .  . 


552  E.  Schwartz 

meint  er  die  jüdische  Thora.  Man  soll  nicht  vergessen  daß  er  die 
Bibel  an  unzähligen  Stellen^)  6  leQos  loyog  nennt;  der  Sprach- 
gebrauch würde  allein  zum  Beweis  dafür  genügen,  daß  die  vom 
griechischen  Standpunkt  aus  orientierten  Darstellungen  des  philo - 
nischen  'Systems'  das  Wesentliche  übergehn  und  um  der  helle- 
nistischen Tünche  willen  den  jüdischen  Untergrund  ignorieren. 

Zum  Lobe  das  Philo  dem  Hohenpriester  singt,  gehört  daß  er 
ihn  dem  göttlichen  Wort  gleichsetzt;  die  Analyse  der  Allegorie 
zeigt  unwiderleglich,  daß  Xöyog  auch  hier  Rede  bedeutet^).  Nach 
der  philonischen  Manier,  die  alle  heiligen  Institutionen  und  Ereig- 
nisse in  die  Seele  des  Menschen  projiciert,  ist  der  Hohepriester, 
psychologisch  gefaßt,  das  Grewissen,  und  das  Grewissen  ist  ebenso 
wie  der  Hohepriester  der  köyog  d-elog,  derjenige  nämlich  den  Grott 
in  den  Menschen  sendet,  als  solcher  auch  ein  Engel  der  den  Men- 


TtuQsX&ayv  6  do-nrißioocpog  ^lod-OQ  .  .  .  vofiovg  svavriovg  rocg  rfjg  cpvösoag  ava-ygatpEi. 
qu.  det.  pot.  insid.  sol.  52  [lccqxvqu  8s  fiov  tau  Adycot  i]  cpvaig  ■nal  xa  a.v,oXov%^ oig 
avTfjv  vsvofiodsTrid-evTa,  dt-SigritciL  yag  Gafp&g  xat  ccvrL-HQvg  ovrag,  folgt  Exod.  20,  12. 

1)  Vgl.  z.  B.  leg.  alleg.  3,  36.  106.  118.  162.  qu.  rer.  diuin.  her.  s.  95.  185. 
207.  259.  de  congr.  erad.  gr.  85.  de  somn.  1, 53.  de  spec.  legg.  1,  215.  2,  23.  80. 
de  migr.  Abr.  83  wird  Moses  gradezu  nach  Exod.  4, 15  f.  mit  6  d-siog  loyog  be- 
zeichnet :  7]  ovx  OQ&g  tovg  sitaoidovg  -nal  (pagiiwuevtag  avTi6oq)i6TSvovtag  x&i 
%BCoii  /loycot;  Da  er  der  Triiger  der  Offenbarung  ist,  so  ist  das  nur  consequent, 
aber  mit  dem  s.  g.  Logos  der  aus  der  griechischen  Philosophie  stammen  soll,  hat 
das  alles  nichts  zu  schaffen. 

2)  De  fuga  et  inu.  108  Xiyofisv  yccQ  xbv  icQxi^QSu  ovv.  a.vQ-QOi7tov,  ciXlu 
Xoyov  %'tiov  slvai,  Ttdvxcov,  ovx  ^v-ovolcov  iiovovj  aXXcc  xat  catovacav  ocSiHri[icix(ov 
ccfiixoxov '  o^xe  yccQ  snl  TtaxQij  x&i  vm,  o^xs  inl  ^tixqc,  xTjl  cclad-'^aei^  qprjfftv  ccvxbv 
Mayvajjg  [Lev.  21,  11]  dvvaod-ai  jiitati'tö'O'at,  dioxi^  oi^icci,  yovscov  cccpd^ÜQxtov  xal 
xad'aQaxdxav  iXux^v,  nccxQog  fiev  dsov^  og  xat  x&v  övfincivxav  iaxl  nccx-qg,  (irixQog 
Ss  aoqiCag^  di*  r\g  xa  oXa  ^Xdsv  slg  yivsciv  [vgl.  qu.  det.  pot.  ins.  sol.  52  ft'.  de 
migr.  Abr.  102  ff.].  In  der  bei  Philo  sehr  häufigen  Trichotomie  vovg  Xöyog  aia- 
&riaLg  bedeutet  Xoyog  stets  die  Rede,  das  gesprochene  Wort :  de  congr.  erud.  grat. 
99  ccTib  x&v  xar'  ai'G&riGiv  xo  Y,aXibg  aiad-avsad-ccif  ccnb  xüv  -nccxa  Xöyov  xb  ev 
Xiynv,  &nb  x&v  naxcc  vovv  xb  sv  diavosLad'ai.  de  mut.  nom.  56.  de  Abrah.  29  f. 
de  poster.  Cain  55 ;  de  migr.  Abr.  2  ff.  wird  nach  dieser  Trichotomie  vom  mensch- 
lichen vovg  und  X6yog  auf  Gott  =  6  x&v  oXav  vovg  und  den  Logos  Gottes  ge- 
schlossen, der  also  nur  Gottes  Wort  bedeuten  kann.  Uebrigens  war  diese  Drei- 
teilung in  der  jüdischen  Exegese  schon  vor  Philo  heimisch:  de  somn.  1, 118  hioL 
dh  ^Xlov  fiiv  VTtoxoTtTjöavxtg  stgfjad'ca  vvvl  avfißoXiyi&g  aCad-riaiv  xs  xal  vovr,  xa 
VBvofiioiitva  xa-O"*  7}[i&g  ccbxovg  flvai,  ytQm^QLUf  xonov  Ss  xbv  d'siov  XoyoVy  ovxoüs 
i^eös^uvxo  [Gen.  28,11]'  &7Ci^vxriasv  6  &aii7itr}g  idywt  d^siat  Svvxog  xov  d^vrixov 
«al  &v&Q<o7t£vov  (fiyyovg.  Hier  tritt  scharf  hervor  wie  Sinne  und  Geist  des 
Menschen  der  Offenbarung  des  göttlichen  Wortes  entgegengesetzt  werden,  lieber 
xÖTtog  =  Gott  vgl.  Siegfried,  Philo  202 ;  die  Valentinianer  haben  ihrem  Demiurgen 
4^  jüdischen  Namen  gegeben. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  553 

sehen  geleitet^).  Der  Begriff  des  göttliclieii  Wortes  und  der  gött- 
lichen  Rede  scMägt  auch  hier  immer  wieder  durch,  und  das  ist 
für  Verständnis  und  Ableitung  wichtiger  als  die  ab  und  zu  auf- 
tauchende Identification  des  Gewissens  mit  dem  stoischen  Xoyt^iiög 
und  ÖQd-bg  Xoyog^). 

Philo  erwähnt  ältere  jüdische  Exegeten  die  unter  die  Gnaden- 
geschenke Gottes  die  Verwandtschaft  des  Menschen  mit  dem  gött- 
lichen Logos  rechneten^).  Das  klingt  an  die  stoischen  Sätze  an, 
daß  dem  Menschen  dasselbe  Praedicat  Xoyixög  zukommt  wie  dem 
Kosmos  *) ;  es  ist  auch  richtig  daß  Kleanthes  und  Poseidonios  diesen 


1)  In  der  Exegese  von  Num.  35, 25  wird  de  fuga  et  inu.  117  ausgeführt:  cpvai- 
ntoTccTT]  7tQod-B6fiLa  v,ad-68ov  (pvyadav  b  tov  ocQxt£Q£cog  iarl  ^dvcctog.  Ecog  pilv  yccg  6 
isQüotatog  ovxog  loyog  ^j}i  v.cd  tcsqlsgtlv  iv  ipvxrii,  äiJir\%avov  tQonr]v  ciY.ov6iov  Big 
ccvtfiv  v.axsl%'8Lv  .  .  .  iäv  ds  aTto&dvriL  .  ,  . ,  yidd'odog  svQ-vg  dCdoxai  totg  Bv.ovaCoig 
6(pdX[iccaLV  .  .  .  yEQag  yccQ  i^aLQStov  6  ccfiLUvrog  aQXiSQSvg,  elsyxog,  fx  (pvcecog  kekccq- 
TCtotcci  tb  (iridiTCor'  slg  avtbv  Ttagads^ccad-ccL  torrgv  yvm^r]g  oXCoQ'oiv  [bXiöQ'Ov  codd., 
vgl.  qu.  d.  s.  immut.  130].  qu.  det.  pot.  ins.  sol.  146  iv.etsvGiiisv  ovv  xbv  dsbv  ot 
6vv£LdT]6£i  xa)V  OLTiELcov  a.8iV,7\\idxoiV  8Xsyx6(i£VOL  yioXdaca  fi&XXov  7}(iäg  i)  TCUQBivai' 
TtccQslg  fiBV  ydg  ovv.ixi  xov  i'Xsco  dovXovg  eavxov,  ysvsGScog  ös  x-qg  dvriXBOvg  ccTtEQydas- 
xccij  -KoXd^ojv  ÖS  iTtiSL-Kcbg  XE  yiccl  Tigdiag  dxE  XQ^^'f^bg  mv  Eitavoq^-caGEtai  xä  d^ccQX'q- 
liccxa,  xbv  60}cpQ0VL6xriv  eXsyxov,  xbv  eccvxov  Xoyov,  Eig  xijv  didvoiav  Ev-Tti^ipag^ 
Sl'  ov  dvaco7t7]aceg  v.al  dvEidiaag  TtEgl  mv  E7tXriii[LEXr\6Ev,  avxj]v  tdasxaL.  qu.  d.  s. 
immut.  134  [Exegese  von  Lev.  14, 34  ff.]  Eoog  ^iev  yaQ  6  Q-ELog  Xoyog  Eig  xrjv 
tpvxijv  7]\ia}v  nad-dnEQ  XLvd  EßxCav  ovk  cccpiv.xai,  ndvxa  uvxfig  xa  EQya  dvvTtccLxia 
.  .  .  oxccv  8s  EiüEXd'riL  ö  lEQEvg  övxag  eXEyxog  stg  ij^äg  (ogtieq  cpcoxog  xig  avyi] 
■na&ciQmxdxri,  XTiVLTiavxa  yvcoQL^o^Ev  xa.  ivccTtoyiEifiEva  rj^icov  ovv.  Evayi]  xf]v  ipvxfjt 
ßovXEVfiaxcc  nal  xhg  EniXriTtxovg  xort  vnaixCovg  TtQd^Eig,  cctg  dyvoiai  x&v  ov[i(pE- 
QOVTCüv  EV£XEiQOv(iEv.  182  iXsyxov  —  Xoyog  8'  iaxl  d-SLog,  dyyEXog  ':to8riyExä>v  -aal 
xa  iv  Ttoölv  dvaoxiXXoiv,  l'va  ditxaiGxoL  8id  XEcacpogov  ßatv(o[i£v  xrjg  68ov  [Ps.  90, 11  f.], 
vgl.  de  migr.  Abr.  174.  de  mut.  nom.  116. 

2)  Qu.  d.  s.  imm.  50.  de  sacrif.  Ab.  et  Cain  51. 

3)  Bei  der  Erörterung  des  tralaticischcn  Zetema,  warum  der  Mensch  zuletzt 
geschaffen  sei,  bemerkt  er  de  opif.  mundi  77  XEyovauv  ovv  oi  xotg  vo^oig  sni 
tcXeov  E(ißad'vvavxEg  yial  xa  xar'  avxovg  ag  evv  fidXiöxa  (lExd  Ttdarig  i^ExdaEag 
cc%QißovvxEg  [d.  h.  die  allegorischen  Erklärer,  vgl.  de  somn.  1, 102]  oxl  xfig  avxov 
avyysvELCcg  fi£xa8ovg  ö  ^sbg  av&QOJTtat.  xfjg  XoyiKf]g,  ^xig  ccQiaxri  8coQ£äiv  riv,  ov8e 
x&v  dXXcov  £(pd'6vr]aEv,  dXX'  mg  otusioxdxcoi  v,al  cptXxdxcoi  ^mioii  xa  iv  yioGfiat 
Tcdvxa  7tQOT]xoL{idoaxo,  ßovXriQ-Elg  ysvofiEvov  avxbv  (irjSsvbg  dnoQfi6ai  xöbv  Ttgog 
x£  xb  ^Tjv  v.al  xb  ev  ^fiv. 

4)  Arnim,  frg.  Stoicor.  1, 110—114.  2,528.  633—645.  3,334.  370.  Kaiser  Marcus 
2,  16  xiXog  Xoyiyimv  ^wLoav  xb  STCEcd'aL  xcoi  xf]g  TtoXstog  xal  noXixsCag  tijg  TtQEößvxdxrig 
Xoyoav  iial  ^eö^&l.  5, 27  6  Scctficov  ov  iyidöxcoi  Ttgoaxdxriv  y.al  r}yE[i6va  6  Zsvg 
e8(üv.£v  dnoöTtaa^ci  eccvxov  '  ovxog  Si  iaxiv  6  indaxov  vovg  %al  Xoyog,  vgl.  6,  35. 
4,  16.  7,  9  Xoyog  -noivbg  Ttdvxcov  xav  voEQmv  ^mav.  7,  53  xara  xbv  KOivbv  Q'EOLg 
y.ccL  dv^QmTtoig  Xoyov.  Epiktet.  1,  3, 3  6  Xoyog  Tial  ri  yvm^ri  yioivbv  Ttqbg  xovg 
d^EOvs. 


554  E-  Schwartz 

Zasammenhang  des  Menschen  mit  dem  göttlichen  All  religiös  und 
ethisch  ausgenutzt  haben.  Aber  man  übertreibe  die  Aehnlichkeit 
nicht:  der  stoische  icoö^og  Xoyvxög,  der  Menschen  und  Grötter  zu 
*  einer  Ordnung  umfaßt,  ist  von  dem  göttlichen  Logos  mit  dem  nach 
dem  alexandrinischen  Eabbiner  der  Mensch  verwandt  ist,  sehr  weit 
entfernt.  Denn  diese  Verwandtschaft  wird  vermittelt  durch  den 
Geist,  den  Grott  dem  Menschen  bei  der  Schöpfung  eingeblasen 
hat^):  wie  die  rTQDn,  so  wird  auch  die  n^'n'i  nT\  mit  dem  Logos 
identificiert -).  Mit  dem  Gedanken  daß  der  Geist  Gottes  in  allen 
Menschen  ist,  operiert  schon  die  salomonische  Weisheit:  t6  acp^uQ- 
xov  60V  Ttvevfia  [12,  1]  ist  die  der  hellenischen  Philosophensprache 
angeglichene  Umschreibung  von  D'^'^n  niSIDS  [Gen.  2,  7],  die  Ttvorj  und 
Ttvsv^a  gleich  setzt.  Eben  dieser  Anklang  und  die  religiöse  Aus- 
deutung des  Satzes  zeigen  daß  das  stoische  Ttvsvna  fernzuhalten 
ist:  das  ist  überall,  nicht  im  Menschen  allein  und  nicht  einmal 
auf  das  organische  Leben  beschränkt. 

Gewiß  ist  ein  Unterschied  zwischen  dem  T\Mr^  "im  des  A.  T. 
und  dem  Xöyog  d^stog  des  Rabbiners,  und  es  soll  gar  nicht  geleugnet 
werden  daß  die  philosophische  Bildung  des  Exegeten  diesen  Unter- 
schied erweitert  und  vertieft  hat.  Aber  erstens  hat  sie  nicht 
allein  dazu  mitgewirkt,  sondern  mindestens  ebenso  sehr  die  im 
Schoß  des  Judentums,  vom  Hellenischen  ganz  unabhängig  ent- 
standene superstitiÖse  Speculation,  die  Gott  ängstlich  mit  immer 
dichterem  Geheimniß  umgab  und  so  seine  Kräfte  und  Manifesta- 
tionen selbständigem  "Wesen  entgegentrieb,  und  zweitens  folgt  aus 
gelegentlichen  Berührungen  die  Philo  zwischen  der  um  die  Bibel 
sich  rankenden  Speculation  und  seinen  philosophischen  Kenntnissen 
herzustellen  sucht,  noch  lange  nicht,  daß  der  'Logos'  aus  der  grie- 
chischen Philosophie    stamme    und    diese    dazu   helfen    könne    die 


1)  De  opif.  mundi  144  avyysvqg  xs  xal  &y%i6'7toQog  a>v  xov  ^ysfidvogj  ats 
dt]  noXXov  Qvsvtog  sig  avtbv  rov  d'SLOV  TivsvfiaToc,,  Ttdvra  v,al  Xiyuv  xal  nQuxxBiv 
ioTtovda^sv  sig  &q  bo%b  lav  xov  Ttax  gbg  -nal  ßaa  lX  sag,  dies  Ziel  ist 
speciell  jüdisch,  leg.  alleg.  1, 37  xqIu  yccQ  dvcci  ösl,  t6  i^nveov,  x6  dsx6(i8vov, 
xb  iiLTtveofiEvov  xb  fiev  ovv  iimveov  iaxlv  ö  d'sdg,  xb  8e  dexoiiBvov  6  vovg,  xb  ds 
ilinvsoiisvov  xb  nvtvyia  .  .  .  n&g  av  ivoriasv  7}  tj^vxi]  Q'b6v^  st  (li}  iviTtvsvas  xal 
ippaxo  a'bxfig  naxa.  8vvu\liv\  qu.  det.  pot.  ins.  sol.  80  nach  Anführung  von  Gen. 
2,  7  Sia  xovTOv  Ttagiatäg  oxi  Ttvsvfid  ioxiv  rj  ipvxijg  oiaCa. 

2)  De  plant.  18  äXX'  ot  [isv  äXXoi  xi)g  ald'SQiov  (pvösag  xbv  rjfiitSQOv  vovv 
(lOiQccv  elndvxeg  slvai^  avyyiveiav  &vd-Qo}7to}L  Ttgbg  uid-ega  ovvfjipav  6  ds  fi^yctg 
Matva^g  oidsvl  x&v  ysyov6xa>v  xi^g  Xoymi^g  ipvxf)g  xb  slSog  mnotoiGsv,  ScXX*  sItibv 
wbxijv  xov  d-eiov  xal  &oQdixov  7tvBv(jucxog  i%BCvov  dd'Kifiov  elvai  v6(iLa(ia,  Gjjfisiad'iv 
xal  xvntoQ^lv  acpQayCdi,  d^eov,  ^g  6  ;uapaxT»j(>  iaxLV  ö  äiSiog  Xoyog'  ivBnvsvas 
yd(f  tpriüiVf  b  ^tbg  eig  xb  ngoamnov  avxov  nvoi]v  ^(öaccv  [Gen.  2,7]. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  555 

Rätsel  des  Begriffes  zu  verstehen.  Vielmehr  wird  der  Logos  erst 
räthselhaft,  wenn  er  hellenisch  gefaßt  wird.  Die  stoische  Lehre 
kennt  wohl  den,  schon  vor  ihr  vorhandenen,  oQd-bg  löyos ;  sie  nennt 
auch  den  praedestinirten  Causalnexus  und  das  rationale  Sitten- 
gesetz Xöyogj  aber,  wohlgemerkt,  nicht  ohne  einen  determinierenden 
Zusatz  ^).  Zu  Grunde  liegen  die  Sätze  daß  der  Kosmos  ein  XoyLxbv 
^cbiov  ist  und  daß  das  Sittengesetz  für  alle  ?.oyLKcc  tßia  gültig 
ist;  man  muß  'Vernunft'  oder  'Denken'  übersetzen,  nicht  'Eede'. 
Wenn  Xöyog  absolut  gebraucht  wird,  liegt  mehr  oder  weniger 
deutlich  eine  Rückbildung  aus  dem  Adjectiv  Xoyixov  vor  ^) ;  auch 
hat  der  Begriff  der  aXoya  Ttd^ri  dazu  geführt  daß  Xoyog  in  der 
stoischen  Pathologie  eine  wichtige  Rolle  spielt  ^).    Einen  göttlichen 


1)  Arnim,  frg.  Stoic.  1,493  tb  fisv  ovv  TtccGxov  bXvcci  x7]v  anoiov  ovöCav^  t7]v 
vXriv,  tb  d£  noiovv  xbv  sv  avxfit  Xoyov^  tbv  ^sov.  537  [Hymnus  des  Kleanthes] 
Gii  ov  yiatsvd'vvEig  v.oivbv  loyoVj  og  dtcc  Ttdvtmv  cpoitäi,  inyvvfisvog  fieydXoig  ^l- 
KQOug  TS  cpdscoi  .  .  .  ads  yccQ  stg  ff  Ttdvra  Gw^Q^ozccg  iad'Xcc  v.av,0i6iv,  too^'  'ivcc 
yiyvsöd'ai  Ttdvrcov  Xoyov  aisv  iovta,  ov  cpEvyovzBg  i&aiv  oaoi  d'vr]ta)v  na-noi  si6i, 
Sva^OQOi,  oi'  t    ccyaQ-ihv  fisv  dsl  v.tfi6iv  Ttod-eorrsg  ovt'  eaoQmCL  Q'sov  yiOivbv  vofiov 

O^tS    ■kXvOVÖLV,     WL    %BV    TtuQ'OlLBVOl    6VV    V&l    ßlOV    86%'Xbv    e'xOLSV.       2,  913    SlllCCQllEVTl 

iarlv  6  tov  KOGfiov  Xoyog  ?)  Xoyog  t&v  sv  tau  '/.oöiicoi  nqovoCai  diomov^svcov  ?) 
Xoyog  xa-ö"'  ov  tcc  ybsv  ysyovotu  ysyovs,  ta  8s  yivo^sva  yCvstai,  tk  8\  ysvri66(isva 
ysvi]6stcci.  915  stfiaQ^Evri  .  .  ,  Xoyog  'iiccd'\ov  ö  yioöiiog  dis^dystcci.  937  ovd'sv 
yciQ  S6XLV  ccXXcog  xmv  v,atu  fiSQog  ysvsad'ai  ovSs  xovXdxiaxov  ?)  v.axä  xi]v  y.olvt]v 
cpvGLv  'Kccl  yiccxa  xbv  s-KSivrjg  Xoyov,  vgl.  1181.  1176  xavxa  ccnovi^bExai  v.ccxä  xbv 
xov  dibg  Xoyov  i]X0L  STtl  •üoXdöSL  ?)  yiax'  dXXriv  s^ovadv  Ttmg  itqbg  xa  oXa  o£-AOvo^iav. 
528  6  KOGiiog  olov  sl  noXig  saxlv  £%  &£cbv  yiccl  ccv&QooTtcov  övvsöxcbacc,  xööv  ^sv 
d-Ecöv  xr}v  rjyEfiovLCCv  E%6vxoiv,  xav  <5''  av^-QüoTtav  vTtoxExay^svcov.  %oivoivCav  5' 
vndQXEiv  TtQog  dXX'^Xovg  diä  xb  Xoyov  {LStE%SLv,  o?  ^6ti  cpvGSL  v6(iog.  370.  373. 
Kaiser  Marcus  4,  29.  6,  58.  4,  46.  5,  32.  6,  1.  5.  7,  10.  10,  7. 

2)  Vgl.  Kaiser  Marcus  4,  4  st  tb  vosgbv  tj^ilv  yioivov,  -aoI  b  Xoyog  y.ccQ''  ov 
Xoyiv,OL  EG^Ev,  noLvog'  EL  tovxo,  ticd  6  7tQ06xav,XLV.bg  xcbv  7tOL7]XEcov  7]  ^i]  Xoyog 
tioivog'  EL  xovxo,  Ticcl  6  vo^og  yioivög'  sl  xovxo,  itoXtxaC  eg^ev  st  xovxo,  itoXixEv- 
[laxog  XLVog  yLExi%oiLEv '  sl  xovxo,  b  yioa^og  mg  av  sl  TtoXig  egxl.  6,  23.  Epiktet. 
3,  24,  7  (vorher  ist  von  den  uXoya  ^cotoj  die  Rede)  r][LLv  ovv  Xoyog  STtl  dxv%iai 
x«l  yiayiodaLiiovLCCL   dsdoxai  vTtb  x&v  ^saiv; 

3)  Nach  Zeno  war  das  ndQ-og  rj  dXoyog  v.cil  rcagcc  (pvoiv  i/jv^ijs  ■aCvriGig 
[Arnim,  frg.  Stoic.  1,  205].  Da  nun  aber  die  orthodoxe  Stoa,  wie  Chrysipp  sie 
ausbildete,  von  einem  irrationalen  Seelenteüe  nichts  wissen  wollte  und  die  Leiden- 
schaften als  Krankheiten  des  Denkens  faßte,  mußte  sie  dXoyog  näher  definieren: 
es  sollte  gleich  ditELd-rig  '^<öi  Xoyai  [frg.  Stoic.  3,  377.  389.  462.  478]  oder  aTtE- 
axgaii^Evog  xbv  Xoyov  [475.  476.  479]  sein.  Natürlich  ist  Xoyog  auch  hier  die 
'Vernunft';  es  ist  consequent,  wenn  den  Kindern  die  ndd-r}  abgesprochen  werden, 
da  sie  xbv  Xoyov  fi'^Ttco  avintEnXiJQaKsv  [477] ;  und  auch  dieser  Xoyog  ist  von  dem 
nicht  verschieden,  y.ccd''  ov  Xoyi%oi  söfiEv:  Chrysipp  sagt  wörtlich  [390]  xov  Xo- 
ymov   ^miov   cpvaLv   E^ovxog   TtqoGXQfjG^ccL   stg    Ev,cc6xa   xcbi   XöycoL  v.al  vnb  xovxov 


556  E.  Schwartz 

Logos  der  von  Gott  zur  Mensclilieit  die  Brücke  schlägt  und  zwischen 
beiden  steht,  kennt  die  Stoa  nicht  und  kann  sie  nicht  kennen,  weil 
sie  einem  strengen  Rationalismus  huldigt  und  von  der  menschlichen 
Vernunft  ausgeht  um  zur  Vernunft  des  Alls  zu  gelangen.  Da- 
gegen pflegt  Philo  den  Logos  durch  einen  Zusatz  mit  Bestimmtheit 
als  den  göttlichen  zu  bezeichnen:  so  verschieden  diese  Zusätze  im 
Einzelnen  sein  können,  sie  fehlen  höchstens  dann,  wenn  sie  sich 
ohne  Weiteres  aus  dem  Zusammenhang  ergeben.  Auch  dies  hat 
seinen  guten  Grund:  denn  die  jüdische  Speculation  gilt  weder  der 
Vernunft  noch  dem  Wort  an  sich,  sondern  dem  Wort  Gottes,  das 
unmeßbar  hoch  über  dem  menschlichen  Wort  und  der  menschlichen 
Vernunft  steht.  Etwas  anderes  ist  es  mit  der  Weisheit;  die  JilSDn 
ist  ursprünglich  nicht  bei  Gott,  sondern  beim  Menschen  zu  Hause 
und  ist  lediglich  darum  zu  Gott  in  den  Himmel  versetzt,  damit 
zwischen  Religion  und  Lebensweisheit  kein  Conflict  entsteht,  oder 
wie  es  auch  gefaßt  werden  kann,  weil  aus  dem  Jahveh  der  seinem 
Volke  Befehle  giebt,  der  Weltschöpfer  geworden  ist.  So  kennt 
das  Judentum  nur  eine  Rede  Jahvehs,  nicht  das  Wort  an  und  für 
sich,  dagegen  eine  Weisheit,  die  zwar  bei  Gott  ist,  aber  eines 
genetivischen  Zusatzes  nicht  bedarf  um  eine  Realität  zu  sein. 

Erst  die  christliche  Speculation  hat  den  absoluten,  zusatz- 
losen Logos  eingeführt.  Schwerlich  hat  das  vierte  Evangelium 
damit  den  Anfang  gemacht;  unzweifelhaft  aber  hat  sein  Prolog 
das  Meiste  dazu  getan  daß  'das  Wort'  an  und  für  sich  ein  meta- 
physischer Begriff  wurde,  und  die  moderne  Dogmengeschichte  der 
griechischen  Philosophie,  die  den  Logos  in  der  Stoa  und  bei  Philo 
sucht,  hat  in  unbewußter  Erinnerung  an  den  Anfang  des  vierten 
Evangeliums  ein  jüdisch-christliches  Theologem  in  die  griechische 
Philosophie  verschleppt,  in  die  es  nicht  gehört.  Die  Worte  jenes 
Anfangs  ev  ciQxi]L  i]v  6  Xoyog  xal  6  Xoyog  rjv  Tcgbg  tbv  ^eov  sind 
so  gefaßt,  daß  sie  die  längst  im  Judentum  vollzogene  Identification 
des  göttlichen  Worts  und  der  Weisheit  voraussetzen,  und  es  kann 
sein  daß  die  von  Anfang  an  selbständige  Weisheit  dazu  beigetragen 
hat  auch  das  Wort  zu  verselbständigen.  Allzu  viel  Gewicht  möchte 
ich  aber  auf  diese  Construction  nicht  legen ;  im  Wesentlichen  kann 
der  Proceß  der  den  Logos  aus  einem  der  Stütze  durch  Attribut 
öder  Genetiv  bedürftigen  Appellativ  zu  einem  für  sich  stehenden 
Eigennamen  machte,    nur  so  verlaufen  sein,   daß  er  diese  Realität 


nvßsQV&o^ai,  noXlatiis  &noatQig>ead^aL  aixbv  riiiäg,  äXXrii  ßiaiotsgai  (pogcct  %q(o- 
liivovs.  Bei  Epiktet  [3,24,108.4,11,26.33.7,38]  und  Kaiser  Marcus  [8,40. 
5, 9.  10, 12.  12, 31]  sind  diese  ethischen  Folgerungen  beliebt. 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  557 

von  der  liistorisclien  Realität  lesu  erhalten  hat.  Ein  merkwürdiger 
Sprach  bei  Marcus  [13,  31],  auf  den  mich  Wellhausen  aufmerksam 
gemacht  hat,  weist  den  Weg:  6  oi)Qccvbg  xal  r]  yfi  naQBXsv6ovxai, 
OL  de  koyoi  ^ov  ov  7caQskEv6ovrai.  Die  Gebote  des  Herrn  sind 
ewig;  was  die  jüdische  Speculation  von  dem  mn"^  in*!  behauptet 
hatte,  gieng  auf  sie  über,  erhielt  aber  einen  neuen  Sinn  und  eine 
neue  Kraft:  aus  dem  unvergänglichen  Worte  des  Herrn  wurde 
das  Wort  das  von  Anfang  an  war,  ehe  der  Herr  im  Fleisch 
erschien.  Damit  trug  lesus  seinen  Beruf  in  sich  und  erhielt  ihn 
nicht  erst  durch  die  Taufe  und  die  Herabkunft  des  Geistes:  das 
vierte  Evangelium  zieht  aus  der  Speculation  die  Consequenz  für 
die  Erzählung  und  setzt  die  Praeexistenz  des  Wortes  und  seine 
Menschwerdung  an  Stelle  der  Taufe  lesu  durch  Johannes.  Wenn 
das  ewige  Wort  einmal  erschienen  ist,  hat  die  Wiederkehr  des 
Messias  keinen  Sinn  mehr:  die  Hoffnung  auf  die  Parusie  wird  in 
dem  Spruch  bei  Marcus  unzweideutig  für  überflüssig  erklärt.  Im 
vierten  Evangelium  geht  lesus  zum  Vater  um  nicht  wiederzu- 
kehren: denn  seine  Jünger  wissen  den  Weg,  d.  h.  die  Gebote  die 
zum  Vater  führen,  und  es  ist  genug,  wenn  er  ihnen  den  Parakleten 
sendet,  zum  Beistand  gegen  die  Gottlosen,  die  den  Frommen  der 
neuen  Gemeinde  so  feindlich  sind  wie  denen  des  ehemals  auser- 
wählten Volkes.  Das  hängt  alles  so  wohl  in  sich  zusammen,  daß 
nichts  dagegen  spricht  den  Logos  eben  so  wie  den  Parakleten  dem 
ursprünglichen  Evangelium  zuzuschreiben ;  freilich  haben  die  Ueber- 
arbeitungen  beide  Begriffe  erweitert,  verschoben  und  verdunkelt, 
lieber  das  ursprüngliche  Evangelium  als  Ganzes  zu  urteilen 
ist  schwer,  wenn  nicht  unmöglich ;  nur  zu  oft  bleibt  die  Scheidung 
zwischen  der  Grundlage  und  den  Schichten  der  Ueberarbeitung 
problematisch,  und  vor  allem  ist  ein  wichtiger  Maßstab  damit  ver- 
loren gegangen,  daß  sich  nicht  oder  doch  nur  zum  sehr  kleinen 
Teil  ausmachen  läßt,  was  gefehlt,  welche  Stücke  der  Ueberlieferung 
der  Verfasser  verworfen  hat.  Eins  nimmt  den  betrachtenden 
Blick  sofort  gefangen  und  überwiegt  zunächst  jede  andere  Wirkung : 
die  Rücksichtslosigkeit  mit  der  der  überlieferte  Stoff  gestaltet 
wird,  die  ungeheure  Kühnheit  der  Erfindung,  die  nichts  unange- 
tastet läßt.  Hier  wird  nicht  zusammengetragen  was  die  Gemeinde 
in  wenig  bewußtem,  naivem  Schaffen  zu  der  Erinnerung  der  Jünger 
an  den  Herrn  hinzugetan  hatte ;  hier  wächst  keine  Tradition  weiter, 
die  wenn  sie  auch  nicht  das  Geschehene  festhält,  doch  selbst  ein 
lebendiges  Geschehen  ist:  ein  gewaltsam  concipierender ,  höchst 
individueller  Dichter  treibt  sein  Wesen,  der  von  den  ccQSTaC  seines 
Gottes    ein    ganz  [neues  Lied   anzustimmen   sich  unterfängt.     Von 


558  ^-  Schwartz 

den  Hoffnungen  der  ältesten  Zeit  will  er  nichts  wissen ;  sein  lesns 
ist  nicht  der  mißhandelte,  von  seinen  eigenen  Jüngern  verlassene, 
einer  schmählichen  Strafe  verfallene  Knecht  Jahvehs,  sondern  ein 
Held,  der  den  Feind,  die  Juden,  mutig  aufsucht  und  heroisch  in 
den  Tod  geht,  freiwillig  auf  den  Schutz  der  Seinen  verzichtend. 
Von  Anfang  an  manifestiert  er  sein  göttliches  Wesen;  solche 
Wunder  wie  bei  der  Berufung  Nathanaels,  auf  der  Hochzeit  zu 
Kana,  das  Herausholen  des  Lazarus  aus  dem  Grrabe  stechen  mit 
ihrer  handgreiflichen  Uebernatürlichkeit  grell  ab  von  der  Reserve 
mit  der  die  synoptische  TJeberlieferung  die  von  lesus  vollbrachten 
Heilungen  darstellt.  Und  doch  verrät  sich  der  Dichter  darin  daß 
er  die  GrÖttlichkeit  seines  Helden  nicht  dogmatisch  steigert  und 
das  Menschliche  zu  seinem  Rechte  kommen  läßt,  so  sehr  daß  die 
Bearbeiter  daran  Anstoß  nahmen  und  die  kraftvolle  Zeichnung 
des  Originals  zu  schablonisiren  versuchten.  Er  muß  in  einer  Zeit 
geschrieben  haben,  die  von  den  Anfängen  schon  recht  weit  ablag, 
und  doch  noch  so  früh,  daß  er  es  wagen  konnte  die  synoptische 
TJeberlieferung  bei  Seite  zu  schieben  und  die  Göttlichkeit  lesu  in 
eine  Poesie  eigener  Art,  frei  von  dogmatischer  Grebundenheit,  um- 
zusetzen. Grade  das  Poetische  legt  die  Vermutung  nahe  daß  er 
von  hellenischem  Wesen  mehr  als  einen  Hauch  verspürt  hatte; 
dagegen  ist  das  in  dem  man  gewöhnlich  das  deutlichste  Symptom 
des  'Hellenismus'  erblickt,  der  Logos,  ein  untrügliches  Zeichen 
jüdischen  Denkens. 

Der  vierte  Evangelist  hat,  wie  jeder  andere  Evangelist  auch, 
'das  Evangelium'  aufzeichnen  wollen,  und  würde  in  noch  ganz 
anderem  Maße  als  diejenigen  seiner  Genossen  welche  sich  mehr  oder 
minder  an  die  synoptische  Ueberlieferung  hielten,  den  Gedanken 
von  sich  gewiesen  haben,  daß  er  bloß  ein  Supplement  schreibe 
und  nur  mit  anderen  Evangelien  zusammen  gelesen  und  verstanden 
werden  könne.  Seine  Schuld  war  es  nicht,  wenn  die  Synoptiker 
sich  ihm  zum  Trotz  behaupteten,  und  man  muß  sich  einmal  aus- 
malen wie  die  Vorstellungen  der  Gemeinde  von  Jesus  sich  gestaltet 
haben  würden,  wenn  dieser  Poet  siegreich  das  Feld  behauptet 
hätte,  um  an  diesem  einen  Beispiel  zu  begreifen  daß  das  Christen- 
tum bis  ins  zweite  Drittel  des  zweiten  Jahrhunderts  hinein  eine 
Bewegung  der  unbegrenzten  Möglichkeiten  war.  Ist  es  schon 
wunderbar  daß  ein  solches  Evangelium  entstehen  konnte^  so  ist 
es  noch  viel  wunderbarer  daß  es  sich  erhielt  und  für  so  wert- 
voll galt,  daß  man  ihm  eine  Form  gab,  in  der  es  neben  den  Syn- 
optikern stehen  konnte.  Ich  vermute  daß  seine  Wunder  es  ge- 
rettet haben;    diese  kräftigen  Beweise  für  die  Göttlichkeit  lesu 


Aporien  im  vierten  Evangelium  IV  559 

wollte  man  behalten,  auch  um  einen  hohen  Preis.  Den  praeexi- 
stenten  Logos  ließ  man  sich  gefallen;  er  gab  eine  geheimnißvoll 
imposante  Einleitung  ab,  die  freilich  stark  erweitert  und  verbogen 
wurde:  der  jüdische  Begriif  war  den  Christen  fremd  geworden, 
und  so  ist  es  gekommen  daß  im  Evangelium  selbst  der  Logos  jetzt 
isolirt  daliegt  wie  ein  von  den  Schmelz  wassern  zurückgelassener 
erratischer  Block,  die  jüngere  christliche  Metaphysik  hingegen  den 
stehen  gebliebenen  Eest  benutzte  um  an  den  Piatonismus  anzu- 
knüpfen. 

Es  ist  ebenso  unmöglich  das  vierte  Evangelium  in  der  Gestalt 
in  der  es  kanonisch  geworden  ist,  als  das  einheitliche  Werk  eines 
Schriftstellers  zu  verstehen  wie  mit  der  Annahme  eines  einzigen 
Bearbeiters  seine  Käthsel  zu  losen:  mindestens  zweimal  ist  es  umge- 
staltet, und  höchst  wahrscheinlich  haben  außerdem  noch  Retouchen 
kleineren  Umfangs  stattgefunden.  Das  wesentliche  und  wichtigste 
Ziel  der  Umgestaltungen  war,  die  synoptische  Ueb  erlief  er  ung  in  das 
Evangelium  hineinzuarbeiten  und  doch  die  Wunder  zu  erhalten,  so 
weit  es  irgend  gieng.  Daneben  tritt  die  Lehre  von  Christus  dem 
Sohne  Grottes  stark  in  den  Vordergrund ;  die  Reden  lesu  schwellen 
mächtig  an  und  verschlingen  den  alten  und  echten  Kern  fast  ganz. 
Weil  in  dem  ursprünglichem  Werk  der  Kampf  mit  den  Juden  die 
Peripetie  des  Dramas  bildete,  sind  die  Reden  als  Auseinander- 
setzungen mit  diesen  componiert  oder  aus  Resten  solcher  weiter 
entwickelt,  und  da  die  Juden  notwendiger  Weise  ungläubig  sein 
müssen,  so  bleiben  all  diese  SelbstofFenbarungen  Christi  über  sein 
Wesen  ohne  Publicum:  sie  richten  sich  in  Wahrheit  nicht  an  die 
jüdischen  Gegner  und  zielen  nicht  darauf  ab  diese  zu  überzeugen 
oder  zu  bekehren,  sondern  sie  gelten  der  Gemeinde  die  sich  zu 
lesus  Christus  dem  Sohn  Gottes  bekennt  oder  richtiger  schon  be- 
kannt hat.  Die  kirchlichen  Institutionen,  Sacramente,  Diakonie 
und  dgl.  melden  sich  deutlich  an ;  dagegen  fehlen  die  Projectionen 
der  Einrichtungen  und  des  ^Lebens  der  Urgemeinde  in  die  evan- 
gelische Ueb  er  lief  er  ung  fast  ganz,  die  für  die  synoptischen  Dar- 
stellungen so  charakteristisch  sind. 

Erst  im  letzten  Stadium  der  Umgestaltung  ist  dem  Evangelium 
apostolischer  Ursprung  zugeschrieben;  das  setzt  die  Zeit  voraus, 
in  der  versucht  wurde  apostolisch  und  kanonisch  für  identisch  zu 
erklären.  Es  stimmt  gut  dazu,  daß  die  gegen  Basileides  und  Va- 
lentinus  streitende  Bearbeitung  dem  gleichen  Stadium  angehört: 
weil  die  Rechtsfiction  von  der  apostolischen  Succession  des  Epi- 
skopats sich  im  Streit  mit  der  Gnosis  glänzend  bewährt  hatte,  ist 
die  Forderung  apostolischen  Ursprungs  auf  den  werdenden  Kanon 


560  E.  Schwartz  Aporien  im  vierten  Evangelium  TV 

des  N.  T.  übertragen.  Wie  diese  letzte  Umgestaltung  schon  im 
Hinblick  auf  den  Kanon  unternommen  ist,  so  ist  ihr,  nicht  ohne 
Kampf  errungener,  Sieg  das  wichtigste  Ereignis  in  der  Entstehungs- 
geschichte des  Kanons  gewesen :  die  Vereinigung  des  iohanneischen 
Evangeliums  mit  den  Synoptikern,  eine  so  vollendete  complexio 
oppositorum  wie  nur  irgend  etwas,  schloß  eine  Entwicklung  zu- 
sammen, die  von  ganz  entgegengesetzten  Polen  begonnen  hatte, 
und  hat  im  Lauf  der  Geschichte  immer  wieder  divergierende  Ent- 
wicklungen hervorgerufen. 


Maler  Müllers  große  Liebesode. 

.    Von 

Edward  Schröder. 

Vorgelegt  am  16.  September  1908. 

Yor  zehn  Jahren  erwarb  ich  von  einem  Leipziger  Antiqnar 
^Die  Schaaf^Schnr,  eine  Pfälzische  Idylle  Vom  Mahler  Müller. 
Mannheim,  bey  C.  F.  Schwan,  kuhrfürstl.  Hofbnchhändler  1775" 
—  hauptsächlich  um  der  hübschen,  von  dem  Dichter-Maler  her- 
rührenden Radierung  des  Titelblattes  willen,  wo  hinter  dem  Lämmer 
scheerenden  Schäfer  eine  Klosterruine  aufragt:  in  deutlicher  ße- 
miniscenz  an  Limburg  an  der  Haar  dt. 

Das  einfach  cartonnierte  Exemplar,  aus  dem  vom  der  Name 
des  frühern  Besitzers  herausgeschnitten  ist,  macht  nicht  den  Ein- 
druck, als  ob  es  viel  gelesen  sei.  Um  so  mehr  fallen  die  z.  Tl. 
recht  energischen  Korrekturen  ins  Auge,  die  mit  Tinte  auf  den 
Seiten  20 — 22  im  Text  und  am  Eande  eingetragen  sind:  sie  be- 
schränken sich  auf  den  großen  Liebeshynmus  der  Lotte,  der  zu 
den  Prunkstücken  von  Müllers  Lyrik  gehört  und  unter  dem  Titel 
„Der  Thron  der  Liebe"  von  den  Zeitgenossen  gekannt  und  ge- 
priesen war^).  Nachdem  ich  mich  anfangs  über  die  'Entstellung' 
des  zierlichen  Bändchens  geärgert  hatte,  hab  ich  die  Korrekturen 
neuerdings  zum  ersten  Male  näher  geprüft,  und  da  hat  sich  denn 
herausgestellt,    daß    sie   von  dem  Autor    selbst   herrühren.      Die 


1)  So  Gleim  an  Heinse  8.  XI.  1775  (Briefwechsel  II  17):  '.  .  .  Dis  eine 
Gedicht  hat  ihm  eine  Stelle  verdient  —  neben  meinem  lieben  Heinse !' ;  dann 
Wielands  „Teutscher  Merkur"  1776,  III  81 :  '.  .  .  das  den  kühnsten  poetischen 
Traum  darstellt,  ihn  auf  immer  als  Mann  von  Genie  rechtfertigt';  in  Fr.  Schle- 
gels „Deutschem  Museum"  1813,  IV  259  wird  auf  diese  (fälschlich  Wieland  zu- 
geschriebene) Anpreisung  hingewiesen. 

Kgl.  Gea.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Philolog.-hist.  Klasse.     1908.    Heft  5.  39 


562  Edward  Schröder. 

innere  Wahrscheinliclikeit  ergab  sich  sehr  bald  aus  der  Art  der 
Textbesserung  selbst,  die  äußere  Sicherheit  brachte  die  paläogra- 
phische  Vergleichung  eines  der  Manuskript  -  Hefte  aus  Müllers 
Nachlaß,  welche  die  Königliche  Bibliothek  zu  Berlin  besitzt^). 
Die  Korrekturen  weisen  natürlich  nicht  den  flotten  und  gleich- 
mäßigen Duktus  der  Reinschriften  auf,  sie  sind  außerdem  mit  einer 
schlecht  schreibenden  Feder  hingekritzelt :  aber  sie  sehen  doch  den 
handschriftlichen  Aufzeichnungen  Müllers,  namentlich  wo  er  flüchtig 
skizziert  und  emendiert  oder  sich  Varianten  zur  Erwägung  da- 
neben schreibt,  so  ähnlich,  daß  mir  jeder  Zweifel  daran  geschwunden 
ist,  daß  ich  in  meinem  Bändchen  eigenhändige  Aenderungen  des 
Verfassers  vor  mir  habe,  Aenderungen  die  Müller  in  dies  sein 
Handexemplar  eintrug,  als  er  eine  spätere  Lektüre  auf  unser  Ge- 
dicht beschränkte. 

Schwieriger  ist  es  zu  entscheiden,  in  welche  Zeit  wol  diese 
Eintragungen  fallen.  Wenn  auch  der  Verfasser,  wie  ich  unten 
anmerken  werde,  seiner  Phraseologie  treu  geblieben  ist,  der  volks- 
tümelnde  Ton  seiner  Sternelein,  der  ihm  einst  so  geläufig  war  (vgl. 
vor  allem  „Das  braune  Fräulein"),  war  ihm  jetzt  fast  so  zuwider, 
wie  einst  dem  pedantischen  Schulmeister  der  Idylle,  und  auch 
die  freie  Rhythmik  des  Gedichtes  war  ihm,  als  er  es  korrigierte, 
nicht  mehr  gegenwärtig,  oder  sie  störte  ihn  direkt  hier  und  da. 
Demgegenüber  will  es  nichts  besagen,  wenn  er  an  zwei  Stellen 
in  den  Wortlaut  der  ursprünglichen,  handschriftlich  überlieferten 
Fassung  wieder  einlenkt:  das  konnte  durch  neue  Erwägung  er- 
folgen, und  ist  jedenfalls  unbewußt  geschehen.  Die  „Schaaf-Schur", 
mit  der  das  Gedicht  zuerst  ans  Licht  trat,  ist  im  Sommer  1775 
erschienen,  drei  Jahre  später  ist  Müller  nach  Rom  übersiedelt. 
Mein  Exemplar  rührt  vermutlich  aus  dem  Nachlaß  des  Dichters 
her,  der  nach  seinem  Tode  zersplittert  wurde  (Seuffert  S.  57) ;  es 
ist  schwerlich  von  ihm  verschenkt  worden,  und  ganz  gewiß  sind 
die  Eintragungen  nicht  etwa  aus  Anlaß  der  Weggabe  vorge- 
nommen: denn  das  charakteristische  an  diesen  Aenderungen  (was 
sie  auch  von  vom  herein  als  authentisch  ankündigt)  ist,  daß  sie 
nicht  etwa   mit   sauberer  Pedanterie    eingetragen,    sondern   z.  Tl. 


1)  Ich  habe  dem  Beamten  zu  danken,  der  mir  eben  das  Heft  welches  auch 
die  erste  Fassung  unseres  Gedichtes  enthält,  hervorgesucht  hat,  denn  ein  genauer 
Katalog  oder  ein  Inventar  über  diesen  Nachlaß  scheint  heute  so  wenig  zu  exi- 
stieren, wie  zu  der  Zeit  wo  ihn  der  junge  SeuflFert  im  Anhang  seiner  Monographie 
abdruckte  resp.  kollationierte.  Wir  wissen  alle,  daß  der  verehrte  Meister  der 
Akribie  die  Sache  heute  ganz  anders  anfangen  und  vor  allem  mit  einer  genauen. 
Untersuchung  des  Zustandes  und  Alters  der  einzelnen  Teüe  beginnen  würde. 


Maler  Müllers  große  Liebesode.  563 

nur  angedeutet,  ja  in  einzelnen  Fällen  nur  begonnen,  nicht  durch- 
geführt sind. 

Die  „Schaaf -Schur"  trägt  im  Druck  die  Jahreszahl  1775  und 
sie  ist  Fritz  Jacobi  gewidmet :  'Meinem  lieben  Freund  Herrn  Hof- 
kammerrath  Jakobi  bey  meiner  Ankunft  in  Düsseldorf  vorzulesen'. 
Die  Bekanntschaft  rührt  aus  dem  Anfang  des  Jahres  1775  her 
(Seuffert  S.  24);  der  Besuch  zu  dem  ihn  Jacobi  eingeladen  hatte, 
gelangte  nicht  zur  Ausführung,  und  so  ist  die  „Schaaf-Schur" 
wahrscheinlich  im  Juli  ohne  ihren  Verfasser  in  Düsseldorf  ein- 
getroffen. W.  Heinse,  der  eben  dabei  war,  das  Augustheft  der 
„Iris"  fertig  zu  machen,  entnahm  dem  Ankömmling  sofort  Lottchens 
Liebeshymne:  Ausgespannt  Droben  in  den  Wolken  Steht  der  Thron 
der  Liehe,  und  ließ  sie  ohne  Nennung  des  Autors  zur  Füllung  des 
zehnten  Bogens  setzen.  Er  gab  ihr  wohl  von  sich  aus  die  Ueber- 
schrift  ;,Der  Thron  der  Liebe":  als  ein  etwas  eiliger  Leser,  der 
das  Ganze  nach  dem  Eingang  bemißt.  Freilich  nennt  auch  der 
alte  Walter  in  der  Idylle  S.  16.  18  dies  sein  angebliches  Lieb- 
lingsgedicht 'das  Lied  vom  Liebensthrone',  aber  das  ist  in  der 
Weise  des  Volkes  gesagt,  das  sich  ein  markantes  Stichwort  heraus- 
greift, nicht  einen  Titel  schaffen  will.  Wenn,  der  Angabe  des 
„Deutschen  Museums"  folgend,  A.  Sauer  in  Goedekes  „Grundriß" 
IV  ^,  S.  346  unter  5)  und  schon  in  Kürschners  National-Litteratur 
Bd.  81,  S.  206  diesen  Druck  für  den  Erstlingsdruck  hält,  ist  er 
im  Irrtum.  Müller  war  in  der  Orthographie,  namentlich  in  der 
Verwendung  der  großen  und  kleinen  Anfangsbuchstaben  und  in 
der  Interpunktion,  höchst  nachlässig,  er  überließ  es  durchaus  dem 
Setzer,  diese  Dinge  in  Ordnung  zu  bringen.  Der  Abdruck  in  der 
„Iris"  (I)  aber  stimmt  mit  dem  in  der  ,,Schaaf-Schur"  (S)  durchaus 
überein;  nur  steht  der  Mannheimer  Druck  der  handschriftlichen 
Schreibung  Müllers  noch  in  einigen  Punkten  nahe,  wo  der  Düssel- 
dorfer die  Sprachform  normalisiert  hat;  so  trifft  in  folgenden 
Fällen   die  Lesart   von   S^)   mit   der  Berliner  Hs.  (H)    zusammen: 

201,  34  klare  SH  —  klaren  I;  202,  6  Sahstu  SH  —  Sahst  du  I; 
203,  20  Lieb  SH  —  Liebe  I;  203,  27  weinet  und  trauert  S,  trauert 
und  tv einet  H  —  wehiet  trauert  I;  203,  26  u.  204,  11  Liebensgott 
SH  —  Liebens-Gott  I.  Um  ganz  gewissenhaft  zu  sein,  erwähne 
ich  auch,  daß  zweimal  (203,  1  trduffelt  S    —    träufelt  I,    treufeit  H; 

202,  32  Himmels-Bahn  S  —  Himmelsbahn  I,  Himelsbahn  H)  in 
Kleinigkeiten  die  Schreibung  von  I  der  von  H  näher  steht.  Außer- 
dem  hat  Heinse   die  Interpunktion  revidiert   und   ist    bemüht   ge- 


1)  Ich  zitiere  nach  dem  Original,  aber  mit  den  Seiten  und  Zeüen  von  Sauer. 

39* 


5ß^  Edward  Schröder, 

wesen,  eine  reichere  GrKederung  durch  Absätze  herbeizuführen;  er 
trifft  dabei  ein  paarmal  mit  der  handschriftlichen  Fassung  zu- 
sammen, was  aber  sehr  natürlich  ist.  Im  übrigen  bietet  sein 
Abdruck  keine  einzige  Lesart,  welche  über  den  Druck  der  „Schaaf- 
Schur''  hinausweist,  er  scheidet  aus  den  Grundlagen  der  Ueber- 
lieferung  aus.  Da  nun  Tieck  (oder  Batt)  im  1.  Bande  der  „Werke" 
(Heidelberg  1811)  nur  einen  im  allgemeinen  zuverlässigen  (aber 
keineswegs  buchstabengetreuen^))  Abdruck  der  „Schaaf-Schur"  ge- 
geben hat,  so  sind  wir  für  die  spätere  Fassung  des  Gedichtes 
lediglich  auf  den  Druck  in  der  Idylle  angewiesen,  und  dazu  treten 
jetzt  die  handschriftlichen  Korrekturen  meines  Exemplares  als  der 
Ansatz  zu  einem  dritten  Stadium. 

202, 15  f.  S  Der  Menschen  Thun  sey  falsch^  sey  rein 
Es  sehns  die  klare  Sternelein. 
An  diesen  Reim  knüpft  der  superkluge  Schulmeister   seine  zweite 

halblaute  Glosse :  nelein Reim  dich  oder  ich  friß  dich.     Müller 

selbst,  der  bei  seinen  Korrekturen  offenbar  daran  dachte,  das 
Gedicht  wieder  aus  dem  Zusammenhang  der  Idylle  auszuscheiden, 
hat  daran  herumgeändert,  ohne  das  Definitivum  zu  fixieren.  V.  15 
schrieb  er  seyj  wahr,  sei  falsch,  durchstrich  falsch  und  setzte  darüber 
wahr,  V.  16  lautete  die  erste  sehr  flüchtige  Aenderung  die]  reine 
Sterne  Idar,  dann  wurde  Mar  durchstrichen  und  rein  u.  Mar  daneben 
gesetzt.    Das  Ziel  der  Umänderung  würde  also  sein: 

Der  Menschen  Thun  sey  falsch,  sey  wahr. 

Es  sehns  die  Sterne  rein  und  klar. 
202,  23  S  Es  steht  nah  an  dem  Orion*        korr.  Sirius 
202,  26  ff.  S  Er  wägt  die  Freuden,  die  Leiden*,      korr.  Schmerzen 

Er  wägt  die  Treue  der  Herzen; 

Neben  her*  brennen  der  Liebe  Kerzen     korr.  Ringsum 
Ich  vermute,  daß  her  nur  ein  Druckfehler  ist  (in  der  Hs.  heißt  es 
Neben  ihm),  den  M.  nun  durch  Emendation  glücklich  beseitigt  hat, 
ohne  das  ursprüngliche  zu  treffen. 
202,  30  S  Schwankt  ein  Kranz  voll  Wonne*  und  voll*  Schmerzen 

[korr.  Wonn^  —  von 
Das  von  ist  am  Zeilenschluß  neben  das  zweite  voll  geschrieben, 
soll  sich  aber  wohl   auf  beide   beziehen.      Schon    bei    der  Nieder- 


1)  Es  ist  sprachgeschichtlich  interessant,  daß  der  Pfälzer  Müller  sich  noch 
immer  gegen  die  von  Norddeutschland  aus  vordringenden  Komposita  mit  Liebes- 
sträubt  und,  da  er  auf  die  Zusammensetzungen  selbst  nicht  verzichten  mag,  ein 
Kompromiß  schließt:  seine  Handschrift  und  auch  der  Erstlingsdruck  bieten  kon- 
stant Liebensthron,  Liebensgott,  was  Heinse  beibehalten,  Tieck  aber  verwischt  hat. 


Maler  Müllers  große  Liebesode.  565 

Schrift  des  Manuskripts  hat  M.  geschwankt  (s.  u.),  damals  aber 
das  erste  von  alsbald  in  voll  geändert  und  an  zweiter  Stelle  gleich 
voll  geschrieben. 

202,  37 :  39  S  wäget :  schlaget        korr.  wägt :  schlägt 
203,  1.  2  S  Dann  träuffeit  herab  auf  die  Welt 

Freuden  zu  allen*  Seiten     korr.  Wonne  von  Göttern 

[2u  beiden 
203,  6  S  -Er  legt  in  die  Schaale,  wäget:  schlaget      korr.  Seh  aar 

[u.  ivägt :  schlägt. 
Man  könnte  auch  hier  an  einen  Druckfehler  denken,  wegen  der 
anscheinenden  Inkonsequenz  gegenüber  202,  37  SchaaV  und  wägety 
aber  die  Differenz  findet  sich  schon  in  der  hsl.  Fassung,  wo  aber 
merkwürdiger  Weise  gerade  umgekehrt  folgen  V.  40  Schale,  wäget 
—  V.  49  Schale  und  wäget. 

203,  10. 11  S  Dann  stürzt*  herab  auf  die  Welt        korr.  stürzen 

Leiden  von  allen*  Seiten.  korr.  Schmerzen  vom 

[Orhus  zu  beiden 
Während  das  vorangestellte  Verbum  im  Singular  in  dem  Parallel- 
vers 203,  1  unangetastet  blieb,  ist  es  hier  durch  den  korrekten 
Plural  ersetzt.  Die  Aenderung  des  zweiten  Verses  aber  ist  genau 
entsprechend  der  in  203,  2 :  der  Ausdruck  ist  rhetorisch  wirksamer 
und  zugleich  deutlicher  geworden,  deon  nicht  von  allen  Seiten, 
sondern  nur  von  den  beiden  Kränzen,  also  doch  nur  von  rechts 
und  links  (oder  aber  von  vorn  und  hinten)  träufeln  die  Wonnen 
und  stürzen  die  Schmerzen  hernieder. 
203,  12. 13  S  Doch  viele  lieben  treu  und  rein. 

Müssen  doch  unglücklich*  seyn;      korr.   Und  m.  den- 

[noch  elend 
203,  16  S  Am  Isabel  des  Himmels  hängt  ein  Schild 
daneben  geschrieben:  Hoch  hängt  am  Himelsgewölb  ein  Schild 

Den  Vers  203,  18  S  Das  tönt  von  Selbsten  treu  und  mild 
hab  ich  stark  im  Verdacht  eines  Druckfehlers :  in  der  Hs.  heißt 
es  sanft  und  mild;  das  treu  ist  dem  Setzer  durch  die  Umgebung 
suggeriert  worden:  V.  12  treu  und  rein,  V.  19  treue  Lieb.  M.  hat 
daran  herumgekritzelt,  wobei  offenbar  versehentlich  auch  das 
Schluß-«  von  Selbsten  durchstrichen  worden  ist.  Vor  treu  ist  ein 
f  eingeschaltet,  das  h  ist  geändert,  aber  die  Absicht  der  Aenderung 
nicht  deutlich,  das  r  ist  durchstrichen :  so  kämen  wir  also  auf  die 
Korrektur  scheu  und  mild,  die,  wenn  auch  einen  ungewöhnKchen 
Ausdruck,  so  doch  jedenfalls  einen  bessern  Sinn  böte,  als  treu  und 
mild:  das  Himmelsschild  gibt  einen  sanften,  zaghaften  Klang. 


566  Edward  Schröder. 

203,  23. 24  Solin  kosten  der  Liebe  Thrdnen^ 

Solln*  leiden  der  Liehe  Sehnen  korr.   Und 

203,25  Dann  trauert*  jedes  Sternelein  korr.  traurt  der 

[Sterne  milder  Schein, 

In  den  neuen  Lesarten  begegnen  uns  mehrfach  Anklänge  an 
Müllers  poetischen  Wortschatz :  so  verwendet  er  den  Sirius  (202,  23) 
auch  Werke  II  379 :  Der  Sommer  bezdumet  Beym  Sirius  itst  Den 
Löwen  .  .  . :  die  Wendung  vom  Orcus  (203,  11)  begegnet  II  376 :  Isfs 
vom  Orcus  Der  Hohn?  dazu  aus  der  „Niobe":  Schwarz  wie  der 
Orcus  II  219,  nahe  dem  Orcus  U  220,  aus  des  Orcus  Dunhelm  Schoose 
n  224,  Dich  tief  zum.  Orcus  schleudern  II  271  u.  s.  w.  —  Schmerz 
und  Wonne,  die  M.  jetzt  203,  2. 11  statt  Leiden  und  Freuden  schärfer 
contrastierend  durchführt,  sind  ihm  geläufige  Gregensätze:  z.  B. 
III  164  Wechselt  immer  Schmerz  und  Wonne;  II  287  Wenn  Schmerz 
mich  hingerafft  —  288  badend  in  Wonneströmen  dort.  Für  Schmerzen 
vom  Orcus  heißt  es  anderwärts  Höllenschmerzen  (III  231,  der  frühste 
Beleg  im  DWB.),  wie  es  anderseits  heißt  Mich  zücket  Wonne  Him- 
melwärts (I  209). 

Waren  diese  Korrekturen  mehr  als  das  Spiel  einer  müßigen 
Stunde  ?  Die  äußere  Erscheinung  der  Blätter  spricht  nicht  dafür. 
Jedenfalls  aber  hob  ihre  stärkere  und  aufgesuchte  Rhetorik  das 
Gedicht  wieder  aus  dem  Hahmen  der  Idylle  heraus,  in  die  es 
1775  etwas  gewaltsam  hineingepflanzt  war:  nicht  der  Abdruck  in 
der  „Iris",  wohl  aber  die  Ueb erlief erung  in  der  Berliner  Hand- 
schrift bezeugt,  daß  es  unabhängig  davon  entstanden  und  keines- 
wegs für  die  „Schaaf-Schur"  bestimmt  war.  Schon  allein  die 
Ueberschrift  „Liebensode"  die  es  hier  trägt  (über  diese  Form  s.  u.), 
kündigt  das  an:  sie  ist  auch  weit  zutreffender,  als  die  Bezeich- 
nung 'Lied',  mit  der  Vater  Walter  es  einführt  —  und  nun  gar 
dessen  nähere  Charakteristik :  ^ist  gar  ein  uhraltes  Ding,  hat  mir  in 
meinen  Kinderjahren  gewaltig  gefallen T  Ich  möchte  glauben,  der 
Autor  selbst  hat  später  eingesehen ,  daß  das  aus  Klopstockischer 
Phantasie  heraus  geborene  und  mit  Klopstockischer  Phraseologie 
reichlich  verbrämte  Produkt  besser  zur  Geltung  kommen  würde 
als  das  was  es  von  Haus  war,  als  eine  „Ode". 

Mein  kleines  Fündlein  und  die  Beobachtungen  die  ich  daran 
knüpfte,  rechtfertigen  es,  ja  lassen  es  fast  notwendig  erscheinen, 
daß  ich  hier  einen  Abdruck  der  handschriftlichen  Fas- 
sung anschließe*).     Ich  habe  die  Interpunktion  hinzugefügt,   die 

1)  Eine  knappe  Kollation  hat  bereits  Seuflfert  a.  a.  0.  S.  413  gegeben,'][darin 
fehlt  aber  z.  B.  die  Plusstelle  unten  V.  68—75. 


Maler  Müllers  große  Liebesode.  567 

im  Original  fast  ganz  feUt,  und  ich  habe  die  Schreibung  der 
großen  und  kleinen  Anfangsbuchstaben  in  Müllers  Sinne,  aber 
gegen  seinen  höchst  nachlässigen  Brauch  geregelt:  ein  diplomati- 
scher Abdruck  hat  hier  keinen  Zweck,  die  Orthographie  im  übrigen 
beizubehalten  aber  erschien  mir  als  selbstverständlich,  auch  in 
den  Punkten,  wo  man  ihre  Inkonsequenz  durch  Hinzufügung  eines 
Nasalstriches  oder  eines  Umlautszeichens  zu  beseitigen  in  der  Lage 
wäre. 

Das  betr.  Stück  des  Berliners  Nachlaß-Materials  ist  ein  Heft 
ohne  Umschlag  in  Folio,  dessen  Blätter  neuerdings  mit  Bleistift 
numeriert  sind :  es  sind  zunächst  4  Einzelblätter,  zu  denen  die  be- 
schriebenen vordem  Hälften  abgeschnitten  sind,  dann  9  in  einander- 
gelegte  Bogen,  also  22  Bll.,  auf  denen  die  Mehrzahl  der  großem 
lyrischen  Dichtungen  Müllers  in  ersten  und  zweiten  Niederschriften 
steht.  Die  meisten  Stücke  haben  unter  der  Niederschrift  resp. 
unmittelbar  nachher  Korrekturen  erfahren,  so  auch  das  unsere, 
das  Blatt 7^  oben  beginnt  und  bis  Bl.  8^  (vor  der  Mitte)  reicht; 
voraus  gehn  Bl.  7*  „Ode  an  ein  Grebürg"  und  die  Stücke  bei 
SeufPert:  S.  420  „Romantze",  417  „Liedgen",  419  „Ballade";  es 
folgt  „Ueber  Minnas  Abschied.     Ode''  (Bl.  9=*  oben). 

Liebensode. 

Ausgespannet  S  201,  29 

Droben  in  den  Wolcken  30 

Steht  der  Thron  der  Liebe. 
Wer  hüllt  den  Mond  in  sein  Gewand? 
5    Wer  feßelt  ihn  mit  starcker  Hand 
Wohl  unter  die  klare  Grestirne? 

Wer  mäßigt  den  glühenden  Sonnen- Strahl  35 

Zum  linden  Kuß?     Das  thuet  all 
Der  mächtige  Gott  der  Liebe,  37 

10    Sag  mir,  wo  steht  der  Thron,  202,  4 

Der  Thron  der  heißen  Liebe?  5 

Sahstu  noch  nie  das  Siebengestirn? 
Es  hängt  gleich  einer  Kette 


Die  Ueberschrift  Icönnte  auch  Liebesode  gelesen  werden;  da  aber  V.  15  Lie- 

bensthron,   V  V.  38.  47.  103  Liebensgott  gesichert  ist,  les  ich  auch  hier  Liebens 

F.  1   les  ich  Ausgespanet  und  habe  demgemäß  geschrieben;  die  ersten  3  Zeilen 
sind  dann  reimlos,  es  reimen  nur  Gewand  :  Hand  — 


5ß8  Edward  Schröder, 

WoU  in  der  Nacht  am  Himel.  S  202 

15    Er  schließt  den  Liebensthron  rund  ein 

Und  giebt  ihm  einen  hellem  Schein  10 

Als  tausend  Diamanten. 

Ein  jedes  Stemgen  davon  ist 
Ein  Augelein  der  Liebe. 
Sie  sehn  herab  zu  jeder  Frist: 
20    Der  Menschen  Thun  sey  falsch,  sey  rein,  15 

Es  sehns  die  klare  Sternelein  16 

Und  sagens  dem  Grott  der  Liebe.  20 

Wo  steht  der  Grott  der  Liebe? 
25     Der  Grott  der  Wonnentriebe? 

Er  steht  nach  an  dem  Orion. 
Dort  steht  die  Wage  der  Liebe. 

Er  wägt  die  Wünsche,  die  Triebe,  25 

Er  wägt  die  Freuden,  die  Leiden, 
30    Er  wägt  die  Treue  der  Hertz en. 

Neben  ihm  brennen  der  Liebe  Kertzen. 

Vom  Morgen-  bis  zum  Abend-Stern 

Hängt  ein  Krantz  voll  Wonne  und  voll  Freuden  30 

Und  ein  Ej-antz  voll  Schmertz  und  Leiden 
35     An  der  hohen  Himelsbahn 

Hin  unter  der  Wage  der  Liebe. 

Sehn  die  Stemger  keusche  Triebe, 

Dann  rufens  sies  dem  Liebensgott  hinan  35 

Zu  der  Wage  der  Liebe. 

40    Er  lägt  in  die  Schale,  wäget: 

Dann  steigt  die  Schale  der  Falscheit, 

Die  Schale  der  Freude  schlaget 

Wohl  an  den  Krantz  der  Freuden,  40 

Dann  treufeit  herab  auf  die  Welt  S  203,    1 

45    Freuden  von  allen  Seiten. 


32  die  Verbindung sstriche  hab  ich  hinzugefügt,  um  keinen  Zweifel  zu  lassen, 
daß  für  M.  der  Morgen-  und  der  Abendstern  {so  Werke  I  11)  zwei  verschiedene 
Sterne  sind  —  33  das  erste  voll  geändert  aus  von  —  41  Falscheit  war  durch- 
strichen, treue  daneben  geschrieben,  dann  aber  ist  dies  ausgewischt  urul  Falscheit 
unterpungiert  —  42  Freude  Schreibfehler  für  Treue. 


Maler  Müllers  große  Liebensode.  569 

Sehn  die  Sternger  falsche  Triebe,  S  203 

Dann  rufens  sies  dem  Liebensgott  hinan 

Zu  der  Wage  der  Liebe.  5 

Er  lägt  in  die  Schale  und  wäget: 
50    Dann  steigt  die  Schale  der  Treue. 
Die  Schale  der  Falschheit  schlaget 
Wohl  an  den  Krantz  der  Leiden; 

Dann  stürtzt  herab  auf  die  Welt  10 

Leyden  zu  allen  Seiten. 

65  Doch  viele  lieben  keusch  und  rein 
Und  müßen  doch  unglücklich  seyn. 
Wie  wägt  sie  der  Gott  der  Liebe? 

Er  wägt  sie  mit  der  Wage  der  Liebe.  15 

Am  Nabel  des  Himels  hängt  ein  Schild 
60     Von  feingeschliffnem  Golde, 

Das  tönt  von  selbsten  sanft  und  mild 

Durchs  gantze  himlische  Gefield, 

Wenn  treue  Lieb  soll  trauren.  20 

Es  tönt:  zwey  treue  Hertzen 
65     Sollen  fühlen  der  Liebe  Schmertzen, 

Sollen  tragen  der  Liebe  Tränen,  23 

Sollen  leyden  der  Liebe  Sehnen.  24 

Schnell  stürtzt  das  Schicksal  auf  die  Liebenswag  herab, 

Drückt  beyde  Schalen  tief  hinab, 
70     Schlagt  auf  den  Krantz  der  Leyden, 

Schlagt  auf  den  Krantz  der  Freuden 

Mit  einem  schwartzen  Stab; 

Dann  fället  auf  die  Welt  herab 

Süße  Schmertzen,  bittre  Freuden 
75    Freude  der  Wehmuth,  Wonne  im  Leyden. 

Dann  birgt  sich  jedes  Sternelein,  26 

Der  Liebensgott  hüllt  sich  in  Wolcken  ein 
Und  trauert  und  weinet  und  klaget.' 


53  stürtzt  am  rande  für  treufeit   —   68  Liebeswag?   s.  zur  Ueberschrift  — 
y.  71  nachträglich  eingeschaltet. 


570  Edward  Schröder,  Maler  Müllers  große  Liebesode. 

Es  fallen  herab  wie  Abendthau  S  203 

80     Auf  die  Blnhmen  und  auf  die  Au 

Seine  wohlriechende  Zähren.  30 

Sie  setzen  sich  auf  die  Locke  hin 

Der  Traurenden, 

Und  will  es  das  Schicksal  gleich  wehren, 
85    Daß  er  ihre  Leiber  vermehle, 

So  vermählt  er  doch  ihre  Seelen.  35 

Im  Schlumer  zieht  er  ihre  Seelen 

Mit  sich  in  den  Garten  der  Liebe. 


1  36—38 


0  singe  mir,  o  singe  mir,  39 

90    Wo  steht  der  Garten  der  Liebe?  40 

Wohl  über  der  Sonnen 

Auf  hellen  silbern  Pfeiler  42 

Ruht  der  Garten  der  Liebe.  S  204,    1 

Da  fließt  der  Strohm  der  Wonnen, 
95    Da  blühen  der  Freundschaft  Bluhmen, 
Da  quillt  der  Schönheit  Bronnen. 

Da  wascht  er  sie,  da  bat  er  ihre  Seelen  in  Freude  5 

Und  stärckt  sie  zu  künftgem  Leide. 
Da  trincken  sie  mit  einander  vom  Strohm  der  Wonne, 
100     Steigen  mit  einander  auf  die  Sonne. 

Oft  wenn  ihr  Leib  keine  E-uhe  auf  Erden  hat, 

Sitzen  ihre  Seele  hier  auf  goldnen  Stühlen,  10 

Die  der  Liebensgott  ihnen  zubereithet  hat, 

Und  genießen  der  Liebe  nach  allem  Willen.  12 


79  wie  über  von  —  83  nach  traurenden,  durchstrichen  will  und  dann  mit 
und  will  in  der  Zeile  fortlaufend  —  86  vermählt  am  rande  für  verbindet  — 
94  vor  Strohm  durchstrichen  Schönheitbrunnen  —  96  vor  quillt  durchstrichen  ist 
der  —  Bronnen  aus  Brunnen. 


über  einige  thessalische  Namen. 

Von 

Friedrich  Bechtel, 

auswärtigem  Mitgliede. 

Vorgelegt  von  J.  Wackernagel  am  2.  Oktober  1908. 

Als  ich  den  Index  der  Personennamen  der  von  Otto  Kern 
bearbeiteten  Inscriptiones  Thessaliae  in  der  Correctnr  las,  über- 
zeugte ich  mich  bald,  daß  unsre  Kenntnis  der  griechischen  Per- 
sonennamen durch  diese  Publication  große  Erweiterung  erfahren 
würde.  Ich  habe  mir  daher,  sobald  der  Band  erschienen  war,  zur 
Aufgabe  gemacht  ihn  auf  die  Namen  hin  durchzuarbeiten.  Bei 
dieser  Prüfung  hat  sich  ein  doppelter  Grewinn  herausgestellt:  von 
den  früheren  Herausgebern  unvollständig  oder  falsch  gelesne 
Namen  erhalten  hier  zuerst  ihre  richtige  Grestalt,  und  neue  Namen 
treten  in  die  Erscheinung,  darunter  manche  recht  interessante. 
In  einigen  Fällen  bin  ich  bei  der  Kritik  der  Überlieferung  und 
bei  der  Herstellung  verstümmelter  Namen  zu  andren  Resultaten 
gelangt,  als  sie  in  dem  Bande  vorgetragen  werden.  Es  scheint 
mir  nützlich  die  wichtigsten  Tatsachen,  die  sich  mir  in  dieser  drei- 
fachen Richtung  ergeben  haben,  hier  vorzulegen. 

Ich  beginne  mit  der  Mitteilung  einiger  wichtigen  Emendationen, 
zu  denen  Nachprüfung  der  Steine  und  neue  Abklatsche  geführt 
haben. 

1)  'Aydötag  23427. 

Heuzey  hatte  ^Qciötag  gelesen;  dieser  Name  kommt  vorläufig 
in  Wegfall.  'Aydötag,  bisher  unbelegt,  ist  an  'Ayaörocpccvrig  anzu- 
schließen. 


572  Friedrich  Bechtel, 

2)  AlxiiaCQEtog  696 «s. 

Pridik  und  de  Sanctis  bieten  übereinstimmend  AIXMAPETEIOI; 
Kern  hat  vor  dem  Steine  die  vier  ersten  Buchstaben  nicht  mehr 
erkannt,  gibt  aber  AI  PET  El  Ol  als  vollkommen  deutlich.  Die  Tat- 
sache, daß  AlxiiccQSTog  auf  einem  thebanischen  Grabsteine  steht 
(IG  VII  2636),  könnte  zunächst  zu  der  Vermutung  führen,  daß 
dieser  Name  auch  in  Larisa  beabsichtigt  gewesen  sei,  der  Stein- 
metz also  AI  aus  der  ersten  Silbe  in  die  nächste  verschleppt  habe. 
Man  wird  aber  doch  bedenklich,  wenn  man  dem  Elemente  -aCgetog 
ein  zweites  Mal  auf  einer  Inschrift  begegnet ,  die  nur  von  einer 
thessalischen  oder  äolischen  Dame  herrühren  kann :  'E(p.  äQ%.  1902. 
41/42  ^Agte^iÖL  Eilsi^va  ^iKaiQBxa  EvXaeia  ev^a^iva.  Hiernach 
wage  ich  nicht  an  der  Existenz  von  Aix^aiQstog  zu  zweifeln ;  dieser 
Name  hat  neben  AlxiiccQsrog  bestanden. 

3)  Bax&eCag  28475. 

Alte  Lesung  BATOEKA^.  Die  gleiche  Consonanten Verdopplung 
in  der  Koseform,  die  bekanntlich  in  Thessalien  und  in  Böotien 
sehr  beliebt  ist,  wird  sich  gleich  nachher  noch  einmal  constatieren 
lassen.  Wie  die  Verdopplung  des  ß  durch  nß  (KojtßCdaiog  517  59), 
so  kann  die  Verdopplung  des  ö  durch  rd  dargestellt  werden: 
^EvnsxöCovvog  511 12.  Im  conspectus  grammaticus,  den  WSchulze 
beigesteuert  hat,  ist  dies  Verhältnis  richtig  beschrieben^). 

4)  MsXayzQog  234 153. 

Der  Name  war  schon  aus  dem  koischen  MsXayxgCdag  zu  folgern. 
Aber  man  freut  sich  einem  auf  Kos  gebräuchlichen  Namen  auch  in 
Thessalien  zu  begegnen.     Heuzey  hatte  MEAANIOPEIOC  gelesen. 

5)  Tlix^lvog  und  Uiz^Cdag  23429.9*. 

Heuzey  PITOINOC,  niTOIAAlO^.  Fick  hatte  schon  Beitr. 
5.  7  die  Vermutung  geäußert,  0  sei  als  O  zu  fassen.  Ich  hätte 
bei  der  Redaction  des  Abschnittes  C  der  griechischen  Personen- 
namen so  besonnen  sein  sollen  dieser  Anregung  zu  folgen  statt 
mich  durch  IlCtcjv,  UizCdiv^  UiTvXog  zum  Ansatz  eines  Elementes 
TItr-  verführen  zu  lassen.  Jetzt  wird  Ficks  Vermutung  für  den 
zweiten  Namen  durch  den  Stein  bestätigt.  Die  Emendation  von 
TlixoCvaiog  in  Larisa  (517  53)  ist  nun  keine  Kunst  mehr.  JJixd-lvogy 
Uix^Cvag^  Uix^Cöag  sind  kosende  Verkürzungen  von  Ucd-äxog:  xd' 
auf  dem  Wege  der  bei  Bax^siag  besprochnen  Consonantenver- 
dopplung. 


1)  Bar&siag  führt  das  Patronymicum  BaaavCdog,  d.  h.  er  hat  einen  Vater 
Bdaavig  oder  Baadviog.  Im  Index  wird  dieser  Vater  durch  Versehen  zu  einem 
Buauviug. 


über  einige  thessalische  Namen.  573 

6)  JjQOVtOxX--    55344. 

Der  erste  Herausgeber  der  Inschrift,  Fougeres,  las  n  p  0  Y  K  0  E. 
Dies  führte  zum  Ansatz  eines  Namens  IlQovxog  (GrP^  330),  der 
also  zu  streichen  ist. 

7)  TavQÖxXsca  7I83. 

„Tel  correctnm  esse  videtur",  sagt  der  Herausgeber.  Schade 
nm  den  Namen  ZavQÖxXsia^  der  auf  Lollings  Autorität  hin  ange- 
nommen ward,  jetzt  aber  hinfällig  wird. 

8)  0r]fii6^axog  6  62. 

PXIAA/M§§  Deschamps.  Durch  Kerns  Lesung  wird  ein  theo- 
phorer  Name  gewonnen :  Zrivbg  0rjiitov  aal  ^A%'i]väg  Or^^iov  auf  der 
erythräischen  Inschrift  über  den  Kauf  der  Priesterämter  (Coli. 
5692  h  26. 27).  Die  Vocalisation  von  ^yi^vo-  weist  auf  ionisch-atti- 
sches Gebiet  hin. 

Ich  gehe  nun  zu  den  Namen  über,  zu  deren  Elritik  ich  etwas 
beizubringen  vermag.  Um  auf  möglichst  sichrem  Grunde  zu  bauen, 
habe  ich  mich  in  allen  Fällen,  wo  es  möglich  schien  durch  neue 
Prüfung  der  Überlieferung  weiter  zu  kommen,  an  Professor  Hiller 
von  Gärtringen  gewandt,  der  mir  mit  gewohnter  Bereitwilligkeit 
aus  den  Materialien  des  Archivs  Auskunft  gegeben  hat.  Meine 
Bemerkungen  folgen  den  Nummern  des  Corpus. 
Zu  14. 

Im  Anfange  der  15.  Zeile  ist  NKQTII  erhalten.  Der  Heraus- 
geber faßt  das  erste  Zeichen  als  Ende  des  vorangehenden,  für  uns 
verlorenen,  Satzes  und  sieht  in  Kmtig  den  Namen  der  Freigelassnen, 
der  den  neuen  Satz  eröffnet.  Aber  weder  die  erhaltnen  Satz- 
schlüsse noch  die  Namenform,  die  Kern  selbst  mit  einem  Frage- 
zeichen versieht ,  sind  dieser  Annahme  günstig.  Bedenkt  man,  daß 
durch  568 18  der  Name  Avyxog  bezeugt  wird^),  und  daß  auf  thes- 
salischen  Münzen  der  Genetiv  AYKOYTOY  erscheint  (GP^  294) 2), 
so  wird  man  zu  der  Vermutung  geführt,  daß  wir  den  Rest  von 
Av'yacotig  vor  uns  haben. 
Zu  97. 

Wenn  f^YAlKA  richtig  gelesen   ist  —  seit  Leakes  Zeiten  ist 


1)  GP2  316  nachzutragen. 

2)  Die  Lesung  ist  allerdings  von  Kroog  De  foederis  Thessalorum  praetori- 
bus  43  f.  angezweifelt ,  aber,  wie  ich  auf  Grund  einer  Mitteilung  des  Herrn  Im- 
hoof-Blumer  versichern  kann,  mit  Unrecht.  „Die  Kat.  Brit.  Mus.  Thessaly  Taf.  I 
11  abgebildete  Münze  und  der  mir  vorliegende  Abguß  eines  gleichen  Exemplars 
zeigen  ganz  zweifellos  AYKOYTOY",  schreibt  mir  Dr.  Imhoof. 


574:  Friedrich  Bechtel, 

der  Stein   verschollen  — ,    so  verlangt  die  Ableitung   des  Namens 
eine  Rechtfertigung.     Diese  findet  man,  wenn  man  sich  an  ^qvvi- 
xCdscD   auf  Thasos  (Coli.  5466 a*)  erinnert:    die  Abneigung   gegen 
die  Folge  zweier  Aspiraten  wirkt  über  eine  Silbe  hinüber. 
Zu  103. 

Der  Name"/^öötog  wird  als  'suspectam'  bezeichnet.  Die  suspicio 
läßt  sich  zerstreuen.  Aus  Phalanna  (1232  24)  und  Thespiai  (IG  VII 
1779  8)  kennen  wir  "Aöiog.  Die  Doppelconsonanz  von  "Aößiog  kann 
auf  zweifache  Art  gedeutet  werden:  entweder  als  bedingt  durch 
die  Koseform,  oder  in  der  Weise,  wie  sie  in  jcöXXtog^  UavßavvCaiogj 
TCQo^svvLovv  vcrstandcu  werden  muß. 
Zu  109. 

Z.  33  der  Rückseite  wird  aus  .A....AAIKA,  wenn  auch  unter 
Vorbehalt ,  ['E]k[X]adC}ia  erschlossen.  Besser  mit  den  Raumverhält- 
nissen und  besser  mit  der  Wortbildung  würde  sich  die  Ergänzung 
[TYja^i/Tjadtxa  vertragen.  Ich  habe  daher  Hiller  von  Grärtringen 
gebeten  zu  untersuchen,  ob  sich  diese  Vermutxmg  mit  den  erhalt- 
nen  Spuren  vertrage.  Die  Antwort  lautet :  „Z.  33  glaubt  man 
zu  sehen  17/,  was  also  gewesen  sein  könnte  FA.  Freilich  ist  Jt 
sonst  n  oder  n  mit  gl  eich  langen  Schenkeln,  was  hier  nicht  der 
Fall  zu  sein  scheint.  Für  E  scheint  kein  Platz,  vom  untren  Strich 
zeigt  sich  keine  Spur,  außerdem  würde  sein  Ende  mit  dem  A  col- 
lidieren.  Also  stimme  ich  Ihrem  IJccvtadixa  durchaus  zu".  —  Es 
ist  sicher  nur  Zufall,  daß  ich  den  Stamm  :ncavr-  in  der  Verbindung 
mit  ÖLxa  sonst  nicht  belegen  kann. 

Z.  143. 

AIKAIPETA  hat  Fick  in  ztixaivsta  geändert,  und  der  Heraus- 
geber folgt  ihm  darin.  Unter  Aix^alQstog  habe  ich  ein  zweites 
Zeugnis  für  JiTiaigetog  beigebracht. 

Zu  149. 

Der  Name  lA^svLöxog  darf  nicht  angerührt  werden :  er  schließt 
sich  mit  ^A^ieveag  in  Larisa  zusammen  (MoXvxxcot,  ^A^isvia  QsöCakm 
iy  AagCöag  Coli.  2585) ,    weiterhin   vermutlich   mit    ark.  'AyLriviagy 
kjrpr.  'JfirivLJag ,  lesb.  'Anevvd^svog  (WSchulze  GGrA  1897.  894). 
Zu  155. 

[ß]ovAtx|a  ^ux\(x)st6C\[a\  HiUer  von  Gärtringen  bei  Kern. 
Hier  war  mir  die  Form  ^uxstsCa  aus  zwei  Gründen  bedenklich: 
wegen  des  im  ersten  Elemente  bewahrten  Hiatus,  wofür  ich  kein 
Beispiel  kenne ^),  und  wegen  der  Vocalisation  der  Ableitung;    die 

1)  JucpQddrig  auf  dem  leßbiscben  Steine  IG  XII  2  no.  5 19  würde  eines  sein, 
■wenn  es  sicher  stände ;   aber  hinter  Patons  A 1 1 0  P  .  A  H  C  verbirgt  sich  wol  der 


über  einige  thessalische  Namen.  575 

Form,  die  Hiller  von  Grärtringen  vor  Augen  hatte,  müßte  in  Thes- 
salien zfixstata  lauten.  Es  hat  keinen  Zweck  von  dem  Versuche 
zu  erzählen,  den  ich  machte,  um  einen  weniger  anstößigen  Namen 
zu  gewinnen :  er  ist  hinfällig  geworden,  seit  Hiller  von  Gärtringen 
einen  nachträglich  eingegangnen  Abklatsch  befragen  konnte  ,  aus 
dem  sich  ergibt,  daß  in  der  zweiten  und  dritten  Zeile,  abgesehen 
von  dem  schließenden  K  der  zweiten,  dessen  Winkel  von  einem 
zufälligen  Risse  herrühren  kann,  kein  Zeichen  geändert  werden 
darf,  auf  dem  auch  keine  Spur  einer  vierten  Zeile  sichtbar  wird, 
so  daß  die  Inschrift  für  vollständig  gelten  kann.  Auf  einer  Schede, 
die  an  den  Abklatsch  geheftet  ist^),  wird  z/t  [tcxetsl  oder  z/tl  Ixstsl 
als  Lesung  vorgeschlagen.  Ich  zweifle  nicht,  daß  die  zweite  Mög- 
lichkeit zutrifft,  und  erinnre  wegen  des  Zsvg  iKsrsvg ,  der  hier 
zum  ersten  Male  begegnet  ^),  an  den  Zsvg  i^triQ  und  acpixtcoQ.  Noch 
eine  Textberichtigung  fordert  der  Abklatsch :  in  dem  an  der  dritt- 
letzten Stelle  der  ersten  Zeile  erscheinenden  Zeichen  will  Hiller 
von  Gärtringen  lieber  ein  verstümmeltes  t  erkennen  und  darum 
[t]ovöixa  statt  [B]ovXixcc  schreiben. 
Zu  207. 
Die  Reste  des  Namens,  der  Col.  c  Z.  2  f.  gestanden  hat,  werden 
von  den  Herausgebern  Jarde  und  Laurent  so  beschrieben:  „Notre 
premiere  lecture  nous  avait  donne  AYgOAE|ONTOl,  ce  qui  nous 
avait  fait  admettre  la  restitution  Av[x]olsovrog.  Mais  la  lettre 
que  nous  donne  l'estampage  n'est  assur^ment  pas  un  K,  peut-etre 
est-ce  un  M;  de  plus  nous  avons  cru  distinguer  un  O  au  lieu  d'un 
A  et  au  debut  de  la  1.  3  les  traces  d'un  A".  Aus  dieser  Beschreibung 
hat  von  Wilamowitz  den  Genetiv  Avxoiisdovtog  entnommen.  Da 
die  Herausgeber  aber  sagen,  an  dritter  Stelle  habe  sicher  kein  K, 
vielleicht  ein  M  gestanden,  so  komme  ich  zu  dem  Vorschlage  @V' 
^o^BÖovtog  ^). 


bekannte  Name  'AgicpgciSrig.  Bei  dieser  Gelegenheit  berichtige  ich  eine  zweite 
Ergänzung  auf  der  selben  Inschrift.  Z.  22  bietet  Patons  Facsimile  B  .  0  K  A  A  , 
sein  Text  ß[t]oxZ[«tcö  ?].  Ich  teile  den  Zweifel,  den  Paton  selbst  ausspricht,  und 
schlage  ß[t]oxad[£tct)]  vor;  zu  dem  so  eingeführten  Namen  BLOKudrig  sei  an  ^  3f. 
0  OL  ßidroio  iidXiara  yi-^östo  oU^av  erinnert. 

1)  Nach  der  Mitteilung  Kerns  ist  ihr  Verfasser  R.  van  der  Loeff. 

2)  Auf  dem  Steine  CIG  1534,  der  eine  Grenzbeschreibung  von  Megolopolis 
enthält  und  den  ich  wegen  der  goldeswerten  Form  Ilvtiov  in  der  Sammlung  der 
arkadischen  Inschriften  hätte  berücksichtigen  müssen,  wird  eine  Örtlichkeit  7xfxr«ta 
erwähnt.  Auf  ihren  Namen  wirft  der  Zsvg  tyistsvg  Licht;  er  ist  ein  indirectes 
Zeugnis  für  die  inCyilriGig. 

3)  Jardes  Abklatsche,  die  in  das  Berliner  Archiv  gekommen  sind,  versagen 
hier  nach  dem  Urteile  IliUers  von  Gärtringen. 


g^ß  Friedrich  Bechtel, 

Zn  376. 

Pridik  und  de  Sanctis  bieten  in  Z.  4  der  ersten  Fläche  .  I A  A I A 
als  Namen  einer  Freigelassnen.  Bei  der  vorgeschlagnen  Herstel- 
lung [^]U«[p]a  stört  mich  die  Bezeichnung  des  kurzen  t  durch  El, 
die  auf  diesem  Bruchstücke  keine  Analogie  hat.  Auf  der  delphi- 
schen Freilassungsurkunde  Coli.  2527  wird  Z.  3  ein  üoXs^aQxog 
EiXalog  erwähnt.  Nimmt  man  an,  die  Sklavin  habe  von  ihrer 
Heimat  EUaia,  geheißen,  so  kann  man  die  überlieferten  Zeichen 
ohne  Ändrung  stehn  lassen.     Auch  [^]ilaCtt  wäre  ein  Ausweg. 

Zu  414. 

In  Z.  13  der  zweiten  Fläche  hat  Pridik  ANTOYNIAEIOI  ge- 
lesen (Y  unsicher),  Kern,  der  nur  Trümmer  des  Steines  vorfand, 
APTOI--  (P  unsicher,  das  Ende  des  Namens  nicht  zu  entziffern), 
Wolters  AATO--.  An  das  Patronymicum  ^ArtowLÖsiog,  das  auf 
dieses  Fundament  aufgebaut  wird,  kann  ich  nicht  glauben  *).  Läßt 
man  die  Kritik  an  den  Zeichen  einsetzen,  bei  deren  Deutung  die 
Gewährsmänner  nicht  einig  sind,  schreibt  man  also  an  zweiter 
Stelle  für  das  N  Pridiks,  das  P  Kerns ,  das  A  von  Wolters  I ,  und 
ergänzt  man  Kerns  letztes  Zeichen,  wofür  Pridik  T  bietet,  zu  /^ , 
indem  man  für  M  die  Gestalt  voraussetzt,  die  das  Zeichen  in  Kerns 
vorletzter  Zeile  hat:  so  wird  man  auf  'Jöto^scdsiog  geführt.  Den 
Namen  ^AexoiLddeig  weist  der  Index  für  Pharsalos  und  Larisa  nach. 

Zu  418. 

'AvtLTcdzQa  'Emvccrov.  Vielmehr  ^EjtLXQcczov,  laut  Wilhelm  an 
der  zweiten  der  im  Lemma  angeführten  Stellen.  Damit  fällt  auch 
['En]LvdtoL  414^6,  wofür  zlvvdtoi  zu  lesen  sein  wird. 

Zu  460. 

KONAIO  (Z.  11)  wird  von  dem  ersten  Herausgeber  nachträglich 
zu  Kövaßog  vervollständigt  {'E(p.  aQx-  1900.  111),  Kern  nimmt  l  als 
Rest  von  r.  Da  wir  KovccQag  als  Namen  kennen  (GP-  326),  bin 
ich  auf  die  Vermutung  Kövagog  gekommen.  Die  Vermutung  war 
richtig :  auf  Grund  des  Abklatsches,  den  das  Archiv  besitzt,  schreibt 
mir  Hiller  von  Gärtringen:  „KONAPO^  steht  da;  es  ist  noch  fast 
die  ganze  Rundung  des  P  vorhanden,  nur  innen  die  Epidermis 
fort". 


1)  Man  müßte  dieses  Patronymicum  vielmehr  als  Metronymicum  auffassen, 
wie  MvlUdeos  in  Pharsalos  (250)  sicher  gefaßt  werden  muß  (WSchulze).  Aber 
solche  Ausnahmen  dürfen  nur  auf  Grund  absolut  zuverlässiger  Lesungen  statuiert 
werden.  Aach  für  Uccgfiov^dstoe  in  Larisa  (688),  das  ebenso  gedeutet  werden 
müßte,  ist  Lolling  der  einzige  Gewährsmann. 


über  einige  thessalische  Namen.  577 

Za  473. 

Zwei  Namen  dieser  Inschrift  glaube  ich  in  Ordnung  bringen 
zu  können;  zur  Herstellung  eines  dritten  mag  wenigstens  eine 
Vermutung  vorgebraebt  werden. 

Z.  10  gibt  das  Facsimile  MYCIAIO^,  doch  hat  Kern  selbst 
das  erste  Zeichen  auf  dem  Abklatsche  nicht  erkannt.  Es  liegt 
daher  nahe  den  befremdlichen  Namen  durch  Ersetzung  des  M  durch 
A  zu  umgehn.  Hiller  von  Grärtringen  hält  dies  nach  Prüfung  des 
Abklatsches  für  möglich:  vom  ersten  Zeichen  ist    \  sichtbar. 

Z.  13  liest  Kern  OEOAOYKEIOC,  Philios  EOAOYIEIO^,  aber 
doch  so,  daß  er  an  Stelle  des  ersten  E  auch  I,  an  Stelle  des  ersten 
I  auch  K  für  möglich  hält.  Mir  scheint  klar,  daß  ein  Name  auf 
-dovQSLog  vorliegt,  und  zwar,  wenn  Kerns  OEO  richtig  ist,  kein 
andrer  als  das  Patronymicum  ®€odovQ8Los.  Ich  teile  das  Ergebnis 
von  Hillers  Prüfung  des  Abklatsches  mit:  „Sicher  sind  AOYIEIO^, 
und  es  scheint  allerdings  A  und  nicht  A  gewesen  zu  sein;  der 
rechte  schräge  Strich  ist  tief  und  kräftig  eingedrückt  und  hört 
unten  entschieden  auf.  Über  den  fünftletzten  Buchstaben  wage 
ich  nichts  zu  sagen.  Vor  dem  A  sehe  ich  eher  eine  Hasta  I ,  davor 
: ,  was  zu  Philios  I  gehören  könnte,  obwol  ich  davon  lieber  keinen 
Grebrauch  zu  machen  bitte.  Sonst  wünsche  ich  Ihrem  -öovqslos 
alles  Griück,  auch  wenns  'löidovQSiog  gewesen  sein  sollte".  Ich 
bleibe  also  bei  -dov^siog  stehn :  der  Steinmetz  mag  ja  A  versehent- 
lich für  A  eingemeißelt  haben. 

Die  Vermutung  betrifft  den  Namenrest  . . .  1 0  P  K  E  U  der  zweiten 
Zeile.  Hiller  von  Gärtringen  bestätigt  mir  die  vom  Facsimile  ge- 
botnen  Zeichen  ausdrücklich^),  und  fügt  hinzu,   daß  er  vor  dem  I 


1)  Ich  hatte  an  K  gezweifelt,  weil  im  Facsimile  ein  Punkt  unter  den  Buch- 
staben gesetzt  ist,  worin  ich  die  Andeutung  sah,  daß  er  unsicher  sei.  Aber  Hiller 
von  Gärtringen  belehrt  mich,  daß  der  Punkt  nicht  nur  die  Unsicherheit  sondern 
auch  die  Unvollständigkeit  eines  vollkommen  sicher  stehenden  Buchstabens  be- 
zeichne. In  Übereinstimmung  mit  ihm  spreche  ich  aus,  daß  diese  Doppeldeutigkeit 
ein  Mangel  ist ;  denn  der  Benutzer  des  Corpus  kann  nicht  wissen,  wann  er  einen 
unsichren,  wann  einen  unvollständigen,  im  übrigen  sichren  Buchstaben  anzunehmen 
habe.  Die  üble  Wirkung  der  Bezeichnungsweise  ist  noch  in  einem  andren  Falle 
zu  Tage  getreten.  Der  Name  'EXxfjSta  des  Steins  248  wollte  mir  nicht  in  den 
Sinn,  Da  das  Facsimile  unter  das  erste  E  einen  Punkt  setzt,  nahm  ich  an,  E 
sei  unsicher  und  wollte  es  mit  A  vertauschen.  Aber  die  Erkundigung,  die  ich 
bei  Hiller  von  Gärtringen  einzog,  ergab,  daß  an  'EX-neßia  nicht  zu  rütteln  ist:  „E 
ist  nichts  weniger  als  unsicher,  es  ist  völlig  sicher,  nur  nicht  ganz  erhalten".  Der 
Name,  der  doch  wol  nach  Anleitung  von  arf  ßtorov  a  (liXsog  slg  xov  cclsv  Uyia 
XQovov  (Eur.  Or.  206 f.)  verstanden  werden  muß,  mag  individuelle  Veranlassung 
haben. 

Kgl.  Ges.  d.  Wies.    Nachrichten.   Philolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft  5.  40 


578  Friedrich  Bechtel, 

ziemlich  deutlich  die  Eeste  eines  M  zu  erkennen  glaube.  Falls 
dies  aber  keine  Täuschung  ist  —  welche  Ergänzung  ist  dann  mög- 
lich, wenn  nicht  [AccjuLOQxsig?  So  würde  der  von  Wilamowitz 
♦  verworfne  Name  jla^iaCvstos  in  Larisa  (553  is) ,  dessen  Prüfung 
bei  dem  Zustande  des  Steins  leider  nicht  mehr  möglich  ist,  doch 
wieder  zu  Ehren  kommen  und  die  Eponyme  von  Lamia  (Head 
Hist.  Num.  252)  in  das  Namenwörterbuch  eingeführt  werden  müssen. 

Zu  505. 

Der  Herausgeber  verzichtet  auf  die  Umschrift  des  Genetivs 
XYAAIOI  (Z.  3).  Man  kann  aber  den  Namen  Xvdatog  verstehn: 
wer  es  mit  denen  hält,  die  slxi}!,  xal  cpoQux&g  xccl  xvd)]v,  ort  ctv 
BTceX^rii,  Xeyovöi  (Isokr.  12.  24),  den  können  gute  Freunde  und  treue 
Nachbarn  als  Xvdalog  bezeichnen. 

Zu  534. 

Z.  19  IlaQiisvCöKog  GsaQu^tov  Kcbog.  So  las  Philios;  Kern  hat 
bei  der  Untersuchung  des  Abklatsches  PH  nicht  zu  erkennen  ver- 
mocht. Diese  beiden  Zeichen  bilden  aber  den  kritischen  Punkt 
des  Namens :  wie  kommt  ein  Mann  aus  Kos  dazu  eine  ionische 
Namenform  zu  tragen?  Aus  Patons  Index  ist  zu  ersehen,  daß 
©saCtrirog  ein  auf  Kos  gebräuchlicher  Name  war.  So  lag  die  Ver- 
mutung nahe,  daß  er  auch  auf  dem  thessalischen  Steine  gestanden 
habe.  Aber  Hiller  von  Grärtringen  belehrt  mich,  daß  „zwischen 
A  und  H  für  IT  nicht  recht  Platz"  ist,  und  kommt  seinerseits  zu 
dem  Vorschlage  GEATHTOY,  Damit  ist  mein  Anstoß  beseitigt 
und  ein  neuer  Name  gewonnen. 

Zu  1228. 

Das  Facsimile  gibt  Z.  86  AOYCANAPOI  an.  Es  ist  evident, 
daß  das  erste  Zeichen  nicht  in  der  Ordnung  ist.  Der  Apparat 
läßt  hier  im  Stiche :  „leider  scheinen  nur  Teilabklatsche  vorhanden, 
die  Z.  86  nicht  enthalten",  berichtet  Hiller  von  Grärtringen.  So 
muß  die  Vermutung  Zovöccvöqol  sich  selbst  empfehlen. 

Zu  1321. 

Im  Anfang  der  dritten  Zeile  lesen  Jard^  und  Laurent  EPA  AI--OY, 
Giannopulos  E  0  N  A  U  -  - ,  Kerns  Facsimile  bietet  E  ß  N  A I .  T  0  ^.  Durch 
Combination  der  ersten  und  dritten  Angabe  war  ich  auf  'EQyaC- 
[vE\Tog  geraten  und  trug  Hiller  von  Gärtringen  diese  Vermutung 
vor.  Sein  Bescheid  lautet:  „Am  Anfange  der  Seite  sicher 
inQNAITOI,  also  7:n:c3ra[x]T0ff".  Dies  Ergebnis  ist  auch  darum  von 
Wichtigkeit,  weil  nun  gewis  wird ,  daß  das  Namenverzeichnis  erst 
mit  der  vierten  Zeile  beginnt ;  der  Grenetiv  7:t6vuxto$  muß  in  dem 


über  einige  thessalische  Namen.  579 

Präscripte  gestanden  haben.     Was  auf  ihn  folgte,   ist  nicht  mehr 
zu  entziiFern. 


Aus  der  reichen  Fülle  der  Namen,  die  mir  in  diesem  Corpus 
zum  ersten  Male  begegnet  sind,  hebe  ich  hier  nur  die  hervor,  die 
mir  Gelegenheit  zu  einer  Bemerkung  geben. 

1)  'AyQeörag  (Thaumakos)  2213. 

Dieser  Name  scheint  mir  als  Gegenstück  zu  ^Ogsötas  (der 
Bergbewohner)  gebildet  zu  sein. 

2)  AlTtoXCovv  (Pherai)  437. 

Es  ist  deutlich ,  daß  AlnolCovv  mit  dem  auch  in  Thessalien 
(834)  vertretnen  BovxoXlcjv  parallel  läuft. 

3)  'Av (porig  (Doliche)  1278. 

Der  Vater  der  ^AvcpcjtLg  heißt  0Qa6vXaog.  "War  er  Faust- 
kämpfer oder  Pankratiast,  so  kann  die  Tochter  in  ihrem  Namen 
diese  Liebe  des  Vaters  zum  Sport  zum  Ausdrucke  bringen :  ä^cpo- 
Tidsg  sind  die  Ohrdecken,  die  Faustkämpfer  und  Pänkratiasten 
tragen. 

4)  rvQSitog  (Pherai)  428. 

Dieser  Name  gehört  zu  der  gleichen  Sippe  wie  FvQiöag  und 
FvQcjv  (Spitznamen  31)  und  weist  auf  ein  altes  Präsens  yvQSG)  hin, 
das  neben  yvQoca  bestanden  hat. 

5)  Aatiiovv  (Krannon)  460 15. 

Der  Stein  bietet  AAIMON,  als  Rest  eines  Patronymicums,  das 
Jä'C^övsiog  gelautet  haben  muß.  Der  Name,  der  zu  Grunde  liegt, 
hat  mit  dai^cov  nichts  gemein,  stellt  vielmehr  die  zweistämmige 
Verkürzung  der  auch  für  Thessalien  bezeugten  Vollnamen  Aät- 
^ccxog,  Aat^ivvig  vor,  die  in  ionischer  Vocalisation  zfsi^wv  lautet 
(so  in  Styra,  Coli.  5346).  Enge  verwandt  ist  Jat^usi  in  Tanagra 
(IG  VII  558). 

6)  Aitcc  (Metropolis;  Freigelassne)  2745. 

Gehört  als  Femininum  zu  lesb.  JCtag  (IG  XII  2,  103.  105), 
das  WSchulze  richtig  als  z/t/trag  gedeutet  hat  (GGA  1897.  893). 

7)  -xvL^vog  (Hypata;  Freigelassner)  14 10. 

Eest  eines  Namens ,  dessen  Träger  das  Zeugnis  ausgestellt 
erhält,  daß  er  am  xviö^og  leide.  Ob  das  zweite  N  der  Sprache 
oder  dem  Steinmetzen  gehört,  kann  nicht  entschieden  werden. 
Zu  dem  neuen  Namen  auf  -xvL^vog  wolle  man  Ficks  Ausführungen 
über  KovidaXog  (Beitr.  28.  100)  beachten. 


580  Friedrich  Bechtel,  über  einige  thessalische  Namen. 

8)  KoQQCiiaxog  (Larisa)  513 13. 
Vollname   zu  KoQQivddag  in   Thespiai    (IGr  VII   1793).     Das 
Anfangselement  kann  ich  nicht  befriedigend  deuten. 

*  9)  Nix66ta6ig  (Larisa)  513 n. 

So  oder  Niao6td6iog  lautet  der  Name,  der  aus  dem  Patrony- 
micum  NLKoördöösLog  zu  erschließen  ist.  Denn  dieses  Patronymi- 
cum  hat  man  sich  vor  der  Consonantisierung  des  i  und  der  durch 
j  hervorgerufnen  Dehnung  des  6  als  NiKoöraöÜLog  zu  denken.  Ich 
erkläre  Nix66ta6Lg  oder  Nixo6td6iog  als  Umsetzung  von  Zta^ivcxog, 
einem  Namen,  den  ich  so  übersetze:  ^einer,  der  seiner  ötdöig  zum 
Siege  wird'.     Vgl.  noXv^rldri[g]  Zta6LccQX£[tog]   in  Phayttos  (501). 

10)  ngoväerag  (Larisa)  5803. 

Ein  politischer  Name  wie  Msvidtag.  Steph.  Byz.  aus  un- 
bekannter Quelle:  BoLOtav  de  xivsg  xo  ndlai  [i%-vog\  IlQovderaL 
xaXdovtai, 

11)  ZxQBlßovv  (Larisa)  513 h. 

GrehÖrt  zu  SxQoißog  (Spitznamen  49),  und  ist  die  erste  Spur 
eines  alten  Präsens  oxQsCßcj.  Darf  mhd.  streif  (Streifzug)  in  diesen 
Zusammenhang  gezogen  werden? 

Halle  (Saale),  8.  August  1908. 


Die  Mosessage 
in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur. 

Von 

N.  Bonwetsch. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  28.  Juni  1902. 

Die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur,  wie 
ich  sie  hier  nach  den  Ausgaben  Pypins,  Tichonravovs  und  der  in 
den  sog.  Cetji  Minei  vorlege  ^),  bekundet  schon  durch  ihren  sprach- 
lichen Character  ihren  (mittelbaren)  Ursprung  aus  einem  hebräischen 
Original.  Sie  stimmt  in  weitem  Umfang  mit  dem  überein,  was 
M.  Graster  aus  der  Chronik  Jerahmeels  (oder  vielmehr  eines  Eleasar 
ben  Ascher  a.  1325)  veröffentlicht  hat  ^),  und  was  Mignes  Dictionnaire 

1)  A.  Pypin,  Die  erdichteten  und  apokryphen  Bücher  des  russischen  Alter- 
tums (Loznyja  i  otrecennyja  knigi  russkoj  stariny)  in  den  Denkmälern  der  Litte- 
ratur des  russischen  Altertums  (Pamjatniki  starinnoj  russkoj  literatury)  des  Grafen 
Gr.  Kuschelev-Bezborodko,  St.  Petersburg  1862,  S.  39 — 49;  nach  der  Paleja  des 
Rumjanzov-Museums  No.  453  a.  d.  J.  1494  (Vostokov,  Beschreibung  des  Rum. 
Mus.  S.  725  f.),  Bl.  155 — 164,  dazu  Lesarten  aus  dem  Sammelcodex  Pogodins 
No.  947,  Bl.  716.  —  N.  Tichonravov,  Denkmäler  der  apokryphen  Litteratur 
(Pamjatniki  otrecennoj  russkoj  literatury),  St.  Petersburg  1863, 1  S.  233—253 ;  nach 
einer  Menäenhandschrift  aus  der  Novgoroder  Sophienkirche  No.  1384  (jetzt  wol 
in  der  Bibliothek  der  St.  Petersburger  Geistl.  Akademie)  saec.  15/16  Bl.  34''  — 52. 
Ebenso  in  der  Handschrift  dieser  Kirche  1264  Bl.  146:  „Rede  von  dem  Leben 
des  heil.  Propheten  Mose,  von  seiner  Flucht  aus  Aegypten  und  seiner  Herrschaft 
unter  den  Sarazenen".  Die  großen  Cetij  minei  (M),  gesammelt  durch  den  Me- 
tropoliten von  ganz  Rußland  Makarij,  herausgegeben  von  der  archeographischen 
Kommission.  St.  Petersburg  1868,  I  S.  164 — 253.  Nicht  zugänglich  ist  mir  die 
Ausgabe  von  M.  Speranskij  in  No.  24  der  Belgrader  gelehrten  Ges.  nach  einer 
serbischen  Handschrift  saec.  17. 

2)  M.  Gast  er,  The  Chronicles  of  Jerahmeel;  or  the  Hebrew  Bible  Histo- 
riale  (Oriental  translation  fund,  New  Series  IV).  London  1899,  Cp.  43  ff.  S.  106 
The  chronicles  of  Moses. 

Kgl.  Ges.  d.  Wisß.    Nachrichten.    Philolog.-hist.  Klasse  1903.    Heft  6.  41 


582  ^-  Bonwetsch, 

des  Apocryphes  aus  dem  Sepher  Hajaschar,  A.  Wünsche  nach 
Jellinek,  Bet  ha-Midrasch  11  S.  1  ff.  und  aus  dem  Midrasch 
Schemoth  Rabba,  B.  Beer  und  M.  Grünbaum  an  jüdischen  Moses- 
sagen mitgeteilt  haben  ^).  Die  Wiedergabe  der  slavischen  Re- 
cension  der  Moseslegende  dürfte  doch  berechtigt  sein,  da  es  sich 
hier  um  einen  Sagenbestand  handelt,  der  bereits  Josephus  bekannt 
gewesen  ist,  mit  dem  Berührungen  auch  bei  Eusebius,  Praepar. 
evang.  IX,  27  aus  vorchristlichen  Quellen  nicht  fehlen.  Die  Moses- 
legende gehört  in  jenen  großen  Sagencomplex,  in  dem  das  Judentum 
sich  auf  fremdem  Boden  gewachsenes  Material  zur  Ausschmückung 
seiner  Helden  aneignete. 

Der  Uebersetzung  des  slavischen  Textes  (S)  füge  ich  die  Pa- 
rallelen in  der  sonstigen  TJeberlieferung  der  Legende  bei,  jedoch 
nicht  alle  Abweichungen  im  Einzelnen.  P  ist  die  Ausgabe  Pypins, 
und  zwar  P'^  die  Lesart  der  von  ihm  zu  Grunde  gelegten  Handschrift 
des  Bumjanzovmuseums,  Pp  von  ihm  mitgeteilte  Abweichungen 
des  Pogodinschen  Sammelcodex ;  —  T  der  Text  Tichonravovs ;  M  der 
in  den  Menäen;  G  ==  Gaster,  J  =  Sepher  Hajaschar  bei  Migne, 
W  =  Wünsche,  Gr  =  Grünbaum,  B  =  Beer.  —  Ich  versuche 
nicht  die  ursprüngliche  Gestalt  der  Vorlage  von  P,  T,  M  herzu- 
stellen ;  sie  läßt  sich  nur  annähernd  aus  der  Uebereinstimmung  mit 
der  TJeberlieferung  bei  G,  J,  W,  Gr  erschließen.  P'  und  M, 
T  und  PP  gehören  zusammen. 


1)  Diction.  II,  Paris  1858,  Sp.  1256  ff.,  Uebersetzung  von  Drach.  — 
A.  Wünsche,  Bibliotheca  rabbinica,  Lief.  12—18:  Der  Midrasch  Schemoth 
Rabba,  Leipzig  1882  (W^),  und  Aus  Israels  Lehrhallen,  Leipzig  1907,  I,  61— 80 
[vgl.  auch  S.  92  ff.]  (W^).  —  B.  Beer,  Leben  Moses  nach  Auffassung  der 
jüdischen  Sage.  Jahrbuch  für  Geschichte  des  Judentums.  III,  Leipzig  1863 
(Text  S.  11 — 62,  Anm.  63  f.).  —  M.  Grünbaum,  Neue  Beiträge  zur  semitischen 
Sagenkunde,  Leiden  1893,  S.  152 — 185.  —  A.  Geiger,  Was  hat  Mohammed  aus 
dem  Judentum  aufgenommen?    Bonn  1833,  S.  152 — 180. 


die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  583 

Das  Leben  des  heiligen  grossen  Propheten  Mose. 

Die  Erzählung  seines  Ursprungs,  und   wie   er   herrsclite   unter 
den  Sarazenen   und   wie   er   mit  dem  König  Pharao  stritt  und 
mit  dem  Magier  Balaam    und    wie    er  das  Volk  ausführte   aus 
5  Aegypten. 

I.  Jakob  nun,  als  er  siebenundachtzig  Jahre  alt  war, 
zeugte  er  den  Levi.  Und  nach  dem  Tod  der  Söhne  Jakobs 
begannen  viele  zu  zeugen  in  Israel  in  ihrem  Erbe  und  im  Erbe 
der  Verheißung    Grottes    an    Abraham,    ihren    Vorvater.      Und 

10  Levi,  als  er  neunundvierzig  Jare  alt  war,  zeugte  den  Armia, 
Gaidad,  Chebron  und  Kahat.  Kahat  aber,  als  er  sechzig  Jare 
alt  war,  zeugte  den  Ambram.  Ambram  aber,  hundert  Jare 
alt,  zeugte  den  Aaron  und  die  Mariam  xmd  den  Mose  im  hundert 
und  ersten  Jar  nach  der  Ankunft  der  Israeliten   in  Aegypten. 

15  Mose  aber  war  der  siebente  von  Abrahams  Geschlecht,  seine 
Mutter  aber  war  Agabeth,  eine  Tochter  Levis. 

An  einem  nun  von  den  Tagen  sähe  der  König  Pharao 
einen  Traum.  Als  er  auf  dem  Tron  seines  Königsreichs  in 
Aegypten  saß  und  als  er  seine  Augen   aufhob,    sähe   er    einen 

20  alten  Mann  sich  gegenüberstehend,  und  in  seiner  Hand  eine 
Wage,  und  er  legte  in  die  eine  Wagschale  alle  die  Aeltesten 
der  Aegypter  und  ihre  Vornehmen,  und  in  die  andere  Wag- 
schale legte  er  alle  Lämmer.  Und  er  erwachte.  Und  er  stand 
des  Morgens  früh  auf  und   rief  zusammen    alle    seine  Knechte 

25  und  tat  ihnen  den  Traum  kund;  und  das  Volk  erschrak  mit 
großer  Furcht  und  der  König  selbst  über  jenes  Gresicht.     Und 


Wo  „und"  in  T,  P  oder  M  fehlt,  ist  es  in  der  Regel  nicht  angemerkt  [ 
1  „großen"  <  T,  „und  wunderbaren"  -f  M  |  2  „und— Aegypten"  -|-  T  |  6  „Jakob 
— Levis"  Z.  16.  nach  Pypin  (nur  lese  ich  st.  armiaga  i  daida  vielmehr  armia  gai- 
dada).  „Levi  aber  zeugte  vier  Söne:  den  Armia,  Gaidar  und  Chebron,  Uzniel 
(vgl.  Ex.  6,16  rsdaoiv  xal  Kaä&  xal  Msqccqel.  Ex.  6,  18  'A^ßgccfi  huI  ^leaccQ,  Xb- 
ßgäiv  v.al  'O^BirjX).  Abram  aber  zeugte  den  Aaron  und  die  Mariam  und  den  Mose 
im  hundertundersten  Jar  nach  der  Ankunft  der  Israeliten  in  Aegypten"  T  |  7  vgl. 
B  S.  12  I  17  G  43,1  S.  106.  J  Sp.  1257.  Gr  S.  158  nach  S.  hajaschar  f.  128i-— 130^. 
B  S.  22.  „An— Tagen"  :  „Es  war  im  130.  Jare  nach  dem  Hinabzug  der  Kinder 
Israel  nach  Aeg."  W^W^JG  |  20  „eine  Wage" :  a  pair  of  scales  as  used  by  mer- 
chants.  The  old  man  then  took  the  scales  and,  holding  them  up  before  Pharaoh  G  j 
22  „alle  ihre  Vorn."  M  |  23  „legte  er"  <  M  |  „alle  Lämmer"  vsja  agnici  (vsi 
agn'ciT),  „ein  junges  Lamm"  GWGr;  so  wol  auch  ursprünglich  S  sosusta  agnca; 
„und  es  wog  auf  alle  die  andern"  +  GGrBW  |  25  „und  tat«  M  165  ]  26  „und 
der— Gesicht"  <  P^M. 

41* 


534  ^-  Bonwetsch, 

der  Magier  Balaam  sprach:  Siehe,  es  wird  ein  Uebel  erstehen 
in  Aegypten  in  den  letzten  Tagen.  —  Der  König  sprach :  Was 
sein  wird,    zeige  uns.   —  Und  Balaam   sprach   zu   dem   König: 

*  Ein  Kind  wird  in  Israel  geboren  werden,  das  wird  das  ganze 
5  Reich  Aegyptens  zerstören.  Sei  wissend,  o  König,  daß  du 
schreibest  in  den  Gresetzen  Aegyptens,  daß  man  ertränke  jedes 
Knäblein,  welches  geboren  wird  unter  den  Juden,  [damit  man 
es  töte].  —  Und  der  König  rief  die  Wehmütter  der  Juden  und 
befahl  ihnen,    die  kleinen  Knaben  zu  töten,    und  die  andern  in 

10  den  Fluß  zu  werfen.  —  Und  die  Wehmütter  fürchteten  Gott 
und  taten  nicht  so,  wie  ihnen  der  König  Aegyptens,  Pharao, 
befohlen  hatte.  Denn  Grott  mehrte  sie  sehr,  daß  sie  heraus- 
gingen aus  der  Stadt  auf  das  Feld  und  Kinder  gebaren.  Die 
Engel  Grottes  aber  badeten  sie  und  windelten  sie  ein  und  legten 

15  ihnen  in  beide  Hände  zwei  Steine,  damit  sie  aus  dem  einen 
Butter  saugten  und  aus  dem  andern  Honig.  Und  die  Aegypter 
gingen  auf  das  Feld,  sie  zu  suchen,  und  auf  den  Befehl  Gottes 
öifnete  sich  die  Erde,  nahm  sie  auf.  Jene  aber  gingen  nach 
(mit?)  ihren  Pflügen    und  Pflugscharen   und    konnten    sie   nicht 

20  finden,  denn  Gott  beschützte  sie.  Und  das  Volk  mehrte  sich 
und  wurde  stark.  Und  auf  dem  Feld  herangewachsen  kamen 
sie  zu  Tausenden  in  ihre  Häuser. 

II.     Es  war  aber  ein  Mann  in  Israel  mit  Namen  Ambram, 
welcher  nahm  zum  Weib  die  Echevda,  seine  Verwandte.     Und 


1  „einer  von  den  Eunuchen  (Fürsten  W^)  des  Königs"  statt  „Balaam"  stets  G  | 
2  „Tagen"  T  234  \  Joseplius,  Antiqu.  II,  9,2  (205  f.)  S.  125,8  ff.  ed.  Niese  t&v 
i8QoyQafi(iare(üv  xig  .  .  ayyiXXEi  tc5  ßccöiXsi  xE%Q^ri686%'aL  tivcc  %ar'  i-nscvov  xbv 
naiQOv  xovs  'lagccriXLxaLg  og  xansivmasi  [ihv  xr]v  AtyvTtxicov  rjys^oviav  .  .  .  dsiaccg 
d'  6  ßaai-Xevg  %a.xa  yvaiiriv  xr\v  kv.BCvov  v.bXbvsi  näv  xb  ysvv7i%'\v  ägasv  .  .  dicc- 
ff^BlQBiV,  nagacpvXdaaEiv  xs  xäg  didivag  x&v  ^Eßgaicov  yvvavY.&v  v.a\  xovg  xo-KBxovg 
wbx&v  TtuQaxriQSiv  xag  Myvjtxtav  fiaiag  |  4  Gr  155  nach  Tabari  |  6  „dem  Gesetz" 
P^M  I  „ertränke" :  „töte"  TM  |  7  „damit— töte"  <PM  |  „töte" :  so  thet  tbis  evü 
be  averted  from  the  land  of  Egypt  G  |  8  „Und"  :  ausfürlicher  W^  nach  Ex.  1,15  ff.  | 
„der  Kön."  :  „er"  T  |  9  „und  die  — werfen" :  die  Töchter  leben  zu  lassen  G  B  S.  19  j 
10  „D.  Wehm.  aber"  PM  |  11  ausführlicher  G.  B  S.  25.  W^  S.  10  „und"  <  T  | 
„Pharao"  <  T  |  12  „Denn— sehr" :  breiter  in  PM  |  „daß— Stadt" :  „die  Frauen 
aber  der  Juden  gingen  hinaus"  PM  |  13  „Kinder"  <  PM  |  „Der  Engel"  PM  | 
14  „bad.  d.  Kinder"  PM:  und  rieben  sie  mit  Salz -f- G  |  15  „damit":  „und" 
M,  <P  I  16  I  vgl.  die  Leg.  Abrahams  z.  B.  bei  W«  S.  16  |  17  „suchen«: 
„nehmen"  P  |  20  „Und— stark" :  „U.  es  mehrte  sich  sehr  d.  Volk  der  Juden  und 
wurde  stärker  als  d.  Aegypter.  Der  König  aber  der  Aegypter,  Pharao,  liebte 
nicht,  daß  sich  Israel  mehrte"  PM  j  „Und— Häuser"  vor  „Und  das  Volk"  in  PM  | 
23  Ex.  2,1  I  „Abraam"  stets  T  j  G  c.  44,  S.108.  J  1260  f.  B  28  f.  32  f.  W»  10. 
17.  173.  W2  62  ff.  I  24  „Echevda"  TPr:  Agabeth  MP'. 


die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  585 


sie  gebar  eine  Tochter  und  nannte  ihren  Namen  Mariamne. 
Denn  in  jenen  Tagen  fingen  an  die  Söne  Harns  zu  plagen  das 
Leben  der  Söne  Israels.  Sie  empfing  und  gebar  einen  Son  und 
nannte  seinen  Namen  Aaron.  Denn  in  jenen  Tagen  fing  Pharao 
5  an  zu  vergießen  das  Blut  der  Knäblein  auf  die  Erde  und  andere 
in  den  Fluß  zu  werfen.  Damals  trennten  sich  viele  von  ihren 
Frauen.  Auch  Ambram  trennte  sich  von  seiner  Frau.  —  Und 
es  geschah  in  jenem  Jar,  am  Ende  des  dritten  Jars,  kam  der 
Geist  Grottes  auf  Mariamne,  und  sie  weissagte  und  sprach :  Siehe, 

10  ein  Son  wird  geboren  werden  meinem  Vater  in  diesem  Jar, 
und  dieser  wird  Israel  erretten  von  der  Hand  der  Aegypter. 
Als  aber  Ambram  dieses  von  Mariamne  gehört  hatte,  brachte 
er  seine  Frau  wieder  zu  sich  zurück  und  nahm  sie.  Im  sechsten 
Monat,  nachdem  sie  empfangen,  [und]  gebar  sie  einen  Son.   Und  das 

15  Haus  ward  voll  Helligkeit.  „Und  die  Frau  sah  das  Kind,  daß 
es  schön  war  und  bewarte  es  drei  Monate"  in  einer  Kammer. 
In  jenen  Tagen  geboten  die  Aegypter,  ihre  kleinen  Kinder  zu 
bringen  in  die  Häuser  der  Juden,  damit  antworte  das  jüdische 
Kind  dem  ägyptischen  Kind.    Jenes  Weib  aber,  das  sich  davor 

20  fürchtete,  machte  einen  Kasten  von  Binsen  und  bestrich  ihn 
mit  Lehm  von  innen  und  von  außen  mit  Pech  und  legte  dahin 
das  Kind  und  setzte  es  zwischen  das  Schilfrohr  am  Fluß.  Seine 
Schwester  aber  stand  von  fern.  Und  Grott  sandte  eine 
Hitze  auf  das  Land  Aegyptens,   und  die  Menschen  hatten   sie- 

25  dend  heiß.  Und  die  Tochter  Pharaos  stieg  herab,  um  zu  baden 
im  Fluß,  mit  den  Jungfrauen  und  mit  vielen  Frauen.  Als  sie 
aber  sah  den  Kasten  schwimmend  auf  der  Oberfläche  des 
Wassers,  und  sie  es  nahm  und  ,, öffnete,  und  sie  sah  ein  Kind, 
welches  weinte,    und   es  jammerte  sie  seiner.     Und  sie  sprach: 

30  Von    den  Kindern    der  Ebräer    ist    dies.^'      Und    sie    brachten 


1  „Mariam"  P^^M  |  2  „pl.  die  Söne"  PM  [  3  „Sie" :  „Ambram  aber«  PM  |  5  „ver- 
gießen« P  40  I  6  Wi  11  I  „viele"  :  „Männer«  M  |  12  „dieses«  <  M  |  13  „nahm— Monat« 
<  P'M  I  14  „Son«:  „u.  nannte  s.  Namen  Nemelchia«  +  PM  |  15  „ward"  M  166  | 
16  „in"  T  235  j  17  W^  17  |  18  „antworteten"  M  j  19  „ägyptischen« :  „jüdischen«  PM  j 
19  Joseph.,  Antiqu.  II,  9,4  (219  f.)  S.  128,11  ff.  ensita  de  dsLöccg  'A^agd^ris  .  .  ^n- 
%av&vxai  Tilsy fia  ßißXivov  sficpsQsg  ty  %axa6vsvy  'nOLxCdi  .  .  Ttoir\6avxss  .  .,  k'nsita 
XQ^oavxeg  ccocpdXxco  .  .  ivxid'iaai,  xb  itaidCov  \  21  „mit — außen"  <  PJ'M  |  22  „d. 
Kind"  :  „es"  PM  j  23  „Schwester«  :  „Mariam«  +  M  |  „fern«  :  „sehend«  +  PM  | 
25  „Pharaos"  :  „Thermutis"  -j-  PM  j  26  „m.  v.  Fr.« :  alle  Nebenfrauen  Pharaos 
mit  ihr  G  |  „Als — sie":  „Und  sie  sah  das  Kästchen  sciiwimraend  auf  dem  Fluß  und 
sandte  <hin>  und«  PM  |  Ex.  2,5  |  30  „dies"  <  M:  PM  fügen  hier  st.  S.  596,10  f. 
Ex.  2,10  hinzu. 


586  ^-  Bonwetsch, 

ägyptische  Frauen  herzu  es  zu  säugen,  und  es  wollte  nicht  saugen. 
Denn  von  Grott  war  es,  um  es  zurückzubringen  zu  den  Brüsten 
seiner  Mutter.  Und  Mariamne  sprach:  Willst  du,  daß  ich  dir 
herzu  bringe  „ein  säugendes  Weib  von  den  Ebräern,  damit  sie 
5  dir  das  Kind  säuge"?  Sie  ging  hinab  und  brachte  herzu  seine 
Mutter.  Und  die  Tochter  Pharaos  sprach:  Säuge  mir  dieses 
Kind,  so  werde  ich  dir  je  zwei  Silberlinge  für  den  Tag  geben. 
Und  sie  stillte  es  und  nahm  es  von  ihr.  Und  es  geschah  am 
Ende  von    zwei  Jaren   brachte    sie    es   der   Tochter   Pharaos. 

10  Und  er  ward  ihr  zum  Son.  Und  sie  nannte  seinen  Namen  Mose, 
„weil  ich  ihn  aus  dem  Wasser  genommen  habe." 

m.  Und  es  geschah,  im  dritten  Jar  nach  der  Geburt 
Moses  saß  Pharao  zu  Tische,  die  Königin  zu  seiner  Rechten, 
Bithia   saß   zu    seiner  Linken,    das  Kind   aber    saß   auf  ihrem 

15  Schoß,  und  die  Großen  saßen  um  ihn.  Das  Kind  aber  nahm 
ausstreckend  die  Krone  vom  Haupt  des  Königs  und  setzte  sie 
auf  sein  eigenes  Haupt.  Und  der  König  erschrak  und  seine 
Großen.  Und  Balaam,  der  Magier,  antwortete  und  sprach: 
Gedenke,  o  Herr  König,  an  den  Traum,  den  du  sähest,  und  wie 

20  dein  Knecht  ihn  dir  deutete ;  und  dies  ist  das  Kind  der  Ebräer, 
denn  der  Geist  Gottes  ist  üi  ihm  und  mit  Vorsatz  hat  es  dies 
getan,  und  es  will  das  Reich  Aegyptens  sich  empfangen.  Denn 
so  hat  Abraham  sein  Vorvater  getan,  welcher  überwältigte 
des  Königs  IN^imrod  Heere  und  Abimelech,  den  König  von  Agar, 

25  vertrieb  und  selbst  nach  Aegypten  kam  und  seine  Frau  seine 
Schwester  nannte,    um  ihren  König  zu  verderben.     Ebenso  tat 

1  „ein  säugendes  ägyptisches  Weib"  PM  |  Joseph.,  Ant.  II,  9,5  (226)  S.  130,3 ff. 
fij]  TtQoasfiivov  de  avtov  xj\v  &7iXr]v  &XX  &7t06tQcccp£VT0s  xal  Tovr'  ijtl  noXX&v 
Tcoi'qaavrog  ywai-Köäv  17  MagLUfiri  etc.  Vgl.  Georg.  Sync.  S.  226,11  f.  ed.  Dind. 
Koran,  Sure  28,11.  GS.  110.  J  1261  f.  Gr  155.  B  36  f.  Geiger  157.  W^  20.  W^  64  | 
3  Ex.  2,7  I  „trat  herzu  und  sprach«  PM  |  5  „dies  Kind"  PM  |  „hinab"  <  PM  | 
6  „sprach  zu  ihr"  PM  |  8  besser  „nahm  es  von  ihr  u.  stillte  es"  PM  |  11  Ex.  2,10  j 
12  Joseph.,  Ant.  II,  9,7  (233  ff.)  S.  132,5  ff.  raig  rov  nargög  x^QO^v  hexC&Bi  vh  ßgifpog, 
6  91  .  .  inixCQ^Giv  a'btä)  th  ÖLcc8ri(icc.  v.axacpEQBi  S*  6  Mcovofig  sCg  rrjv  y»)v  nsQiB- 
Idfisvog  ccvTÖ  .  .  inißuLVS  xb  avxä  xotg  nooi  .  .  .  d^eaadfisvog  d*  6  tsQoygafifiarsvg 
6  xal  xijv  yivEGiv  avxov  ngoemoav  inl  xccnuvcoasL  xf]g  AlyvnxCaiv  &Qxr)g  iao^hriv 
mQiiriasv  ScnonxsCvcccyiccl  .  .  ovTOg,  «Itt«,  ßaaiXsVy  6  naig  ixsivogy  bv  yixECvaöiv 
illLtv  idijXaasv  6  &sög  SccpoßoLg  slvai  etc.  Georg.  Sync,  Chron.  S.  228,1  ff.  |  G  c.44,8ff. 
S.  110 ff.  J  1263  f.  Gr  153  und  besonders  156 ff.  nach  dem  Seph.  hajaschar  f. 
131V fg.  W^  21.  W2  65 f.  92 f.  B.  38 ff.  |  14  „Bithia«:  „Thermutis«  wie  der  Syn- 
kelle  PM  I  15  „saßen«  <  M  |  18  „Magier":  one  of  the  king's  eunuchs  -f-  G  | 
„u.  sprach«  <  M  |  21  „in  ihm«  <  M  |  23  „überw."  T  236  |  „überw.  .  .  Heere« 
(vgl.  G  u.  B)  slabe  sily :  slavuich  d.  Codd.  |  24  „Nimrods« :  perea  PM  |  Gen.  20  | 
„Agar« :  1.  Gerar«  |  25  Gen.  12  |  26  Gen.  26. 


die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  587 

Isaak  den  Fremdlingen  und  wurde  mäclitiger  als  die  Fremd- 
linge. Ihren  König  aber  verderben  wollend,  erfand  er  ebenso 
und  machte  seine  Frau  zu  seiner  Schwester.  Jakob  aber  nahm 
ebenso  betrügerisch  die  Erstgeburt  und  den  Segen  seines 
5  Bruders  und  ging  nach  Padan  Aram  zu  Laban,  seinem  Obeim, 
und  nahm  durch  Betrug  seine  Tochter  und  sein  Vieh  und  sein 
ganzes  Haus.  Und  er  floh  zurückkehrend  in  das  Land  Kanaan. 
Und  seine  Söne  verkauften  den  Josef  nach  Aegypten  und  er 
war  im  Grefängnis,  bis  daß  der  König,  dein  Vater,  einen  Traum 

10  sah.  Und  er  ließ  (ibn)  aus  dem  Gefängnis  und  erhöbte  ihn 
über  alle  Großen  Aegyptens,  weil  er  ihm  den  Traum  deutete. 
Und  als  Gott  eine  Hungersnot  über  das  Land  sandte,  schickte 
er  fort  und  brachte  seinen  Vater  und  seine  Brüder  nach 
Aegypten  und  emärte   sie  one  Lösegeld,   uns    aber   kaufte   er 

15  sich  zu  Sklaven.  Wenn  du  nun  willst,  o  König,  so  wollen  wir 
dies  Kind  töten,  damit  es  nicht  heranwachse  und  nehme  dein 
Eeich  von  dir,  damit  nicht  die  Hoffnung  Aegyptens  umkomme. 
Und  Gott  sandte  seinen  Engel  Gabriel,  und  er  machte  sich  gleich 
einem   von   den   Großen   des  Königs.     Und   er   sprach:    Wenn 

20  du  willst,  0  König,  so  möge  man  einen  kostbaren  und  glänzenden 
Stein  bringen  und  eine  feurige  Kole  und  sie  vor  es  legen ;  wenn 
es  seine  Hand  ausstreckt  nach  dem  Stein,  so  wißt  ihr,  daß  es 
dies  mit  Absicht  getan  hat,  und  wollen  wir  es  töten.  Wenn 
es  aber  nach  dem  Feuer  seine  Hand  ausstreckt,  so  wissen  wir, 

25  daß  es  dies  nicht  mit  Absicht  getan  hat,  so  wollen  wir  uns  zurück- 
halten. Und  dies  gefiel  dem  König  und  seinen  Großen.  Und 
man  brachte  einen  kostbaren  Stein  und  eine  feurige  Kole. 
Und  der  Engel  lenkte  seine  Hand  zu  dem  Feuer ;  und  es  nahm 
die  Kole  und  legte  (sie)  in  seinen  Mund  und  stieß  an  die  Spitze 

30  seiner  Zunge  und  ward  schwerer  Zunge.  Und  man  tötete  ihn 
nicht. 


2  „Ihren":  „Den«  M  |  „erfand"  M  167  |  3  Gen.  27.  29.  30  |  5  „Bruders«: 
„Esau"  +  PM  I  „n.  Padan  Aram" :  v  Ponoram  PM,  „über  das  Gebirge"  T  |  8 
Gen.  37.  39.  41.  46  |  „n.  Aeg.«  <  PM  j  9  „Gefängnis":  „zwei  Jare"  +  G  | 
„dein  Vater"  <  G  |  10  „Und"  +  PM  j  12  „schickte  er  fort  und«  <  G  ( 
18  Nach  J  1264.  Gr  157.  B  40  will  Pharao  zuvor  noch  alle  Weisen  befragen  | 
„Erzengel"  PM  |  „einen  Schohamstein"  Gr  |  21  „und  sie  .  .  legen"  <  M,  „und 
sagen«  +  T  |  22  „es  seine"  P41  |  23  „und  wollen— getan  hat"  <  P^M  |  25  „wir'': 
„ihm  gnädig  sein"  +  Pp  |  „uns  zurückhalten":  „es  leben  lassen''  G  1  26  Gr  auch 
S.  160  nach  Baidäwi  zu  Sure  20,28  f.  |  27  „vor  ihn  e.  kostbaren  (glänzenden  -|-  M) 
Stein"  PM  ]  28  „Und":  „Und  Mose  wollte  nach  dem  Stein  greifen,  und"  Pp  |  „d. 
Engel  des  Herrn«  PM  |  29  „die  Kohle— und"  <  PM  ]  30  Ex.  4,10. 


588  N.  Bonwetsch, 

lY.  Und  er  war  im  Hause  Pharaos  fünfzehn  Jare,  und 
er  wuchs  heran  und  ging  mit  den  Königskindern  in  einerlei 
Kleidern.  Und  es  geschah  am  Ende  des  fünfzehnten  Jars,  von 
seiner  Geburt  des  achtzehnten  Jars,  und  er  verlangte  zu 
5  seinem  Vater  und  zu  seiner  Mutter  und  ging  zu  ihnen  und 
kam  zu  seinen  Brüdern.  „Und  er  sah  einen  Mann,  einen 
Aegypter,  schlagend  einen  Ebräer  von  seinen  Brüdern.  Und 
er  schaute  hierhin  und  dorthin  und  sah  Niemand.  Und  er 
erschlug  den  Aegypter  und  begrub  ihn  im  Sand.     Und   es   ge- 

10  schah  am  zweiten  Tag  ging  Mose  ein  zu  seinen  Brüdern  und 
sähe  zwei  Männer  mit  einander  streitend.  Und  er  sprach  zu 
dem  Bösewicht:  Weshalb  tust  du  Unrecht  deinem  Freund? 
Und  er  sprach  zu  ihm:  Wer  hat  dich  zum  Richter  über  uns 
gesetzt?    Willst  du  mich  töten,   wie  du  gestern  den  Aegypter 

15  getötet  hast?  Und  Mose  fürchtete  sich  und  sprach:  In  Wahr- 
heit ist  diese  Sache  bekannt  geworden." 

Und  Pharao  befahl  den  Mose  zu  töten.  Und  Gott  sandte 
den  Engel  Michael  und  er  machte  sich  gleich  in  die  Gestalt 
seines  Tischmeisters.    Und  er  zog  das  Schwert  aus  seiner  Hand 

20  und  nahm  ihm  das  Haupt  weg.  Und  der  Engel  ergriff  den 
Mose  an  seiner  rechten  Hand  und  fürte  (ihn)  aus  dem  Land 
Aegypten  und  setzte  (ihn)  außerhalb  der  Grenze  Aegyptens  vierzig 
Milien  entfernt.  Es  blieb  nur  Aaron  zurück,  und  er  fing  an  zu 
weissagen   in  Aegypten    den   Söuen    Israels   und    sprach:    Ein 

25  jeder  Mann  werfe  seine  Säule  weg,  und  mit  der  Unreinheit  der 
Aegypter  befleckt  euch  nicht.  Und  sie  gehorchten  ihm  nicht. 
Und  Gott  sprach  sie  zu  vergessen,  aber  „er  gedachte  des 
Bundes,  den  er  geschlossen  mit  Abraham  und  Isaak  und  Jakob." 
—  Und  die  Hand  Pharaos  kam  mehr  und  härter  auf  die  Söne 

30  Israels,  bis  daß  Gott  sein  Wort  sandte  und  ihrer  gedachte. 


1  G  c.  44,12  S.  112.  J  1265  f.  Koran  28,14.  W^  67  f.  ,,er« :  „Mose«  PM  |  2  „u. 
ging"  <  PM  I  3  „fünfz. — achtz.  Jars" :  in  his  eighteenth  year  G  |  „von — Jars" 
<  PM  I  5  „seinem"  und  „seiner«  <  PM  |  T  237  |  6  Ex.  2,11—14  |  8  „er": 
„Mose"  T  I  11  „sich  zu  schaffen  machend  und  streitend«  M  |  „er«:  „Mose«  PM  | 
13  „Und— ihm":  „Sie  aber  sprachen'^  PM  |  14  „mich«  <  M  |  15  „geworden":  „Und 
es  gelangte  dies  Wort  zu  den  Oren  Pharaos«  PM  |  18  B  50 f.  |  „Engel«:  „seinen 
Erzengel«  PM,  the  captain  of  his  heavenly  host  G  |  19  „s.  Tischm.«:  „des  Tisch- 
meisters des  Königs«  PM,  chief  butcher  (slayer)  G  |  20  „nahm  weg«  M  168  |  nach 
andern  ward  zuerst  Moses  Nacken  wie  eine  Marmorsäule;  vgl.  W^  67  (u.  W^  93 
W»  25),  dazu  aber  68  wie  oben  |  „Engel  des  Herrn"  PM  |  21  „seiner" :  „der«  PM  j 
23  „Aaron,  sein  Bruder«  PM  |  25  „jeder«  <  PM  |  „werft"  T  |  26  „und  befleckt«  T  j 
27  „vergessen"  zabyti:  zagutj  M  |  Ex.  2,24  |  „zu  gedenken"  pomjanuti:  pomjanu  M. 


die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  589 

V.  In  jenen  Tagen  ward  ein  Streit  zwischen  den  Sara- 
zenen und  zwischen  den  Sönen  der  Perser  und  zwischen  den 
Armeniern  (1.  Aramäern).  Und  es  ging  ans  Eakanos,  der  König 
der  Sarazenen ,  zu  kriegen  mit  den  Armeniern  und  mit  den 
5  Sönen  der  Perser.  Und  Kikanos,  der  König  der  Sarazenen, 
besiegte  die  Armenier  mit  den  Sönen  der  Perser  und  nahm  sie 
gefangen.  Und  Balaam  war  geflohen  aus  Aegypten  zu  Kikanos, 
weil  nicht  Bestand  gehabt  hatte  seine  Rede.  Und  er  war 
daselbst  bei  Kikanos   und   seine   zwei  Söhne  Anos    und  Akris. 

10  Und  er  ließ  sie  zurück  zu  bewahren  die  Stadt  und  das  dienende 
Volk  mit  ihnen.  Und  es  beratschlagte  Balaam  mit  dem 
Volk  des  Landes  abzufallen  von  den  König  Kikanos  und  ihm 
nicht  zu  gestatten  einzugehen  in  die  Stadt.  Und  es  gehorchte 
ihm  das  Volk  und   schwur   ihm  und   setzte  ihn  über  alle  zum 

15  König;  seine  Söne  aber  machten  sie  zu  Heerfürern.  Und  sie 
machten  hoch  eine  sehr  hohe  Mauer  um  jene  Stadt  von  zwei 
Seiten ,  aber  von  der  dritten  Seite  gruben  sie  große  Graben 
aus  one  Zal ;  und  von  der  vierten  Seite  riefen  sie  überaus  viele 
Schlangen  und  Scorpionen  herbei  durch  ihr  Flistern  und  Zauberei. 

20  Und  sie  verschlossen  sich  in  der  Stadt  und  gestatteten  weder 
hineinzugehen  noch  heranzukommen.  Und  es  geschah  als  der 
König  Kikanos  zurückkehrte  vom  Krieg,  als  sie  ihre  Augen 
erhoben,  sahen  sie  die  sehr  hohen  Mauern  der  Stadt  und  ver- 
wunderten  sich   und   sprachen:    Unser  Volk,    als  wir  lang  im 

25  Krieg  waren,  haben  sie  ihre  Stadt  befestigt,  indem  sie  sprachen: 
Vielleicht  kommt  auf  uns  Krieg.  Und  wie  sie  zur  Stadt  kamen 
und  sahen  die  Tore  der  Stadt  verschlossen,  und  sie  sprachen  zu 
den  Torwächtern:  Tut  auf  die  Tore,  damit  wir  in  die  Stadt 
eingehen!    Und   sie  wollten   nicht  öffnen  nach  dem  Gebote  des 

30  Magiers  Balaam ,    und   sie   gestatteten  nicht ,   hineinzugehen  in 


1  Vgl.  Joseph.,  Ant.  II,  10,1.  G  45,1  ff.  S.  113f.  J  1266f.  B  51f.  W^  68ff.  | 
2  „d.  Sar."  cin'ci  S  |  2  „d.  Perser" :  pervymi  P^M  |  „Kusch  einerseits  und  dem 
Volk  von  Kedem  u.  Syrien  andererseits"  G  |  5  „Und—  Perser"  <  P^M  [  7  Bala'am  the 
enchanter,  i.  e.  Laban  the  Aramean,  who  came  from  Caphtor  G  |  „war  gefl. — Rede": 
he  (Qinqanos)  left  behind  (Bala'am)  G  [  9  „daselbst"  <  PM  |  „Anos  und  Arkin" 
T:  Janis  und  Jambris  G  |  10  „Und  er — zurück"  <  PM  |  „dienende"  sluza- 
staja:  chozasaja  T:  „diente"  sluzisa  M,  suzase  P  |  14  „d.  Volk"  T  238  |  16  Jos. 
Ant.  II,  10,2  (249  f.)  S.  135,17  ff.  tjv  öl  8v67CoXiOQv,ritov  ccpoÖQa  to  %a)QLOv  tov  ds 
NeCXov  TtSQLSxovtog  avxr\v  xocl  TtvKlovfisvov  .  .  17  yäg  TtöXig  svxbg  ov6a  rrjaos 
ol-ABirai  xhC%ovg  xs  avxj]  yiaQxsQov  TtSQLtiy^svov  yiccl  ngog  fisv  xovg  TtoXsiiCovg  tcqo- 
ßXriiici  xovg  Ttoxcciiovg  exovßa  xcoyLCcxä  xs  fisyccXcc  fisxa^v  xov  xEC%ovg  \  „erhob  sich" 
T  I  „sehr  hohe"  <  PM  |  17  „Graben" :  „u.  Tiefen"  +  PM  j  18  „rief  Balaam«  PM  j 
20  „sich  in  der":  „die"  PM  ]  21  „Es"  T  |  24  „lang"  +  PM  |  30  „in  d.  Stadt"  PM. 


590  ^-  Bonwetscli, 

die  Stadt.  Und  es  standen  die  Schlachtordnungen  vor  den 
Toren  [der  Stadt].  Und  es  fielen  von  den  Kriegern  des  Kikanos 
am  ersten  Tag  hundert  und  dreißig  Mann.  Und  am  andern 
Tag  kämpfte  man  am  Ufer  des  Flusses.  Und  es  gingen  dreißig 
5  Reiter  in  das  Wasser  hinein  und  wollten  übersetzen  auf  die 
andere  Seite  nnd  konnten  nicht  und  ertranken  in  den  Grräben. 
Und  der  König  gebot  zu  hauen  Bäume  und  Flöße  zu  machen, 
damit  man  auf  ihnen  hinüberginge.  Und  sie  taten  so  und 
kamen  auf  Flößen  in  jene  Gräben,  und  stürzten  um  mit  ihnen 

10  in  die  Tiefen,  und  es  ertranken  an  jenem  Tag  zweihundert 
Mann  auf  zehn  Flößen.  Und  am  dritten  Tag  kamen  sie  von 
jener  Seite,  auf  der  die  Schlangen.  Und  sie  konnten  nichts 
erreichen.  Und  die  Schlangen  töteten  hundert  und  siebzig. 
Und    sie   hielten   sich  zurück.     Und  sie   standen  um  die  Stadt 

15  neun  Jare,  und  man  gestattete  nicht  einzugehen  oder  herauszu- 
kommen. 

Und  es  geschah,  als  sie  belagerten  die  Sarazenen,  entfloh 
Mose  aus  Aegypten  und  kam  zu  Kikanos,  dem  König  der  Sara- 
zenen.   Mose  war  achtzehn  Jare  alt,  als  er  vor  Pharao  floh.  Und 

20  er  kam  zu  dem  Lager  des  Kikanos.  Und  der  König  nahm  ihn 
anf  und  alle  seine  Großen  und  seine  Krieger,  weil  er  groß 
und  prächtig  geworden  war  in  ihren  Augen.  Seine  Höhe  wie 
die  der  Cedern,  sein  Antlitz  wie  die  Sonne  leuchtend  und  seine 
Tapferkeit  wie  (ein  Löwe)  stark.     Und  er  ward  ein  Ratgeber 

25  bei  dem  König.  Und  es  geschah  nach  Ablauf  von  neun  Jaren 
erkrankte  Kikanos,  der  König  der  Sarazenen.  Und  Kikanos 
starb  am  siebenten  Tag.  Und  seine  Knechte  salbten  ihn  und 
begruben  ihn  vor  den  Toren  der  Stadt.  Und  sie  machten  über 
ihm  ein  schönes  und  überaus  hohes  Gebäude  und  schrieben  auf 

30  einen  Stein  alle  seine  Kriege  und  alle  seine  Tapferkeit.  —  Und 
es  geschah  als  sie  das  Gebäude  vollendet  hatten,  sprachen  sie 
zu  einander:  Was  sollen  wir  tun?  Wenn  wir  kriegen  mit  der 
Stadt,  so  werden  wir  umkommen.  Lassen  wir  ab  hier  zu 
sitzen,    so  werden  erfahren   alle  Könige  der  Armenier  und  die 

35  Söne  der  Perser,  daß  unser  König  gestorben  ist,  und  kommen 
plötzlich   über  uns  und  lassen  uns  keinen  Rest  zurück.     Aber 


1  „U.  es  standen«  <  P'M  |  2  „der  Stadt«  +  M  |  5  „Reiter« :  „Streitwagen«  B  | 
7  „Hauet«  T  |  9  „auf  Fl.«  P  42  |  10  „107*^  M,  „77«  W»  |  16  „hinzukommen  oder 
hineinzugeben  in  die  Stadt«  M,  „herauszugehen  oder  nahe  heranzukommen"  P  | 
19  „Mose  aber«  M  |  20  „d.  Königs  Kik.«  M  |  22  „und"  vor  „pr."  -f  M  |  „Seine« 
T  239  I  23  „leuchtend— wie«  +  PM  |  „leuchtend«  oder  „die  aufgehende  S.«  \  24  „ein 
Löwe«  +  aus  G  I  26  „Und  er  starb«  M  |  29  „überaus«  <  MP  |  35  „Perser« :  pervü  P'M. 


«I 


die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  691 

mm  wollen  wir  gehen  und  einen  König  uns  setzen  und  sitzen 
bei  der  Stadt,  bis  wir  sie  einnehmen.  Und  sie  eilten  und  zogen 
aus  ihre  Kleider  und  warfen  sie  auf  einen  Haufen  und  machten 
einen  großen  Berg  und  setzten  Mose  (darauf)  und  sprachen: 
5  Lebe  in  Ewigkeit,  o  König!  Und  es  schwuren  ihm  die  Großen 
und  alles  Volk.  Und  der  König  nahm  das  Weib  des  Kikanos 
mit  ihrer  .  .  .  mit  Freude  ihres  ganzen  Landes.  Mose 
war  siebenundzwanzig  Jare  als  er  König  ward  über  die  Sara- 
zenen. 

10  Es  geschah   aber   am   andern   Tag   seines   Königtums    ver- 

sammelte sich  alles  Volk  und  sprach  zu  ihm :  König,  berate  (triff 
Vorsorge  für)  uns ,  was  wir  tun  sollen.  Neun  Jare  vergingen, 
daß  wir  unsere  Frauen  und  Kinder  nicht  gesehen  haben.  Und 
der  König  sprach  zu  seinem  Volk:   Wenn  ihr  hörend  hört  auf 

15  meine  Stimme,  so  wisset,  daß  übergeben  werden  wird  diese 
Stadt  in  unsere  Hände.  Sollen  wir  etwa  kämpfen  mit  ihnen, 
wie  wir  zuerst  begonnen,  so  werden  von  uns  so  viel  umkommen 
wie  zuerst.  Wenn  wir  aber  auf  Böten  in  die  Tiefen  gehen, 
so  werden  unser  viele  ertrinken  wie  zuerst.     Nun  aber  stehet 

20  auf  und  geht  in  den  Wald  und  bringt  [mir]  Storchjunge;  ein 
jeder  beware  die  seinen,  bis  sie  heranwachsen  und  lehret  sie 
zu  fliegen  hinüber  wie  Falken.  Sie  gingen  und  brachten  Storch- 
junge wie  ihnen  der  König  befohlen  hatte.  Und  es  geschah, 
wie    die   jungen  Störche   heranwuchsen ,    befahl   der  König   sie 

2b  auszuhungern  mit  Hunger  sieben  (1.  zwei)  Tage.  Und  das  Volk 
tat  so.  Es  geschah  am  dritten  Tag  und  der  König  sprach  zu 
ihnen:  Hüllet  euch  in  eure  Rüstung  und  setzet  euch  auf  eure 
Pferde  und  es  nehme  ein  jeder  seinen  Storch  auf  die  Hand,  und 


6  „in  Ewigkeit"  +  PM  |  „alle  Großen"  PM  |  7  vgl.  Jos.,  Ant.  II,  10,2  (253) 
S.  136,17  ff.  TtoLTiaa^svov  Ttiatstg  ivoQyiovg  .  .  övvEtslei  tbv  ydfiov  Mcovöi]?.  Breiter  J| 
^mit" :  „mit  ihrer  Kunde"  sü  vest'ju  eja:  vielleicht  „mit  ihrer  Krone"  sü  ven'cem 
eja,  vgl.  G  I  „mit  Freude  i.  g.  Landes"  <  P^M ;  „die  kostb.  Geschenke  w.  ihm  dar- 
gebr."  B  53  I  7  „Mose  aber«  PM  |  10  G  45,6 ff.  S.  115  f.  J  1268 f.  B  53  f.  W270f.  I 
„Tag«:  vü  T  |  13  „U.  Mose  sprach"  PM  |  15  „wisset":  „sehet"  M  |  17  „w.  zu- 
erst" +  M  I  18  „Wenn— Nun  aber"  +  PM  |  20  „mir"  +  T  j  23  „d.  Kön." :  „Mose« 
PM  1  24  Jos. Ant.  II,  10,2  (245  ff.)  S.  134,16  ff.  135,6  ff.  r^g  yäg  yfjg  ovang  %cclE7t7ig 
odsvd'^vciL  diaTtXfj&og  SQTtEtmv  . .  vosl  . .  ötgaf^yrnia  d'ccv^aarov  TtXsyficcta  yccg  i^cpSQfj 
:KLßcoTOLg  fx  ßißXov  ■aaraay.svdaag  y.cil  nXriQÜcag  l'ßsav  Jxöftt^e  .  .  .  co?  ovv  slg  trjv 
yfjv  hvißaXs  r-qv  Q-riQLOXQOtpov,  rccvtcag  ccTCS^a.%Exo  xriv  rmv  SQTtsr&v  (pv6LV  ijraqpflg 
«iytotg  v.al  ngoTtoXsfiovGccig  %Q63^8vog.  Vgl.  Artapanus  bei  Eusebius,  Praep.  evang. 
IX,  27,9  S.  500,12 f.  ed.  Dind.  t-qv  tßsv  sv  ccvtj]  v,u%-iEQ&aca,  diu  tb  tavzriv  tcc 
ßXdnzovtci  ^äa  tovg  äv&QmTtovg  ävuLQSLV  |  „jungen"  <  PM  |  25  „zwei  Tage"  G  ( 
26  „sprach«  T  240. 


592  ^-  Bonwetsch, 

gehen  wir,  daß  wir  herangehen  zur  Stadt  an  den  Ort,  wo  die 
Sehlangen  sind.  Und  der  König  sprach:  Lasset  los  die  Störche! 
Und  sie  ließen  sie  los.  Und  die  Störche  flohen  auf  die  Schlangen 
und  verzehrten  sie  und  machten  leer  jenen  Ort.  Und  es  ge- 
5  schab,  als  der  König  und  das  Volk  sahen,  daß  die  Schlangen 
umgekommen  waren,  da  blies  das  Volk  mit  der  Posaune  und 
bestürmten  die  Stadt  und  nahmen  sie  ein  und  kamen  ein  jeder 
in  sein  Haus.  Und  sie  töteten  Bürger  an  jenem  Tag  eintausend 
und  einhundert  Mann,  aber  von  denen  draußen  tötete  man  nicht 

10  einen  einzigen  Mann.  Und  wie  der  Magier  Balaam  sähe,  daß 
die  Stadt  genommen  war,  setzte  er  sich  auf  ein  Pferd  mit  seinen 
zwei  Sönen  und  floh  in  das  Land  Aegypten  zu  dem  König 
Pharao  [zu  dem  König  von  Madiam  Balak].  Und  dies  sind  die 
Zauberer    (und)    Magier,    von    denen    geschrieben    ist    in    den 

15  Paroimien,  welche  lehrten  zu  vertilgen  das  Geschlecht  Jakobs 
vom  Angesicht  der  Erde. 

VI.  Und  es  geschah,  als  Pharao,  der  König  über  Aegypten, 
änderte  das  Gesetz  der  ersten  Könige,  und  er  machte  hart  die 
Knechtschaft   über    sein  Volk   und  über  das  Haus  Jakobs  und 

20  erbarmte  sich  nicht  nach  dem  Befehl  des  Magiers  Balaam  und 
seiner  beiden  Söne,  denn  sie  waren  als  Ratgeber  des  Königs 
in  jenen  Tagen.  Und  der  König  beriet  sich  mit  seinen  Großen, 
der  Name  des  Einen  [Sclaven]  Raguel  und  des  andern  Hiob 
der  Madiamiter,    der   dritte   aber  Balaam.     Und  er  sprach    zu 

25  ihnen:  „Siehe  das  Volk  Israel  mehrt  sich  und  wird  stärker  als 
wir.  Wenn  Fremde  kommen,  und  sie  sich  ihnen  anschließen, 
werden  sie  uns  töten  und  aus  unserm  Land  ausziehen."  Raguel, 
der  Madiamiter,  antwortete  und  sprach  zu  dem  König:  Lebe 
du   in   Ewigkeit!    Wenn   es  dir  gefällig  ist,   o  König,    strecke 

30  deine  Hand  nicht  gegen  sie  aus,  da  sie  Gott  auserwält  hat  aus 
den  ewigen  Völkern  und  sie  nehmend  (erwälend)  zu  seinem 
Teil  aus  allen  Völkern  der  Erde.  Aber  wer  ist  unter  allen 
Königen   der  Erde,    der    one  Schaden   sie  schädigte?    Und   als 

'      Abraham  nach  Aegypten   kam,   und  Pharao  befahl  Sarah  sein 


,in  das  Land  Madiam  zum  dem  König  Balak  (Balam 
PpJ)  damit  die  Madiamiter  siegten,  wenn  diese  stritten  (?)  mit  den  Israeliten" 
M,  bis  „d.  Madiamiter"  S.  594,13  <  MP»^  (^^der  Madiamiter  siegte,  wenn  siegte  Mose 
mit  den  Israeliten''  P')  |  15  Num.  31,16  |  16  „d.  Erde"  P  43  |  17  G  46,1  ff.  S.  116  ff. 
J  1269.  1258  ff.  1265.  Gr  (nach  J  f.  128'-— ISO')  S.  158  f.  B  S.  22  ff.  W^  7.  C.  6  fehlt 
in  W'MPr  I  21  „denn" :  „und"  T  |  25  Ex.  1,9. 10  ,  28  „König,  lebe"  P  |  31  „ewigen«: 
„vor  alters"  richtig  G  |  32  „Ab.  wer":  „Niemand"  Pp  |  34  „und"  +  Pp  ]  Gen. 
12.  20.  26. 


m 


die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  593 

Weib  für  ihn  zu  nehmen,  —  und  ihr  Grott  brachte  große  Plagen 
über  Pbarao  und  über  sein  Haus,  und  er  gab  sein  Weib  Sarah 
zurück;  und  Abraham  bat  für  sie,  und  er  heilte  sie.  Wieder 
aber  dem  Abimelech  verschloß  er  im  ganzen  Land  die  Durch- 
5  gänge  von  den  Menschen  bis  zum  Vieh,  und  Grott  tadelte  ihn 
in  einem  Gesicht  der  Augen,  und  er  gab  sein  Weib  zurück; 
und  er  bat  für  ihn  zu  seinem  Grott.  (und)  er  heilte  ihn.  Bei(?) 
Isaak  aber  setzte  er  in  Erstaunen  durch  (?)  große  Wunder. 
Als   ihn   die  Männer   der  Stadt  austrieben,    vertrockneten  alle 

10  Quellen  ihrer  Wasser,  das  Gras  aber  wuchs  nicht,  ihre  Bäume 
aber  blühten  nicht,  die  Brüste  ihrer  Frauen  und  ihres  Viehs 
vertrockneten.  (Und)  es  ging  zu  ihm  heraus  aus  der  Stadt 
Abimelech  und  seine  Gefolgschaft  (Genossen)  und  Thibel,  sein 
Feldherr,    und   sie  verneigten   sich  vor  ihm   bis  zur  Erde  und 

15  baten  ihn  um  Verzeihung.  Und  er  betete  für  sie  zu  Gott, 
und  er  heilte  sie  und  ihre  Wasser  und  ihre  Bäume  und  ihre 
Frauen  und  ihr  Vieh.  Und  Jakob  aber  ward  befreit  aus  der 
Hand  Es  aus  und  aus  der  Hand  Labans  nach  seiner  Gerechtigkeit. 
Dein  Vater  aber  erhöhte  den  Joseph  über  alle  Großen  Aegyp- 

20  tens,  weil  er  durch  seine  große  Weisheit  das  ganze  Land  vor 
dem  Hunger  errettete,  und  er  brachte  seinen  Vater  und  seine 
Brüder  nach  Aegypten,  daß  er  errette  sein  Land  vor  dem 
Hunger.  Lasse  ab  von  ihnen,  wenn  es  dir  gefällig  ist,  und 
lasse  sie  in  das  Land  Kanaan. 

25  Und  Pharao  erzürnte  über  ihn,  und  E-aguel  floh  nach  Madiam ; 

den  Stab  Josephs  aber  nahm  er  mit  sich.  Und  der  König 
sprach  zu  Hiob:  Aber  was  sagst  du?  Hiob  sprach  zum  König: 
Die  ganze  Welt  ist  in  deiner  Hand,  und  was  deinen  Augen 
gefällig   ist,    das   tue.     Balaam    sprach   zum  König:    Wenn  du 

30  auch  sie  ins  Feuer  wirfst,  ihr  Gott  hat  den  Abraham  aus  dem 
Ofen  der  Chaldäer  errettet ;  und  wenn  du  befiehlst  sie  mit  dem 
Schwert  zu  töten,  Isaak  ward  zurückgegeben  vom  Schwert 
nicht  geschlachtet,  und  an  seiner  Stelle  ward  ein  Lamm  hin- 
gegeben.    Und  wenn   du,    o  König,    ihren    Namen   willst  ver- 

35  tilgen,  so  befiehl  die  Kinder  in  das  Wasser  zu  werfen,  denn 
kein  einziger  von  ihnen  ist  dadurch  erprobt.     Und  diese  Rede 


3  „für  sie"  T  241  |  6  „der  Augen"  oc'nem :  wol  „der  Nacht"  nocnem  |  8  et- 
was anders  J  1258  |  11  „u.  i.V."  <  P  |  13  „Thibel":  1.  „Phichol"  Gen.  26,26  G 
u.  J  I  17  Gen.  31.  36  |  18  „Labans" :  „Balams"  TP  |  „Gerecht." :  „u.  von  allen 
Königen  Kanaans"  +  GJ  |  19  Gen.  41, 40 ff.  |  20  „vor  d.  Hunger":  from  further 
evil  through  their  piety  G  |  23  „es — ist"  gode:  gdi  T,  gi  P  |  24  „Kanaan": 
„Aegypten"  PT  1  32  Gen.  22,12  f. 


594  ^-  ßonwetsch, 

war  wolgefällig  vor  den  Augen  des  Königs.  Und  er  befahl 
so  zu  tun,  und  gab  ein  Gebot  in  Aegypten,  jedes  Knäblein, 
welches  bei  den  Ebräern  geboren  werde,  in  das  Wasser  zu  werfen. 
Und  als  man  warf  die  Kinder  des  Hauses  Jakob,  ward  aucb  Mose 
5  hingeworfen.  Und  Gott  sandte  Bithia,  die  Tochter  Pharaos, 
(und)  sie  errettete  ihn  aus  dem  Wasser  und  erzog  ihn  und 
nannte  ihn  ihren  Sohn.  Und  vor  ihm  fürchtete  sich  das  ganze 
Haus  Pharaos.  Und  es  geschah,  an  jenem  Tag  tat  man  Balaam 
kund :  Siehe  der  Sohn  Bithias  sucht  dich  zu  töten.    Und  Balaam 

10  der  Magier  floh  und  seine  zwei  Söhne  mit  ihm  ins  Land  .  .  (?) 
zu  seinem  Geschlecht;  und  er  war  daselbst  bis  zum  Sieg  über 
Madiam,  als  Mose  siegte.  Und  daselbst  ward  Balaam  getötet 
mit  fünf  Königen  der  Madiamiter. 

VII.     Mose  aber   saß   auf  dem  Tron  unter  den  Sarazenen. 

15  die  Frau  des  Kikanos  aber  ward  ihm  zum  Weib.  Und  Mose 
fürchtete  Gott  und  nahte  nicht  zu  ihr.  Und  er  gedachte,  wie 
Abraham  beschwor  den  Eleazar  seinen  Knecht:  „Nimm  kein 
Weib  meinem  Son  von  den  Töchtern  Kanaans".  Isaak  aber 
gebot  seinem  Son  Jakob ,    sich  nicht   zu  verschwägern  mit  den 

20  Sönen  Hams,  da  sie  verkauft  sind  in  die  Knechtschaft  den 
Sönen  Sems  und  den  Sönen  Japhets.  Und  Mose  fürchtete  seinen 
Gott  und  nahte  sich  nicht  diesem  Weibe,  denn  auch  sie  ist  von 
den  Söhnen  Hams.  Und  der  König  Mose  ward  mächtig  und 
kriegte  mit  den  Edomitern  und  mit  den  Sönen  der  Perser  und 

25  unterwarf  sie  und  besiegte  sie  in  seinen  Kriegen,  denn  der 
Gott  seiner  Väter  war  mit  ihm. 

Im  vierzigsten  Jar  seines  Königtums  saß  Mose  auf  seinem 
Tron.  Die  Königin  aber  saß  an  seiner  Seite.  Und  die  Königin 
sprach   zu  dem  Volk   und    zu    den  Großen:    Siehe   heute    sind 

30  vierzig  Jare,  daß  dieser  über  euch  herrscht,  und  mir  ist  er 
nicht  genaht  und  unsere  Götter  hat  er  nicht  angebetet.  Und 
jetzt  höret  mich,  Söne  der  Sarazenen,  und  von  diesem  Tage  an 
sei  er  nicht  König  über  euch.  Hier  ist  Mukaris  mein  Son,  und 
dieser  herrsche  über  euch.    Es  gebührt  euch  zu  gehorchen  dem 

35  Son  eures  Herrn  statt  dem  fremden  Mann.  Und  alles  Volk 
war  streitend  bis  zum  Abend,  und  sie  wollten  den  Mose  nicht 

4  „warf"  T  242  I  10  .  .  poctorsku :  „Kusch"  G  |  14  G  46,7  S.  118.  J  1272. 
B  54f.  I  16  „Und— beschwor" :  „Denn  Abraham  hatte  beschworen"  M  j  17  „Emaz" 
P'  I  Gen.  24,3  |  „nicht  zu  nehmen  .  .  s.  Son"  PM  |  19  Gen.  28,1.2.  9,25  |  „nicht" 
<  M  I  22  „diesem  Weibe" :  „dem  Weib  des  Kikanos"  PM  |  24  „d.  Sön.  d.  Pers." : 
„Syrien«  G  |  25  „denn  der  Gott«  jako  bü:  „Jakobs«  jakovü  TPM  |  27  G  46,8 
S.  119.  J  1273.  B  55.  W*  71  f.  |  30  „dieser":  „Mose"  P  44  |  „euch«:  „uns«  PM  | 
32  „höret  mich«  M  171  |  33  „Mukaris«:  Mobros  G,  Menakris  J. 


Die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  595 

entlassen,  und  es  siegte  die  Königin.  Und  sie  standen  des 
Morgens  frölie  auf  und  setzten  den  Mukaris  zum  König  über 
alle.  Und  das  Volk  fürchtete  sich  die  Hände  zu  legen  an 
Mose,  weil  sie  sich  fürchteten,  da  sie  ihm  geschworen  hatten. 
5  Und-  sie  gaben  ihm  große  Greschenke  und  entließen  ihn  mit 
Ehren. 

VIII.  Und  er  ging  von  dort  hinaus  auf  seinem  Weg.  Mose 
aber  war  siebenundsechzig  Jare  alt,  als  er  ausging  von  den 
Sarazenen.    Denn  von  Gott  war  dies  geschehen.    Denn  es  kam 

10  die  Stunde,  weil  von  Grott  bereitet  war  von  den  ersten  Tagen 
an,  die  Söne  Israels  aus  Aegypten  zu  füren.  Mose  ging  nach 
Madiam.  Denn  er  fürchtete  sich  nach  Aegypten  zurückzukehren. 
Und  er  saß  auf  dem  Brunnen,  und  er  sah  die  sieben  Töchter 
des  Raguel,    des  Madiamiters,   weiden  die  Schafe  ihres  Vaters. 

15  Und  sie  kamen  zu  jener  Quelle  und  schöpften  Wasser,  um  ihre 
Schafe  zu  tränken.  Und  die  madiamitischen  Hirten  kamen  und 
vertrieben  sie.  Und  Mose  stand  auf  und  rettete  sie  und  tränkte 
ihre  Schafe.  Und  sie  kamen  zurück  zu  ihrem  Vater  und  ver- 
kündigten, was  ihnen  Mose  getan,    und   wie  er  sie  rettete  und 

20  ihre  Schafe  tränkte.  Und  Raguel  sandte  und  nahm  ihn  in  sein 
Haus,  und  er  aß  mit  ihnen  Brod ;  und  Mose  tat  ihm  kund,  wie 
er  aus  Aegypten  geflohen  und  wie  er  herrschte  unter  den 
Sarazenen,  und  wie  man  das  Königtum  von  ihm  wegnahm  und 
ihn  entließ.     Und  es  geschah,  als  Raguel  seine  Rede  hörte,  und 

25  er  sprach  in  seinem  Herzen :  Ich  werde  diesen  ins  Grefängnis 
setzen  und  werde  lieb  werden  durch  ihn  den  Sarazenen,  denn 
dieser  ist  ein  Flüchtling.  Und  er  nahm  ihn  und  setzte  ihn  ins 
Gefängnis.  Und  er  war  im  Gefängnis  zehn  Jare.  Daselbst 
erbarmte  sich  seiner  Semfora,  die  Tochter  Raguels,  und  speiste 

30  ihn  mit  Brot  und  Wasser.  Und  es  geschah,  am  Ende  der  zehn 
Jare,  sprach  Semfora  zu  ihrem  Vater:  Dieser  hebräische  Mann, 
den  du  ins  Gefängnis  gesetzt  hast  diese  zehn  Jare,  und  nicht 
ist  einer  der  ihn  sucht  oder  für  ihn  bittet;  und  wenn  es  so 
gefällig   ist   vor    deinen    Augen,    mein   Vater,    so    wollen    wir 

35  senden  und  sehen,  ob  dieser  Mann  lebendig  ist  oder  tot.  Ihr 
Vater  aber  wußte  nicht,  daß  sie  ihn  gespeist  hatte.    Und  Raguel 


2  „über«  T  243  j  5  „ihn"  <  T  |  7  Jos.,  Ant.  II,  11,2.  G  46,9  f  S.  119  f. 
J  1273  f.  1277.  ]}  56 ff.  61  1  „Und  er«:  „Mose«  PM  |  9  „dies  gesch.« :  „diese 
Tatsache«  T  |  10  „v.  Gott«  <  PM  |  13  Ex.  2,15  ff.  |  „er  sah«  vide:  „es  trat  ein« 
vnide  T;  came  out  G  ]  19  „ihnen«  <  PM  |  21  W^  71  |  26  „lieb  w.«  primilujusja : 
„mich  versönen«  „geeint  werden«  primirjusja  PM  ]  27  „e.  Flüchtl.«  <  PM  |  „er«  : 
„man«  T  j  29  „Öiphora"  P,  „Ciphora«  M  |  32  „und— bittet«  <  G. 


596  ^'  Bonwetsch, 

sprach:  Es  ist  niemals  auf  der  Welt  erhört,  daß  ein  Mensch, 
der  über  zehn  Jare  im  Grefängnis  gelegen  hat  one  Brot  und 
one  Wasser,  lebendig  sei.  Und  Semfora  sprach  zu  ihrem  Vater : 
Hast  du  nicht  gehört,  mein  Vater,  daß  der  Grott  der  Ebräer 
5  groß  und  furchtbar  ist  und  in  Erstaunen  setzt  durch  Wunder 
zu  jeder  Stunde  ?  Hat  er  nicht  den  Abraham  errettet  aus  dem 
Ofen  der  Chaldäer  und  Isaak  vom  Schwert  und  den  Jakob  aus 
den  Händen  des  Engels,  als  er  mit  ihm  rang  an  der  Furt  Jakob? 
Wieder  diesem  Mann  viele  Wunder  tuend,    hat  er  ihn  errettet 

10  aus  den  Händen  der  Aegypter  und  von  dem  Schwert  Pharaos. 
Und  wieder  kann  er  ihn  erretten  aus  dem  Grefängnis.  —-  Und 
diese  Rede  war  wolgefällig  in  den  Augen  Raguels,  und  er  tat 
ihm,  wie  seine  Tochter  geredet  hatte.  Und  er  sandte  ins  Gre- 
fängnis zu  sehen,  was  mit  ihm  geschehen  war.    Und  sie  fanden 

15  ihn  betend  zu  dem  Gott  seiner  Väter.  Und  sie  führten  ihn 
aus  dem  Gefängnis  und  scheren  ihn  und  änderten  ihm  die 
Kleider  des  Gefängnisses,  und  er  aß  Brod  mit  Raguel.  —  Und 
Mose  kam  in  den  Garten  Raguels,  welcher  war  hinter  seiuem 
Haus  und  betete  zu  seiuem  Gott,    der   an   ihm  Wunder  getan, 

20  und  (ihn)  befreit  hatte  aus  dem  Gefängnis.  Als  er  betete, 
blickte  er  auf  mit  den  Augen  und  sähe  einen  Stab  befestigt 
inmitten  des  Gartens.  Und  er  trat  herzu  zu  dem  Stab  und 
es  war  auf  ihm  geschrieben  der  Name  des  Herrn,  des  Gottes 
Sabaoth.     Und   nachdem   er   herzugetreten,    zog  er  ihn  heraus, 

25  und  es  wandelte  sich  der  Stab  in  seinen  Händen  zum  .  .  .  Durch 
ihn  sind  geordnet  (gewirkt)  die  Wunder  Gottes,  als  Gott 
Himmel  und  Erde  machte  und  alle  ihre  Werke,  das  Meer  und 
die  Flüsse  und  alle  ihre  Fische.  Und  als  er  den  Adam  aus- 
trieb   aus    dem  Garten    des    Paradieses,    nahm   er   (seil.  Adam) 

30  diesen  Stab  mit  sich  in  die  Hand.  Und  dieser  Stab  kam  von 
Adam  zu  Noah,  Noah  aber  gab  ihn  Sem  und  seinem  Geschlecht, 


1  „ist  .  .  erhört"  vedano :  „habe  ich  gesehen"  videch  PM  |  2  „der"  T  244  | 
„zwölf  Jare"  G  |  4  „Vater"  M  172  |  5  „durch  Wunder"  cudesy:  cudesa  T  I  7  Gen. 
22,12.  32,24  flF.  [  8  „Jakob"  jakov:  „Denn  Gott"  jako  bü  PM  |  11  „a.  d.  Gef."  <  PM  | 
12  „Augen":  „Oren"  PM  |  13  „ihm"  <  P,  „ihm  so"  M  |  14  „was— war" :  „ihn" 
PM  I  „fanden" :  „sahen"  T  |  16  „und  .  .  ihn  (<  P)  und"  +  PM  \  17  G  46,11 
S.  120  f.  J  1277  f.  13  61.  60.  W^  72.  Gr  161  nach  ZamaUsarl  zu  Sur.  28,28,  bes. 
aber  163  nach  den  Pirke  R.  Eliesers  c.  40  und  nach  Seph.  haj.  140  f.  |  20  „und 
ihn— Gef.  <  GJ  |  „ihn":  „du  hast  mich"  T  |  21  „m.  d.  Augen"  ocima:  oli  T  | 
„und  sähe"  <  T  |  23  „des  Herrn"  <  PM  |  24  „und  er  zog"  T  |  .  .  .  trestata:  „zu 
e.  Stab"  W2  |  27  „Werke":  „lieere"  GJ  |  28  „alle  üire  Fische' 
ihnen"  PM  |  30  W«  93  f. 


Die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  597 

bis  daß  er  kam  in  die  Hände  Abrahams.  Abraham  aber  gab 
ihn  Isaak,  Isaak  aber  gab  ihn  Jakob.  Jakob  aber,  als  er  floh 
in  das  armeniscbe  Land,  nahm  diesen  Stab  mit  sich.  Er  aber 
gab  ihn  dem  Josef  als  „Einen  Teil  über  das  Maß  seiner  Brüder". 
5  Und  es  geschah,  nach  dem  Tode  Josefs  plünderten  die  Aegypter 
das  Haus  Josefs,  und  es  fiel  zu  dem  Eaguel  jener  Stab.  Und 
er  pflanzte  ihn  in  die  Mitte  in  seinem  Garten.  Und  alle 
Krieger  versuchten  sich,  indem  sie  seine  Tochter  empfangen 
wollten  und  konnten  es  nicht,  bis  zur  Ankunft  Moses,  welchem 

10  er  bestimmt  war  [zu  empfangen],  dieser  zog  ihn  heraus.  Und 
es  geschah,  als  Eaguel  den  Stab  sah  in  den  Händen  Moses, 
wunderte  er  sich  und  gab  ihm  seine  Tochter  Semfora  zum 
Weib.  Mose  aber  war  siebenundsiebzig  Jare  alt,  als  er  herauskam 
aus    dem   Grefängnis;    und    er   nahm   die    Semfora,    die  Tochter 

15  Madiams,  sich  zum  Weibe.  Und  Semfora  wandelte  den  Weg 
der  Frauen  des  Hauses  Jakobs,  und  ward  in  nichts  geringer 
als  die  Gerechtigkeit  der  Sarrah  und  Rebekka  und  Rachel  und 
Lea.  Und  sie  empfing  und  gebar  einen  Son.  „Und  er  nannte 
seinen   Namen    Jersan,    sprechend:    Ich    war    ein    Pilgrim   im 

20  fremden  Land'^  Aber  er  beschnitt  nicht  sein  Fleisch  nach  dem 
Befehl  Raguels  seines  Schwiegervaters.  Und  es  geschah  an 
dem  Ende  des  dritten  Jares  empfing  sie  und  gebar  einen  Son. 
,,Und  er  nannte  seinen  Namen  Eleazar,  sprechend:  Denn  der 
Gott   meines  Vaters   ward   mir  Helfer   und   befreite   mich  von 

25  dem  Schwert  Pharaos'^ 

IX.     In   jenen  Tagen   saß  Moses    weidend    die  Schafe   des 
Vaters   der  Semfora,    Raguel   von  Madiam,    seines    Schwieger- 


3  „armenische":  1.  „aramäische",  Padan  Aram  G  |  „Er  aber":  „Und  Jakob" 
PM  I  4  Gen.  48,22  |  5  „plünderten":  dwelt  in  G  |  7  „Garten"  T  245  j  10  „zu  em- 
pfangen« <  PM  I  11  „Händen"  P  45  |  13  G  46,13  S.  121.  J  1278.  B  62.  W^  72  | 
18  W2  96  I  „Ziphora  empfing"  PM  |  „einen  Son"  M  173  ]  Ex.  2,22  |  19  „Gersan" 
PM  I  20  „fremden"  <  M  ]  22  Ex.  18,4  |  „empfing— Son"  <  M  ]  23  „sprechend" 
+  PM  I  25  „Pharaos" :  es  folgt  in  Pr  und  M  eine  Einschaltung  mit  der  Deutung 
der  „Ziphora"  auf  die  Kirche  aus  den  Heiden;  ferner  darüber,  daß  Gabriel  den 
Moses  belehrt  habe  über  die  Entstehung  der  Welt  und  des  Menschen,  über  den 
Lauf  der  Sterne  etc.;  darin  M  S.  173,17  (auch  Pr)  „In  jenen  Tagen  war  Mose 
gehend  in  der  Wüste  mit  den  Schafen  seines  Schwiegervaters,  den  Stab  Gottes 
aber  in  seiner  Hand,  und  fing  an  die  Weisheit  zu  lieben  etc."  und  S.  173,28 
(auch  pr)  „Und  Mose  weidete  die  Herde;  der  Stab  Gottes  aber  war  in  seiner 
Hand.  Und  er  kam  zum  Gebirge  Horeb.  Und  Mose  sah  einen  Dornbusch  stehend 
und  mit  Flamme  des  Feuers  brennend,  aber  der  Dornbusch  verbrannte  nicht 
von  der  Flamme."  Es  folgt  in  M  und  P  ein  an  Ex.  3  sich  anschließender  Bericht  i 
26  G  47,1.  S  122.  J  1279.  W^  72. 
Kgl.  ües.  d   Wiss.    Nachrichten.    Philolog.-hist.  Klasse.    1903.    Heft  6.  42 


ggg  N.  Bonwetsch, 

vaters.  Der  Stab  Gottes  aber  war  in  seiner  Hand.  Und  Gott 
eiferte  um  sein  Volk,  indem  er  hörte  (ihre)  Stimme.  Und  er 
sprach,  (sie)  heranszufüren  aus  der  Knechtschaft  der  Söne  Harns 
und  ihnen  zu  geben  das  Land  Kanaan  zu  beherrschen.  Und 
5  er  erschien  dem  Mose,  seinem  Knecht,  am  Horeb  in  einem  Dorn- 
busch brennend  von  Feuer.  Der  Dombusch  aber  verbrannte 
nicht.  Und  Gott  rief  inmitten  des  Feuers  und  befahl  ihm  nach 
Aegypten  zu  gehen  zu  dem  König  Aegyptens  Pharao,  damit 
er  das  Volk  ziehen  lasse.     Und  er   lehrte  ihn  Wunder  zu  tun, 

10  damit  sie  glaubten,  daß  Gott  ihn  gesandt  habe.  Und  er  verhieß 
ihm  und  sprach:  „Gehe,  kehre  zurück  nach  Aegypten,  denn 
es  sind  alle  gestorben,  die  deine  Seele  suchten".  Die  aber, 
welche  nach  ihnen  zurückgeblieben  sind,  haben  keine  Macht  dir 
Uebles  zu  tun.    Und  Mose  kehrte  zurück  nach  Madiam  und  sprach 

15  in  die  Oren  seines  Schwiegervaters  die  ganze  Rede.  „Und  er 
sprach  zu  ihm:  Gehe  mit  Frieden".  Und  Mose  stand  auf  und 
ging  mit  seinem  Weib  und  mit  seinen  Kindern.  Und  sie  waren 
in  der  Herberge,  und  der  Engel  Gottes  kam  hernieder  und 
wollte  den  Mose  töten,   weil   er   seine   beiden  Söne   nicht   be- 

20  schnitten  hatte  und  übertreten  hatte  das  Gesetz,  welches  Gott 
dem  Abraham  geboten.  Und  es  eilte  Semfora  und  nahm  einen 
Feuerstein  und  beschnitt  ihren  Son  und  errettete  ihren  Mann 
aus  der  Hand  des  Engels.  Und  Gott  erschien  dem  Aaron,  dem 
Leviten,   in  Aegypten,    als   er  wandelte   am  Ufer   des  Flusses. 

25  Und  er  „sprach  zu  ihm :  Gehe  dem  Mose  entgegen  in  die  Wüste. 
Er  ging  und  begegnete  ihm  in  der  Wüste  am  Berge  Gottes 
und  küßte  ihn''.  Und  er  erhob  seine  Augen  und  sähe  sein  Weib 
und  Kinder  sprach:  Wer  sind  diese?  Und  Mose  sprach:  Meine 
Kinder,    die   mir  Gott   gab   in  Madiam.     Und   es   war   böse  in 

30  den  Augen  Aarons.  Und  er  sprach:  Entlaß  das  Weib  und 
ihre  Kinder  in  das  Haus  ihres  Vaters.  Und  er  tat  so,  und 
Semfora  ging  und  ihre  zwei  Söne  in  das  Haus  ihres  Vaters, 
bis  zu  dem  Tag,  an  dem  Gott  seines  Volkes  gedachte  und  es 
ausführte  aus  Aegypten,  aus  den  Händen  Pharaos. 


6  Koran  Sure  20,8 f.  Jos.  Ant.  II,  12,1  |  10  Ex.  4,19  |  14  „Und":  P  46b,13. 
M  175,8  V.  u.  treffen  wieder  mit  TPp  zusammen  |  15  „d.  ganze  Rede":  „alles 
dies«  PM  I  Ex.  4,18  |  „Und  sein  Schwiegerv.  Raguel"  PM  I  17  Ex.  4,24  f.  | 
18  „Engel  d.  Herrn«  PM  |  19  „töten«  T  246  |  21  „es  eilte«  M  176  |  23  Jos.  Ant.  II,  13,1. 
G  47,3  S.  122.  J  1280  |  „Und«  <  T  |  „Gott«:  „d.  Herr«  PM  |  „dem  Lev.«:  „und 
Levi«  TMP  |  24  „wandelte«  P  47  |  Ex.  4,27  |  26  „Und  Aaron  ging«  PM  |  28  „Siehe 
mein  Weib  u.  m.  K.«  PM  |  30  „dein  Weib  u.  die«  PM  |  31  „er«:  „Mose«  PM  | 
33  „Gott« :  „der  Herr«  PM  |  „und  (<  P)  es«  <  T. 


Die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  599 

X.  Mose  und  Aaron  kamen  nach  Aegypten  zu  der  Ver- 
sammlung der  Söne  Israels.  Und  sie  taten  ihnen  kund  alle 
Worte  Grottes.  Und  das  Volk  freute  sich.  Und  sie  standen 
des  Morgens  früh  auf  und  gingen  in  das  Haus  Pharaos.  Und 
5  den  Stab  Gottes  nahmen  sie  in  ihre  Hand.  Und  es  geschah, 
als  sie  zu  den  Toren  des  Hauses  des  Königs  kamen,  und  zwei 
Löwen  standen  angebunden  mit  eisernen  Ketten,  und  kein  ein- 
ziger Mensch  konnte  herzunahen  oder  hineingehen,  one  allein, 
dem  der  König  befiehlt  zu  kommen ;  da  kommen,  die  sie  füttern, 

10  abzuwehren  die  Löwen  und  füren  ihn  (sie)  hinein.  Mose  aber 
und  Aaron  traten  herzu,  und  erhoben  den  Stab  gegen  die 
Löwen  und  es  wurden  gelöst  die  Löwen.  Und  Mose  und  Aaron 
kamen  in  das  Haus  des  Königs  und  die  Löwen  kamen  mit 
ihnen   in   das  Haus   des  Königs,    indem   sie  sich  freuten.     Und 

15  wie  sie  Pharao  sah,  verwunderte  er  sich  (und)  erschrak  sehr, 
denn  ihr  Blick  war  wie  von  Sönen  Grottes.  Und  er  sprach  zu 
ihnen:  Was  wollt  ihr?  Und  sie  sprachen  zu  ihm:  Unser,  der 
Ebräer,  Grott  hat  (uns)  zu  dir  gesandt,  zu  sagen:  Entlaß  mein 
Volk,    damit   es   mir   diene.     Und   Pharao   fürchtete   sich  sehr 

20  und  sprach  zu  ihnen:  Greht  heute  hinweg,  und  morgen  kommt 
zu  mir.  Und  sie  taten,  wie  ihnen  der  König  gesagt  hatte.  — 
Und  es  geschah,  wie  sie  hinweggingen,  sandte  der  König  und 
rief  herbei  den  Magier  Balaam  und  Janos  und  Arkis  seine 
Söne  und  alle  Zauberer  Aegyptens.    Und  sie  kamen  zum  König. 

25  Und  der  König  tat  ihnen  kund,  was  Mose  und  Aaron  geredet 
hatten.  Und  die  Zauberer  sprachen  zu  ihm:  Aber  wie  kamen 
sie  an  deinen  Löwen  vorbei.  Und  der  König  sprach  zu  ihnen : 
Sie  erhoben  nur  gegen  sie  einen  Stock,  und  die  Löwen  wurden 
los  und  liefen  zu  ihnen  sich  freuend.    Balaam  aber  antwortete 

30  und  sprach:  Siehe,  o  König,  es  sind  Zauberer  wie  wir. 
Aber  jetzt  schicke  nach  ihnen,  daß  sie  kommen,  damit  wir  ihre 


1  G  47,4  ff.  S.  123  f.  J  1280  f.  W^  73  |  „Und  Mose  sagte  alles  Aaron,  was 
ihm  Gott  geredet  hatte,  und  sie  kamen  n.  Aeg.  und  erschienen"  PM  |  3  „freute 
sich  über  diese  (ihre  P)  AVorte"  PM  |  5  „in  i.  H.":  „mit  sich"  PM  )  8  „oder  hin- 
ausgehen" PM  I  11  „traten  h."  priidosta:  „fürten  sie  h."  privedosta  T  |  12  „w.  ge- 
löst d.  Löwen«:  „lösten«  T  |  „Mos.  u.  A.« :  „sie«  T  |  13  „in  d.  H.  d.  Kön.«  <PM  | 
16  „er«:  „d.  König«  PM  |  „zu  ihnen«  <  PM  |  17  „Unser— sagend«  <  PxM  j 
18  „Entlaß— diene« :  „Entlaß  uns  in  die  Wüste,  damit  wir  ein  Opfer  darbringen 
depi  Herrn  unserm  Gott  und  ihm  dienen«  PM  |  20  „hinweg«:  „in  euer  Haus« 
-f  PM  1  21  „taten«:  „gingen  hinaus«  PM  |  22  „und  er  sandte«  T  j  „und  rief  herbei 
den«!  „nach  den«  M  |  23  „Balaam«  T  247  |  „Enos  und  Akris«  M  |  24  „U.  s.  k. 
z.  Kön.«  <PM  I  26  „Aber«  <  P'M  |  27  „vorbei«:  „sage  uns«  -f- PrM  |  „zu  ihnen« 
<T  I  28  „d.  Löwen«:  „sie"  T  |  30  „wie"  M  177  |  31  „kommen":  „zu  uns"  +  PM. 

42* 


QQQ  N.  Konwetsch, 

Rede  erproben.  Und  der  König  tat  also.  Und  sie  nahmen  den 
Stab  Gottes  in  ihre  Hände  und  kamen  zum  König  und  sprachen 
zu  ihm  die  Worte  Gottes.  Und  der  König  sprach  zu  ihnen: 
Aber  wer  wird  euch  Glauben  schenken,  daß  ihr  Gesandte  Gottes 
5  seid  und  nach  seinem  Wort  gekommen?  Gebt  uns  ein  Zeichen, 
damit  eure  Rede  bekräftigt  werde.  Und  Aaron  warf  eilend 
seinen  Stab  vor  den  König  und  vor  seine  Grossen,  und  er  ward 
eine  Schlange.  Und  die  Zauberer  taten  ebenso  und  warfen 
ihre  Stöcke  hin,  und  sie  wurden  Schlangen.  Und  die  Schlange, 
"  10  welche  geworden  war  in  dem  Stabe  Moses,  erhob  ihr  Haupt  und 
verschlang  die  Schlangen  der  Magier.  Und  der  Magier  Balaam 
sprach:  Es  ist  schon  geschehen  von  den  ersten  Tagen  an,  daß 
eine  Schlange  ihre  Genossen  verschlang  wie  ein  Fisch  des  Meers 
seine    Gefährten   verschlingt.     Aber   jetzt    mache    deinen  Stab 

15  wieder,  wie  er  zuvor  war,  daß  wenn  du  kannst,  er  ein  Stab 
werde  und  unsere  Stäbe  werden  verschlungene  Stäbe,  damit 
wir  erkennen,  daß  der  Geist  Gottes  in  dir  ist.  Wenn  du  aber 
nicht  kannst  sie  zu  verschlungenen  (machen),  so  bist  du  ein 
Zauberer  wie  wir.     Und  Aaron   streckte   seine  Hand   aus   und 

20  ergriff  die  Schlange  am  Schwanz,  und  sie  ward  zum  Stab 
in  seiner  Hand;  und  es  wurden  auch  jene  Stäbe  wieder 
wie  zuvor,  und  der  Stab  Aarons  verschlang  die  Stäbe  der 
Zauberer. 

XI.    Und   Pharao   befahl   zu   bringen   die   Schriften   aller 

25  Götter  Aegyptens,  und  man  las  sie  vor  ihm.  Und  er  sprach: 
Siehe,  wir  haben  euren  Gott  nicht  gefunden  in  diesen  Schriften 
noch  habe  ich  kennen  gelernt  seinen  Namen.  Sie  antworteten 
und  sprachen  zu  dem  König:  Adonai  Sabaoth  ist  sein  Name. 
Und  Pharao  sprach:  Wo  ist  Adonai?    Wenn  ich  ihn  sähe  und 

30  seine  Stimme  hörte,  würde  ich  Israel  entlassen;  aber  Adonai 
nicht  kennend,  entlasse  ich  Israel  nicht.  Und  sie  sprachen: 
Der  Name  des  Gottes  der  Ebräer  wurde  genannt  auf  uns  von 

1  „also":  „und  sandte  nach  ihnen"  +  PM  |  3  „Gottes":  „so  redend"  und 
Ex.  5,1b  +  PM  I  5  „und— gekommen"  <  PM  |  „Gebt  uns":  „Und  was  tut  ihr  für« 
PM  j  6  Ex.  7,10—12  1 8  „eine  kriechende  Schlange"  PM  |  Jos.,  Ant.  II,  13,3  |  „ebenso" : 
„wieder"  T  |  9  „Schlangen" :  eine  kurze  Erläuterung  in  PM  |  10  „gew.  war"  <  PM  | 
„erhob  sich  und"  T  |  „Moses":  „Aaron's"  G  |  11  „der  Magier"  -f  PM  |  15  „er 
e.— und"  <  T  I  18  „sie— machen"  <  PM  |  21  „es  wurden"  <  PM  |  22  „und— 
Zauberer"  <  PM  |  24  G  47,8  S.  124.  J  1281.  W^  61.  108.  W«  74  |  „die— Aeg.": 
„alle  ägyptischen  Bücher"  PM,  „das  Buch  der  ägypt.  Könige,  worin  waren  die 
Namen  aller  ägypt.  Götter"  G  |  27  „ich  habe  kennen  gelernt"  vedech :  v5de  J, 
„gesehen"  vidg  PM  |  29  „sähe"  T  248  |  31  „kennend"  v^daja:  v6daju  TPM  |  32 
„wurde  genannt"  vüzvaäasja:  vuzvalosja  TPp. 


Die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  601 

den  Tagen  unserer  Vorfaren.  Und  jetzt  laß  uns,  damit  wir 
in  die  Wüste  gehen,  damit  wir  ein  Opfer  opfern  unserem  Grott. 
Seit  Israel  herabkam  nach  Aegypten,  seither  hat  er  nichts 
empfangen  von  unserer  Hand.  Wenn  du  aber  uns  nicht  läßt, 
5  so  sei  wissend,  daß  er  erzürnt  und  schlägt  (zu  Tode)  das  Land 
Aegyptens  mit  Pestilenz  oder  mit  dem  Schwert.  Und  Pharao 
sprach  zu  ihnen:  Zeiget  (Saget)  mir  seine  Macht  und  Stärke. 
Und  sie  sprachen  zu  ihm:  Er  hat  den  Himmel  gemacht  und 
alle  seine  Macht  (Heer?)  und  die  Erde  und  alles,    was  auf  ihr, 

10  und  das  Meer  und  alle  seine  Eische,  und  er  hat  erzeugt  das 
Licht  und  hat  erzeugt  die  Finsternis,  und  er  sendet  ßegen 
und  tränkt  die  Erde,  und  hat  gemacht  den  Menschen  und  das 
Vieh  und  die  Tiere  des  Waldes  und  die  Vogel  des  Himmels 
und  die  Fische  des  Meers.    Er  hat  auch  dich  gemacht  im  Leib 

15  deiner  Mutter,  er  hat  in  dich  gelegt  den  Greist  des  Lebens. 
Und  er  hat  dich  großgezogen  und  dich  gesetzt  auf  den  Tron 
deines  Königreichs.  Er  wird  auch  deinen  Greist  von  dir  nehmen 
und  dich  ,, zurückgeben  in  die  Erde,  von  der  du  genommen  bist'^ 
Und  Pharao  erzürnte  über  sie  und  sprach :  Aber  wer  ist  unter 

20  allen  Göttern  der  Völker,  der  mir  also  tun  kann  ?  Meine  Hand 
aber,  was  ich  selbst  gemacht  habe. 

XII.  Und  Grott  erhob  seinen  Zorn  wider  Pharao  und 
wider  sein  Volk.  Und  Gott  schlug  mit  großer  Plage  den 
Pharao    und   die    Aegypter.      Und    er   wandelte    ihre   Wasser 

25  in  Blut.  Und  er  fürte  über  ihr  Land  Frösche.  Und  indem 
die  Leute  das  Wasser  tranken,  kamen  hinein  in  ihre  Ein- 
geweide die  Frösche,  und  quakten  dort  in  ihnen.  Und  in 
ihre  Kessel  und  in  die  Hefe  ihres  Teigs  krochen  sie  und 
in   ihre    Betten.     Und    es    fielen   auf  ihre    Brust   Läuse.     Sie 

30  wurden    hoch   zwei  Ellen;    und   auf  ihrem  Fleisch   waren   sie 


1  „den  Tagen"  P  48  |  „Vorfaren"  <  PM  |  2  „dem  Herrn,  unserm  Gott"  PM  [ 
3  „Denn  seit"  PM  !  5  „und"  -}-  M  i  6  „Aegyptens"  M  178  |  13  „Yögel" :  „Sterne" 
Pr  I  14  „im  Leib— er  hat"  +  PM  |  17  „Er— bist"  <  P'M  |  18  Gen.  3,19  \  19  „Aber": 
„Und"  P,  <  M  I  20  „Hand"  ruka :  1.  „Fluß"  reka,  vgl.  W^  75  „Mein  ist  der  Nil, 
ich  habe  mich  erschaffen",  W^  61  und  Geiger  S.  161  „Ich  habe  sowol  mich  selbst 
als  den  Nil  gemacht"  (Ez.  29,3)  |  21  „was"  jaze:  „womit"  ejuze?  ]  „mich  selbst" 
T  I  22  „Und  er  erzürnte  über  sie  sehr  und  befahl  ihnen  große  Vergewaltigung 
anzutun,  (nämlich)  den  Aegyptern  den  Israeliten"  P'M,  dann  Ex.  5,22 — 6,4  | 
W2  „Und  Pharaos  Zorn  entbrannte"  |  G  48,1  ff.  S.  125  f.  J  1282  ff.  Vgl.  Jos., 
Ant.  n,  14.  Wi  161.  W2  75  I  23  P  bricht  ab  |  M  breiter  nach  Ex.  7,20—22.  24  f.  | 
24  M  breiter  nach  Ex.  8,1.  5  f.  |  25  M  S.  179,17  |  26  „die  Leute" :  „sie"  T  |  27  „die 
Frösche" :  „sie"  M  |  „dort"  tamo :  „so"  tako  T  |  28  „Hefe" :  vielleicht  „Wasser"  T  | 
,, machten  hoch"  T. 


6Q2  N.  Bonwetsch, 

wie  Fäuste  und  höher.  —  Und  Grott  sandte  auf  sie  die  Tiere 
des  Feldes  sie  zu  zerreißen  und  Schlangen  und  Skorpionen  und 
Mäuse,  und  Käfer  in  ihre  Augen.  Und  sie  gingen  hinein  in 
ihre  Häuser  und  verschlossen  sich  in  den  innersten  Kammern. 
5  Auch  dahin  ging  hinein  das  Tier  Silonith,  das  im  Wasser  lebt, 
und  es  hat  Arme  von  zehn  Mannesellen,  und  es  stieg  auf 
das  Haus  und  deckte  es  auf  und  die  Hand  ausstreckend  öffnete 
es  das  Schloß.  Und  die  wilden  Tiere  krochen  dort  hinein. 
Und  er  tötete  ihr  Rindvieh   und  Kameele  und  ihre  Schafe.  — 

10  Und  Grott  verbrannte  ihr  Fleisch  mit  Feuer.  Und  es  waren 
Beulen  an  ihnen  von  den  Füßen  bis  zum  Haupt  und  ihr  ganzer 
Leib  stank.  Er  zerschlug  mit  Hagel  ihren  Wein  und  alle  Bäume 
Aeg3rptens,  nichts  blieb  von  ihnen  zurück.  Und  er  verbrannte 
alles  Gras  des  Feldes,  und  die  Menschen  und  das  Vieh,  welche 

15  auf  ihm  gefunden  wurden,  starben  vom  Hagel.  Und  er  brachte 
über  sie  Heuschrecken  und  sie  verzehrten  das,  was  übrig  war 
vom  Hagel.  Und  die  Aegypter  freuten  sich  und  sprachen :  Das 
ist  uns  Speise,  und  sie  salzten  ihrer  eine  Menge.  Und  Grott 
sandte    über   sie   einen   starken  Wind   aus    dem  Meer,   und   er 

20  nahm  die  Heuschrecken  und  warf  sie  in  das  Meer  auch  die  ge- 
salzten und  ließ  keine  einzige  Heuschrecke  zurück  im  ganzen 
Land  Aegypten.  —  Und  er  sandte  eine  Finsternis  auf  drei  Tage, 
daß  niemand  seinen  Bruder  sah,  daß  er  nicht  einmal  seine 
Hände    zu    seinem   Mund  füren    (konnte).    —    Es    waren    aber 

25  Ebräer,  welche  nicht  gehorchten  Mose  und  Aaron,  die  sprachen : 
Wir  wollen  nicht  in  die  Wüste  gehen,  (dass)  wir  nicht  sterben 
von  Hunger  und  Pestilenz.  Grott  tötete  sie  in  diesen  drei  Tagen 
der  Dunkelheit,  damit  es  die  Aegypter  nicht  wüßten  und  sich 
freuten  und  sprächen:  Es  ist  die  Plage  Gottes  über  uns  ebenso 

30  wie  über  jene.     Und  Gott  warf  heraus  die  Dornen  aus  seinem 


1  „waren  s.  .  .  u.  höh.":  „machten  sie  hoch"  M  |  „Und  Gott"  M  179,2 
V.  u.  I  Jos„  Ant.  II,  14,3  (303)  S.  146,18  ff.  &r}Qi(ov  yag  nawoiav  y.ul  noXv- 
tgSncov,  a)v  stg  otpiv  oidslg  6cm]vxriv,Bt,  tcqoxbqov,  rr}v  xmgav  avxuiv  ^yi^ioiv  j 
3  „Käfer"  M  180  |  4  auch  W«  107  |  5  „Silonith":  „Nemlothen"  M  i  6  „Arme« 
T  249  I  „auf" :  „mit  den  Händen"  -f  M  |  „zerbrach  es  die  Schlös8er"M  |  8  „die 
wüden  T.":  „sie"  M  |  „Gott  sandte  böse  Tiere  über  sie"  T  |  „krochen  hinein" 
lazjachu:  kaznjachu  T  |  9  „und  K.— Schafe"  <  M;  breiter  G  |  in  M  Ein- 
schaltungen aus  Exodus,  aber  <  —  „Hagel"  Z.  15  |  11  Ex.  9,10.  Jos.,  Ant. 
II,  14,4  I  12  Ex.  9,23.  P  247,16  |  15  Ex.  10,13.  15.  19.  M  183,30  |  18  „salzten" 
solisa:  „siedelten  sich  an"  naselüasja  M  |  20  „auch  die  gesalzten"  <  M  |  22  Jos., 
Ant.  il,  14,5.  Ex.  10,22.  M  184,6.  W^  S.  100  f.  |  24  „Es  waren— Weinberg"  S.  603,1 
<  M  I  30  „Und— Weinberg"  <  GJ. 


Die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  603 

Weinberg.  —  Und  er  nahm  alle  Erstgeburt  des  Landes  Aegyptens 
von  Menschen  bis  zum  Vieh.  Und  sogar  die  Bilder  ihrer  Erst- 
geburt, die  an  die  Wand  gezeichneten,  auch  diese  wurden  zer- 
stört, und  welche  waren  hölzern  oder  golden  oder  silbern,  sie 
5  wurden  zerschmolzen,  und  die  Erstgeburten,  die  unlängst 
begraben  waren,  die  zogen  die  Hunde  heraus  und  legten  die 
vor  die  Väter  und  vor  die  Mütter.  —  Und  es  riefen  mit  lauter 
Stimme  die  Söne  Hams :  Entlaßt  die  Ebräer.  Und  sie  ge- 
leiteten  hinaus   die    Knechte   Gottes    mit    vielen    Grütern    und 

10  Greschenken,  wie  die  Verheißung  Grottes  zu  Abraham  ihrem 
Vorvater. 

XII.  Und  Mose  stand  auf  und  begann  anzusagen,  [wer 
kund  tat  dem  Jakob,  daß  Josef  lebe  in  Aegypteu,  und]  von 
den   Grebeinen  Josefs,    wie    sie   aufzufinden    [wie   sie   gefunden 

15  sind  in  Aegypteu  nach  vierhundert  Jaren,  wie  die  Juden  an- 
beten das  Haupt  des  Kalbes].  Daß  Josef  am  Leben  sei  tat 
kund  Juda  der  Maria  der  Tochter  Jakobs,  und  sie  rief  aus  zu 
ihrem  Vater  und  sprach:  0  Vater,  Josef  lebt.  Jener  aber 
legte  seine  Hand  auf  ihr  Haupt  und  sprach:  Auch  du  Tochter 

20  sollst  leben  in  Ewigkeit.  Und  sie  war  lebendig  vierhundert 
Jare.     Sie  aber  tat  Mose  kund,  wo  die  Gebeine  des  Josef  sind. 


1  Ex.  12,29.  M  186,12.  Jos.,  Ant.  II,  14,6.  G  48,9  S.  127.  J  1284  |  2  „Und": 
„Unter  allen  Göttern  Aegyptens.  Und"  M  |  „die  Bilder  aller  ihrer  Erstgeburt"  M  | 
5  „zerschmolzen"  razlivachu<sja> :  ,, zerstört"  razbivachusja  T  {  8  „Hams" :  „zum 
König"  +  M  I  Ex.  12,33.  36  |  „Und— Vorvater  in  M  nach  Ex.  12,34  ff.  |  In  M  folgt 
S.  186,8  V.  u.  „Im  Jar  des  Moses  herrschte  in  Aegypten  der  Pharao  Petisonij. 
Dieser  Petisonij,  der  König  Aegyptens,  vor  der  Entlassung  der  Söne  Israels  ging 
in  die  Stadt  Memphis,  das  Orakel  zu  befragen  („befragte"  M).  Und  nachdem  er 
geopfert,  fragte  er  die  Pythia,  sprechend:  Tue  mir  kund:  Ist  Gott?  Und  ihm 
ward  eine  Weissagung  gegeben  also :  Er  ist  eine  große  Kraft  vom  Himmel  herab- 
kommend, brennendes  und  unsterbliches  Feuer,  davon  der  ganze  Himmel  zittert 
und  die  Erde,  das  Meer  und  die  Unterwelt.  Dieser  Gott  ist  derselbe  Vater,  der- 
selbe [Vater]  auch  Son,  überaus  herrlich  Einer,  ein  kleiner  Teil  aber,  wie  von 
den  Engeln  gehört  habend,  gehe  schweigend  (so).  Der  König  Pharao  aber  befahl 
(vielleicht:  Gehört  habend  ging  schweigend  der  Kön.  Ph.  und  befahl)  diese  War- 
sagungen  einzugraben  in  steinerne  Tafeln  der  Weissagung,  welche  sind  auf  dem 
Berge  im  Tempel  zu  Memphis  bis  heute,  wo  der  Nilfluß  herausgeht.  Und  ge- 
kommen von  der  Warsagung  ließ  er  heraus  die  Söne  Israels,  wie  Mose  ge- 
schrieben in  seinen  sehr  weisen  Annalen"  |  12  T  250.  M  188,2.  G  kurz  48,11  | 
13  „dem  Jakob"  <  M  |  „und":  „er  begann  anzusagen"  M  |  14  „wie  sie— Kalbes" 
<  M  I  16  Gr.  S.  149  ff.  nach  einer  Talmudstelle  zu  Ex.  13,19  (nur  ist  es  hier 
Serach,  die  Tochter  Aschers)  und  nach  dem  Jerus.  Targum  zu  Gen.  46,17  |  „daß 
.  .  am  Leben  sei"  -f  M  |  17  „Juda  .  .  der  Maria'*  <  M  |  „und  .  .  und"  -f-  M  I 
21  Wi  163.   W2  77. 


ß()4  N.  Bonwetsch, 

Es  ist  ein  Fluß  in  Aegypten,  sein  Name  Vol  (1.  Nil),  und  da- 
selbst waren  die  Gebeine  Josefs  versenkt  in  einem  bleiernen 
Sarg.  Und  als  der  Herr  Grott  zu  Mose  sprach:  Füre  mein  Volk 
aus  Aegypten  mit  allem  seinem  Besitz ,  da  machte  Gott  ihm 
5  sieben  Nächte  zu  einer  Nacht.  Und  Mose  begann  zu  suchen 
die  Gebeine  Joseph,  gehend  mit  Lichtern.  Und  Maria  begeg- 
nete ihm  und  sprach  zu  ihm :  In  diesem  Fluß  sind  die  Gebeine 
Josefs.  Mose  aber  nahm  die  Fackeln  und  nahm  mit  sich 
dreißig  Mann  und  ging  über  den  Fluß  Yol  und  sprach :  Errege 

10  dich  Wasser  und  gib  heraus  die  Gebeine  Josefs.  Und  es  geschah 
keine  Erscheinung,  Und  er  sprach  wieder  zum  zweiten  Mal, 
<und)  es  geschah  keine  Erscheinung.  Und  wieder  zum  dritten 
Mal  schrieb  er  auf  das  Papier  (die  Tafel?)  und  sprach:  Vol, 
errege    dich,    und    lege    es    auf   das    Wasser.      Und    es    ging 

15  heraus  der  Sarg  Josefs.     Mose  aber  ward  froh,  und  nahm  den 

Sarg.     Das  Papier   (die  Tafel?)    aber   nahm   er  nicht,    sondern 

es  trat  herza  ein  Herzensharter  von  ihnen,    der  nahm  es,    ein 

Jude.     Und  viele  nahmen  mit  sich  die  Häupter  ihrer  Väter, 

XIII.     Und  viele  Fremdlinge   gingen  mit  ihnen  drei  Tage 

20  lang.  Und  es  geschah  am  dritten  Tag,  und  sie  sprachen  zu 
Mose  und  Aaron:  Siehe  schon  drei  Tage  seid  ihr  gegangen, 
aber  morgen  kehrt  nach  Aegypten  zurück,  wie  ihr  gesagt 
habt.  Jene  aber  antworteten  und  sprachen  zu  ihnen:  Er  hat 
uns  befohlen,  daß  wir  nicht  wieder  zurückkehren  nach  Aegypten, 

25  sondern  gehen  in  das  Land,  wo  Milch  and  Honig  fließt.  Jene 
aber  fingen  an  mit  ihnen  zu  kämpfen,  und  sie  töteten  viele 
von  ihnen  und  gaben  ihnen  eine  große  Niederlage.  Die 
andern  aber  von  ihnen  entflohen,  und  taten  Pharao  kund,  was 
er  getan  hatte.    Und  Gott  „verhärtete  das  Herz  Pharaos",  ihnen 

30  nachzujagen  und  sie  in  die  Knechtschaft  zurückzubringen.  Und 
sie  jagten  ihnen  nach  und  ereilten  sie.  Jene  aber  lagerten  am 
roten  Meer.  Und  Gott  machte  erstaunlich  seine  Wander.  Und 
Mose  reckte  seinen  Stab  aus   über   das  Meer.    Und  das  Meer 


1  „Vol«:   „Stier"    (vgl.  Dt.  33,17   von  Josef  und  Gr  S.  152):   „Voild"  M  | 

6  „gehend"   chodja:    „wollend"    chotja  M  |  „Maria":   „die  Tochter  Jakobs"  M  | 

7  „Fl.  Voildai"  M  |  8„  die  Fack.  u."  <  M  |  9  „über— Vol" :  „ging  auf  einen  Berg  und 
<8prach>  M  |  besser  „Steige  empor  Voild"  M  \  14  „Voild"  M  |  15  „d.  Sarg": 
„diesen"  T  |  17  „v.  ihnen"  <  M  |  „ein  Jude":  nach  dem  Midrasch  zu  Ex.  32,4 
ist  es  der  Micha  Rieht.  17  f.  |  18  „Häupter":  „Särge"  G  j  19  G  48,10  f.  S.  127 f. 
J  1286  f.  W2  78.  G  breiter  |  20  „nach  drei  Tagen"  M  |  21  „sind  v^^ir"  M  |  22  „aber" 
<  M  I  23  „zu— Er*' :  „Der  Herr"  M  |  28  „und— hatte"  <  M  |  29  „Und  etc." :  M  nach 
Ex.  13,20flF.  14,1  flf.  I  Ex.  14,8  f.  |  32  „Und  Gott  etc." :  M  189,26  I  33  „s.  Hand"  M  | 
nach  „Meer"  M  „und  schlug  mit  seinem  Stab  in  das  rote  Meer,  wie  ihnen  der 
Herr  gesagt  hatte". 


die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  605 

teilte  sich  in  zwölf  Teile,  es  ging  ein  jeder  von  ihnen  nacli 
seinem  Greschleclit ;  nnd  sie  gingen  hindurch  auf  Trockenem. 
Pharao  aber  jagte  ihnen  nach  in  das  Meer  auf  Wagen  und  auf 
Rossen.  Und  die  Aegypter  ertranken.  Den  Pharao  aber  er- 
5  rettete  Gott  aus  der  Flut,  und  der  Engel  Gottes  fürte  ihn  in 
die  Stadt  Ninive.     Und  er  war  daselbst  König  neun  Jare. 

XIV.  Raguel  aber  der  Madiamiter,  der  Schwiegervater 
Moses,  ging  in  die  Wüste  mit  Semfora  und  mit  ihren  beiden 
Sönen   und   sie   saßen  inmitten  Israels.     Den  Sihon  aber,    den 

10  König  der  Amoriter,  und  Og,  den  König  von  Basan,  tötete 
Mose  und  nahm  weg  ihr  ganzes  Land.  Und  er  schlug  die 
Zusammensetzungen  der  Heere  der  Madiamiter  und  tötete  (?) 
fünf  Könige  der  Madiamiter:  den  Evi  und  Eekim,  Zjur  und 
Chur  und  Eeban.    Den  Balaam  aber  mit  den  zwei  Sönen  töteten 

15  sie  mit  dem  Schwert.  Er  war  aber  geflogen  wie  ein  Adler 
empor.  Eleazar,  der  Son  Aarons ,  und  Phineas  sein  Son ,  die 
Peldherrn  Israels,  sprachen  den  heiligen  Namen  ans  und  warfen 
ihn  herunter  auf  die  Erde  und  töteten  ihn.  Die  Kanaaniter 
aber  sitzend   auf  einem  Gebirge.     Und   er   ging  gegen  sie  mit 

20  Krieg.  Und  Gott  gab  sie  in  die  Hände  Moses,  und  sie  töteten 
sie.  Mose  aber  war  fünfzig  Jare  alt,  als  er  trat  vor  den 
König  Pharao.  (Und)  Gott  fürte  sein  Volk  aus  und  vertraute 
sie  dem  Mose  aus  dem  Land  Aegypten.  Und  er  ward  König 
über  Israel  in  der  Wüste  vierzig  Jahre,  es  speisend  mit  Manna 

25  und  mit  den  Vögeln  des  Himmels.  Bei  Meriba  (?)  aber,  wo 
ging  das  Wasser  nach  ihnen.  Bei  Aaron  (so)  aber  ging  das 
Wasser  in  einer  Wolke,  und  als  eine  Wolkensäule  vor  ihnen 
am  Tag  nnd  als  eine  Eeuersäule  in  der  Nacht. 

XV.  Und  die  Juden  riefen  zu  Mose:   Zeige  uns,  wen  wir 
30  anbeten  sollen.    Mose  aber  ging  auf  den  Berg  zu  Gott,  nachdem 

er  Aaron  an  seiner  Stelle  zurückgelassen,  und  befahl  ihnen  auf 


1  „Teile":  1.  „Wege"  M;  vgl.  Gr.  166 f.,  nach  der  arabischen  Erklärung  zu 
Sure  26,63  |  „es  ging  hindurch  ein  jeder  Stamm  auf  seinem  Wege  auf  Trockenem 
inmitten  des  Meeres"  besser  M  |  Ex.  14,22  |  3  „in  das  Meer":  „und  als.  er  war 
inmitten  des  Meeres  mit  seinen  Kriegern"  M  |  Ex.  14,23  |  4  „alle  Aegypter"  M  | 
„Den  Pharao"  etc.  T,  vgl.  G,  <  M;  dagegen  M  nach  Ex.  14,27  f.  15,20  f.  |  Vgl. 
Koran  10,90  ff.  bei  Geiger  S.  162  |  6  „neun":  „500"  G,  „400"  W*  |  7  G  48,13  f. 
S.  128 f.  J  1289.  In  M  weiterhin  nur  aus  Exod.  Genommenes;  dazu  S.  190,22  die 
Sage  vom  Holz,  wodurch  das  Wasser  süß  gemacht  wurde,  vgl.  Veselovskij  im 
Sbornik  der  St.  Petersburger  Akademie  Bd.  32  (1883)  S.  387  f.  1  11  „schlug": 
„machte"  sütvori  T  \  21  „fünfzig":  „achtzig"  G  |  25  „Bei  — ihnen"  verderbt;  für 
den  Sinn  vgl.  G  S.  129  from  the  flinty  rock  He  brought  forth  fountains  of  water 
for  them  1  marjiz  T  |  „wo«  T  252  |  27  Ex.  13,21  |  29  G  48,16    S.  129.    J  1290. 


ßOQ  N.  Bonwetsch, 

ihn  zu  warten  bis  zum  vierzigsten  Tag.  Und  Grott  sprach  zu 
Mose,  dem  Sone  Levis,  redend:  Steige  zu  mir  hinauf  auf  den 
Berg,  und  ich  werde  dir  steinerne  Tafeln  geben,  das  Gesetz 
und  die  Gebote,  die  ich  aufgeschrieben  habe,  und  lehre  die 
5  Söne  Israels  und  heilige  das  Volk  in  drei  Tagen.  Am  dritten 
Tag  stieg  er  auf  den  Berg,  am  sechsten  Tag  des  dritten 
Monats,  d.  i.  Juni.  Und  Gott  gab  Israel  sechshundert  und 
dreizehn  Gebote  geläutert  wie  Silber,  im  Schall  der  Posaune, 
im  Donner  und  in  Blitzen  und  in  Bränden  des  Feuers. 

10  Und  plötzlich  als  aus  ging  der  zwölfte  Tag,  ergriffen  Juden 

Steine  wider  Aaron:  Tue  uns  kund,  wen  wir  anbeten  sollen. 
Er  aber  sprach :  Nehmt  weg  die  Armbänder  von  euren  Frauen 
und  ziehet  ab  bei  euren  Kindern  die  Schmuckgeräte.  Jene 
aber  nach  ihrer  Herzenshärtigkeit  zogen  sie  ab   und   brachten 

15  sie  zu  Aaron.  Und  sie  legten  sie  in  ein  Gefäß.  Jener  Jude 
aber  legte  jene  Tafel  unbemerkt  hinein.  Und  sie  zündeten 
an  ein  Feuer  und  machten  sich  das  Haupt  eines  Kalbes.  Und 
der  Herr  sprach  zu  Mose:  Dein  Volk  hat  gesündigt,  da  sie 
anbeten    das  Haupt   eines  Kalbes.     Und  Mose   kam  vom  Berg 

20  und  eiferte  um  den  Namen  Gottes.  Und  er  erzürnte  sich  über 
Aaron  und  über  alles  Volk,  das  so  getan  hatte,  und  warf  im 
Entsetzen " die  Tafeln  aus  seinen  Händen,  auf  die  Gott  ihnen 
sein  Gesetz  geschrieben,  und  sie  zerbrachen.  Und  Mose  befahl 
das  Haupt    des  Kalbes   zu   zerschlagen   und   es   klein    zu    zer- 

25  schlagen.  Und  sie  taten  so.  Und  er  befahl  ihnen  dieses 
Wasser  zu  trinken,  damit  an  ihnen  ein  Zeichen  erscheine.  Und 
wie  sie  tranken  und  sich  niederwarfen  erkannte  Mose,  wer 
etwas  hineingeworfen  in  das  Haupt  des  Kalbes,  der  eine  Gold, 
der  andere  Silber,    ein  anderer  aber  Erz  und  ein  anderer  Blei, 

30  und  dies  alles  war  ihnen  auf  den  Lippen.  Aber  wer 
nichts  hineinwarf,  die  standen  rein  auf  vom  Wasser.  Und 
Mose  befahl  alle  Uebeltäter  zu  töten.  Und  er  sprach:  Jetzt 
steige  ich  zum  zweiten  Mal  hinauf  zu  Gott,  ob  etwa  ich  euch 
losbitte  von    euren   Sünden.     Und   Gott    vergab   ihre   Sünden. 

35  Jene  aber  sprachen  zu  Mose:  Woran  erkennen  wir  die  Ver- 
gebung unseres  Gottes  für  unsere  Sünde.  Alsdann  aber  befahl 
Gott  dem  Mose  zu  machen  das  Zelt  des  Zeuo:nisses  unter  ihnen 


5  Ex.  19,10.  IG.  20  I  8  Ps.  12,7  |  Ex.  19,16  |  10  „Und— im  vierzigsten  Jar" 
8.  607,2  <  G  !  12  Ex.  32,2.  3  |  17  vgl.  Ex.  32,4  |  18  Ex.  32,7  |  20  Ex.  32,19  | 
23  Ex.  32,20  |  30  M  203,0  f.  |  „alles«  T  ^53  |  32  Ex.  32,27,  vgl.  Koran  20.87  bei 
Geiger  S.  166  |  33  Ex.  32,30.  |  37  Ex.  25,8.  40,2. 


die  Mosessage  in  der  slavischen  kirchlichen  Litteratur.  607 

zu  wonen,  damit  sie  erkennten,  daß  die  Sünde  vergeben  ist. 
Dies  im  vierzigsten  Jar.  Und  alsdann  machten  sie  ihm  das 
Zelt  des  Zeugnisses,  das  Heiligtum  und  die  Cherubim  (und)  die 
Lade,  den  Leuchter  und  Altar,  Oel  (?)  zu  leuchten  und  zu  salben 
5  den  Aaron  mit  den  Sönen,  den  Dienern  Gottes,  und  die  heiligen 
ihnen  gemachten  Grewänder.  Die  Söne  Levis  aber  standen  zur 
Hut  und  zu  Liedern  vor  den  Altären  („Priestern"  ?)  Gottes. 
Und  das  Rauchopfer  .  .  abzuwehren  den  Zorn  von  dem  Volk 
Gottes. 

10  XVI.     Und  darnach  im  vierzigsten  Jar  starb  die  Prophetin 

Mariam,  die  Schwester  Moses  und  Aarons,  am  zehnten  Tag  des 
ersten  Monats  und  „sie  ward  begraben"  in  Kadesch,  das  ist 
im  April.  „Und  es  war  kein  "Wasser  für  das  Volk".  —  Und 
in  demselben  Jar   am   ersten   des  fünften  Monats  und  es  starb 

15  Aaron  und  ward  begraben  auf  einem  Berge.  Und  die  Wolken 
gingen  hinweg  und  waren  von  allen  gesehen.  Und  seine  Söne 
empfingen  den  Dienst  bis  in  alle  Ewigkeit.  —  Am  Ende  aber 
desselben  Jares  im  andern  (so)  Monat  Nadet  am  siebenten  Tag, 
das  ist  im  März,    starb  Mose,    der  Knecht  Gottes,   und  ward 

20  begraben  am  vierten  des  Monats  September  auf  irgend  einem 
Berg  durch  den  Archistrategen  Michael.  Denn  es  stritt  der 
Teufel  mit  dem  Engel  und  er  gestattete  nicht  seinen  Leib  zu 
begraben,  indem  er  sprach:  Mose  ist  ein  Mörder,  er  erschlug 
einen  Mann  in  Aegypten  und  verbarg  ihn  im  Sand.     Da  flehte 

25  Michael  zu  Gott,  und  es  ward  Donner  und  Blitz,  und  plötzlich 
verschwand  der  Teufel.  Michael  aber  begrub  ihn  mit  seinen 
(eigenen)  Händen.  Unserem  Gott  aber  sei  Ehre  in  alle  Ewig- 
keit.    Amen. 


2  G  48,16  I  3  „d.  Heiligtum"  svjatüo:  svetel  J  ]  8.  .,  vgl.  G  offered:  „fürte 
hinweg"  otvodila  T  |  10  G  48,17  S.  130  |  Num.  20,1.  2  |  12  „das  ist— Volk"  <  G  | 
14  Num.  20,28  |  15  „ünd-gesehen"  <  G  |  21  M  253,21  f.  [  24  M  253,33  f.  |  27  M 
253,2  V.  u. 


Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit. 

Von 

P.  J.  Blok. 

Vorgelegt  von  F.  Leo  in  der  Sitzung  vom  31.  Oktober  1908. 

Die  Frage  von  der  Trennung  der  Mederlande  vom  deutschen 
Reiche  ist  keineswegs  vom  rein  staatsrechtlichen  oder  vom  poli- 
tisch-geschichtlichen Standpunkt  völlig  zu  lösen.  Auch  diese 
Frage,  wie  jede  derartige  und  überhaupt  weitaus  die  meisten  auf 
historischem  Gebiet,  ist  komplizierter  Natur  und  nur  nach  Unter- 
suchung von  verschiedenen  Seiten  her  endgültig  zu  beantworten. 
Bis  jetzt  ist  sie  nur  vom  staatsrechtlichen  Standpunkt  angesehen  ^), 
eingehend  zuletzt  von  Rachfahl  ^)  in  seinem  trefflichen  Vortrag, 
1900  auf  der  VI.  Versammlung  deutscher  Historiker  zu  Halle  a.  S., 
dessen  Untersuchung  aber  erst  mit  der  Burgunderzeit  einsetzt. 
Lamprecht  ist  in  seinem  wie  immer  geistvollen  Buch,  das  für  das 
16.  und  17.  Jahrh.  auch  dieser  Frage  gegenüber,  wie  gewöhnlich, 
mit  breitem  Schwung  auch  den  andern  Elementen  der  geschicht- 
lichen Entwickelung  gerecht  zu  werden  sucht,  für  das  Mittel- 
alter hier  vielleicht  weniger  glücklich  gewesen  ^).    Pirenne  hat  sich 


1)  Zur  Literatur :  Grotius,  De  antiquitate  rei  publicae  Batavae,  c.  5 :  Van  der 
Schelling,  Aloude  Vryheid  en  Staatsregeering  der  Batavieren  (Rott.  1746);  Van 
Loon,  Historisch  Bewys,  dat  het  graafschap  van  Holland  .  .  .  altyd  een  leen  des 
Duytschen  Ryks  geweest  is  (Leiden,  1748);  Van  Mieris,  Leenhoorigheidt  van  het 
Graafschap  in  Holland  (Leiden,  1748);  Meer  man.  De  solutione  vinculi,  quod 
olim  fuit  inter  S.  R.  Imperium   et  Federati  Belgn  Respublicas    (Lugd  Bat.  1774). 

2)  Die  Trennung  der  Niederlande  vom  deutschen  Reiche,  in  Westd.  Zeitschr. 
XIX,  S.  79  ff. 

3)  Deutsche  Geschichte  V,  S.  544 ff.;  VI,  S.  37ff.,  G7ff,  250  ff,  272  ff,  297 ff. 


Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit.  509 

in  seiner  Grescliiclite  Belgiens,  dem  Plan  seines  Werkes  gemäß,  auf 
diese  liauptsäclilich  die  nördlichen  Niederlande  betreffende  Frage 
nicht  näher  eingelassen  als  die  Behandlung  des  Augsburgischen 
Vertrags  von  1548  forderte.  Es  ist  nicht  mein  Ziel  die  mittel- 
alterliche Geschichte  der  gesamten  Niederlande  in  dieser  Hinsicht 
zu  behandeln;  die  lokalen  Unterschiede  würden  in  gedrängter 
TJebersicht  zu  verwirrend  wirken.  Es  sei  mir  erlaubt  nur  von 
Holland  und  Seeland  zu  sprechen:  die  für  die  spätere  historische 
Entwickelung  der  Niederlande  wichtigsten  Provinzen,  welche  der 
späteren  Republik  und  dem  modernen  Königreich  so  zu  sagen  ihre 
Signatur  gegeben  haben. 

Auf  die  entlegenen,  im  Nordwesten  an  der  Peripherie  Ger- 
nianiens  liegenden  Seegebiete  paßt  vortrefflich  die  im  13.  oder 
14.  Jahrh.  bezüglich  Frieslands  gemachte  Bemerkung  des  Scholi- 
asten  auf  Adam  von  Bremen:  „Fresia  regio  est  maritima  inviis 
inaccessa  paludibus"  ^) ,  wie  es  schon  in  der  Römerzeit  von  Ba- 
tavia  hiess^),  das  es  so  zu  sagen  „kein  Land"  genannt  werden 
könnte.  Die  Römer  hatten  den  Bewohnern  dieser  Gegenden  eine 
Sonderstellung,  die  der  Socii,  gönnen  müssen;  sie  waren  im  3., 
4.  und  5.  Jahrhundert  von  den  rauhen  germanischen  Volksstämmen 
erobert,  zertreten,  teilweise  wieder  verlassen^).  Die  Friesen  haben 
sich  die  kümmerlichen  Reste  der  alten  batavisch  -  kaninefatischen 
Bevölkerung  assimiliert  und  drei  Jahrhunderte  lang  in  den  Inseln 
und  Mooren  dem  Fränkischen  Reich  energischen  Widerstand 
geleistet,  bis  zuletzt  der  große  Karl  sie  endgültig  unterwarf.  Da 
kamen  aber  nach  einem  halben  Jahrh.  die  Normannen,  setzten 
sich  unter  Heinrich  und  Roruk  fest  in  der  Küstengegend  ^)  und 
würden  hier  ein  dem  französischen  ebenbürtiges  deutsches  Norman- 
dien gestiftet  haben  ^),  wenn  nicht  der  gewaltige  Normannenherzog 
Gottfried  885  meuchlings  ermordet  wäre.  So  war  die  Franken- 
herrschaft schließlich  hier  nur  sehr  oberflächlich  durchgedrungen 
und  neigte  die  schwache  lothringische  Königsmacht  schon  zu  Ende, 
als  die  friesischen  Seelände  ihr  größtenteils  wieder  untergeordnet 


1)  Geschichte  Belgiens,  III,  S.  169  ff. 

2)  Mon.  Germ.  Script.  VII,  S.  289. 

3)  Eumenius,  Paneg.  in  Constantino  Caes.,  c,  VIII,  IX. 

4)  Krom,  De  populis  germanis    antiquo   tempore   patriam   nostram   ine  ölen 
tibus  (Lugd.  Bat.  1908). 

5)  Vogel,  Die  Normannen,  passim. 

6)  ib.  260  ff. 


610  P.  J.  Blök, 

wurden.  Ein  halbes  Jahrhundert  von  Schwanken  dieser  Gegenden 
zwischen  den  west-  und  ostfränkischen  Herrschern  folgte,  und 
925  oder  recht  eigentlich  erst  um  die  Mitte  des  10.  Jahrh.  konnte 
man  sagen,  daß  die  damals  als  „friesisch"  bezeichneten  Gegenden 
zwischen  Scheide  und  Flie  dem  deutschen  König  zweifellos  unter- 
thänig  waren. 

Es  war  in  dieser  grauen  Zeit ,  daß  ein  einheimisches  Grafen- 
geschlecht  sich,  offenbar  mit  königlicher  Genehmigung,  der  gräf- 
lichen Stellung  in  etzlichen  friesischen  Gauen  —  Kinheim,  Rhein- 
land, Maasland  bemächtigte  — ,  und  sich  auch  auf  den  südlich  und 
nördlich  naheliegenden  Inseln  im  Rhein-  und  Maasdelta  festsetzte  ^). 
Recht  eigentlich  war  es  überhaupt  ein  kleines  Inselreich,  dessen 
Lenker  diese  Grafen  wurden ;  denn  was  wir  jetzt  als  Holland  kennen, 
war  auch  damals  nur  noch  ein  Komplex  von  Land  und  Wasser,  in 
welchem  die  beiden  Elemente  in  und  durcheinander  liefen  und  nur 
sehr  unvollkommene  Deicharbeiten  und  Wasserregulierung  die 
mehrfach  auf  künstlich  aufgeworfenen  Terpen  wohnende  Bevöl- 
kerung gegen  das  Wasser  verteidigten^). 

Von  dem  Kulturzustand  dieser  Bevölkerung  wissen  wir  so 
gut  als  nichts.  Die  spärlichen  Reste  römischer  und  friesisch- 
fränkischer  Kultur,  die  der  Boden  bis  jetzt  zurückgab,  sind  un- 
genügend zur  Feststellung  eines  Kulturbildes ;  die  kirchlichen  Ver- 
hältnisse seit  Einführung  des  Christentums  im  8.  Jahrh.  weisen 
auf  eine  langsame  Christianisierung,  deren  Langsamkeit  und  Un- 
voll ständigkeit  ^)  im  9.  den  heidnischen,  normannischen  Eroberern 
gewiß  zustatten  kam;  die  Rechtsaltertümer  sprechen  von  ge- 
mischter friesisch  -  fränkischer  Rechtsbildung  ^) ;  die  Sprache  wird, 
nach  den  Personen-  und  Platznamen  und  einzelnen  Nennwörtern 
im  dürftigen  Urkundenscbatz  dieser  Zeit  zu  urteilen,  wiederum 
für  friesisch-fränkisch  gehalten  werden  müssen^).  Friesisch  -  frän- 
kisch, aber  jedenfalls  ziemlich  primitiv ,  muß  noch  um  1000  der 
Kulturzustand   der  Bevölkerung  genannt  werden.    Primitiv   war 


1)  Van  Bolhuis  van  Zeeburgh,  Over  de  eerste  graven   van   het  HoUandsche 
huis  (Leiden,  1870). 

2)  De  Vries,  De  kaart  van  Hollands  Noorderkwarter  in  1288  (Amst.  1868) 
Ramaer,  De  omvang   van   het  Haarlemmermeer  (Arast.  1892),  und  Geographische 
geschiedenis   van  Holland  bezuiden  de  Lek  en  Nieuwe  Maas  (Amst.  1899). 

3)  Vgl.  meine  Studie :  S.  Jeroen,  in  Bydr.  Vaderl  Gesch.  en  Oudheidh.,  4  d» 
Reeks,  HI,  S.  17. 

4)  Fockema  Andreae,  Bydragen  tot  de  Nederl.  rechtsgescbiedenis,  IV,  S.  360  ff. 

5)  Verdam,  Uit  de  geschiedenis  der  Nederl.  taal,  S.  41  ff.,  51. 


Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit.  611 

auch  die  wirtschaftliclie  Lage  dieser  Bauern  und  Fischer,  wie  aus 
den  Urkunden  hervortritt :  Ackerbau  auf  den  zerstreuten  Mausen 
oder  Hufen  („hofstedi") ,  deren  Bewohner  nur  mit  kleinen  Fahr- 
zeugen durch  die  Grräben  und  Flüsse,  über  die  untiefen  Seen  und 
Sümpfe  mit  einander  verkehren  konnten,  Viehzucht,  Fischerei, 
Salzgewinnung  aus  dem  salzigen  Boden  am  Meeresstrande,  Torf- 
stechung  in  den  Moorgegenden  gegen  Utrecht  hin^),  alles  für  den 
eigenen  Unterhalt;  der  Handel  nahm  durch  die  breiten  Rheinarme 
seinen  Weg  nach  dem  Meere  hin  und  zurück  aber  berührte  das 
Gebiet  selbst  nur  oberflächlich,  während  Tiel  am  Waal  und  Utrecht 
am  Ehein  die  Erbschaft  des  alten  von  den  Normannen  ver- 
wüsteten Rheinhafens  Dorestad,  des  an  der  Maasmündung  bei  Groeree 
gelegenen  aber  im  Meere  verschwundenen  Witla  angetreten  hatten 
und  durch  den  nördlichen  Flevosee ,  an  der  Zollstätte  Amuda 
(Muiden)  und  der  im  Meer  versunkenen  alten  Friesenstadt  Stavria 
(Stavoren)  vorbei,  den  Handel  zwischen  dem  Norden  und  Flandern- 
England,  vermittelten.  Vielleicht  —  mehr  kann  man  m.  E.  nicht 
sagen  —  kamen  auch  aus  diesen  Grebieten  die  friesischen  Kaufleute, 
die  wir  seit  dem  8  Jahrh.  in  S.  Denis,  York  und  am  Rhein  bis 
Worms  begegnen;  gewiß  hat  der  friesische  Schiffstypus,  von  wel- 
chem vor  900  die  Rede  ist,  auch  hier  gegolten,  wahrscheinlich  die 
aus  spätem  Tagen  bekannte  Form  des  Koggeschiffs  ^).  So  lebte 
diese  im  Kampf  gegen  die  Elemente  gehärtete  ziemlich  rauhe  Be- 
völkerung auf  ihren  Inseln,  in  ihren  Morästen  ibr  überaus  einfaches 
Leben.  Noch  jetzt  in  den  Gegenden  zwischen  Leiden  und  Amster- 
dam und  im  Wasserland  oberhalb  Amsterdam,  wo  der  Wasser- 
weg der  einzige  Weg,  die  Schute  mit  plattem  Boden  bis  jetzt  das 
vornehmste  Verkehrsmittel  geblieben  ist,  kann  man  den  Resten 
des  alten  Lebens  nachspüren  und  sich  durch  die  Anschauung  von 
Natur  und  Leuten  ein  Bild  zurecht  machen  von  ganz  Holland  im 
Mittelalter. 

Es  war  ein  Leben  für  sich  ohne  nahe  Beziehungen  zu  König 
und  Reich,  die  sich  mit  diesen  entlegenen  Grebieten  wenig  ein- 
ließen. Hatten  die  schrecklichen  Normanneneinfälle  in  den  entfern- 
testen deutschen  Klöstern  Wiederhall  gefunden,  die  Grrafen  selbst 
dieser  Gregenden  waren  den  meisten  geistlichen  Chronikschreibern 
dieser  Zeit  so  gut  wie  unbekannt  und   das   einzige  Kloster  dieser 


1)  Vgl.  die  merkwürdige   Nachricht   bei   Jakob,    Ein   arabischer    Berichter- 
statter aus  dem  10.  Jahrh.     (Berlin  1886),  S.  23. 

2)  Vgl.  Schäfer   in  Bydr.    en  Meded.  Hist.   Genootsch.  Utrecht,  Bd.  XXVII 
(1906),  S.  LIII  ff. 


612  P-  J-  Blök, 

Gebiete,  Egmond,  hatte  im  10.  Jahrh.,  als  es  durch  die  Fromm- 
heit  der  Grafen  entstand,  noch  wenig  zu  bedeuten.  Die  Grafen 
der  Gegend  aber  waren  schon  in  diesem  Jahrhundert  ziemlich  hohe 
Herren,  die  sich  ihre  Gemahlinnen  aus  den  höchsten  fürstlichen 
Kreisen  holten  ^)  und  sich  der  Gunst  der  sächsischen  Könige,  ihrer 
Lehnsherren,  freuen  konnten,  besonders  seit  Graf  Arnulf  um  980 
Liudgardis,  die  Schwester  der  späteren  Königin  Heinrichs  II,  Chuni- 
gundis ,  „coram  rege  Ottone"  —  wie  der  Chronist  sagt  —  ge- 
heiratet hatte.  Schon  Gerolf,  der  älteste  uns  bekannte  Graf  aus 
diesem  Geschlecht,  hatte  889  vom  deutschen  König  Arnulf  an- 
sehnliche Güter  in  seiner  Grafschaft  zu  eigen  bekommen,  wie  sein 
Enkel  Dirk  II  985  von  Kaiser  Otto  II;  das  diese  ersten  Grafen 
aus  dem  spätem  Holländischen  Grafengeschlecht  schon  im  Besitz 
großer  ererbter  Besitzungen  in  dieser  Gegend  waren ,  ist  sehr 
wahrscheinlich.  Des  Grafen  Arnulfs  Sohn,  der  gelehrte  Egbert, 
war  Kanzler  Ottos  II  (976/7)  und  (987/993)  Erzbischof  von 
Trier.  Die  Besitzungen  dieses  Grafengeschlechts  reichten  im 
10.  Jahrh.  von  Flandern ,  wo  sie  als  Burggrafen  in  und  um 
Gent  sassen,  bis  tief  in  Friesland  westlich  vom  Flie;  ihre  gräf- 
liche Macht  von  der  Scheidemündung  bis  zum  Flie,  mit  Kin- 
heim,  Rhein-  und  Maasland  als  Kern ,  während  die  burggräfliche 
Macht  in  Gent  und  die  Rechte  in  Westfriesland  als  Ausläufer 
gelten  können,  wie  auch  ihr  Geschlecht  nach  der  Seite  von  Utrecht 
hin,  in  den  alten  Gauen  Lake  et  Isla  und  Teisterbant,  zeitweise 
aufgetreten  war^).  Man  nannte  die  Küstengegend  zwischen  Maas 
und  Flie  in  dieser  Zeit  die  „marchio  Frisiae" ,  die  Grafen  selbst 
„marchiones"  ;  ihre  Stellung  und  der  Charakter  ihrer  Herrschaft 
ist  mit  den  der  ältesten  flandrischen  Grafen  zu  vergleichen^). 

Der  Tod  des  Grafen  Arnulf  in  einem  Kriegszug  gegen  die 
unbotmäßigen  Friesen  in  993  verursachte  eine  gefährliche  Krise 
im  Aufschwung  dieser  friesischen  Grafen,  in  welcher  1005  König 
Heinrich  II  „navali  exercitu  Fresones  adiens"  ^)  die  westlichen 
Friesen  wieder  seiner  Schwägerin  Liudgardis  unterwarf,  aber  die 
Genter  Burggrafenschaft  mit  den  flämischen  Besitzungen  ihrem 
Geschlecht  für   immer   verloren   ging^).      Nur   auf  den   südlichen 


1)  Van  Bolhuis  van  Zeeburgh,  1.  1. 

2)  Vgl.  über  diese  Verhältnisse:  Van  Bolhuis  van  Zeeburgh,  1. 1.;  meine  Ge- 
schichte der  Niederlande,  I,  S.  154  fF. 

3)  Pirenne,  Geschichte  Belgiens,  I,  S.  32  und  103  S. 

4)  Thietmar,  in  Mon.  Germ.  Script.  III,  S.  850. 

5)  Vanderkindere,  La  formation  territoriale  des  principaut^s  beiges,  I,  S.  64  ff. 


Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit.  613 

Scheide-Inseln  Walcheren  und  Beveland  konnten  sie  ihre  Stellung 
noch  behaupten,  wiewohl  sie  hier  die  Oberlehnsherrschaft  der  flan- 
drischen Grafen  sich  gefallen  lassen  mußten  ^). 

Arnulfs  Sohn  Dirk  III.  Hierosolymita  war  offenbar  in  diesen 
kleinen  Verhältnissen  ein  gewaltiger  Herrscher,  der  dem  mäch- 
tigen TJtrechter  Bischof  Adelbold,  seinem  „senior"  —  aus  welchem 
Grund  das  aus  diesem  Namen  hervortretende  Lehnsverhältnis 
eigentlich  stammt,  ist  unbekannt  —  eine  Grafschaft  Bodegraven 
am  Rhein  (vielleicht  war  dieses  das  betreffende  Lehn)  streitig 
machte  und  sich  allen  benachbarten  Fürsten  und  der  mächtigen 
Kaufstadt  Tiel,  selbst  dem  deutschen  König  zum  Trotz  in  die 
Silva  Meriwido  an  der  Maas  bei  Dordrecht  festsetzte^).  Von 
dieser  Zeit  an  beginnt  ein  Kampf,  in  welchem  die  holländi- 
schen Grafen  —  das  wird  ihr  Titel  seit  der  Mitte  des  11 
Jahrb.,  als  sie  sich  in  Holland ,  dem  neu  eroberten  Lande  in 
der  Silva  Merinvido,  endgültig  behaupteten^)  —  den  königlichen 
und  nachbarlichen  Anfällen  siegreich  Widerstand  leisten.  Wie 
Dirk  III.  1018  an  der  Maas  den  vom  Kaiser  Heinrich  II.  ge- 
schickten Brabanter  Herzog  Gottfried  zurückschlägt,  sein  Heer 
vernichtet  und  ihn  selbst  gefangen  nimmt,  so  bietet  der  „marchio" 
Dirk  IV.  in  den  lothringischen  Wirren  wiederholt  Kaiser  Hein- 
rich III.  die  Spitze  und  schlägt  1047  in  seinem  Wasserlande  das 
kaiserliche  Heer  erfolgreich  zurück*),  bis  er  1049  bei  Dordrecht 
von  seinen  Feinden  erschlagen  wird.  In  einer  Fehde  gegen  den 
östlich  vom  Flie  angesessenen  von  kaiserlicher  Gunst  damals  noch 
beschienenen  Markgrafen  Egbert  von  Meiszen  fällt  auch  sein  streit- 
I)arer  Bruder  Floris  I^)  (1061)  und  die  Grafschaft  Holland  würde 
damals  verschwunden  sein,  wie  so  viele  hier  aufkommende  ^)  terri- 
toriale Mächte  dieser  Zeiten,  wenn  nicht  der  energische  flämische 
Grafensohn  Robert  der  Friese,  der  „comes  aquaticus",  nach  20 
Jahren  Kämpfens  seinem  Stiefsohne  Dirk  V ,  dem  hinterlas senen 
Sohne  Floris  I,  Brabant,  Friesland  und  Utrecht,  dem  Kaiser  Hein- 
rich IV  zum  Trotz,  das  väterliche  Erbe   wieder  gesichert  hatte  ^). 

Wie   man   sieht:    die    königliche  Macht   war  im  Wasserlande 


1)  Vanderkindere,  1.  1. 

2)  Meine  Geschichte,  I,  S.  156  ff. 

3)  ib.  S.  157. 

4)  ib.  S.  169. 

5)  ib.  S.  173. 

6)  Vgl.    darüber  Pynacker  Hordyk   in   der  Vorrede  zu  seiner  neuen  fototy- 
pischen Alpertus-Ausgabe  (Leiden,  Sythoff,  1908). 

7)  Geschichte,  S.  174,  177,  181. 

Kgl.  Gos.  d.  Wiss.   Nachrichten.    Philolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft  6.  43 


614  ^-  J-  Blök, 

zwischen  Scheide  und  Flie  nur  schwach  und  die  Botmäßigkeit  der 
friesisch-holländischen  Grafen  sehr  fraglich.  Wie  der  alte  Thiet- 
mar,  der  den  Zustand  kannte,  sagt:  keiner  war  recht  eigentlich 
da,  der  die  Ordnung  und  den  Frieden  in  diesen  Gregenden  hand- 
haben könnte.  Und  so  ist  es  auch  in  der  nächsten  Folge  geblieben, 
lieber  Utrecht  hinaus  kamen  die  Kaiser  und  Könige  nicht  mehr^ 
auch  Barbarossa  nicht,  der  übrigens  1165  zwischen  Utrecht  und 
Holland  noch  vermittelnd  auftritt,  den  Rhein  zur  „libera  et  regia 
strata"  erklärt,  dessen  Lauf  nicht,  wie  in  Holland  geschehen  war, 
durch  Dämme  „injuste  et  violenter"  gehemmt  werden  darf,  und 
über  die  friesischen  Gauen  Ostergo  und  Westergo  ein  utrech- 
tisch-holländischer Condominium  feststellt;  derselbe  Kaiser  giebt 
dem  Grafen  Floris  m.  die  wichtige  Reichszollstätte  Geervliet  in 
der  Meermündung  „in  feodum"  ^),  das  letzte  Reichsgut ,  von  dem 
wir  in  dieser  Gegend  hören.  Die  königliche  Macht  läßt  sich  in 
diesen  Gegenden  während  der  bald  folgenden  Krise  der  hohen- 
staufischen  Macht  immer  weniger  gelten  wiewohl  Floris  III  dem 
Kaiser  nach  Italien  und  zuletzt  nach  Osten  folgt  und  ihm  Treue  er- 
weist, sich  auch  den  kaiserlichen  Bestimmungen  über  die  gräflichen 
Rechte  unterwirft  ^).  Als  aber  in  1203/4  ein  Kampf  über  das  Erb- 
recht auf  die  vom  Grafen  Dirk  YII.  seiner  einzigen  Tochter  Ada 
hinterlassene  Grafschaft  entsteht,  sich  ein  erbitterter  Kampf  zwischen 
Dirks  Bruder  Wilhelm  und  der  jungen  Gräfin  und  ihrem  Gemahl  Lud- 
wig von  Loon  erhebt,  wird  von  kaiserlicher  Einmischung  nur  wenig 
geredet ;  die  beiden  Nebenbuhler  kämpfen  mit  ihren  Bundesgenossen 
von  Utrecht,  Brabant,  Flandern,  Namür,  vertragen  sich  mit  diesen 
und  unter  einander;  Philipp  von  Schwaben  befestigt  (1204) Wilhelm 
n  dessen  Reichslehen  ^),  aber  der  Graf  von  Namür,  Regent  von 
Flandern,  setzt  1206  Ludwig  als  Grafen  von  Holland  ein^),  bis  zu- 
letzt 1213  Wilhelm  von  Otto  IV  belehnt  wird  mit  „omnia  feoda 
quae  nobiles  viri  Florentius  (III.)  et  Theodoricus  (VII.)  bonae 
memoriae  comites  HoUandiae,  videlicet  praedecessores  praefati  co- 
mitis  Willelmi  HoUandiae,  ab  imperiali  aula  tenuerint"  ^).  Doch 
finden  wir  um  1220  noch  immer  die  kaiserliche  Macht,  wie  in  Bar- 
barossas Tagen,  dann  und  wann  vermittelnd  und  regelnd  wirksam, 
auch  in  den  immer  wieder  ausbrechenden  Fehden  zwischen  Flandern 


1)  Oorkondenboek  van  Holland  en  Zeeland,  I,  no.  173. 

2)  Meerman,  p.  21/2. 

3)  „feoda  quae   pater   suus    et   fratres    ab   imperio  tenuerunt"    (Oorkdb.  1> 
no.  201). 

4)  ib.  nr.  206. 

5)  ib.  no.  229. 


Holland  und  das  Eeich  vor  der  Burgunderzeit.  615 

und  Holland  über  die  seeländischen  Reichslehen,  die  Friedrich  II 
zu  Gunsten  des  holländischen  Grrafen,  sein  Sohn  Heinrich  aber  zu 
Grünsten  der  flämischen  Gräfin  zu  schlichten  sucht  ^). 

Die  holländischen  Grafen  blieben,  wie  klein  und  entlegen  ihr 
Gebiet  auch  sein  mag ,  auch  im  12.  und  13.  Jahrh.  angesehene 
Herren  im  Reich.  Graf  Floris  II.  heiratet  Petronilla  von  Sachsen, 
Halbschwester  Kaiser  Lothars;  Floris  III.  die  schottische  Königs- 
tochter Ada;  Wilhelm  I.  die  Witwe  Ottos  IV.  Der  junge  Wil- 
helm II.  bringt  es  unter  geistlicher  Stütze  zur  Würde  eines  Rö- 
mischen Gegenkönigs  Friedrich  II  und  Konrad  IV  gegenüber,  aber 
fällt  im  Kampf  gegen  die  Friesen,  als  er  nach  Befestigung  seiner 
Königsmacht  in  Norddeutschland  und  am  Rhein  die  Kaiserkrone 
aus  Italien  zu  holen  sich  vorbereitet;  sein  Sohn  Floris  V.,  dessen 
Mutter  Aleidis  sich  1262  von  Richard  von  Comwallis  als  „tutrix 
HoUandiae  atque  Zelandiae"  hatte  anerkennen  lassen  „accepto  ho- 
magio  et  fidelitatis  debitae  juramento^^  ^) ,  gehört  zu  den  angese- 
hensten Fürsten  im  Nordwesten  des  damals  aus  grenzenloser  Ver- 
wirrung unter  Rudolf  von  Habsburg  gleichsam  wieder  hergestellten 
Reiches  und  spielt  eine  sehr  bedeutende  Rolle  ^)  am  Niederrhein, 
nachdem  er  die  unabhängigen  Friesen  im  spätem  Nordholland  und 
Friesland  nebst  dem  utrechter  Niederstift  seiner  Herrschaft  unter- 
worfen und  die  flämischen  Ansprüche  auf  Seeland  sieghaft  zurück- 
gewiesen hat;  sein  einziger  Sohn  heiratetet  wieder  die  Tochter 
König  Edwards- 1  von  England. 

König  und  Reich  lassen  sich  auch  in  dieser  Zeit  mit  Holland 
und  Seeland  noch  dann  und  wann  ein.  Rudolf  von  Habsburg  er- 
kennt 1276  doch  den  Grafen  von  Henneberg  und  Johann  von 
Avesnes,  Grafen  von  Hennegau,  beide  Schwestersöhne  des  ver- 
storbenen Königs  Wilhelm,  als  eventuelle  Nachfolger  des  damals 
noch  kinderlosen  Floris  V.  ^),  gestattet  1282  aber  auch  die  Nach- 
folge der  einzigen  Tochter  des  Grafen,  falls  dessen  junger  Sohn 
vor  ihm  stirbt^),  und  bestätigt  dessen  Rechte  auf  Seeland^),  und 
Friesland'),    mit  Wahrung  aber    der    Reichsrechte    auf   Seeland^). 


1)  ib.  n.  273/4;  Vanderkindere,  1,  1.,  I,  S.  160  if. 

2)  Oorkdb.  II,  no.  89. 

3)  Obreen,  Floris  V  (Gent,  1907). 

4)  Oorkdb.  H,  no.  304/5. 

5)  ib.  no.  457. 

6)  ib.  no.  602,  706,  729. 

7)  ib  no.  733. 

8)  ib.  no.  729. 

43' 


616  P-  J-  ßlok, 

Auch  König  Adolf  steht  auf  persönliclie  Lehnhuld  für  die  Graf- 
schaft \),  während  König  Albrecht  die  Lehnfolge  Johanns  I.  nach 
dem  Tode  seines  Vaters  ^in  absentia"  genehmigt^). 

Als  aber  beim  jähen  Aussterben  des  alten  Grafengeschlechts 
in  1299  der  schlaue  Hennegauer  Johann  IL  von  Avesnes  sich  der 
beiden  Grafschaften  bemächtigt,  muß  König  Albrecht,  obschon 
für  solche  Fälle  völlig  durch  sein  Königsrecht  gestützt,  seine  Ohn- 
macht es  zu  verhindern  erkennen  ^)  und  die  Verbindung  der  Terri- 
torien mit  der  hennegauer  Grafschaft,  recht  eigentlich  eine'Usur- 
pation,  nach  vergeblichem  Widerstand  zulassen*).  Johanns  Nach- 
folger, Wilhelm  III,  hat  mit  Ludwig  dem  Bayer,  bald  seinem 
SclLwiegersohn,  nahe  Beziehungen  unterhalten,  wird  später  Land- 
friedenshauptmann und  Generalvikar  am  Niederrhein  ^) ;  er  wie 
sein  Sohn  Wilhelm  IV.  gehören  zu  den  mächtigsten  Eeichsfürsten 
an  der  Grenze  nach  Frankreich  hin. 

Diese  enge  Verbindung  Wilhelms  III.  mit  dem  Römischen 
König  und  Kaiser,  wiewohl  im  Kampf  Ludwigs  gegen  die  Kurie 
nicht  immer  aufrecht  gehalten^),  hat  schon  seit  dem  ersten  Ke- 
gierungstag  des  „Baurus"  bestanden.  Wilhelm  gehörte  zu  den 
Fürsten,  die  Ludwig  am  25.  Nov.  1314  in  Aachen  die  Königskrone 
aufsetzten.  Am  selben  Tag  wurde  ihm  vom  neuen  Römischen 
König  ein  überaus  wichtiges  Diplom  ausgestellt'),  offenbar  dieser 
Anschließung  wegen,  wie  auch  im  Diplom  gesagt  wird,  daß  der 
König  des  Grafen  „grata  et  obsequiosa  servitia^  nicht  nur  „nostris 
antecessoribus"  bewiesen  lohnen  will,  sondern  auch  „nobis  et  im- 
perio  in  futurum"  auf  seinen  Dienst  rechnet.  Dieses  Diplom  nun 
stellt  fest,  daß  der  König  „onine  jus  quod  Ididem  (reges  et  impe- 
ratores)  in  comifatihus  Eollandie,  Zelandie  et  dominatu  Frisle  reda- 
marunt  seu  reclamare  potuerunt  aut  Nos  reclamare  possemus,  libere  et 
absolute  de   consensu   et  assensii   nostrorum  principum  quittamus   ac 


1)  ib.  no.  828. 

2)  ib.  no.  1058,  vgl.  no.  949,  977. 

3)  Franke,  Beiträge  zur  Gesch.  Johanns  IL  von  Hennegau-Holland  (Leipzig 
1899)  S.  65  ff.     Auch  in  der  Westdeutschen  Zeitschrift,  Ergänzungsheft  VL 

4)  Vgl.  Franke,  Beiträge  1.  1. 

5)  Meine  Geschichte  der  Niederlande,  II,  S.  93;  Kuntze,  Die  politische 
Stellung  der  niederrheinischen  Fürsten  (München  1882),  S,  13  ff. 

6)  Kunze,  S.  23  ff.,  42  ff. 

7)  Cartulaires  de  Hainaut  (Monum.  pour  servir  k  l'histoire  des  prov.  de 
Kamur,  de  Hainaut  et  de  Luxembourg),  III,  p.  43.  Die  Originale  dieser  Urkunden 
im  Staatsarchiv  zu  Bergen  in  Hennegau.  Vgl.  Van  Mieris,  Charterboek,  II,  S.  145. 
Siehe  Beilage  I. 


Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit.  617 

eideui  ejusqiic  hureäihus  et  successoribus  2)resentibus  duximus  remitten- 
äum  salvo  tarnen  tiobis  et  imperio  homagio  dehito pro  eisdem^.  Uebri- 
gens  sind  die  Grafschaften,  nacli  Vernichtung  von  ^Processus  aliqui 
per  nostros  predecessores  .  .  .  contra  emndem  comitem  aiit  siios  predc- 
ccssores^j  von  dieser  Zeit  an  frei  von  allem  Reichsanspruch.  Weiter 
werden  dem  Grafen,  dem  am  selben  Tage  die  Friesen  von  "Wester- 
und Ostergo  als  ihrem  Herrn  zu  gehorchen  befohlen  worden  ^)  am 
folgenden  Tag  „pro  certis  serviciis  quae  nobis  et  imperio  fecit" 
52000  ..librae  Turonenses"  zuerkannt  aus  „aliquo  theloneo  super 
Rhenum"  -),  wofür  der  Erzbischof  von  Trier,  die  Grafen  von  Jü- 
lich, Berg,  Isenburg  und  andere  niederrheinische  Herren  Bürg- 
schaft leisten^).  Dem  Grafen  werden  endlich  einige  Tage  später 
alle  ihm  und  seinen  Vorgängern  von  den  deutschen  Königen  ver- 
liehenen Privilegien,  „cuiuscumque  tenoris  existant",  bestätigt*). 
Vom  1.  Dezember  ist  dann  der  dem  Grafen  ausgestellte  Lehns- 
brief ^)  ^de  Omnibus  hiis  que  dictus  comes  et  predecessores  su 
tenuerunt  seu  teuere  debuerunt  seu  que  ipse  comes  tenet  a  re- 
gibus  et  imperatoribus  Eomanorum  in  comitatu  Hollandie ,  Zee- 
landie  et  dominatu  Frizie". 

Das  wichtigste  aller  dieser  Diplome  ist  wohl  das  zuerst  ge- 
nannte, das  am  14.  Juni  1330  feierlich  erneuert  und  mit  der  kaiser- 
lichen „bulla  aurea"  besiegelt  wurde  ^). 

Aber  welche  Bedeutung  hat  es  recht  eigentlich?  Man  könnte 
fragen,  ob  es  vielleicht  nicht  nur  die  hennegauische  Erbfolge,  die 
anfänglich  ja  vom  König  Albrecht  energisch  bestritten,  aber  seitdem 
auch  von  diesem  anerkannt  war'),  feststellen  sollte.  Wer  aber 
bestritt  sie  damals  noch? 

Wir  besitzen  eine  Urkunde  vom  12.  Mai  1308^),  einige  Tage 
also  nach  dem  jähen  Tode  Albrechts,  in  welcher  Johann  von  Bra- 
bant,  Heinrich  von  Luxemburg,  Johann  von  Namur,  Gerhard  von. 
Jülich,  Arnulf  von  Loon  und  Guido  von  Flandern,  die  sich  — 
außer  dem    flandrischen   Grafen  —  am   vorigen   Tage   zu  Nivelles 


1)  Cart.  de  Hainaut,  p.  41 ;  Van  Mieris,  S.  146. 

2)  Cart.  de  Hainaut,  p.  44,  dd.  26  Nov.    Van  Mieris,  S.  146. 

3)  Cart.  de  Hainaut,  p.  47,  dd.  4.  Dez.     Van  Mieris,  S.  147. 

4)  Van  Mieris,  S.  146,  vgl.  S.  141  (vom  2.  März  1315),  dd.  1  Dez. 

5)  Cart.  de  Hainaut  p.  45. 

6)  Cart.  de  Hainaut,  p.  225.  Van  Mieris,  S.  497/8;  siehe  Beilage  II.  Vgl 
jetzt  auch  Steckele  in  Westd.  Zeitschr.  XXVII,  1,  S.  107,  der  seinerseits  weist 
auf  die  faktische  Unhaltbarkeit  damals  der  Reichsrechte  in  diesen  Gegenden. 

7)  Franke,  1.  1.  S.  88. 

8)  Cart.  de  Hainaut,  III,  p.  583. 


618  P-  J-  Bi^k, 

auf  Lebenszeit  enge  verbündet  hatten^),  nur  nicht  „envers  nos 
seigneurs,  c'est  assavoir  le  roy  d'AUemagne  et  le  roy  de  France", 
dem  hennegauer  Grrafen  geloben,  ;,que  s'il  avenoit  par  le  grasce 
de  Dieu  ke  li  uns  de  nous  fust  eslius  roys  d'Allemagne",  sie  ihn 
„en  foy  et  hommage'^  empfangen  werden  nicht  nur  für  Hennegau, 
,.hors  mis  les  calenges  ki  sont  et  ont  estet  entre  les  contes  de 
Flandres  et  de  Haynau,  dont  il  ont  plaidiet  en  le  court  le  roy 
d'Allemagne",  sondern  auch  für  Holland,  Zeeland  und  Friesland. 
Es  steht  da:  „item  recheveroit-il  (le  roi  d'Allemagne  elu)  le  dit 
conte  Gruillaume  u  ses  hoirs  de  tout  chose  ke  si  devanchier  conte 
de  Hollande,  de  Zelande  et  signeur  de  Frize  ont  estei  en  foy  et 
en  hommage  des  roys  d'Allemagne,  ossi  et  ne  s'en  pora  escuser 
par  nulle  raison,  especialment  pour  chose  ke  ces  convenanches 
ont  estei  faites  devant  son  election,  ne  demorra  mie  ke  il  n'en 
rechoive  en  foy  et  en  hommage  le  dit  conte  Guillaume  et  ses 
hoirs.  I^t  quitiera  an  dit  conte  Guillaume  et  a  ses  hoirs  tout  cliou 
Tee  li  roys  d'Allemagne  poroit  demander  es  difes  conteiz  par  Ja  raison 
du  royaume  u  de  Vempire,  u  par  quelconques  aiitre  raison  l'e  ce  fust, 
hien  et  svffisanment.  Et  n^est  mie  a  entendre  he  le  dis  cuens  ne 
fache  vers  le  roy  chou  quHl  doit  u  devera  pour  la  raison  de  sen  hom~ 
inage'^.  Weiter  versprechen  sie  ihm  zu  helfen,  daß  er,  falls  keiner 
von  ihnen  König  vrird,  „sera  recheus  en  le  foy  et  en  l'hommage 
dou  dit  roy  d'AJlemagne  et  sera  quites  en  la  maniere  devant  dito". 
Es  sind  hier  zwei  Sachen  wohl  zu  unterscheiden.  Erstens, 
daß  der  Graf  von  Hennegau  für  sich  und  seine  Erben  als  im  völ- 
ligen lehnsrechtlich  bestätigten  Besitz  der  Grafschaften  Holland, 
Seeland  und  der  friesischen  Territorien  erkannt  werden  wird  gegen 
Leistung  des  Lehneids.  Zweitens,  daß  die  römischen  Könige  in 
keiner  Hinsicht  etwas  in  diesen  Gebieten  zu  fordern  (demander) 
haben  werden. 

Was  den  ersten  Punkt  betrifft,  finden  wir  den  Grafen  schon 
beim  Anfang  der  Wahlverwickelungen  nach  dem  unerwarteten 
Tode  Heinrichs  VII  damit  beschäftigt ,  die  Rechte  seines  Hauses 
zu  wahren.  Er  spielte  in  diesen  Verwicklungen  eine  bedeutende 
Rolle  ^),  führte  sich  ja  selbst  im  Anfang  als  Mitbewerber  für  die 
römische   Krone    auf^),    in  Erinnerung  vielleicht   an    die    seinem 


1)  Fischer,  in  Sitzungsberichte  Kais.  Akad.  XIV,  S.  196  ff  ,   aus  der  merk- 
würdigen Pisaner  Sammlung  kaiserlicher  Archivstücke,     dem  Nachlaß  Heinrichs  VII 

2)  Kunze,  Die  politische  Stellung  der  niederrheinischen  Fürsten  S.  5. 

3)  Mühling,  Die  Geschichte  der  Doppelwahl  des  Jahres  1314  (München  1882), 
S.  40,65. 


Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit.  619 

Großolieim  Wilhelm  von  Holland  zugefallene  Machtstellung,  die 
sich  auch  ihm  keineswegs  unerreichbar  zeigte,  falls  der  Erzbischof 
von  Köln  die  Rolle  spielen  wollte,  die  sein  Vorgänger  in  Wilhelms  11. 
Zeit  auf  päpstliche  Forderung  und  mit  kräftiger  Mitwirkung  des 
päpstlichen  Legaten  Hugo  von  St.  Cher  gespielt  hatte. 

Im  März  1314  verspricht  er,  den  Erzbischof  von  Köln  nach 
Frankfurt  und  Aachen  zur  Wahl  und  Krönung  eines  Römischen 
Königs  geleiten  zu  wollen,  während  dieser  ihm  verspricht  keinen 
König  zu  wählen,  der  dem  Grafen  seine  Rechte  nicht  zusichern 
wolle  ^).  Als  Ludwig  von  Bayern  sich  im  Sommer  1314  unter 
den  Kandidaten  für  die  Krone  gestellt  hatte  aber  der  Kölner 
einstweilen  dem  österreichischen  Herzog  treu  blieb,  hat  Graf  Wil- 
helm beim  schändlichen  Stimmenhandel  über  die  Königskrone ''^) 
und  dem  Wettlauf  nach  Aachen  offenbar  seinen  Vorteil  zuletzt 
beim  bayrischen  Mitbewerber  gefunden  und  dafür  u.  A.  das  Diplom 
bekommen,  nicht  also  durch  den  Kölner  aber  durch  dessen  Wider- 
sacher von  Mainz  und  Trier,  die  Ludwigs  Krönung  zu  Aachen 
vollbrachten. 

Auch  in  1330,  als  der  Graf  sich  nach  Jahren  politischer 
Schwankung  zwischen  Ludwig  und  der  Kurie  sich  wieder  fester 
dem  Kaiser  anschließt,  sind  derartige  Ursachen  für  die  Erneue- 
rung des  Diploms  nachzuweisen^). 

Im  Diplom  von  1314  und  1330  wie  in  der  Urkunde  von  1308 
sind  also  die  zwei  verschiedenen  Sachen  unverkennbar  auseinander 
gehalten:  die  Beendigung  der  „processus"  über  die  Erbfolge  und 
die  Verzichtung  des  Königs  auf  die  Reichsrechte,  die  in  unver- 
kennbarem Anklang  an  die  Urkunde  von  1308*)  mit  denselben 
Worten  aufgegeben  werden. 

Man  darf  also  feststellen,  daß  das  Diplom  von  1314  (1330) 
den  Grafschaften  eine  gewisse  Sonderstellung  im  Reich  schaffte, 
ihnen  eine  faktische  Unabhängigkeit  sicherte  mit  Festhaltung  allein 


1)  Böhmer,  Reg.  Ludw.  des  Bayern,  S.  309,  aus  St.  Genois,  Monuments 
CXCIX:  „Et  cet  Arch.  jpromet  de  ne  point  consentir  ä  l'election  d'un  roi  des 
Romains  qu'apres  qu'il  aura  promi  de  terminer  promptement  les  affaires  que  le 
comte  de  H.  avoit  avec  lui,  d'oter  les  empechemens  que  ses  prede'cesseurs  avoient 
mis  ä  la  jouissance  des  comte's  de  Hollande,  de  Zelande  et  de  la  seigneurie  de 
Frise ,  d'en  confirmer  la  possession  au  comte  de  Hainaut ,  de  le  recevoir  ä 
l'hommage  pour  ce  comte  et  de  l'indemniser  de  tous  les  obligations  que  le  comte 
de  H.  pourroit  contracter  en  faveur  de  ce  Roi." 

2)  S.  darüber  Mühling,  S.  71if. 

3)  Kunze,  S.  48,  51.    Vgl.  Stechele,  1.  I. 

4)  „omne  jus  .  .  .  quittamus"    (1314)   und   „quittera",   „sera  quites"  (1308). 


620  P-  J-  Blök, 

des  Lelinsnexns.  Das  Diplom  darf  also  als  ein  Schritt  zur 
Trennung  der  Grafschaften  vom  Reich  angesehen  werden,  wiewohl 
ihm  bis  jetzt  diese  Bedeutung  noch  nicht  zugesprochen  wurde  ^). 
Daß  im  14.  Jahrh.  die  Grafschaften  dem  Reiche  gegenüber  auch 
anders  standen  als  das  Stift  Utrecht  und  als  Geldern  ist  bekannt : 
sie  nähern  sich  im  Gegenteil  dem  faktisch  unabhängigen  Ver- 
hältnis Brabants  zum  Reiche.  "Weder  hier  noch  in  Brabant  finden 
wir  denn  auch  in  der  Folge  eine  Spur  von  Ausübung  der  Reichs - 
rechte:  Graf  "Wilhelm  und  sein  rühriger  Sohn  Wilhelm  IV  ge- 
bärden sich  als  unabhängige  Dynasten,  die  im  Reich  eine  bedeu- 
tende Rolle  spielen  aber  sich  von  Reichsrechten  in  ihren  Graf- 
schaften nichts  anziehen. 

Der  Zusammenhang  der  beiden  Grafschaften  mit  dem  Reich 
hätte  aber  wieder  enger  werden  können  nach  dem  kinderlosen 
Tode  des  letzten  hennegauer  Grafen,  "Wilhelms  IV.  bei  Stavoren 
in  1345,  dem  seine  Schwester,  die  Kaiserin  Margarethe  selbst, 
„tamquam  verlor,  proximior  et  antiquior  heres"^)  mit  kaiserlicher 
Belehnung  ihres  Gemahls  nachfolgen  konnte.  Und  die  spätere 
Erhebung  ^)  ihrer  Söhne  "Wilhelms  V  und  Albrechts  *j  scheint  die 
Bände  mit  dem  Reich  auch  noch  wieder  zu  befestigen  im  Stande 
gewesen  zu  sein,  weil  diese  Fürsten  als  regierende  Herzöge  in 
Nieder bayern  dem  Reiche  näher  stehen  mußten  als  die  faktisch 
souveränen  Hennegauer,  die  sich  aus  dem  Lehnsverhältnisse  zu 
Lüttich  ^)  wenig  machten.  Es  ist  dabei  auch  zu  beachten,  daß  die 
beiden  Grafschaften  von  der  Zeit  Margaretens  an,  mit  vollkom- 
mener Nichtbeachtung  der  Lehnsverhältnisse  zwischen  Hennegau 
und  dem  Bistum  Lüttich,  unverbrüchlich  mit  Hennegau  verbunden 
sind  und  seitdem  die  drei  Grafschaften  als  ein  unteilbares  Terri- 
torium gelten,  dessen  Zusammengehörigkeit  von  den  nachfolgenden 
Grafen  bei  ihrer  Huldigung  feierlich  anerkannt  wird.  Das  Reich 
aber  hatte  bei  dieser  festen  Verbindung  der  beiden  Reichslehne 
mit  Hennegau  wieder  nicht  viel  einzubringen;  allein  hat  Kaiser 
Ludwig  selbst  die  drei  Grafschaften  sämtlich  als  das  unzertrenn- 


1)  Von  „Reichsunmittelbarkeit",  wovon  bei  der  Diskussion  auf  dem  Berliner 
Historikerkongreß  am  8.  Aug.  1908  die  Herren  Proff.  Seeliger  und  Kaufmann 
sprachen,  kann  hier  keine  Rede  sein. 

2)  Van  Mieris,  II,  S.  702/3. 

8)  Meine  Geschichte,  II,  S.  100  flF. 

4)  Van  Mieris,  II,  S.  727/8. 

5)  Vanderkindere,  La  formation  territoriale  des  principaut^s  beiges,  II,  p. 
92  suiv. 


Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit.  621 

liehe  Erbe  seiner  Gemahlin  und  ihrer  Nachfolger  anerkannt^).  Die 
Regentschaft  Herzog  Albrechts  für  seinen  schwachsinnigen  Bruder 
hat  bei  den  Luxemburgischen  Reicbsherrn  keinen  Widerspruch  ge- 
funden, da  er  sich  anfangs  ihnen  anschloß  während  seine  bay- 
rische Verwandtschaft  sich  ihnen  widersetzte,  und  nach  dem  Tode 
Wilhelms  war  Wenzel  jedenfalls  nicht  stark  genug  sich  gegen 
Albrechts  Nachfolge  zu  stellen ,  wiewohl  schon  damals  Albrecbt 
sich  persönlich  dem  Reiche  abgewandt  und  den  Franzosen  zuge- 
wandt hatte  durch  seine  feste  Verbindung  mit  den  noch  völlig 
französischen  Burgundern.  1367  hat  Karl  IV  jedenfalls  die  Titel 
Albrechts  anerkannt  ^'),  1370  bestätigt  er  ihm,  dem  Schwiegervater 
seines  Sohnes,  alle  von  seinen  Vorgängern  den  Grrafen  von  Holland 
verliehenen  Rechte  ^)  und  befiehlt  Oster-  und  Westergo  ihm  zu  ge- 
horchen wie  früher  seinem  Bruder  Wilhelm^).  Er  nennt  Albrecht 
selbst  schon  1372  ^j  Grafen  von  Holland  und  Seeland.  Auch  die 
Heirat  des  zweiten  Sohnes  Albrechts ,  des  jungen  Albrechts  von 
Straubing,  mit  des  Kaisers  Tochter  Anna  sollte  in  derselben  Rich- 
tung wirken.  Von  kaiserlichem  Einfluß  in  Holland ,  von  Reichs- 
bemühung  mit  dieser  Grafschaft  ist  aber  auch  in  diesen  Zeiten 
keine  Rede.  Nur  hat  1384  König  Wenzel  auch  den  Untertanen 
Albrechts  das  jus  de  non  evocando,  also  ihrer  Entlassung  aus  jeder 
Reichgerichtsunterthänigkeit,  ausdrücklich  anerkannt^). 

Albrecht  hat  also  die  persönlichen  Beziehungen  zu  Kaiser 
und  Reich  geflissentlich  unterhalten,  jedenfalls  in  der  ersten  Zeit 
seiner  langwährigen  Regierung  ^) ;  seine  Tochter  Johanna  war  1370 
an  König  Wenzel  verheiratet*).  Als  diese  aber  1386  verstorben 
war  und  die  politischen  Beziehungen  Albrechts  zu  Frankreich  und 
dem  aufkommenden  Hause  von  Burgund  immer  enger  wurden, 
nahm  die  Entfremdung  der  Grafschaften  vom  Reich  augenscheinlich 
zu.    Die  burgundischen  Heiraten  von  1385,  durch  Vermittelung  der 


1)  Van  Mieris,  II,  S.  727. 

2)  ib.  III,  S.  216. 

3)  Böhmer-Huber,  Reg.  Imp.  Karl  IV,  S.  107. 

4)  Von  Mieris,  III,  S.  140,  mit  falschem  Datum. 

5)  ib.  S.  271.     Auch.  1374:  Böhmer-Huber,  S.  445. 

6)  Van  Mieris,  III,  S.  409/10,  418/9. 

7)  Siehe  darüber  passim  meine  Studie:  De  erste  regeeringsjaren  van  hertog 
Albrecht,  in  Bydr.  voor  vaderl.  gesch.  3.  Reeks,  II,  S.  244  ff. ;  meine  Geschichte 
II,  S.  120. 

8)  Lindner,  Gesch.  des  Deutschen  Reiches  unter  Wenzel  S.  19,  42;  meine 
obengenannte  Studie,  S.  275. 


622  P-  J-  Blök, 

französisch  gesinnten  Herzogin  Johanna  von  Brabant ,  Witwe  des 
holländischen  Grafen  Wilhelms  IV  und  des  Luxemburger  Wenzels 
von  Brabant,  sind,  wie  allbekannt,  in  dieser  Hinsicht  von  großem 
Grefolge  gewesen  ^) ;  namentlich  Albrechts  Sohn  Wilhelm ,  sein 
Nachfolger,  ist  der  treue  Bundesgenosse  der  Burgunder  geworden, 
die  seit  dieser  Zeit  die  nördlichen  Niederlande  immer  mehr  in 
ihren  Gesichtskreis  aufnehmen. 

Im  Reich  erkannten  die  Kurfürsten  die  drohende  Gefahr  der 
Entfremdung  an  erster  Stelle  Brabants,  des  vornehmsten  Gebietes 
der  Niederlande.  Ihre  Entrüstung  machten  sie  1398  König  Wenzel 
kund :  auch  von  Reichsflandem  war  dabei  die  Rede  ^).  Aber  Wenzel 
schloß  sich  den  Franzosen  an  und  ließ  das  Reich  und  dessen  Rechte 
verkümmern,  bis  die  Kurfürsten  ihn  im  August  1400  durch  Ru- 
precht von  der  Pfalz  ersetzten.  Aber  auch  dieser  konnte  dem 
Verhängnis  nicht  vorbeugen,  wiewohl  er  bei  seiner  Krönung  die 
Erhaltung  des  sehr  gefährdeten  Brabants  zu  versichern  gelobt 
hatte.  Brabant  ging  1406  an  den  Burgunder  über,  unter  Protest 
Ruprechts,  aber  mit  Genehmigung  Wenzels,  und  auch  König  Sieg- 
mund, der  luxemburgische  Nachfolger  der  beiden  zwistenden  Vor- 
gänger, kam  nicht  weiter  als  zu  Protesten,  freilich ,  so  weit  die 
Worte  gingen,  ernster  Art ,  die  er  aber  nicht  durch  energisches 
Auftreten  stützen  konnte.  Holland  -  Seeland  folgte  langsam  aber 
sicher  dem  Wege  Brabants.  Ihr  Herr,  Herzog  Wilhelm  VI  aus 
dem  bayrischen  Geschlecht,  läßt  sich  mit  dem  Reich  und  König 
Siegmund,  nach  dessen  Wahl,  zu  der  auch  seine  Gesandten  freilich 
noch  mitgearbeitet  hatten,  so  gut  wie  nicht  ein  und  hat  beide 
Augen  auf  Frankreich  gerichtet,  dessen  Dauphin  sein  Schwieger- 
sohn wird.  Er  ist  ganz  und  gar  Franzose  und  mit  Burgund  fest 
verbunden,  Busenfreund  und  Waffenbruder  Johanns  ohne  Furcht, 
des  damaligen  Burgunderherzogs.  Wohl  war  er  als  Reichsfürst 
Ende  1401  Ruprecht  noch  auf  dessen  mißglücktem  Romzug  gefolgt 
und  leistete  selbst  König  Siegmund,  während  dessen  Reise  nach 
England  (Juni  1415)  persönlich  die  Lehnhuld  *),  aber  bei  der  Heirat 
seiner  Tochter  (1416)  versprach  er  sie  und  ihren  französischen  Ge- 
mahl als  Erbe  seiner  Lande  einzusetzen^).  Diese  Abmachung  fand 
bei  Siegmund,  der  wiederum  den  französischen  Einfluß  wachsen  und 
auch  diese  Grafschaften  dein  Reich  entfallen  sah,  wohl  energischen 


1)  Meine  Geschichte,  II,  S.  56;  Pirenne,  II,  passim. 

2)  Vgl.  Rachfahl,  1.  1. 

3)  Von  Löher,  Jakobaea  von  Bayern,  I,  S.  264  (mit  den  Noten  S.  455). 

4)  Van  Mieris,  IV,  S.  342. 


Holland  und  das  Keich  vor  der  ßurgunderzeit.  623 

Widerspruch,  aber  nichtsdestoweniger  folgte  die  inzwischen  ver- 
witwete Jakobaea  mit  Zustimmung  ihrer  Untertanen  ihrem  Vater 
als  Grräfin  seiner  Länder,  während  der  machtlose  König  es  an- 
sehen mußte,  daß  sie  sich,  obwohl  persönlich  halb  unwillig,  ihrem 
jungen  burgundischen  Vetter  Johann  IV  von  Brabant  zu  verhei- 
raten versprach.  König  Siegmund  aber  tat  was  er  konnte  um 
die  Heirat  zu  verhindern  und  belehnte  Johann  von  Bayern,  Bruder 
des  verstorbenen  Herzogs,  mit  den  Grrafschaften.  Wie  dieser  fak- 
tisch sich  der  Herrschaft  bemächtigte,  selbst  von  Johann  von 
Brabant  anerkannt ;  wie  die  von  ihrem  Gremahl  vernachlässigte 
Jakobaea  ihn  verließ,  heimlich  nach  England  übersiedelte,  da- 
selbst sich  mit  Humphrey  von  Glocester  vermählte  und  bald  den 
Krieg  um  ihr  Erbe  in  den  Niederlanden  anfing,  wie  Johann  von 
Bayern  verschied  und  dann  PhiKpp  von  Burgund  seine  Erbschaft 
gegen  Jakobaea  behauptete,  ist  alles  allbekannt  und  mit  roman- 
tischem Schimmer  beleuchtet. 

Aber  die  Belehnung  mit  den  beiden  Grrafschaften  erhielt  Phi- 
lipp der  Gute  weder  von  Siegmund  noch  von  Albrecht  oder  Frie- 
drich III  und  auch  sein  Sohn,  Karl  der  Kühne,  konnte  sie  nicht 
durchsetzen  *) :  die  deutschen  Könige  wollten  das  Stück  deutscher 
Erde  dem  französischen  Burgunder  nicht  völlig  überlassen. 

Aber  dann  folgt  die  Zeit  der  Burgundisch- Habsburgischen 
Fürsten  und  damit  wohl  nicht  die  der  regelmäßigen  Belehnungen 
—  erst  Philipp  II  hat  sich  von  seinem  Vater,  wie  von  Ferdinand 
und  Maximilian  II  auch  mit  diesen  Grafschaften  belehnen  lassen 
aber  in  Hinsicht  auf  Holland-Seeland  und  Friesland  nur  in  dieser 
Form,  für  alles  was  „in  comitibus  Hollandiae,  Selandiae  dominiis- 
que  Frisiae  Orientalis  et  Occidentalis  aliisque  terris  inferioris 
Germaniae ,  quae  a  S.  B.  J.  moventur,  in  feudum  recognoscuntur 
ab  Imperio"  —  sondern  doch  mit  vager  Anerkennung  der  Zuge- 
hörigkeit zum  Reich  wie  aus  der  Formel  ,,quae  a  S.  B.  J.  mo- 
ventur" erhellt.  Die  „wunderliche  historische  Fiktion"  ^)  der  Sonder- 
stellung der  ehemaligen  lothringischen  Länder  im  Beich  wurde 
von  den  niederländischen  Juristen  zu  Hülfe  gezogen  um  damit 
nicht  allein  Brabant  sondern  auch  Holland-Seeland  als  „freies 
AUod"  nicht  nur  von  allen  Verpflichtungen  dem  Reich  gegenüber 
aber  auch  von  jeder  Zugehörigkeit  —  dafür  hätten  sie  nur  das 
Diplom  von  1314  vorzubringen  gehabt  —  lossprechen   zu   können. 


1)  Rachfahl,  1.  1,.  S.  81  ff.,  wo   er  meinen  früheren  Ausführungen  gegenüber 
Recht  hat. 

2)  Rachfahl,  S.  89. 


624  P-  J-  Blök, 

Daß  Holland-Seeland  vor  der  Burgunderzeit  immer  als  Reichs- 
lehen gegolten  haben,  ist  nach  allen  diesen  Bemerkungen  zweifellos 
festzustellen;  seit  1314  aber  ist  auch  rechtlich  nichts  weiter  als 
der  bloße  Lehnsnexus  geblieben  und  hat  das  Reich  weiter  nichts 
von  diesen  Herrschaften  zu  fordern  gehabt,  wie  diese  sich  auch 
ihrerseits  mit  dem  Reich  nicht  weiter  einließen.  Schon  unter  dem 
hennegauischen  Grafengeschlecht,  das  seiner  Herkunft  nach  weitaus 
mehr  dem  französischen  als  dem  germanischen  Wesen  nahestand, 
war  das  Band  mit  dem  Reich  also  sehr  geschwächt;  unter  den 
Bayern,  die  Froissart  recht  eigentlich  als  Avesner,  als  Henne- 
gauer  begrüßt,  als  Muster  der  französischen  Ritterwelt  seiner 
Zeit,  ist  dies,  anfänglicher  persönlicher  Verbindungen  zum  Trotz,, 
so  geblieben,  wie  unter  ihren  burgundischen  Nachfolgern. 

Die  hennegauisch-bayrischen  und  burgundischen  Landesherren 
schlössen  sich  in  dieser  Hinsicht  nur  der  geschichtlichen  Entwicke- 
lung  ihrer  Grafschaften  an.  Denn,  so  fest  es  steht,  daß  vor  der 
Burgunderzeit  staatsrechtlich  das  öfters  lockere  Band  dieser 
Gebiete  mit  dem  Reich  im  Großen  und  Ganzen  auch  nach  dem 
Diplom  von  1314  nicht  gänzlich  zerbrochen  ist,  ebenso  fest  steht, 
es,  daß  die  allgemeine  Kultur  der  Grafschaften  sich  nicht  in 
deutscher  sondern  in  französischer  Richtung  entwickelt  hat. 

Auch  staatsrechtlich,  aber  im  Sinne  der  inneren  staatlichen 
Entwicklung,  ist  ohne  jeden  Zweifel  der  französische  Einfluß  auf 
die  holländisch  -  seeländischen  Zustände  maßgebend  gewesen,  und 
schon  im  13.  Jahrhundert ,  dem  ersten ,  worüber  wir  vom  inneren 
Zustand  Hollands  und  Seelands  zuverlässiger  unterrichtet  sind. 
Und  dieser  Einfluß  nimmt  seinen  Weg  über  Flandern,  mit  welcher 
französischen  Grafschaft  die  holländischen  Grafen,  wie  wir  sahen, 
schon  seit  der  ältesten  Zeit  in  engen  Beziehungen  standen;  na- 
mentlich seit  dem  12.  Jahrh.  durch  das  Verhältnis  Seelands  zu 
Flandern,  dessen  mächtiger  ökonomischer  Aufschwung  schon  in 
diesem  Jahrhundert^)  auf  das  von  flämischen  Kaufleuten  durch- 
zogene Seeland^)  nicht  ohne  Einfluß  geblieben  sein  kann.  Wenn 
wir  die  fürstliche  Macht  in  Holland-Seeland  wie  in  Flandern  weit 
eher  kräftig  entwickelt  sehen  als  in  den  naheliegenden  Teilen  des 
deutschen  Reichs^);    wenn    wir  die  Burggrafschaften   von  Voome 


1)  Pirenne,  Geschichte  Belgiens  I,  S.  213  ff. 

2)  Oorkdb.  I,  no.  147  (1165),   wo    die  Rede  ist  von  „conductus  a  transeun- 
tibus  Flandrensibus",  von  dem  „mercator  transiens". 

3)  Pirenne,  I,  S.  120  ff. 


Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit,  625 

und  Leiden ,  die  einzigen  in  Holland  -  Seeland ,  die  beide  im  12. 
Jahrh.  schon  bestanden,  den  flämischen  und  nicht  den  deutseben 
Typus  tragen  sehen  ^);  wenn  wir  an  den  jungen  holländischen  und 
seeländischen  Städten  des  13.  Jahrb.  den  Einfluß  französischer  und 
flämischer  und  nicht  deutscher  Modelle  ganz  deutlich  erkennen 
können^);  wenn  wir  die  der  königlichen  französischen  Admini- 
stration entlehnten  flämischen  baillis  des  12.  in  den  holländisch- 
seeländischen  „baljuwen"  des  13.  und  14.  Jahrhunderts  ihre  Amts- 
genossen haben  sehen  ^);  wenn  wir  die  flämischen  „ambachten"  als 
Unterdistrikte  dieser  „baljuwschappen"  auch  in  Holland  -  Seeland 
wiederfinden;  wenn  wir  das  holländisch -seeländische  Polderrecht 
mit  dem  flämischen  große  Aehnlichkeit  bieten  sehen*)  —  da  ist 
Hegels  Ausspruch:  „Regierung,  Grerichtswesen  und  Verwaltung 
waren  in  diesen  Ländern  auf  gleiche  Weise  wie  in  Flandern  und 
Brabant  geordnet"  ^),  nicht  zu  stark. 

Aber  ist  dieser  unwidersprechliche  flämische  Einfluß  auch  fran- 
zösisch? Ich  glaube  sagen  zu  können:  auch  dieses  ist  der  Fall. 
Von  den  Burggrafen,  den  Castellani,  kann  es  bis  jetzt  ohne  ge- 
nauere lokale  Untersuchung  in  Flandern  und  Nord-Frankreich  noch 
nicht  endgültig  festgestellt  werden^),  wiewohl  Zusammenhang  mit 
den  nordfranzösischen  „chätelains"  vor  der  Hand  liegt  und  Ent- 
stehung dieser  Anordnung  aus  nordfranzösischen  Zuständen  höchst 
wahrscheinlich  ist  '^) ;  von  den  Ambachten  ist  das  nicht  so  nachzu- 
weisen aber  auch  hier  ist  jedenfalls  eine  überraschende  Aehnlich- 
keit zwischen  den  nordfranzösisch -normandischen  und  flämisch- 
holländischen ländlichen  Zuständen  zu  bemerken:  das  nordfran- 
zösisch-normandische  Dorf  ^)  ist  nicht  prinzipiell  verschieden  vom 
holländisch  -  seeländischen,  das  von  den  östlicheren  Dörfern  erheb- 
lich abweicht;  von  der  städtischen  Entwickelung  Flanderns  ist  es 
w^ohl  nicht  zweifelhaft,  daß  sie  die  Weiterentwickelung  der  nord- 
französischen kommunalen  Zustände  genannt  werden  kann,  wie  sie 
sich  in  Cambray  gegen  Ende  des  11.  Jahrb.  scharf  accentuierte  ^). 


1)  Eietschel,  Das  Burggraf enarat,  S.  200ff. ;   meine  Holl.  Stad  in  de  Middel- 
eeuwen,  S.  144/5. 

2)  Vgl.  meine  Holl.  Stad  in  de  Middeleeuwen,  S.  344  ff. 

3)  Fruin,  Staatsinstellingen,   S.  64  ff. ;    Pirenne,  S.  347  ff. ;   Luchaire,   Manuel 
des  institutions  monarcLiques  sous  les  cape'tiens  directs,  p.  543  f. 

4)  Müller,  Seeland,  passim. 

5)  Hegel,  Städte  und  Gilden,  II,  S.  239. 

6)  Eietschel,  1.  1.  S.  201. 

7)  Luchaire,  1.  1.  p.  251,  264  flg.,  278  flg. 

8)  Luchaire,  1. 1.  p.  377/8. 

9)  Pirenne,  S.  209  ff. 


626  P.  J.  Blök, 

Eine  zweite  wirkungskräftige  Periode  des  französischen  Ein- 
flusses auf  die  Landesverwaltung  in  Holland -Seeland  ist  aber  die 
Zeit  der  hennegauer  Grafen,  die  erste  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts. 
Es  steht  wohl  fest,  daß  erst  unter  ihnen  die  bis  dahin  noch  sehr 
primitive  von  der  fränkischen  Zeit  stammende  Verwaltung  dieser 
Grafschaften  an  feste  Regeln  gebunden  wurde.  Was  wir  in  dieser 
Hinsicht  aus  der  Zeit  Floris  V.  besitzen,  ist  sehr  dürftig:  Frag- 
mente eines  Lehnregisters  aus  der  Zeit  von  1280  bis  1297')  sind 
mit  einzelnen  Urkunden  ungefähr  das  einzige  was  wir  haben,  und 
diese  Aufzeichnungen  sind  noch  sehr  dunkel  und  verwirrt.  Sie 
zeigen  aber  nur  die  ersten  Anfänge  einer  besseren  Verwaltung, 
wie  übrigens  in  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrh.  auch  in  Holland, 
wie  in  den  andern  deutschen  Territorien  z.  B.  die  Kanzlei  Verhält- 
nisse sich  bedeutend  verbessert  haben  ^) ,  welche  Verbesserung 
wahrscheinlich  auch  teilweise  auf  päpstliche,  aber  für  diese  Ge- 
genden teilweise  auch  wieder  auf  französische  Modelle  zurückgeht  ^). 
Eine  geregelte  Registerführung  fängt  für  Holland  -  Seeland  aber 
erst  an  unter  der  Regierung  des  ersten  hennegauer  Grafen,  der 
nach  der  kurzen  stürmischen  Regierung  seines  Vaters  Johanns  ü. 
bald  in  völliger  Ruhe  diese  Grafschaften  lenkte:  Wilhelms  III., 
und  zwar  um  1319*).  Es  ist  dieser  vortreffliche  Herrscher  ge- 
wesen, der  die  holländisch-seeländische  Kanzlei,  wie  sie  später  be- 
steht^), und  die  Verwaltung  überhaupt  daselbst  geordnet  hat  in 
derselben  Art  und  Weise,  wie  sie  in  Hennegau  schon  früher  ge- 
ordnet waren  und  offenbar  wieder  nach  dem  bekannten  fran- 
zösischen Muster.  Und  was  hätte  mehr  vor  der  Hand  gelegen  als 
diesem  Muster  nachzufolgen,  das  seit  Philippe  -  Auguste  oder  viel- 
leicht eher  seit  Saint  Louis,  dessen  „regne  incomparable"  auch  in 
dieser  Hinsicht  maßgebend  war^),  und  mit  der  fruchtbaren  Regie- 
rung Philippe  le  Bel's  ')  Frankreich  zum  bestregierten  Land  der 
damaligen  Welt  machte?    Ein  einziger  Blick   in   die   französische 


1)  Muller ,  Het  oude  register  van  graaf  Florens ,  in  Bydr.  en  Meded.  Hist. 
Gen.  Utrecht,  XXE,  S.  117. 

2)  Breßlau,  ürkundenlehre,  I,  S.  458. 

3)  ib.  S.  104  ff. 

4)  Van  Riemsdyk,  De  registers  van  Gerard  Alewynsz,   in  Versl.   en  Meded. 
Kon.  Akad.  Afd.  Letterk.  3.  Reeks,  VII,  S.  430. 

5)  Van  Riemsdyk  1.  1.  und  De  tresorie  en  kanselary  van  de  graven  van  Hol- 
land en  Zeeland,  S.  69  ff. 

6)  Vgl.  Le  Nain  de  Tillemont,  Histoire  de  Saint  Louis. 

7)  Luchaire,   Manuel  des   Institutions  monarchiques  sous   les  Capdtiens  di- 
rects,  p.  529  suiv. 


Holland  und  das  Keich  vor  der  Burgunderzeit.  627 

Finanzverwaltung  des  13.  Jahrli.  zeigt  die  nahe  Verwandtschaft 
der  hennegauischen  mit  der  französischen  Verwaltung  dieser  Zeit 
und  es  muß  Johann  II.  von  Avesnes,  der  tatkräftige  erste  henne- 
gauer  Herrscher  über  Holland-Seeland  gewesen  sein ,  der  diese  in 
seinem  hennegauer  Land  eingerichtet  hat.  Die  Einrichtung  des 
hennegauisch- holländischen  Hofes  ist  wo  nicht  unmittelbar  doch 
ganz  gewiß  sei  es  dann  vielleicht  wieder  teilweise  durch  flämische 
Vermittelung ,  —  diese  Hennegauer  waren  Nachkommen  der  flä- 
mischen Gräfin  Margaretha  —  der  des  französischen  entlehnt.  Die 
Rechnungen  der  „herberghe"  des  Grrafen  und  der  Grräfin  von  Hol- 
land-Seeland um  1340  zeigen  völlig  dieselbe  Einteilung  wie  die 
der  „hoteis"  der  französischen  Könige  und  Königinnen;  dasselbe 
ist  der  Fall  mit  den  allgemeinen  Rechnungen  der  Grafschaft. 
Das  französische  „consilium" ,  die  „curia  regis"  ist  identisch  mit 
dem  gräflichen  „raad"  in  Holland ,  schon  unter  Floris  V. ;  die 
gräflichen  „clercken"  gehen  wie  in  Frankreich  im  14.  Jahrh.  in 
eigentliche  ;,legistes"  über,  die  Juristen,  die  den  Staat  Philippe 
leBel's  lenken  halfen:  Gerard  Allewynsz  und  Gerard,  Peter,  Hugo, 
Philipp  von  Leyden  in  Holland  -  Seeland  sind  nichts  anderes  als 
diese.  Das  ganze  finanzielle  Verwaltungssystem  der  holländischen 
Grafen  des  14.  Jahrh.  zeigt  also  unverkennbare  Verwandtschaft  mit 
dem  der  französischen  Könige,  in  dieser  Hinsicht  wie  in  allen  das 
Vorbild  der  monarchalen  Verwaltung  in  West-Europa.  Selbst  die 
Namen  der  gräflichen  Beamten  und  der  Unterabteilungen  der  gräf- 
lichen Rechnungen  sind  den  französischen  Modellen  entlehnt  ^). 

Und  was  die  Hennegauer  angefangen,  haben  die  Bayern  voll- 
endet. Nach  etzlichen  Jahren  von  Verwirrung,  namentlich  seit 
dem  jähen  Tode  des  unruhigen  Wilhelms  IV.  bei  Stavoren,  ist 
Wilhelm  V.  den  Spuren  seines  Großvaters  Wilhelms  III.  gefolgt  ^)j 
mit  Hülfe  wieder  der  „clercken",  die  diesem  gedient  hatten  und 
auch  bei  ihm  in  völlig  bewußter  Nachahmung  die  Stelle  der  „le- 
gistes"  der  französischen  Könige  erfüllten.  Wie  Nogaret  und  die 
Seinigen  unter  Saint  Louis,  Philippe  le  Hardi  und  Philippe  le  Bei 
die  wohlgebildeten  Instrumente  zur  Einführung  der  gewünschten 
monarchalen  Reform  in  Frankreich  gewesen  sind,  so  waren  es  in 
Holland-Seeland  vortreffliche  Beamte  wie  wieder  Gerard,  Peter  und 
Philipp  von  Leiden,  Nicolaus  Marre,  Gerard  Alewynsz ,  die  den 
Fürsten  bei  ihren  administrativen  Reformen   zur  Seite  gestanden 


1)  Grafelykheidsrekeningen  onder  het  Henegouwsche  Huis,    Ausg.  Hamaker 
(Werken  Hist.  Genootscbap  te  Utrecht). 

2)  Van  Riemsdyk,  De  tresorie  en  kanselary,  S.  75  ff. 


628  P.  J.  Blök, 

haben*).  !N'ach  dem  Ausbrucli  der  schrecklichen  Seelenkrankheit, 
die  den  jungen  vielversprechenden  ersten  bayrischen  Grrafen  zur 
Eegierung  nnfäbig  gemacht  hat,  ist  es  sein  Bruder  Albrecht,  der 
vielbewunderte  „duc  Aubert"  Froissarts  gewesen,  der  1363  den 
früher  in  flämischem  Dienst  stehenden  Jan  van  der  Zichelen  (de 
la  Fouchelle)  wie  in  Frankreich  und  Flandern  zu  seinem  Greneral- 
tresorier  angestellt  und  damit  die  Einheit  der  Verwaltung  in 
den  drei  Grafschaften  eingeführt  hat  2).  Ein  Vierteljahrhundert 
später  hat  Albrecht  die  Befugnisse  dieses  „Tresoriers",  damals 
noch  offiziell  „cancellarius  ac  curie  omniumque  rerum  et  bonorum 
comitis  legalis  dispensator"  genannt,  ansehnlich  erweitert^).  So 
ist  es  bis  in  die  Burgunderz eit  geblieben. 

Sehen  wir  also  ,  daß  die  Verwaltung  in  Holland-Seeland  ein 
flämisch -französisches  Gepräge  trägt,  die  allgemeine  Kultur  seit 
dem  13.  Jahrb.,  wiederum  dem  ersten,  das  uns  in  die  Kultur  der 
holländisch-seeländischen  Bevölkerung  einen  Einblick  gewährt,  bietet 
dasselbe  Schauspiel.  Auch  hier  entdecken  wir  eine  nähere  Verwandt- 
schaft zu  den  französischen  als  zu  den  deutschen  Erscheinungsformen 
des  Volkslebens  und  nicht  nur  hier,  sondern  in  den  gesammten  nieder- 
ländischen Gebieten,  namentlich  in  Flandern  und  ßrabant,  die  wie 
übrigens  im  Mittelalter  auch  hier  wiederum  eine  führende  Rolle 
spielten.  Daß  der  in  der  Nähe  von  Maastricht  geborene  Heinrich  von 
Veldeke  nach  französischem  Muster  seine  Eneide  bearbeitete  und  seine 
Liebeslieder  dichtete ;  daß  gebildete  flämische  und  holländische 
„clercken"  aus  der  Mitte  des  13.  Jahrh.  die  französischen  Ritter- 
romane in  „dietscher'^  Sprache  bereimten ;  daß  auch  die  Tierfabel 
von  Reinaert  und  Isegrim  in  Nord  -  Frankreich  zu  Hause  ist  und 
der  Niederländer  „Willem  de  Madocke  maecte",  wie  sein  neu  ent- 
deckter Vorgänger  Arnout,  seine  Gedichte  von  der  „aventure  van 
Reynaerde"  nur  „uten  waischen  boeken  in  dietsche  heeft  begonnen", 
ist  jetzt  „lippis  et  tonsoribus  notum"*).  Es  verdient  aber  Beach- 
tung, daß  die  mitteldeutschen  Romane,  wiewohl  auch  französischer 
Herkunft,  eher  ein  eigenes  Gepräge  zeigen,  während  die  nieder- 
ländischen Uebersetzer  bloß  durch  ihre  Sprache  niederländisch 
sind  und  selbst  die  einzelnen  bis  jetzt  noch  nicht  auf  ein 
französisches  Original  zurückgeführten  Romane  durch  und  durch 
französisch  gedacht   sind,   sich  in  nichts  von   den   andern,    deren 


1)  Ueber  sie  vgl.  Van  Rierasdyk  1. 1.  passim. 

2)  ib.  S.  119. 

3)  ib.  S.  175. 

4)  Vgl.  die  Untersuchungen  J.  W.  Mullers  über  den  dietschen  Reinaert. 


Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit.  629 

französischen  TJrsprnng  man  genau  kennt,  untersclieiden  lassen^). 
Die  französisclie  Sprache  war  denn  auch  in  Flandern  und  Brabant 
für  die  gebildeten  Stände  die  Sprache  der  Bildung,  selbst  eine 
zweite  Volkssprache^).  Die  fürstlichen  Häuser  von  Flandern  und 
Brabant  aus  dem  12.  und  13.  Jahrh. ,  und  mit  ihnen  ihr  Hof  und 
der  Adel,  von  dem  man  schrieb :  „filii  nobilium,  dum  sunt  juniores, 
mittuntur  in  Franciam  fieri  doctores",  kannten  kaum  die  Sprache 
der  Niederländer.  Es  war  die  französisch  gefärbte  Bildung  Flan- 
derns und  Brabants,  die  alle  Grebildeten  in  Holland  und  Seeland 
beeinflußte  ^) ;  obschon  die  deutsche  Mystik  in  der  doch  immer  ger- 
manisch angelegten  Volksseele  sich  auch  hier  nicht  verleugnete 
bei  Dichtem  und  Dichterinnen  wie  die  visionäre  Hadewych  mit 
ihren  Liedern  von  der  mystischen  „minne",  bei  Schriftstellern  wie 
Johannes  Ruysbroeck  und  Jan  van  Leeuwen.  Auch  die  nieder- 
ländische Fabel  ist  die  Nachbildung  der  französischen  wie  die 
niederländische  Lyrik  die  der  „lyrique  courtoise",  abgesehen  natür- 
lich vom  eigentlichen  Volkslied ,  das  sich  auch  damals  in  seiner 
urwüchsigen  Kraft  behauptete  und  die  Aeußerung  des  im  Grunde 
noch  immer  germanischen  Greistes  der  ungebildeten  Volks  klasse 
genannt  werden  darf.  Mit  Maerlant,  dem  „vader  der  dietschen 
dicht'ren  algader^' ,  verhält  sich  die  Sache  anfänglich  nicht 
anders:  er  übersetzt  sklavisch  französische  Romane,  bis  er  das 
„walsche"  als  „walsch"  verwirft  und  für  Flandern  und  Holland 
die  Anfänge  einer  nationalen  Literatur  schafft;  aber  er  tut 
es  doch  immer  wieder  in  den  französischen  Formen,  die  er 
künstlich  und  selbst  einigermaßen  selbständig  nachbildet.  Zu 
etwas,  das  man  volle  nationale  Selbständigkeit  nennen  könnte,  hat 
die  niederländische  Literatur  sich  weder  im  13.  noch  im  14. 
Jahrh.  emporschwingen  können  *) ;  auch  das  Lehrgedicht,  in  welchem 
der  national -niederländische  Zug  der  etwas  trockenen  verstandes- 
mäßigen, realen  Behandlung  am  meisten  hervortritt,  ist  von  den 
Franzosen  übernommen;  selbst  wo  es  die  nationale  Greschichte  be- 
handelt, bewegt  es  sich  peinlich  in  französischen  Formen. 

Gegen  1300  lassen  sich  jedenfalls  hier  die  Keime  einer  eigenen 
Nationalität  deutlich  spüren  ^) ;  diese  Nationalität  nennt  sich  eine 
eigene  „dietsche".     Als  Maerlant  sagt: 


1)  Te  Winkel ,    De   Ontwikkelingsgang   der  Nederl.   letterkunde ,   I ,    S.  56 
Kalff,  Gesch.  der  Nederl.  Letterk.,  I,  S.  88,  121. 

2)  Pirenne,  I,  S.  364  flf. 

3)  Te  Winkel,  1.  1.,  S.  57. 

4)  Kalff  I,  S.  287. 

5)  ib.  S.  293  ff. 

Kgl.  Ges.  A.  Wiss.    Nachrichten.    Philolog.-hist.  Klasse  1908.    Heft  6.  44 


630  P-  J-  ßiok, 

„Die  Brabantscen  pryst  Brabant 

Ende  die  Fransois  Vrankerike, 

Die  Duutsce  dat  Keyserrike, 

Die  Baertoene  prisen  Baertanien, 

Die  Tsampanoise  Tsampanien", 
da  nennt  er  sein  Vaterland  Flandern : 

„Dus  priset  elckerlyc  syn  lant. 

Maerlant  seide  dat  hi  noit  en  vant 

Also  goet  lant  alse  Bruxamboclit." 
Aber  der  Flame  füMte,  sich  dem  „Zeeuschen  diet",  dem  Bra- 
banter,  dem  Holländer,  selbst  dem  Friesen,  dem  TJtrechter,  dem 
Greldersmann  verwandt,  dem  Mann  von  „dietschem  Stamm",  viel- 
mehr als  dem  Deutschen  weiter  aus  dem  Reiche.  Mit  Stolz  spricht 
der  Brabanter  Boendale  vom  großen  Sieg  über  die  Franzosen  bei 
Sluis: 

„Van  deser  hoger  victorien, 

Die  eewig  blyft  in  memorien. 

Werden  blide  ten  selven  male 

Alle  die  spreken  Dietsche  tale." 
Noch  fühlt  sich  zwar  der  Dietsche   aus   den    „lagen  landen  bi  der 
See",  der  „terra  inferior",  wovon  seit  der  Mitte  des  11.  Jahrh.  ge- 
sprochen wird,  als  MitgKed  des  großen  deutschen  Stammes: 

„Want  Kerstenheit  es  gedeelt  in  tween  : 

Die  Walsche  tongen  die  es  een, 

Dandre  die  Dietsche^)  al  geheel", 
sagt  Boendale  in  der  naiven  Unkenntniß  seiner  Zeit  auf  sprach- 
lichem Grebiet.  Es  bilden  sich  aber  schon  kleine  „dietsche"  —  man 
sollte  sagen  Unter  -  Nationalitäten  und  unter  diesen  die  hollän- 
dische, die  in  dem  vielleicht  aus  Seeland  stammenden  Reimchronik- 
schreiber Melis  Stoke  ihren  ersten  nationalen  Geschichtsschreiber 
fand. 

Es  ist  die  Zeit  wo  sich  die  neueren  nationalen  Gregen- 
sätze  im  westlichen  Europa  zuerst  zeigen.  Aus  den  westfrän- 
kischen Lehnstaaten  bildet  sich  ein  französisches  Reich ,  aus  den 
kleinen  zersplitterten  Gebietsvölkerchen  eine  französische  Nation 
im  Gregensatz  zu  England  und  dem  deutschen  Reich;  in  diesem 
Reich  selbst  zeigen  sich  die  Gedanken  eines  nationalen  Zusammen- 
hanges, dem  die  verschiedenen  deutschen  Stammesreiche  unterge- 
ordnet scheinen.  Von  diesen  Stämmen  zieht  ein  aus  friesischen, 
fränkischen  und  niedersächsischen  Elementen  gebildeter  „dietscher" 

1)  Hier  ist  zu  bemerken,  daß  Boendale  also  dietscli  =  germanisch,  wie 
walsch  =  romanisch  nimmt. 


« 


Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit.  631 

Stamm  unsere  Aufmerksamkeit  auf  sick.  Der  Zusammenkang  der 
kleinen  mittelalterlicken  Leknstaaten  sckeint  nock  sekr  locker, 
aber  dock  sckwebt  sckon  über  den  kleinen  Unternationalitäten  der 
Gredanke  einer  Zusammengebörigkeit ,  unklar  nock  und  öfter 
sckwack  aber  sckon  deutlick  füklbar. 

Diese  kleine  kolländiscke  Unter  -  Nationalität  füklt  sick  als 
zum  „dietscken"  Stamm  gekörig,  ja  sie  wird  die  wokl  eigent- 
lick  „dietscke",  „duutscke"  genannt^).  Sie  folgt  aber  der  mekr 
nack  Süden  als  nack  Osten  kin  sick  wendenden  Kulturbildung  dieses 
Stammes,  der  sick  ostwärts  jenseits  der  Yssel,  der  alten  Grrenze 
zwiscken  Franken  und  Sacksen,  in  Greldern  sckon  nickt  mekr  zu 
Hause  füklt  und  südwärts  in  Südflandern  und  Südbrabant  seine 
Sprackgrenze  findet.  Maerlant  ist  geborener  und  gezogener  Flame 
aber  er  nennt  sick  nack  einem  kleinen  Dorf  bei  Brielle,  wo  er 
Küster  gewesen  ist  und  von  nakebei  den  Hof  des  mäcktigen 
Burggrafen  von  Voorne  und  Seeland,  ja  den  jungen  kolländiscken 
Grafen  Floris  V.  kannte,  denen  er  seine  Werke  widmete,  wie  er 
im  Auftrag  des  Grafen  seinen  nickt  nur  dem  Titel  nack  dem  fran- 
zösiscken  wiewokl  lateinisck  gesckriebenen  Speculum  kistoriale  Vin- 
cents von  Beauvais  nackgebildeten  ^Spiegkel  Historiael"  sckrieb 
in  der  kolländiscken  Abteilung  eine  Verkürzung  von  Stoke's  kol- 
ländiscker  Reimckronik  ^j.  Die  Fortsetzung  dieses  Spiegkel  Histo- 
riael lieferte  der  Brabanter  Lodewyk  von  Veltkem,  der  auck 
wieder  mit  den  Herren  von  Voorne  in  Beziekung  stand.  Die 
mittelniederländiscken  ,,sproken"  und  „boerden"  sind  in  großer  An- 
zakl  wieder  Uebersetzungen  der  französiscben  „dicts"  und  „fablels" 
und  auck  die  einkeimiscken  sckließen  sick  vielfack  französiscken 
Mustern  an^);  die  den  französiscken  Mustern  folgenden  „Menes- 
treelen",  „Goliarden"  und  „Jongleurs"  des  13.  Jakrk.  seken  sich 
im  14.  Jakrk.  durck  den  jedenfalls  kalbfranzösiscken  „spreker"  und 
„seggker"  ersetzt.  Es  ist  dabei  gewiß  zu  beackten,  das  die  ober- 
deutscke  Herkunft  xmd  die  oberdeutscken  Beziekungen  der  bay- 
riscben  Landesberren  in  der  zweiten  Hälfte  des  14.  Jakrk.  auck 
deutscke  Sprecker  nack  Holland  zogen,  aus  Köln,  aus  Bayern,  aus 
Bökmen ,    aus    Mainz ,   aus    Holstein ,    aus   Westpkalen  *) ;    etzlicbe 


1)  Vgl.  Te  Winkel,  Maerlants  Leven  en  Werken,   2.  Ausg.,  S.  28/29 ;   Kalif, 
I,  S.  312;  Verwys,  in  Taalkundige  Bijdragen,  I,  S.  217  ff. 

2)  Te  Winkel,  Maerlant,  S.  375. 

3)  Te  Winkel,    Gesch.  der  Nederl.  Letterk.  I,  S.  456  ff.;   Ontwikkelingsgang 
I,  S.  95/6. 

4)  ib.  S.  475. 

44* 


632  P-  J-  Biok, 

„sproken"  zeigen  demzufolge  eine  mehr  oder  weniger  verdeutschte 
Sprache.  Aber  es  ist  viel  zu  viel  gesagt ,  daß  am  holländischen 
Hof  dieser  Zeit  ein  „hochdeutscher  Ton"  geherrscht  haben  sollte  ^) ; 
aus  Froissart  geht  hervor,  daß  Albrecht  und  Wilhelm  VI.  vielmehr 
den  französischen  Ton  kultivierten,  wie  am  Hofe  der  Grrafen  von 
Blois  zu  Gouda,  die  Nachkommen  des  hennegauer  Grafensohnes 
Jean  de  Beaumont,  des  zweiten  Sohnes  Wilhelms  III.,  eines  Modelles 
der  französischen  Ritterschaft  seiner  Zeit,  die  französische  Bildung 
unzweifelbar  die  Ueberhand  hielt  ^) ;  die  hochdeutschen  Beziehungen 
der  bayrischen  Fürsten  dagegen  haben  auf  die  holländische  Lite- 
ratur keinen  dauernden  Einfluß  gehabt ,  wie  zugegeben  werden 
muß  selbst  von  denen,  die  vom  „hochdeutschen  Ton"  der  bayrischen 
Zeit  sprechen^).  Es  ist  überhaupt  nicht  möglich  die  holländische 
Bildung  des  13.  und  14.  Jahrh.  von  der  flämischen  und  brabanti- 
schen,  wohl  aber  sie  von  der  niedersächsischen  und  der  rheinischen 
zu  scheiden :  die  ersteren  sind  nach  allen  Richtungen  französisch 
beeinflußt,  die  letzteren  tragen,  wiewohl  auch  hier  und  da  ziem- 
lich stark  französisch  beeinflußt*),  ein  ausgesprochenes  deutsches 
Gepräge. 

Die  holländischen  Sprecher  des  14.  Jahrh.,  deren  Werke  wir 
besitzen,  ein  Noydekyn,  ein  Jan  van  Hollant,  ein  Augustynken 
van  Dordt,  ein  Willem  van  Hildegaersberch  zeigen  diesen  fran- 
zösischen Einfluß  eben  so  gut  wie  der  letzte  dann  und  wann  als 
Staatsdiener  der  Bayern  deutsch  angehauchte  Dichter  aus  Holland 
vor  der  Burgunderzeit,  Dirk  Potter  van  der  Loo  ^).  Auch  die 
schwach  vertretene  niederländische  dramatische  Literatur  des  14. 
Jahrh.  steht  unzweifelbar  auf  französischem  Boden  ^).  Als  aber 
das  14.  Jahrh.  zu  Ende  geht,  hat  die  nationale  holländische  Bil- 
dung, dessen  Anfänge  wir  am  Ende  des  13.  spüren  konnten,  sich 
viel  selbständiger  gemacht ') ,  was  aber  ihre  Herkunft  aus  der 
starken  Beimischung  französischer  Bildungselemente  beim  germa- 
nischen Grundelement  nicht  wegnehmen  kann;  eben  diese  starke 
Beimischung  macht  ihr  besonderes  Gepräge  aus. 

Und  wie  würde  es  anders  gekommen  sein?  Die  Fürsten  und 
ihre  Höfe,  ihre   Verwaltung   werden  nach   französischem   Muster 


1)  Te  Winkel,  Ontwikkelingsgang,  S.  103. 

2)  Busken  Huet,  Land  van  Rembrand,  I,  S.  76  ff.  (Jan  van  Blois). 

3)  Te  Winkel,  1.  1. 

4)  Lamprecht,  V,  1.  1. 

5)  Te  Winkel,  Geschiedenis,  I,  S.  603  ff. 

6)  ib.  S.  514  ff. 

7)  Kalff,  I,  S.  564. 


Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit.  633 

gebildet;  der  Adel  schließt  sicli  diesem  an  und  folgt  der  fran- 
zösischen Mode;  der  holländische  Bürger  erhält  im  14.  Jahrh. 
einen  wiewohl  noch  geringen  Anteil  an  der  feineren  Kultur  der 
höheren  Klassen.  Wie  sollte  er  sich  zu  Deutschland  gewendet  und 
nicht  vielmehr  nach  Frankreich  gesehen  haben?  Dahin  gehen 
Bürger  wie  Philipp  von  Leyden  ^),  die  juristische  und  theologische 
Studien  treiben  wollen. 

Keine  fremde  Sprache  hat  denn  auch  auf  das  damalige 
„Dietsch"  einen  so  großen  Einfluß  gehabt  wie  die  französische^), 
die  Umgangssprache  der  südlichen  niederländischen  Gebiete,  die 
vornehmlich  in  den  Wörtern,  die  sich  beziehen  auf  Ritterwesen,  Be- 
waffnung, Kleidung,  Kunst  und  Wissenschaft,  Jagd  und  Turniere, 
Feste  und  Vergnügung,  Musik  und  Dichtkunst,  Luxus  und  gesell- 
schaftlichen Verkehr  sich  gelten  ließ.  Hunderte  von  Wörtern  sind 
auf  diesen  Gebieten  und  den  naheliegenden  in  die  mittelnieder- 
ländische Sprache  aufgenommen  und  zum  Teil  auch  im  jetzigen 
Niederländischen  beibehalten.  Selbst  der  stärkste  Purist  —  und 
Niederland  zeigt  in  den  letzten  Jahren  wieder  einen  ausgespro- 
chenen Hang  zum  Purismus ,  den  Ausdruck  eines  lebhafteren  Na- 
tionalgefühls —  muß  sich  zum  Gebrauch  von  zahlreichen  damals 
aus  dem  Französischen  entlehnten  Wörtern  bequemen.  Es  würde 
möglich  sein  die  Zeit  der  wachsenden  Zunahme  des  französischen 
Einflusses  in  dieser  Hinsicht  auf  den  holländischen  Wortschatz 
festzustellen  und  ich  glaube  sagen  zu  dürfen,  daß  bei  dieser  Unter- 
suchung herauskommen  würde,  daß  die  Zeit  wieder  in  der  Periode 
der  hennegauer  Fürsten  mit  ihrer  ausschließlich  französischen  Bil- 
dung gestellt  werden  soll ,  die  Zeit ,  in  welcher  z.  B.  das  germa- 
nische „Diso",  „Disch"  in  der  Volkssprache  dem  romanischen  „Tafel" 
weichen  mußte  und  in  welcher  die  Verwaltung  sich  noch  stärker 
als  früher  der  französischen  anschloßt). 

Und  was  von  den  kulturellen  Lebensformen  gesagt  worden 
ist,  kann  gewiß  auch  von  den  materiellen  gelten.  Das  hollän- 
dische Geldwesen,  das  wie  das  friesische  überhaupt  nach  der 
Karolingerzeit  und  den  Normanneneinfällen  sich  wohl  dem  köl- 
nischen, dem  Geldwesen  der  alten  Handelsmetropole  am  Nieder- 
rhein angeschlossen  hat,  schließt  sich  schon  unter  Floris  V.  und 
noch  mehr  in  den  Münzreformen  des  14.  Jahrh.  dagegen  dem  fran- 
zösisch-flämischen System  völlig  an,    wie  es  sich  vornehmlich  seit 


1)  Fruin,  Verspr.  Geschriften,  I,  S.  127. 

2)  Verdam,  Uit  de  geschiedenis  der  Nederlandsche  taal,  2.  Ausg.,  S.  196  iT. ; 
Salverda  de  Grave,  De  Franse  woorden  in  het  Nederlands  (Amst.  1907). 

3)  Siehe  oben,  S.  626  ff. 


634  P-  J-  ßlok, 

den  Ordonnanzen  von  Saint -Louis  entwickelt  hatte  ^);  auch  die 
falschen  Prinzipien  der  Greldwirtschaft  Philippe  le  Bel's  werden 
in  Holland  vielfach  nachgefolgt  und  ebenso  die  Verbesserungsver- 
suche  aus  der  Zeit  Charles  V.,  der  in  der  ersten  ziemlich  ruhigen 
Zeit,  die  die  Valois  kannten,  „rem  francicam  restituit"  und  auch 
zu  den  finanziellen  Ordonnanzen  der  älteren  Capetinger  zurück- 
griff.  Und  wenn  man  bedenkt,  daß  der  holländische  Handel  im 
13.  Jahrh.  sich  erst  zu  entwickeln  anfing  und  wir  vor  dieser  Zeit 
nur  von  flämischen  und  brabantischen  durchziehenden  Kaufleuten 
hören,  ist  es  nicht  fremd,  daß  auch  in  dieser  Hinsicht  der  flämische 
Einfluß  sieb  aussprach.  Erst  im  14.  Jahrh.  konnte  der  holländische 
Handel  seine  Flügel  ausschlagen  und  die  Konkurrenz  anfangen, 
die  der  deutschen  Hansa  bald  tötliche  Wunden  schlagen  sollte, 
wiederum  in  ausgesprochenem  Gegensatz  gegen  diese- Erscheinung, 
den  Ruhm  des  späteren  deutschen  Mittelalters. 

Aber  als  diese  Zeit  anbrach,  ließen  sich  die  Anfänge  der 
burgundischen  Herrschaft  bereits  spüren.  Ich  halte  also  inne 
und  erlaube  mir  jetzt   die  Summe   dieser  Bemerkungen  zu  ziehen. 

Sie  kommt  darauf  hinaus,  daß  schon  lange  vor  der  Burgunder- 
zeit, jedenfalls  schon  im  13.  Jahrhundert,  dem  ersten,  in  welchem 
wir  in  diese  Verhältnisse  einen  Blick  bekommen  können,  die  Graf- 
schaften Holland  und  Seeland,  ihrer  Entlegenheit  wegen  schon  mit 
dem  Reiche,  zu  dem  sie  außer  jedem  Zweifel  gehörten,  nur  schwach 
zusammenhängend,  in  ihrem  staatsrechlichen  Verhältnis  zum  Reiche 
auf  dem  Wege  der  Trennung  waren,  auf  welchem  das  Diplom  vom 
25.  Nov.  1314  einen  wichtigen  Schritt  setzte;  schon  vorher  hatte 
ihre  Verwaltung,  ihre  Kultur,  ihre  soziale  Entwickelung  sie  unter 
starken  und  dauernden  französischen  Einfluß  gebracht.  Die  Bur- 
gunderherzöge haben  dann,  französischen  Stammes  wie  sie  waren 
und  in  der  Absicht  ein  eigenes  Reich  zu  bilden,  das,  wie  vor  Jahr- 
hunderten Lothringen,  zwischen  Frankreich  und  dem  deutschen 
Reich  eine  Mittelstellung  einnehmen  sollte,  die  in  dieser  Richtung 
entscheidende  Wirkung  geübt.  So  waren  schon  lange  vor  dem 
Augsburger  Vertrag  von  1548,  schon  lange  vor  dem  Aufstand 
der  Niederlande  gegen  Spanien  die  Niederlande  dem  Reich  ent- 
fremdet und  die  Lossagung  von  1648  war  nur  das  Ende  einer 
langen  geschichtlichen  Entwickelung,  deren  Anfang  früh  im 
Mittelalter  zu  suchen  ist. 


1)  Luchaire,    1.   1.,   p.  592   suiv. ;    Fruin,    Verspr.   Geschr.    VIII,    S.  192  ff.; 
Pierson,  Staathuishoudkunde,  2.  Ausg.  I,  6G5  ff. 


Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit.  635 


Beilage  I. 

^)  Ludowicus  dei  Gratia  Romanorum  Rex  Et  semper  Augustus.  Universis  et 
singulis  presentes  litteras  inspecturis  gratiam  suam  et  omne  bonum.  Ad  uni  I|  ver- 
sorum  noticiam  cupimus  pervenire  quod  nos  propter  Grata  et  obsequiosa  servitia 
que  spectabilis  Guillelmus  comes  Hollandie  et  sui  predecessores  nostris  ante- 
cessoribus  ||  Regibus  et  imperatoribus  Romanorum  et  Imperio  exhibuerunt  et  ad- 
huc  nobis  et  imperio  exhiberi  speramus  in  futurum,  omne  ius  quod  hiidem  nostri 
predecessores  |1  in  comitatibus  Hollandie,  Zelandie  et  dominatu  Frisie  reclamarunt 
seu  reclamare  potuerunt,  aut  Nos  reclamare  possemus,  libere  et  absolute,  de  con- 
sensu  II  et  assensu  nostrorum  principum  quittamus,  ac  eidem  ejusque  heredibus 
et  successoribus,  presentibus  duximus  remittendum,  salvo  tarnen  nobis  et  Imperio 
homagio  debito  |1  pro  eisdem.  Si  autem  processus  aliqui  per  nostros  predecessores 
facti  extiterint  contra  eumdem  coraitem  an  '^)  suos  predecessores  pro  iure  predicto, 
ex  certa  scientia  presen  ||  tibus  irritamus-  In  cuius  rei  testimonium ,  sigillum 
nostrum  presentibus  litteris  duximus  apponendum.  Datum  Acquis  vicesima  quinta 
die  mensis  ||  novembris  anno  Domini  millesimo  trecentesimo  quartodecimo ,  Regni 
vero  nostri  anno  primo. 

Tresorerie  des  comtes  de  Hainaut,  Mons, 
Charte  no.  368.    Original  Parch.  Siegel  verloren. 


1)  Einfaches  Chrismon. 

2)  Ms.  hat :  au.  Devillers  und  seine  Vorgänger  gaben  diese  Züge  durch  „an" 
wieder.  Es  scheint  aber  vielmehr  eine  Verschreibung  für  „aut"  zu  sein  wie  auch 
das  korrespondierende  Diplom  von  1330  „aut"  hat. 


Beilage  IL 

Ludovicus  quartus^)  Dei  gracia  Romanorum  Imperator  semper  augustus. 
Universis  et  singulis  ||  presentes  litteras  inspecturis  gratiam  suam  et  omne  bonum. 
Ad  universorum  noticiam  cupimus  pervenire  quod  nos,  propter  grata  et  ||  obse- 
quiosa servicia  que  spectabilis  vir  Guillelmus  Comes  Hannonie^)  et  Hollandie  et 
11  sui  predecessores  nostris  antecessoribus  Regibus  et  Imperatoribus  Romanorum 
et  Imperio  exhibuerunt,  et  adhuc  nobis  et  Imperio  exhiberi  speramus  in  futurum, 
Omne  ius  ||  quod  iidem  nostri  predecessores  in  Comitatibus  Hollandie,  Zelandie  et 
dominatu  Frizie  |1  reclamaverunt  seu  reclamare  potuerunt  aut  nos  reclamare  pos- 
semus, libere  et  absolute  ||  de  consensu  et  assensu  nostrorum  Principum  quittamus 
ac  eidem  eiusque  heredibus  et  successoribus  presentibus  duximus  remittendum. 
Salvo  tarnen  nobis  et  Imperio  homagio  debito  pro  |1  eisdem.  Si  autem  processus 
aliqui  per  nostros  predecessores  facti  extiterint  contra  eundem  Comi  I|  tem  aut 
suos  predecessores  pro  iure  predicto,  ex  certa  scientia,  presentibus  irritamus.  In 
I!  cuius  rei  testimonium  presentes  conscribi  et  nostra  Bulla  Aurea  signoque  con- 
sueto  iussimus  comuniri.     Datum  Spire,  Quar  ||  ta  decima  die  mensis  Junii,   Anno 


636  P-  J-  Blök,  Holland  und  das  Reich  vor  der  Burgunderzeit. 

domini  millesimo  trecentesimo  tricesimo,    Regni  nostri  Anno  sextodecimo,   Imperii 
vero  tercio  I|. 

Signum  domini  Ludovici  quarti   Dei    gratia   Romanorum   Imperatoris   invic- 
tissimi. 


Trösorerie  des  chartes  des  comtes  de  Hainaut.  Mons 
Charte  no.  467.  Original  Parch.  Die  goldene  Bulle 
verloren ;  sie  war  noch  daran  befestigt  als  das  Vidimus 
von  1360  gegeben  wurde  (vgl.  Van  Mieris,  II,  S.  497). 


1)  Diese  beiden  Wörter  mit  schönen  großen  Buchstaben  geschrieben. 

2)  Hier  in  der  Mitte  der  Urkunde  auf  neun  Zeilen   zwischen  dem  Text  das 
große  Monogramm  des  Kaisers. 


Nueva   Corönica  j   Buen  Gobierno 
des 
Don    Felipe    Guaman    Poma    de   Ayala,     eine    pe- 
ruanische Bilderhandschrift. 

Vorläufige  Mitteilungen. 
Von 

Richard  Pietschmaim. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  31.  Oktober  1908. 

Im  August  dieses  Jahres  war  mir  vergönnt  als  einer  der 
Deutschen  Delegierten  an  dem  XV.  Internationalen  Orientalisten- 
Kongresse  zu  Kopenhagen  teilzunehmen.  Dem  freundlichen  Ent- 
gegenkommen des  Direktors  der  dortigen  Königlichen  Bibliothek 
Dr.  H.  0.  Lange  verdanke  ich,  daß  ich  an  der  Hand  des  Ver- 
zeichnisses einen  ansehnlichen  Teil  der  Handschriftenschätze  zu 
durchmustern  vermochte,  und  hierbei  begegnete  mir  unter  anderm 
ein  Werk ,  das  meines  Wissens  bisher  unbeachtet  geblieben  ist, 
doch  wohl  verdient,  wenigstens  den  Völkerkundigen  und  andern 
Fachgelehrten  bekannt  zu  werden.  Über  diesen  Fund  beabsichtige 
ich  hier  eine  Nachricht  zu  geben  als  Vorläufer  einer  eingehen- 
deren Veröffentlichung,  zu  der  mir  die  Zustimmung  der  Bibliotheks- 
Verwaltung  gütigst  erteilt  und  die  nächste  Möglichkeit  in  liberaler 
Weise  gewährt  wurde.  Es  ist  Nr.  2232  der  Alten  Königlichen 
Sammlung ,  Papier  ,  ein  starker  Quartband  kleinen  Formats  von 
1179  zum  Teil  sehr  eng  beschriebenen  Seiten.  Der  Titel  lautet : 
El  primer  nueva  corönica  y  buen  gobierno,  auch  nur  Nueva  corönica 
y  buen  gobierno ,  und  als  Verfasser  nennt  sich  Don  Felipe  Gruaman 
Poma  de  Ayala  senor  y  principe. 

Schon  die  Namen  Gruaman,  das  ist  huaman  „Falke",  und  Poma, 
das  ist  puma ,   der  amerikanische  Löwe ,  zeigen ,    daß  wir   es  mit 


ß38  ^-  P  i  e  t  s  c  h  m  a  n  n , 

einem  Eingebornen  Perus  zu  tun  haben.  Man  besitzt  bereits  ein 
Werk  aus  ähnlicher  Feder,  die  Relacion  de  antlguelades  deste  reyno 
de!  Firn  des  Don  Joan  de  Santacruz  Pachacuti  Yamqui  Salca- 
maygua,  der.  wie  man  vermutet,  etwa  um  1613  oder  1620  schrieb 
und  aus  einem  der  alten  Häuptlings  -  Geschlechter  der  Colla,  des 
südlichen  Hochlands  von  Peru,  stammte.  Auch  Don  Felipe  Grua- 
man  Poma  zählt  nicht  unmittelbar  zum  Inka-Greschlechte.  Er  gibt 
zunächst  eine  ausführliche  Aufzählung  des  Inhalts  seines  Buches, 
eine  Anrufung  der  Dreieinigkeit,  ein  Anschreiben  an  den  Papst 
und  dann  ein  „Anschreiben  des  Vaters  des  Verfassers"  datiert 
vom  15.  Mai  1587  aus  dem  Orte  La  Concepcion  de  Guayllapampa 
im  Gerichtskreise  Guamanga,  gerichtet  an  Philipp  II.  Überschrift 
und  Text  dieses  Briefes  lauten  [Seite  5  der  Handschrift] : 

CARTÄ  DEL  FADRE  DEL  AUTOR. 

carta  de  don  martin  guaman  mallque  ^)  de  ayala  hijo  y  meto  de  los 
grandes  seno-res  y  rreys  que  fiieron  antiguamente  y  capitan  gener al  y 
senor  del  rreyno  y  capac  apo  ques  prencipal  y  senor  de  la  prouincia 
de  los  lucanas  andamarcas  y  circamarca  y  soras  y  de  la  ciiidad  de 
giiamanga  y  de  su  jiiridicion  de  sancta  Catalina  de  chupas  principe 
de  los  chinchaysuyos  y  segunda  persona  del  ynga  deste  rreyno  del 
piru  a  la  rreal  magestad  del  rrey  don  felipe  nuestro  senor  el  ssegundo  ^) 
-  di^e  agi  - 

S.  C.  R.  M. 

eiitre  las  cosas  qtiesta  grau  prouincia  destos  rreynos  a  prosedido  utiles 
y  prouechosos  al  seruicio  de  dios  y  de  v.  magestad  nie  a  parecido  haser 
cstima  del  engenio  y  cnriucidad  por  la  gran  auilidad  del  dicho  mi 
hijo  lexitlmo  don  felipe  guaman  poma  de  ayala  capac  ques  prencipe^) 
y  gouernador  mayor  de  los  yndios  y  demas  caciques  y  prencipales  y 
senor  de  ellos  y  administrador  de  todas  las  dichas  [Seite  6]  comoni- 
dndes  y  sopci  *)  y  tiniente  general  del  corregidor  de  la  dicha  buestra 
prouincia  de  los  lucanas  rreynos  del  piru  .  el  cual  abra  como  veynte 
anos  poco   o   mas  o   menos   que   a   escrito   unas  historias  de  nuestros 


1)  mallque,  korrekter  mallqui  bedeutet  „Setzling",  „Sprößling".  —  Ich  habe 
den  Text  belassen  wie  er  ist,  nur  die  Abkürzungen  aufgelöst.  Die  Trennungs- 
striche stehen  in  der  Handschrift.  Die  Punkte  als  Satztrennungszeichen  habe 
ich  gesetzt. 

2)  ssegundo  ist  über  terzero  nachträglich  übergeschrieben. 

3)  prencipe,  geändert  aus  prencipal. 

4)  =  sapsi  „Gemeingut",  alles  was  Gemeinbesitz  einer  Gemeinschaft  oder 
zu  allgemeinem  Gebrauche  da  ist. 


Nueva  Coröuica  y  Buen  Gobierno  des  Don  Felipe  Guaraan  Poma  de  Ayala.    639 

antepasados  aguelos  y  mis  padres  y  senores  rreys  que  fueron  antes 
del  ynga  y  despues  que  fiie  desde  uariuiracocharima  -  y  uariruna  - 
y  purimruna  -  auca  runa  -  yncap  rurmn  ^)  -  y  de  lo(s)  dichos  dose 
yngas  y  de  sus  serioras  coyas  y  nustas  pallas  capacuarme  aiiquiconas  ^) 
y  de  los  caciques  prencipales  capac  apoconas  -  curacacona  -  dlli- 
caccona  -  camachicocctma  -  cinchicona  ^)  y  todo  el  gobierno  de  los  yngas 
hasta  SU  fin  y  acauamiento  -  y  la  dicha  conquista  destos  huestros 
rreynos  -  y  despues  como  se  dlsaron  contra  v  .  Corona  real  -  y  de 
todas  la^  dichas  ciudades  y  uillas,  aldeas  y  prouincias  y  corregimientos 
y  puehlos  y  las  dichas  buestras  minas  y  la  uida  de  buesiros  corregi- 
dores  y  de  los  dichos  padres  y  ciiras  de  las  dichas  dotrinas  ~  y  de 
huestros  comenderos  de  los  yndios  y  de  espanoles  -  y  de  los  dichos 
tanbos  y  puentes  y  caminos  -  y  de  los  dichos  mineros  y  de  los  dichos 
caciques  prencipales  y  de  yndios  particulares  y  de  sus  rretos^)  que 
usauan  antiguamente  y  de  su  cristiandad  y  pulicia  y  otras  curiu- 
cidades  destos  rreynos  por  rrelaciones  y  testigos  de  uisfa  que  se  tomo 
de  los  quatro  partes  destos  rreynos  de  los  dichos  yndios  muy  biejos 
de  edad  de  ciento  y  cincitenta  an  [Seite  7J  os  y  de  cada  parte  quatro 
yndios  testigos  de  iiista  .  y  que  el  estilo  es  fazil  y  graue  y  sustancial 
y  prouechoso  a  la  sancta  fe  catolica  y  la  dicha  historia  es  muy 
uerdadera  como  conbiene  al  supgeto  y  personas  de  quien  trata  .  y  que 
demas  del  seruicio  de  v  .  magestad  que  rrezultara  ynprimirse  la- dicha 
historia  comensandose  a  selebrar  y  haser  ynmortal  la  memoria  y 
mombre  de  los  grandes  senores  antepasados  nuestros  aguelos  como  lo 
merecieron  sus  hazanas  .  deseando  que  todo  este  se  consiga  iimilmente 
suplico  a  V.  magestad  sea  seruido  de  fahoreser  y  haser  merccd  al  dicho 
mi  hijo  don  felipe  de  ayala  y  para  todos  mis  nietos  para  que  su 
pretencion  baya  adelante  que  es  Ip  que  pretendo  de  que  a  v  .  magestad 
nnestro  senor  guarde  y  prospere  por  muchos  y  muy  filicis  anos  con 
acresentamiento  de  mas  rreynos  y  senorios  como  su  menor  y  humilde 
vasallo  deseo  .  de  la  concipcion  de  guayllapampa  de  apcara  ^)  prouincia 

1)  Über  diese  Zeitalter  vergl.  Seite  649. 

2)  Lies  nustas  .  capac  uarme  =  capachuarmi  „Fürsten-Frau",  aiiquiconas 
=  auquicuna  „Prinzen"  von  Geblüt.  Coya  ist  die  Hauptfrau  des  Inka,  palla 
eine  von  den  Nebenfrauen  und  eine  verheiratete  Frau  von  königlicher  Abkunft, 
nusta  unverheiratete  Prinzessin  von  Geblüt. 

3)  capacapocona  „Fürsten",  „Herrscher",  curacacona  „Häuptlinge",  aUicaccona 
„Edelleute",  camachicoccuna  „Verwaltungsbeamte",  cinchicona  „Heerführer". 

4)  =  ritos  . 

5)  La  Concepcion  de  Guayllapampa  war  damals  der  Hauptort  des  Repar- 
timiento  de  los  Rucanas  Antamarcas  Nach  der  Befestigung  hat  er  den  Zu- 
namen de  Apcara.  Vergl.  den  Bericht  vom  Jahre  1536  in  den  Relaciones  geo- 
grdficas,  Peru,  1  S.  198.  201.  203.  208.  214. 


ß40  ^*  Pietschmann, 

de  Jos  lucanas  y  soras  juridicion  de  la  ciudad  de  guamanga  a  quinise 
del  mes  de  mayo  de  mil  quinientos  ochenta  y  siete  anos 

S.  C.  B.  M.  hezo  los  rreales  pies  y  tnanos  a  v.  magestad  su  umilde 
hazallo 

Don  m artin  de  ayala, 

Danacli  ist  also  Don  Felipe  Guaman  Poma  de  Ayala  der 
Nachkomme  der  Oberherren  nicht  bloß  des  Gebietes  der  Lucanas 
oder  Rucanas,  Andamarcas,  von  Circamarca  und  der  Soras,  sondern 
des  ganzen  Chinchaysuyu  ,  Sohn  des  Stellvertreters ,  der  segunda 
persona  des  Inka,  oder,  wie  der  Titel  lautete,  des  Incap  r antin  ^). 
Hier  also  würde  ein  Angehöriger  des  nördlichen  mächtigen  Län- 
dergebiets zu  "Worte  kommen ,  das  sich  rühmte ,  den  Waifen  der 
Herrscher  von  Cuzco  lange  getrotzt  und  schließlich  mehr  durch 
Überredung  und  gütliche  Übereinkunft  sich  zur  Untertänigkeit 
bequemt  zu  haben. 

Im  Verlaufe  der  Geschichtserzählung  teilt  Don  Felipe  Guaman 
Poma  uns  den  Stammbaum  des  Dynastengeschlechtes  mit,  zu  dem 
er  sich  rechnet.  Es  machte  Anspruch  auf  göttlichen  Ursprung 
und  führte  wie  sein  mythischer  Ahnherr  den  Herrschertitel  Yaro- 
villca.  Es  leitete  sich  nicht  aus  dem  Lande  der  Lucanas  und 
Soras  her,  sondern  weiter  aus  dem  Norden,  aus  AUauca  Huanuco 
im  Gebiete  der  Stadt  Alt-Huänuco.  Was  im  Bereiche  des  Titicaca 
Tiahuanaco,  würde  also  im  Chinchaysuyu  Allauca  Huanuco  sein. 
Alt  -  Huanuco  ist  nur  noch  eine  Ruinenstätte  ;  sie  liegt  in  dem 
Hochtale,  aus  dem  die  Quellen  des  Maranon  entströmen ;  man  un- 
terscheidet zwischen  einem  Tempel  und  einem  Palaste  und  ist 
geneigt,  beiden  einen  L^rsprung  zuzuschreiben,  der  über  die  Inka- 
Zeit  hinaufreicht.  Diese  Bauwerke  meint  Guaman  Poma  augen- 
scheinlich, wenn  er  sagt  ^),  dort  hätten  „Tupac  Inca  und  Yarovillca 


1)  Der  volle  Titel  lautete  nach  Angabe  des  Guaman  Poma  (Seite  341 ) 
Capac  apo  yncap  rantin  taripac  tauantin  sut/o  runata  .  Taripac,  von  taripay^  ist 
jemand  der  Untersuchung  führt  und  Urteil  spricht.  Der  „Stellvertreter  des  Inka" 
führte  daneben  also  den  Titel  des  „Gerichtsherren  über  die  Untertanen  in  den 
vier  Gebieten".  Mit  Behagen  setzt  wiederholt  Guaman  Poma  die  Stellung  dieses 
Großwürdenträgers  der  des  Herzogs  Alba  gleich :  coino  en  castüla  el  excelentisimo 
senor  duque  de  alua. 

2)  Seite  75 :  (yarohillca)  se  hizo  parcialidad  de  allauca  guanoco  del  puehlo 
de  la  ciudad  de  guanoco  del  viejo  adonde  edificaron  sus  casas  topa  ynga  con 
yarobilca.  Allauca  ist  eine  Ortsbezeichnung,  die  in  verschiedenen  Teilen  Perus 
vertreten  ist.  Seite  1030  scheint  Guaman  Poma  innerhalb  der  casta  y  gener acion 
von  Huanuco  zu  unterscheiden  Allauca  Guanoco,  Ychoca  Guanoco  und  Guamalli 
Guanoco. 


Nueva  Corönica  y  Buen  Gobierno  des  Don  Felipe  Guaman  Poma  de  Ayala.    641 

sich  Bebausungen  gebaut".  Möglich  daß  der  Tempel  ursprünglich 
dem  Yarovillca  -  Kultus  bestimmt  gewesen  ist.  Denn  villca  be- 
deutet „Gott",  Htianca- villca  einen  Felsblock,  in  dem  man  einen 
Gott  verehrt,  huaca-villca,  etwas  Unsichtbares  von  übernatürlicher 
Kraft,  das  einem  sichtbaren  Gegenstande,  der  hiiaca,  innewohnt. 
Der  Inka  Garcilaso  de  la  Vega  erwähnt  eine  Sage,  nach  der  war 
in  den  Tagen  nach  der  Sintflut  ein  Gewaltiger  in  Tiahuanaco  er- 
schienen und  hatte  die  Welt  an  vier  Könige  ausgeteilt :  an  Manco 
Capac  den  Norden,  Colla  den  Süden,  Tocay  den  Osten,  Pinahua 
den  Westen.  Das  ist  aber  nicht  von  Tiahuanaco  aus  erdacht, 
sondern  enthält  nur  den  Daseinshorizont  der  ersten  Inka  von 
Cuzco,  der  völlig  bedingt  und  umgrenzt  ist  von  den  winzigen  Ge- 
meinwesen der  nächsten  Nachbarschaft,  den  Ayarmacas,  deren 
Häuptling  Tocay  Capac  heißt,  durch  die  Ortschaften  Acos,  Mohina 
und  Pinahua  und  ähnliches  mehr.  Aber  aus  diesem  Schema  ist  — 
das  erkennt  schon  Garcilaso  —  jene  Einteilung  erwachsen,  in  der 
Cuzco  Mittelpunkt  und  Oberhaupt  von  vier  Reichen  war,  den 
tahuantin  sui/if,  dem  Antisuyu  im  Osten,  dem  Cuntisuyu  im  Westen, 
dem  Collasuyu  im  Süden,  dem  Chinchaysuyu  im  Norden.  Die  Ab- 
schnitte passen  auf  die  Ländermasse,  die  dem  Zepter  des  Tupac 
Inca  Yupanqui  Untertan  war ,  schon  nicht  mehr  auf  das  Reich 
seines  Sohnes  Huaina  Capac,  der  ja  auch  daran  gedacht  haben 
soll,  aus  Quito  ein  zweites  Cuzco  zu  machen.  Doch  diese  Son- 
derung in  vier  Abteilungen  behandelt  Guaman  Poma  durchweg  als 
etwas  von  Natur  Gegebenes,  von  Anfang  an  Bestehendes.  Es  ist 
nur  eine  der  Konsequenzen,  daß  er  sagt,  als  sich  unter  den  Ein- 
gebornen  Perus  Gemeinwesen  zu  bilden  anfingen,  habe  es  so  viele 
Häuptlinge  gegeben  als  Ortschaften,  doch  in  jeder  der  vier  großen 
Länder  -  Einheiten  einen  obersten  Gebieter  von  göttlicher  Ab- 
stammung, einen  Capac  apo  pacarimoc,  das  ist  „höchsten  Herrscher 
von  Anbeginn",  in  dessen  Hause  die  Oberhoheit  über  diese  Länder- 
gruppe von  Anfang  her  erblich  war^).  Manco  Capac,  die  Inka 
überhaupt,  fallen  dabei  ganz  aus,  haben  sich  ihre  Machtstellung, 
so  überragend  sie  war,  erst  erworben;  sie  treten  zurück  selbst 
hinter    Tocay    Capac    und    Pinahua    Capac  ^) ,     die     aber    auch 


1)  Guaman  Poma  bezeichnet  sie  auch  wegen  ihres  Vorrechts,  sich  in  Sänften 
tragen  zu  lassen,  als  capac  apo  uantouan  ranpauan  pacarimoc  apo  =  Khapah 
apu  huantuhuan  ranpahuan  pakarimuTc  apu,  das  ist :  „mächtiger  Herr  mit  Sänfte 
mit  Tragsessel  angestammter  Herr". 

2)  Es  bleibt  im  unklaren,  ob  nicht  Guaman  Poma  sich  denkt,  daß  Tocay 
Capac  und  Pinahua  Capac  ein  und  dasselbe  sind,   beides  Titel  die  zugleich  von 


ß42  ^-  Pietschmann, 

nur  als  Vertreter  einer  Zwischenstufe  und  Vorläufer  des  Manco 
Capac  eingeordnet  werden.  Als  angestammte  Landesherren  werden 
vielmehr  namhaft  gemacht  für  das  Antisuyu  der  Capac  apo  Pani- 
tica  Anti  von  den  Manari  Anti,  für  das  Cuntisuyu  der  Capac  apo 
Mullo,  für  das  CoUasuyu  der  Capac  apo  malleo  Castillapari  von 
Hatun  CoUa  ^)  und  für  das  Chinchaysuyu  das  Haus  des  Yarovillca. 
Die  Yarovillca  -  Familie  würde  an  Rang  allen  andern  voran- 
gehen, wenn  wirklich,  wie  Gruaman  Poma  zu  verstehen  gibt,  bei 
der  Einverleibung  ihrer  Lande  in  das  Reich  der  Inka  ein  erb- 
licher Anspruch  auf  die  Würde  des  Reichs  verweser- Amts  zuge- 
billigt worden   war  ^).     Während   der  Regierung   des  Tupac  Inca 


einem  und  demselben  Herrscher  in  einer  bestimmten  Herrscherreihe ,  der  ersten 
Inka-Reihe,  geführt  wurden.  Er  läßt  sie  aus  den  Urzeiten  stammen  :  daqui  salio 
capac  ynga  tocay  capac  pinau  capac  primer  ynga  y  se  acaho  esta  generacion  y 
casta  .  .  .  como  del  primer  coronista  fue  declarado  hijo  del  sol  yntip  churin 
primero  dixo  que  era  su  padre  el  sol  y  su  madre  la  luna  y  su  ermano  el  luzero 
y  SU  ydolo  fue  uanacauri  y  adonde  digeron  que  zallieron  (■=  salieron)  fue 
llamado  tanbotoco  y  por  otro  nombre  le  Hämo  pacaritanbo  todo  lo  dicho  adoraron  y 
sacrificaron  —  pero  el  primer  ynga  tocay  capac  no  tubo  ydolo  ni  serimonias 
....  estos  dichos  yngas  se  acauaron.  Wichtig  ist  die  Aussage,  daß  diese  Inka 
ebenfalls  hätten  aus  dem  Tambotoco  hervorkommen  und  von  Sonne  und  Mond 
abstammen  wollen,  wie  eine  große  Zahl  anderer  Stämme  in  und  in  der  Nähe  von 
Cuzco  sich  vom  Tambotoco  herleiteten.  Nach  Guaman  Poma  würden  diese  ersten 
und  legitimen  Inka  das  eigentliche  Inka- Wappen  geführt  haben  :  Sonne,  Mond, 
Morgenstern,  Tambotoco  Berg  mit  drei  Öffnungen  und  auf  der  Spitze  Guanacauri. 
Sie  hätten  noch  nicht  die  Huacas  angebetet,  das  sei  erst  von  Mama  Ocllo  und 
Manco  Capac  eingeführt  worden.  Nach  Joan  de  Santacruz  Sachacuti  hasste  ge- 
rade Manco  Capac  die  Huacas:  y  como  tal  los  destruyo  al  curaca  Pinaocapac 
con  todos  sus  ydolos  y  lo  mismo  los  vencio  a  Tocaycapac,  y  despues  lo  mando 
que  labrara  al  lugar  do  nacio.  Das  letztere  würde  auf  die  drei  Öffnungen  des 
Paccari  Tampotoco  zu  beziehen  sein: 

1)  Poma  Guaman  gibt  hier  für  das  Cuntisuyu  und  CoUasuyu,  wie  aus  andern 
Abschnitten  seines  Buches  hervorgeht,  nicht  die  Namen  der  Geschlechter  sondern 
Personennamen,  nämlich  die  Namen  ihrer  Vertreter  in  der  Zeit  des  Huaina  Capac 
Inca.  Die  Namen  der  ebenbürtigen  Frauen  habe  ich  hier  weggelassen.  Mullo 
behandelt  Poma  Guaman  als  Eigennamen,  Capac  apo  mullo  ist  aber  sicher  ein 
Herrschertitel. 

2)  Seite  75:  y  despues  fue  temido  [zu  lesen  ist  aber  vielleicht:  bencido  = 
venddo]  del  ynga  [el  yarobilca]  y  aci  fue  su  segunda  persona  del  dicho  ynga  . 
daqui  prosedera  los  dichos  segunda  persona  de  los  dichos  yngas  la  dicha  gene- 
racion de  los  rreys  capac  apo  yarobilca  el  quien  se  dio  de  pas  y  fue  amigo  con 
el  dicho  topa  ynga  yupanqui  capac  apo  [guaman]  chaua.  An  einer  andern  Stelle 
(Seite  948)  ist  die  Rede  von  den  vier  Teilfürsten,  oder  wie  Guaman  Poma  sagt 
von  den  vier  Königen  der  vier  Teile  des  Reichs:  el  mayor  fue  capac  apo  gua- 
manchaua  allauca  gudnoco  yarobilca  y  [Topa  ynga  yupanqui]  le  hizo  segunda 
persona  y  su  bizorrey  dandole  una  ues  la  Corona  no  se  las  quitaua  jamas  a  sus 


Nueva  Corönica  y  Buen  Gobierno  des  Don  Felipe  Guaman  Poma  de  Ayala.   643 

Yupanqui,  erfahren  wir,  bekleidete  50  Jalire  hindurch  diese  Stellung 
der  Capac  apo  Guamanchaua ,  „Großvater  des  Don  Martin  de 
Ayala  und  seines  Sohnes  des  Verfassers  Don  Felipe  Guaman  Poma 
de  Ayala" ;  er  habe  den  Feldzug  des  Huaina  Capac  nach  Quito 
mitgemacht,  schließlich  sei  er  hochbetagt  zusammen  mit  mehreren 
andern  Groß  Würdenträgern  von  Francisco  Pizarro  und  dessen  Ge- 
nossen lebendig  verbrannt  worden.  Eine  jüngere  legitime  Tochter 
des  Tupac  Inca  Yupanqui  Namens  Curi  Ocllo  sei  mit  dem  Sohne 
des  Guamanchaua  D.  Martin  Guaman  Mallqui  de  Ayala  vermalt 
gewesen  und  sei  die  Mutter  unseres  Autors,  dieser  ihr  Sohn  also 
ein  legitimer  Enkel  des  zehnten  Inka.  Aus  Berichten  über  die 
Conquista  wissen  wir,  daß  noch  bevor  Francisco  Pizarro  von 
Atahuallpa  eine  Gesandschaft  erhielt,  ein  Abgesandter  der  Partei 
des  entthronten  Huascar  Inca  auf  dem  Wege  nach  Cajamarca  mit 
den  Spaniern  zusammentraf.  Nach  Guaman  Poma  war  das  der 
Reichsverweser  des  Inka  D.  Martin  Guaman  Mallqui,  sein  Yater. 
Die  Großen  dieser  Provinz  standen  aber  nach  anderen  Nachrichten 
auf  Atahuallpas  Seite,  wurden  bei  Cajamarca  von  Pizarro  ge- 
fangen genommen  und  schlössen  sich  ihm  an.  Guaman  Mallqui 
—  sagt  Guaman  Poma  weiter  —  habe  danach  isich  als  Anhänger 
der  Eroberer  verdient  gemacht  und  in  den  Zeiten  der  "Wirren 
wiederholt  auf  Seiten  der  königstreuen  Truppen  gefochten,  so  in 
dem  Kampfe  bei  Chupas  (1542).  Bei  Huarina  (1547)  habe  er  D. 
Luis  de  Avalos  de  Ayala  das  Leben  gerettet  und  dafür  das  Itecht 
erhalten  sich  segunda  2^6rsona  del  emperador  en  este  rreyno  Don 
Martin  de  Ayala  zu  nennen^).  Nur  erhält  der  Namenswechsel 
noch  eine  etwas  eigenartige  Beleuchtung.  Guaman  Poma  be- 
richtet nämlich  ausführlich    von  einem  Bruder,    dem   er   verdanke. 


hijos  ni  a  sus  nietos  [ni]  a  este  mi  bisaguelo  excelentisimo  senor.  Die  einzige 
Stelle,  soviel  ich  sehe,  an  der  von  Guamanchaua  als  von  dem  Urgroßvater,  nicht 
Großvater  des  Autors  die  Rede  ist.  An  andern  Stellen  z.  B.  Seite  1059  wird 
Guaman  Mallqui  ausdrücklich  als  der  Sohn  des  Guamanchaua  yarovillca  bezeichet. 
Der  Stammbaum  gibt  merkwürdigerweise  weder  Guaman  Mallqui  noch  dem  Autor 
eine  Stelle  und  läßt  auf  Guamanchaua  eine  ganze  Reihe  anderer  Namen  folgen. 
In  einer  Aufzählung  verschiedener  Rangstufen  (Seite  738)  werden  aufgeführt  die 
principales  capac  apo  segununda  [lies :  segunda]  personas  apo  mit  dem  Zusätze : 
estos  fueron  senor  de  una  prouincia  sucguaman. 

1)  Es  wird  wiederholt  gesagt,  D.  Martin  Guaman  Mallqui  sei  Reichsver- 
weser unter  Tupac  Inca  Yupanqui,  unter  Huaina  Capac  Inca,  unter  Huascar  Inca, 
unter  dem  Kaiser  gewesen.  —  Über  D.  Luis  de  Avalos  de  Ayala  habe  ich  bis 
jetzt  nichts  festzuztellen  vermocht.  Ein  Avalos  hatte  kurze  Zeit  das  Gebiet  der 
Rucanas  Antamarcas  als  Repartimiento,  der  hieß  aber  Francisco. 


544  ^-  rietschmann, 

was  er  an  Unterriclit  erhalten  habe,  einem  frommen  Mestizen, 
dessen  Vater  derselbe  D.  Luis  de  Avalos  de  Ayala  gewesen  sei 
und  der  ebenfalls  Martin  de  Ayala  getauft  war;  ihn  hatte  die 
Mutter  des  Guaman  Poma,  die  Tochter  des  Tupae  Inca  Yupanqui 
dem  erblichen  Reichs verweser  mit  in  die  Ehe  gebracht.  Auch  an 
dem  Feldzuge  gegen  die  Parteigänger  des  letzten  Inka  in  Villca- 
pampa  (1572),  gibt  Gruaman  Poma  an,  habe  sein  Vater  Guaman 
Mallqui  als  einer  der  Heerführer  teilgenommen.  Als  Dank  seien 
ihm  von  dem  Vizekönige  Francisco  de  Toledo  Belohnungen  und 
ein  Wappen  verliehen,  auch  sei  seine  Stellung  als  segunda  persona 
bestätigt  worden.  Zwei  andere  Vizekönige,  Don  Garcia  Marques, 
d.  h.  der  zweiten  Marques  de  Canete  D.  Garcia  Hurtado  de 
Mendoza,  und  D.  Luis  de  Velasco,  der  1596  nach  Lima  kam  und 
dort  1599  starb,  hätten  die  Bestätigung  erneuert.  Die  letzten  30 
Jahre  seines  Lebens  habe  Guaman  Mallqui  vereint  mit  seiner 
Gattin  Werken  der  Frömmigkeit  gewidmet  und  sei  150  Jahre  alt 
gestorben. 

Einer  scharfen  Nachprüfung  scheinen  diese  Angaben  nicht 
recht  Stand  zu  halten.  Um  hier  nur  eins  hervorzuheben:  war 
wirklich  der  zehnte  Inka  der  Vater  der  Curi  Ocllo,  so  würde  sie, 
als  die  Spanier  ins  Land  kamen,  nach  einer  mäßigen  Berechnung 
bereits  das  gesetzte  Alter  von  mehr  als  42  Jahren  besessen,  nach 
der  Inka-Chronologie  Sarmientos  aber  mehr  als  69  Jahre ,  und 
nach  der  unsers  Autors  sogar  mehr  als  112  gezählt  haben.  Si- 
cherlich, wo  Guaman  Poma  von  seiner  Familie,  ihrem  Range, 
seinen  Hechtsansprüchen  redet,  —  und  er  tut  das  reichlich  oft  ^) 
—  nimmt  er  den  Mund  etwas  voll.  In  La  Concepcion  de  Huay- 
llapampa  wußten  1586  auch  die  vornehmsten  der  Eingebomen 
nicht  mehr  anzugeben  wer  in  diesem  Landstriche  geherrscht  hatte, 
als  ihn  Tupac  Inca  Yupanqui  eroberte ,  im  Repartimiento  Atun- 
rucana  (Hochrucana)  nannte  man  als  den  obersten  Curaca  von 
damals  den  Condor  Curi,   daneben  Yanquilla  und  Caxa  Angasi  ^). 


1)  In  die  Lebensbeschreibung  des  Tupac  Inca  Yupanqui  schaltet  Guaman 
Poma  zwischen  den  Zeilen  bei  der  Erwähnung  der  Kinder  ein :  y  curi  ocllo^  und 
trägt  außerdem  am  Schlüsse  nach :  hija  menor  curi.  —  In  einer  Aufzählung  von 
Sühnen  des  Huaina  Capac  führt  Guaman  Poma  an:  quizo  yupanqui  su  madre  la 
ermana  de  capac  apo  guamanchaua.  An  einer  andern  Stelle  sagt  er :  quizo 
yupanqui  ynga  hijo  de  topa  yupanqui  tio  del  autor, 

2)  In  dem  Stammbaume  der  Familie  der  Yarovillca  figuriert  kein  Condor 
Curi,  Ein  Ylla  Poma  Apo  Pachacuti  Condor  Chaua  wird  darin  genannt  unmit- 
telbar vor  den  Worten,  in  denen  von  der  hohen  Herrscherwürde  des  Yarovillca 
und  der  Umwandlung  in  die  Reichsverweserschaft  die  Rede  ist.    Für  die  Zeit  von 


Nueva  Corönica  y  Buen  Gobierno  des  Don  Felipe  Guaman  Poma  de  Ayala.    645 

Folgen  wir  dem  Autor  weiter,  so  hat  sein  Bucb  ihn  die  Arbeit 
von  30,  oder  wenn  er  sich  nicht  täusche,  so  doch  von  reichlich  20 
Jahren  gekostet.  Das  ist  vom  Jahre  1613  an  zurückzurechnen. 
Denn  auf  die  Carta  del  padre  del  autor  folgt  ein  Anschreiben  vom 
1.  Januar  1613,  mit  dem  der  Verfasser  selbst  die  Corönica  König- 
Philipp  III.  einreicht,  und  das  Granze  ist  von  ihm  wesentlich  im 
Jahre  1613  zu  Papier  gebracht  worden,  wie  sich  an  verschiedenen 
Stellen  deutlich  zeigt  ^).  Eine  viel  längere  Ausarbeitungszeit  kommt 
heraus ,  wenn  man  sich  an  die  Worte  der  Carta  del  padre  del 
autor  hält,  denn  danach  war  es  schon  1587  reichlich  20,  1613  also 
mindestens  46  Jahre  her,  daß  mit  der  Ausarbeitung  begonnen  wurde. 

Ich  halte  das  Schreiben  des  D.  Martin  Guaman  Mallqui  für 
fingiert.  Was  darin  steht,  kehrt  fast  wörtlich  unmittelbar  in  dem 
Schreiben  des  Sohnes  von  1613  wieder.  Die  Änderung  in  der 
Überschrift,  mit  der  aus  Philipp  III.  Philipp  11.  zum  Adressaten 
gemacht  ist,  verrät  vielleicht  noch,  daß  Guaman  Poma  erst  nach- 
träglich klar  wurde,  daß  Guaman  Mallqui  1587  nicht  schon  an  Phi- 
lipp III.  hatte  schreiben  können.  Auffällig  ist  auch,  daß  die  Unter- 
schrift dieses  Schreibens  zwar  schwerlich  von  jemand  anders  her- 
rührt als  von  Guaman  Poma  ,  daß  aber  doch  absichtlich ,  wie  es 
aussieht,  ein  Duktus  gewählt  worden  ist,  der  aussehen  kann,  als 
stehe  da  die  Original-Unterschrift  des  Vaters.  Das  Schreiben  soll 
nur  die  Ansprüche  stützen  helfen,  die  der  Verfasser  des  Buches 
—  mit  Recht  oder  unrechtmäßig,  das  bleibe  dahingestellt  —  per- 
sönlich erhebt.  Fiktionen  sind  ihm  ganz  geläufig.  In  Frage  und 
Antwort  führt  ein  ganz  ansehnlicher  Abschnitt  uns  vor,  wie 
Philipp  III.  von  dem  Autor  auf  Grund  des  Buches  ergänzende 
Auskunft  und  Ratschläge  entgegennimmt.  Wo  er  die  Gesinnung 
der  Corregidores,  der  Encomenderos  schildern  will,  bekommt  man 
es  in  direkter  Rede  zu  hören,  ebenso  wie  als  Gespräch  die  Denk- 
weise nichtsnutziger  Neger  ^)  gekennzeichnet  wird. 


Tupac  Inca  an  nennt  der  Stammbaum  capac  apo  [guaman]  chaua,  dann  wohl  aus 
Versehen  nochmals  capac  apo  guaman  chaua  .  capac  apo  guaman  lliuyac  . 
capac  apo  guayacpoma  .  capac  apo  carua  poma  .  capac  apo  lliuyac  poma. 
Diese,  wird  ausdrücklich  gesagt,  reichen  bis  zur  Ausrottung  der  FamUie  des 
Huascar :  hasta  la  destrucion  del  capitan  chalcochima. 

1)  Gelegentlich  erwähnt  Guaman  Poma  die  Jahre,  in  denen  eigene  Erlebnisse, 
die  er  mitteilt,  sich  abgespielt  haben.  Habe  ich  nichts  übersehen ,  so  gehen  sie 
nicht  weiter  zurück  als  bis  ins  Jahr  1600.  Ganz  gegen  den  Schluß  kommt  in 
einem  Zusätze  das  Jahr  1614  vor. 

2)  Seite  718:  platica  y  conuerzacion  de  entre  los  negros  esclabos  catibos 
deste  rreyno  dize  ad:  a  cino  fracico  —  mira  que  hazemos  —  tu  amo  tan  uellaco 

Kgl.  Qos.  d.  Wies.   Nachrichten.    Philolog.-histor.  Klasse  1908.    Heft  6.  45 


ß46  K.  Pietschmann, 

So  steht  der  Autor  zunächst  vor  uns  als  Sprößling  erlauch- 
tester Ahnen,  Sohn  eines  Granden,  Enkel  eines  Monarchen.  Erst 
nachträglich  bekennt  er,  daß  er  in  Dürftigkeit  ein  dunkles  Dasein 
fristet,  erst  ganz  zuletzt  zeigt  er  sich  mehr  und  mehr  als  Prä- 
tendent. Anfänglich  nicht  unbegütert,  will  er  die  Heimat  ver- 
lassen haben,  weil  ihn  der  Wunsch  trieb,  das  Schicksal  seiner 
Volksgenossen  zu  bessern.  Um  die  Not  der  Armen  und  Unter- 
drückten kennen  zu  lernen  und  lindern  zu  helfen,  habe  er  mit 
und  unter  ihnen  gelebt  und  sei  in  allerlei  Lebensstellungen  tätig 
gewesen  bei  den  verschiedensten  Behörden,  namentlich  als  Dol- 
metsch. Das  sind  die  20  bis  30  Jahre  Arbeit,  die  seinem  Werke 
zugute  kommen.  Als  er  dann  ein  Achtzigjähriger  gebrechlich  und 
mittellos  nach  Hause  zurückkehrt,  findet  er  seine  ganze  Habe  in 
fremdem  Besitz,  seine  Kinder  in  Armut  und  Niedrigkeit;  von  den 
Seinen  erkennt  niemand  ihn  wieder,  von  den  Behörden  wird  er 
als  Betrüger  behandelt.  Da  bricht  er  wieder  auf  und  wandert 
unter  Mühsalen  nach  Lima,  um  sein  Buch  dem  König  vorlegen  zu 
lassen. 

Die  Erlebnisse  daheim  und  auf  dem  Wege  nach  Lima,  Worte 
tiefster  Verzagtheit  —  denn  was  kann  dem  Hochbetagten  noch 
frommen  —  im  Widerstreite  damit  noch  einmal  der  hohe  Flog 
des  Selbstgefühls  in,  man  möchte  sagen,  der  fixen  Idee  von  der 
Herrlichkeit  des  Reichsverwesers,  des  Adlers  —  Gruaman  —  und 
des  Löwen  —  Poma  —  des  Reichs,  als  den  ihn  Name  und  Wap- 
pentiere kennzeichnen,  sie  bilden  ursprünglich  den  Schluß.  Mit 
sichtlich  erregter  Hand  ist  dieser  reichlich  mit  Zeilen  in  Lapidar- 
schrift durchsetzte  Abschnitt  niedergeschrieben,  der  mit  einigen 
dem  Leser  oft  genug  schon  vorgetragenen  Klagen  über  die  Lage 
der  Indios  abbricht.  Was  danach  folgt,  gehört  dem  Inhalte  nach 
weiter  voran,  hat  aber  auch  noch  ein  Schlußwort.  Es  beginnt: 
Ojos  y  anima  huelgo  de  los  cnstianos  del  mundo  ,  ues  aqui  cristianos 
del  mundo  .  unos  Uoraran  otros  se  rreyra  oiros  maldira  otros  encomen- 
darme  a  dios  otros  de  puro  enojo  se  deshara  otros  querra  teuer  en  las 
manos  cste  lihro  y  coronica.  Jeder  möge  in  seinem  Stande  bleiben 
und  nicht  etwas  vorstellen  wollen  was  er  nicht  sei.  Die  Seite 
schließt  dann :  y  aci  esta  coronica  es  para  todo  el  mundo  y  cristiaudad 


mi  amo  tan  uellaco  —  cienpre  ätze  daca  plata  toma  pallo  quebra  catiesä  y  no 
dale  tauaco  chicha  comer  —  pues  que  haze  —  mira  conpaniero  fracico  mio  toma 
hos  una  separa  y  otra  y  incamos  monte  alli  lleuamos  negrita  y  rranchiamos  a 
yndio  espanol  matamos  y  ci  coge  muri  una  ues  alli  dormir  comer  tauaco  y  lleuar 
ino  chicha  borracha  no  mas  caca  ua  fracico  uamonos 


Xueva  Corönica  y  Buen  Gobierna  des  Don  Felipe  Guaman  Poma  de  Ayala.   647 

hasta  los  ynfieles  se  dene  uello  para  Ja  äicha  huena  justicia  y  pidicia 
y  ley  del  mundo.  Auf  dem  vorletzten  Blatte  steht  in  der  obern 
Hälfte :  Fin  de  Ja  corönica  niietm  y  buen  gohierno  deste  rreyno 
acauada  por  don  felipe  guaman  p[o]ma  de  ayala  principe  autor  de 
las  yndias  del  rreyno  del  piru  de  la  ciiidad  y  medio  de  san  cristobal 
de  suntimfo  ^)  nuena  castilla  de  la  prouincia  de  los  andamarcas  soras 
lucanas  de  la  Corona  rreal  .  de  la  ciudad  de  los  rreyes  de  lima  corte 
rreal  y  cauesa  del  piru  .  se  xyresento  ante  los  sonores.  Hier  sollten 
also  die  Namen  derer  eingetragen  werden ,  denen  das  Buch  vor- 
gelegt worden  war.     Der  Raum  dafür  ist  aber  leer  geblieben. 

Von  dem  ungelenken  mit  indianischen  Brocken  untermischten 
Spanisch,  in  dem  das  Buch  geschrieben  ist,  wird  sich  eine  Vor- 
stellung machen  wer  das  Kauderwälsch  des  Joan  de  Santacruz 
Pachacuti  kennt.  Neben  mancherlei  andern  Anlehnungen  an  den 
nachlässigen  Sprachgebrauch  des  Quechua  wirkt  störend  besonders 
die  mißbräuchliche  Verwendung  des  Singulars  der  spanischen  Ver- 
balformen der  dritten  Person  statt  des  Plurals.  Die  Orthographie 
ist  die  regellose  des  kreolischen  Spanisch,  der  Vokalismus  und  der 
Konsonantismus  sind  stark  vulgär,  noch  schlimmer  die  Satzkon- 
struktion. 

Von  biblischen  und  theologischen  Einzelheiten  abgesehen  hat 
europäisches  Wissen  die  Vorstellungen  des  Verfassers  nicht  er- 
heblich gefärbt,  wenn  er  auch  von  den  „Poeten  und  Philosophen" 
—  puetas  y  filosofos  letrados  —  Aristotiles,  Pompelio,  Julio  Zezar, 
Marcos ,  Flavio ,  Clovio  oder  Griovio  spricht ,  einmal  sogar  von 
Jubeter,  das  ist  Jupiter  und  dem  „sehr  alten  Kirchenlehrer  Deu- 
dorito",  das  ist  Theodor  et.  Hat  er  eine  Serie  von  Kapiteln  be- 
endet, so  schreibt  er  dazu  einen  „Prolog  an  den  Leser".  In  einem 
Abschnitte  betitelt  Coronicas  pa^adas,  „frühere  Chroniken",  er- 
wähnt er  spanische  Geschichtsschreiber  des  Zeitalters  der  Ent- 
deckungen, z.  B.  Gonzalo  de  Oviedo  y  Valdes  als  Gonzalo  Pizarro 
Obedo,  Zarate  als  Sarate,  auch  Diego  Fernandes  (de  Palencia), 
ohne  daß  er  Vertrautheit  mit  dem  Inlialte  ihrer  Schriften  verrät. 
Er  nennt  auch  des  Maestro  Juzepe  [Joseph]  de  Acosta  Bücher  de 
oiobi  urbis,  das  ist  de  novi  orbis  natura,  und  de  procuranda  [nämlich: 
Indoriim  salute];  die  Jesuiten  und  daneben  noch  die  Franziskaner 
sind  überhaupt  die  einzigen  Orden,  die  er  gelten  läßt.  Etwas  ge- 
nauer  ist   er  vielleicht  über  das  Werk  des  Martin   de  Morua  un- 


1)  Dieser  Ort  ist  unmittelbar  in  der  Nähe  von  Guayllapampa  de  Apcara  zu 
suchen,  wenig  mehr  als  eine  halbe  Legua  davon.  Vergl.  Belaciones  geogräficas, 
Fern  1  S,  200  f.  ;  203  ;  wo  der  Ort  San  Xpval  de  Sondondo  genannt  wird. 

45* 


ß48  R.  Pietschmann, 

terrichtet;  und  in  einem  Nachtrage  sagt  er  noch,  daß  auch  Cauellos, 
das  ist  wohl  Miguel  Cavello  Baiboa,  von  den  Inka  geschrieben 
habe.  Besondere  Anerkennung  hat  er  für  die  Arbeiten  über  die 
Sprachen  Perus,  wie  er  sich  ausdrückt,  die  lengua  quichiua  aymara  ^). 
Ganz  unbeeinflußt  von  europäischen  Berichterstattern  ist  also 
Guaman  Borna  wohl  nicht  zu  nennen.  Aber  er  steht  ihnen  wenig 
empfänglich  gegenüber  und  fühlt  sich  im  wesentlichen  zur  Apolo- 
getik gedrängt.  In  der  Schönfärberei  und  in  der  Dreistigkeit  der 
Abrede  erreicht  er  allerdings  den  Halbblut-Inka  Garcilaso  bei 
weitem  nicht. 

Berufen  sich  die  Spanier  auf  Augenzeugen,  so  spielt  Guaman 
Poma  dagegen  seine  eingebornen  acht  Gewährsmänner  aus,  deren 
schon  die  Carla  del  padre  del  autor  gedenkt,  alles  Männer,  die  mit 
den  Inka  gelebt  und  gespeist  hätten.  Er  verweist  auf  seinen 
Vater  und  macht  7  andere  Große  als  „Augenzeugen"  namhaft. 
Es  würden  lauter  sehr  langlebige  Menschen-Exemplare  sein :  70,  80, 
100,  110,  130,  150,  ja  200  Jahre  alt.  Sie  passen  zu  den  Inka, 
von  denen  sie  zeugen,  denn  die  wurden  nach  dieser  Chronik,  in 
der  allerdings  das  Alter  eines  von  ihnen  nicht  angegeben  ist, 
durchweg  mindestens  120  Jahre  alt,  bis  auf  Pachacuti,  der  nur 
88  wurde,  Tupac  Inca  wurde  sogar  200  Jahre.  Ahnlich  die  Inka- 
Frauen.  Vertrauen  dagegen  erweckt  es,  daß  der  Verfasser  einmal 
erklärt,  in  den  Bräuchen  der  unbekehrten  Stämmen  Perus  sei  er 
nicht  völlig  bewandert,  da  er  selber  nicht  mehr  in  der  Inka-Zeit 
aufgewachsen  sei. 

Eine  Übersicht  über  den  Inhalt  der  Handschrift  zu  geben, 
dazu  gebricht  es  hier  an  Raum.  Ich  habe  jedoch  die  Carta  del 
padre  del  autor  auch  deshalb  mitgeteilt,  weil  in  ihr  eine  ziemlich 
vollständige,  wenn  auch  wenig  anschauliche  Aufzählung  enthalten 
ist.  Wenig  mehr  als  ein  Viertel  des  Ganzen  handelt  von  der  Ge- 
schichte und  den  Zuständen  Perus  in  den  Zeiträumen  vor  der 
Eroberung  durch  Francisco  Pizarro.  Zunächst  bespricht  Guaman 
Poma  die  Menschen  der  vier  ersten  Zeitalter ,  sichtlich  im  An- 
schlüsse an  einheimische  Vorstellungen,  die  er  aber  vielfach  apo- 
logetisch und  im  Sinne  der  biblischen  Urgeschichte  umdeutet  und 
ausgleicht.     So  flickt  er  mit  Beharrlichkeit  in  die  alten  Anrufungen 


1)  Einmal  bemerkt  er  die  Verfasser  dieser  Werke  über  und  in  Indianer- 
sprachen Perus  verdienten  wirklich  die  Titel :  santos  dolores  y  lesensiados  maystros 
bachelleres  .  Otros  que  no  an  escrito  el  comienso  de  las  letras  a  b  c  se  quieren 
llanarse  (lies :  Ilamarse)  lesensiado  asno  de  farsante  y  se  firma  como  don  be- 
uiendo  y  dona  calabaga. 


Nueva  Corönica  y  Buen  Gobierno  des  Don  Felipe  Guaman  Poma  de  Ayala.    649 

des  Viracocha,  die  wir  auch  aus  andern  Nachrichten  kennen,  ein 
scrlor  und  besonders  Dios  ein.  Möglich,  allerdings  daß  ihm  die 
Texte  schon  so  hergesagt  worden  sind.  Dios  ist  sehr  früh  als 
Lehnwort  übernommen.  Streift  man  die  Zutaten  ab,  so  bleibt 
übrig  als  erstes  Zeitalter  das,  in  dem  die  Götter  und  besonders 
Viracocha  in  seinen  verschiedenen  lokalen  Grestalten  —  das  ist 
uari  =  Imari  ^)  —  auf  Erden  lebten,  und  als  zweites  das  Zeitalter 
der  Autochthonen  —  das  ist  uuri  [^  fmari)  runa  —  beides  noch 
nach  den  Auffassungen  mancher,  wie  Poma  Gruaman  bei  einer 
spätem  Erwähnung  bemerkt,  noch  Geschlechter  von  Riesen.  Dann 
kommen  die  „Wüstenei-Menschen",  die  schon  mehr  das  sind,  was 
ihr  Name  purun  ruria^)  gegenwärtig  besagt,  gewöhnliche  Sterb- 
liche, und  die  aiica  runa,  die  „Krieger-Menschen",  so  genannt  nach 
den  Kämpfen,  die  sie  untereinander  führen,  und  mit  denen  die 
weitere,  die  geschichtliche  Entwickelung  anhebt. 

Es  folgt  dann  die  Zeit  des  Tocay  Capac  Pinahua  Capac  und 
die  Besprechung  der  12  einzelnen  Inka^),  sowie  jeder  der  12  Goyas, 
Danach  kommen  die  capitanes  an  die  Reihe,  nach  den  Inka  geordnet 
unter  denen  sie  gelebt  haben,  die  Beherrscher  der  vier  Suyns  und 
ihre  Gemalinnen.  Die  Angaben  über  die  Inka  haben  für  sich  ge- 
nommen nicht  sonderlichen  Wert.  Aber  man  bekommt  doch  aus 
ihnen  ein  sehr  getreues  Bild  von  der  Form  der  Überlieferungen, 
aus  denen  Autoren  wie  Diego  Fernandez   de   Palencia  und    Pedro 


1)  Es  entspricht  das  der  Verwendung  des  Wortes  hiiari,  geschrieben  vari 
hei  Juan  de  Santacruz  Pachacuti.  Der  erzählt  {7'res  Relaciones,  S,  262),  daß  in 
der  Zeit  des  Inca  Capac  Yupanqui  die  Aussagen  der  Indianer  des  Titicaca  Ge- 
bietes über  Tonapa  verglichen  wurden  mit  den  Aussagen  der  Huanca-  und 
Chinchaysuyo-Indiauer  und  daß  sich  herausstellte,  daß  auch  bei  diesen  Tonapa 
als  ein  vari-viUca  galt,  als  ein  Gott,  der  einmal  dort  zu  Lande  gelebt  habe,  oder 
wie  das  ausgedrückt  wird,  daß  Tonapa  Varivillca  auch  im  Huanca-  und  Chinchay- 
suyo-Gebiete  einmal  gewesen  sei:  los  dixeron  que  el  Ttonapa  Varivillca  dbia 
tarnbien  estado  en  su  tierra. 

2)  Dieses  „Zeitalter  der  Wüstenei",  Purun-pacha,  wird  auch  anderswo  er- 
wähnt, z.  B.  in  einem  Berichte  über  den  Glauben  der  Huarochiri-Indianer  (Cle- 
ments R.  Markham,  Narratives  of  the  Rites  and  Laivs  of  the  Yncas,  S.  135). 
Was  Guaman  Poma  darüber  sagt,  findet  man  z.  T.  ganz  ebenso  in  den  Angaben, 
die  Joan  de  Santacruz  Pachacuti  (in  den  Tres  Belaciones,  S.  134  f.)  über  das 
Purun  pacha  macht.  Er  erwähnt,  daß  es  sich  auf  diese  Zeit  beziehe,  wenn  man 
sage:  purun-pacha  raccaptin.  Dieser  Ausdruck  aber  ist  zu  übersetzen:  „als  noch 
das  Wüstenei-Zeitalter  war"  .  Captin  =  cajtin  ist  der  Konjunktiv  von  cay  „sein", 
rac  ist  „noch".     Es  ist  also  zu  schreiben:  punm-pacha-rac-captin. 

3)  Es  sind  :  Mango  Capac,  Cinchi  Roca,  Lloqui  Yupanqui,  Mayta  Capac, 
Capac  Yupanqui,  Inga  Roca,  Yauar  Uacac,  Uiracocha  Inga,  Pachacuti  Inga  Yu- 
panqui, Topa  Inga  Yupanqui,  Guayna  Capac,  Topa  Cuci  Gualpa  Guascar  Inga. 


ß50  ^-  Pietschmann, 

Gutierrez  de  Santa  Clara  ihre  Nachrichten  geschöpft  haben.  Es 
ist  ein  festes  Schema,  an  das  sich  Guaman  Poma  mit  gering- 
fügigen Abweichungen  hält ;  er  hat  es  eben  so  überkommen.  Voran 
^  steht  die  Beschreibung  der  Person  des  Inka,  offenbar  nichts  an- 
deres als  die  alte  Anweisung  für  die  Maler  zu  einer  vorgeschrie- 
benen Darstellung  und  zwar  mit  Angabe  der  Farben,  die  zu  ver- 
wenden waren.  Zum  Beispiel :  llocßii  yttpanqni  ynga  tenia  sii  guaman 
clianbi  en  la  mano  derecha  y  su  rrodela  en  la  ysquierda  y  sii  llauio 
de  Colorado  y  su  masca  paycha  y  su  manta  de  amarillo  la  camegeta 
^=  camiseta)  de  las  dos  partes  de  morado  en  media  tres  hetas  de 
tücapo^)  y  dos  afaderos  en  los  pies  .  .  .  y  tenia  las  narises  corcohados 
y  los  ojos  grandcs  y  labio  y  hoca  pequenas  y  prieto  de  ciierpo.  Es 
folgen  Einzelheiten  über  das  Wesen  und  besondere  Taten,  sodann 
über  die  Vergrößerung  des  Reichs.  Es  wird  die  Coya  genannt,  und 
werden  die  Kinder  hergezählt.  Zum  Schlüsse  wird  das  Alter  an- 
gegeben ,  das  der  Inka  erreichte ,  und  als  Dauer  der  Regierung 
hinzuaddiert  zu  der  Summe  der  Regierungsjahre  der  Vorgänger, 
zum  Beispiel  bei  Capac  Yupanqui:  fue  casado  primero  con  chinho 
ucllo  mama  caua  que  tiibo  mal  de  orason  ^)  comia  a  las  gentes  y  aci  pedlo 
otra  muger  para  rruynar  gouernar  la  tierra  .  dizen  que  et  sol  mando 
ca^arse  otra  ues  con  ciici  chinbo  mama  micay  coya  curi  ocllo  .  y  sc 
murio  de  edad  de  ciento  y  quarenta  anos  y  tiibo  ynfantcs  hijos  Icxl- 
timos  auqui  topa  ynga -ynga  yupanqui- cuci  cliinbo  mama  micay  coya- 
yuga  roca-ynti  auque  ynga- capac  yupanqui  ynga-yllapa  y  tubo  otros 
hijos  auquiconas  nastardos  y  Jdjas  nustaconas  uastardas  .  y  fue  na- 
morado  este  dicho  ynga  de  las  mugeres  capac  onie  y  de  uayro^)  .  rreyno 
cinco  yngas  setecientos  y  cinco  anos  y  sucidio  ynga  roca.  Im  wesent- 
lichen nach  dem  gleichen  Schema  fällt  die  Lebensbeschreibung  der 
einzelnen  Coyas  aus.  Es  setzt  das  alte  Gemälde  wenigstens  aus 
der  letzten  Inka-Zeit  voraus  in  ganzer  Figur.  Von  „sehr  alten" 
peruanischen  Malereien,   auf  denen  die  verbreiteten  Hauptbestand- 


1)  Vergl.  hierzu  weiter  unten  S.  653. 

2)  Ließ:  mal  de  corason. 

3)  =  huayro.  J.  v.  Tschudi,  die  Kechua-Sjirache,  Abt.  3,  S.  329 :  „huayru 
ein  gewisses  Spiel  der  Indianer,  der  höchste  Punkt,  der  bei  diesem  Spiel  ge- 
winnt". Guaman  Poma  zählt  (Seite  766  seines  Werks)  die  Spiele  auf,  an  die  zu 
seinem  Bedauern  selbst  die  Caciques  pi'ineipales  sich  zu  gewöhnen  beginnen :  se 
ensenan  (=  enaefan)  a  xugar  con  naypes  y  dados  como  espanol  al  axedres 
hilancula  chalcochima  uayro  ynacariui  pampay  runa  yspital  (=  spanisch  hospital) 
uayro  ynaca.  Merkwürdig  ist  hierunter  Chalcochima,  den  Namen  eines  der  Feld- 
herrn des  Atahuallpa,  zu  finden.  Markham  erwähnt  ein  huayru  china,  ein 
Ballspiel.  —  ome,  omi  bezeichnet  vornehme  Colla-Frauen. 


Nueva  Corönica  y  Buen  Gobierno  des  Don  Felipe  Guaman  Poma  de  Ayala.     651 

teile  der  Tracht,  Mantel  und  Hemd,  schon  zu  sehen  seien,  spricht 
als  Augenzeuge  Polo  de  Ondegardo  ^). 

Auf  diese  historisch -biographischen  Skizzen  folgt  in  Form 
eines  Erlasses  des  Tupac  Inca  Yupanqui  und  seines  Kronrats  die 
Verfassung  und  Gesetzgebung  Perus.  Eine  der  Bestimmungen 
wenigstens,  in  der  von  Quito  als  dem  zweiten  Cuzco  die  Rede 
ist,  kann  aber  von  diesem  Inka  garnicht  herrühren,  weil  nicht  er, 
sondern  erst  sein  Nachfolger  Huaina  Capac,  der  vorletzte  Inka, 
Quito  erobert  hat.  Doch  galt  Tupac  Inca  als  der  Hauptgesetz- 
geber des  Reichs,  und  manche  der  Anordnungen,  die  hier  aufge- 
zählt werden,  mögen  von  ihm  herrühren.  Wir  begegnen  ihnen 
z.  T.  auch  anderswo.  Ferner  zahlt  Gruaman  Poma  die  Alters- 
klassen der  Männer  und  der  Frauen  einzeln  mit  ihren  Benennungen 
auf,  wie  sie  für  die  Reichsstatistik  und  Reichs  Verwaltung  des 
Tupac  Inca  festgesetzt  waren,  und  schildert  dann  ziemlich  kurz 
die  Beschäftigungen,  besonders  die  Feste  der  einzelnen  Monate 
des  peruanischen  Jahres,  die  religiösen  und  abergläubischen  Gre- 
wohnheiten  und  die  Gebräuche  bei  der  Bestattung  in  den  ver- 
schiedenen Reichsgebieten.  Ein  Kapitel  über  die  AcUas  führt  ihn 
über  zu  den  Strafvollstreckungen.  Mit  einer  Schilderung  von 
Festen  und  einer  Erörterung  über  den  Incap  rantin  und  die  Zu- 
stände im  Inkareiche  im  allgemeinen  schließt  dieser  Abschnitt. 

Hieran  schließen  sieb  dann  an  Angaben  über  das  Unternehmen 
des  Francisco  Pizarro  und  Diego  de  Almagro,  die  Gefangennahme 
und  Hinrichtung  des  Atahuallpa,  die  ersten  Indianer -Aufstände, 
die  Zwistigkeiten  der  Anhänger  des  Pizarro  und  Almagro,  die  ver- 
schiedenen Aufstände  gegen  die  spanische  Regierung  und  eine 
Reihe  von  Kapiteln  über  die  einzelnen  Vizekönige  bis  zu  Don 
Juan  de  Mendoza,  sowie  über  die  Bischöfe,  Inquisitoren  und  Prä- 
laten, Praesidenten  und  Beisitzer  des  Königlichen  Rats. 

Was  dann  folgt  gilt  sichtlich  dem  Verfasser  als  eine  Be- 
freiung von  dem,  was  ihm  am  schwersten  auf  dem  Herzen  lastet, 
und  als  eine  furcbtlose  Großtat:  es  ist  eine  Schilderung  all  des 
Unrechts,  das  von  den  Herren  im  Lande  und  ihrem  Anhange,  von 
den  Pfarrern  und  Ordensgeistlichen,  den  Corregidoren  und  Comen- 
deros,  von  herumziehenden  Spaniern,  von  Mestizen  und  Negern 
an    den    Eingebornen    verübt    wird.      Verzweifelte    Klagen    über 


1)  Cohceion  de  dociimentos  ineditos  del  Archivo  de  Indias  17  S.  104 :  verdad 
es  que  su  avito  e  casas  no  son  de  dbra  muy  dificuUosaj  porque  a  lo  que  yo  en- 
tiendo,  es  vestido  natural  y  de  que  devieron  husar  los  xwimeros,  que  son  estas 
laantas  y  camisetas,  poi'que  yo  las  e  visto  en  pinhiras  antiquisimas. 


652  ^-  Pietschmann, 

Knechtung  und  Mißhandlung  und  die  Hoffnungslosigkeit  der  Lage, 
über  all  das  frevelhafte  Elend,  das  später  der  europäischen  Welt 
in  den  Notirias  secretas  der  Brüder  Ulloa  vorgehalten  wurde, 
kommen  vielfach  ergreifend  zum  Ausdruck.  Nur  wird  durch  zu 
häufige  Wiederkehr  derselben  Anschuldigungen  in  zu  vielfach  ein- 
ander gleichenden  Redewendungen  die  Wirkung  abgeschwächt. 
Hier  ist  ein  Abschnitt  über  die  christlichen  Indianer  Perus  ein- 
geschaltet, zum  Teil  mehr  Programm  für  die  Zukunft  als  Spiegel 
der  Gregenwart,  dann  eine  Besprechung  der  einzelnen  Städte  des 
Landes,  eine  Aufzählung  der  Wegestationen  (der  Tambos),  und 
ganz  am  Ende  des  Buchs  finden  wir  vor  der  Inhaltsangabe  noch- 
mals eine  Übersicht  über  die  Monate,  in  der  uns  der  Eingeborne 
bei  der  Feldarbeit  vorgeführt  wird. 

Für  uns  von  hohem  Interesse  sind  die  Bilder  der  Handschrift. 
Sie  sind  ein  Hauptbestandteil  des  Werkes.  Wiederholentlich  gibt 
der  Text  nur  langen  Serien  von  Bildern  das  Geleit  und  ist  recht 
kärglich  ausgefallen  im  Vergleich  zu  der  bildlichen  Vorführung, 
zum  Teil  auch  nutzlos  in  die  Länge  gezogen  nur  um  je  ein  Blatt 
zwischen  zwei  Bildern  auszufüllen.  Es  sind  durchweg  unkolorierte 
ITmrißzeichnungen  von  sauberer  und  sicherer  Linienführung:  jede 
füllt  eine  Seite  für  sich  und  ist  in  Tinte  mit  der  Feder  ausge- 
arbeitet. Sie  zeigen  ein  nicht  geringes  Talent.  Als  Erzeugnisse 
indianischer  Kunst  sind  allerdings  diese  Zeichnungen  nicht  anzu- 
sprechen. Eine  ganze  Anzahl  der  Darstellungen  hat  europäische 
Vorbilder  und  könnte  nach  Ausführung  und  Gegenstand  ebensogut 
in  ein  spanisches  Werk  über  biblische  Geschichte  passen.  Bei  den 
andern  ist  fremdartig  nur  der  Gegenstand  nicht  der  Stil.  Der 
Zeichner  versteht  wenig  von  Anatomie  und  Proportion,  aber  ver- 
steht sich  vortrefflich  auf  Komposition  und  Gruppierung ,  und 
auch  recht  gut  auf  Ausdruck  in  Miene  und  Bewegung.  Er  schreckt 
nicht  zurück  vor  Gräßlichkeiten,  ergeht  sich  in  grimmem  Sar- 
kasmus  und  manchen  Ka,rrikaturen,  findet  aber  auch  Ausdruck  für 
das  Liebliche  und  Naive. 

Für  Mexico  besitzen  wir  eine  erhebliche  Anzahl  von  Bilder- 
handschriften, für  Peru  gab  es  bisjetzt  nichts  dergleichen;  denn 
ein  paar  Kritzeleien  in  dem  Berichte  des  Joan  de  Santacruz 
Pachacuti  und  zwei  Abbildungen  von  Kopfbedeckungen  in  der 
lielacion  anonima  zählen  doch  kaum.  Hier  aber  bekommen  wir 
Darstellungen  nicht  bloß  von  großer  Zahl,  sondern  auch  von  be- 
sonderer Wichtigkeit,  vor  allem  für  die  Archäologie  und  Völker- 
kunde. Bisher  besitzen  wir  zum  Beispiel  über  die  Huaca  Pitusiray 
Sauasiray    eine   nicht  gerade   ganz   verständliche  Erzählung,   hier 


Xiieva  Corönica  y  Biien  Gobierno  des  Don  Felipe  Guaman  Poma  de  Ayala.    653 

aber  wird  uns  vor  Augen  geführt,  wie  sie,  wenigstens  nach  Grua- 
man  Pomas  Kenntnis,  ausgesehen  hat.  Danach  war  Sauasiray 
eine  Menschenfigur  für  sich,  bestand  Pitusiray  hingegen  aus  zwei 
Figuren,  die  gleich  zwei  Zinken  einer  Grabel  auf  zwei  von  Natur 
mit  einander  verbundenen  P)ergkuppen  standen. 

Die  einheimische  Benennung  vieler  Gegenstände  wird  uns 
hier  in  einfacher  Abbildung  viel  besser  erläutert,  als  das  irgend 
eine  Beschreibung  vermag;  so,  um  nur  weniges  zu  nennen,  die 
Abzeichen  des  Inka,  masca  payclia^  hnayoc  tica,  ctiriquinqui  ücci, 
huaman  chanipi,  cunca  cuchuna,  hnallcanca  u.  s.  w.  Unter  anderm 
ergibt  sich  aus  dem  Texte  zu  den  Zeichnungen,  daß  Tocapu  der 
Kunstausdruck  für  die  buntgewirkten  Streifen  und  Muster  ist,  die 
in  die  peruanischen  Zeugstoife  eingewebt  wurden.  Sarmiento  er- 
zählt, daß  der  Inka  Viracocha  als  Erfinder  des  viracocha  tocapu 
galt,  „was  so  ist  wie  bei  uns  Brokat",  —  und  hier  steht  der  Inka 
vor  uns  in  einem  Untergewand,  das,  wie  auch  der  Text  daneben 
sagt,  ganz  Tocapu  ist.  Er  trägt  zwar  auch  einen  Mantel,  doch 
ist  von  dem  nicht  viel  gezeigt.  Er  wird  damit  vor  allen  andern 
Inka  gekennzeichnet.  Allerdings  nicht  als  der  Erfinder  dieses 
G-ewebstoffes  —  denn  dazu  hat  ihn  wohl  nur  ein  Mißverstehen 
des  Wortes  viracocha  tocapu  und  der  bildlichen  Darstellung,  die 
dem  Künstler  für  diesen  Inka  vorgeschrieben  war,  einfältigerweise 
gemacht.  Er  wird  damit  vielmehr  seinem  Namen  nach  indivi- 
dualisiert, mit  einem  Auskunftsmittel,  wie  dessen  die  Kunst  eines 
schriftlosen  Volkes  bedarf.  Er  ist  unter  den  Inka  was  unter  den 
Göttern  der  Gott  ist,  der  angerufen  wird  als  der  ,,in  Tocapu 
prangende",  der  Tocapo  acnapo   Viracochan^). 

Mit  Vorliebe  schreibt  Guaman  Poma  in  die  Darstellung  hinein 
seinen  Figuren  vor  den  Mund,  was  sie  sagen,  bald  Spanisch,  bald 
Quechua,  bald  ein  Gemisch  von  beiden.  Tupac  Inca  stellt  die 
Huaca- Götter  zu  Rede  wegen  des  Wetters  und  sie  sagen,  daß 
es  nicht  an  ihnen  liegt:  twinam  nocacunaca  ynca.  Ein  Inka,  der 
einem  Spanier  einen  Teller  voll  Gold  hinhält,  fragt:  cay  coritacho 
micunqui  „Issest  Du  dieses  GoldF'^,  und  der  Spanier  der  vor  ihm 
kniet,  nimmt  den  Teller  hin  und  antwortet :  este  ovo  comemos, 
„Dieses  Gold  essen  wir".  Über  einem  musizierenden  Pärchen 
Criollos  y  criollas  indios  steht  ihr  Lied  : 

chipchi  llanto  chipchi  Uanto  pacay  llanto 
maypim  caypi  rrosastica 


1)  So  ist  in  den  Anrufungen  bei  Molina  (Narrative  of  the  Rites  and  Laim 
of  the  Incas,  S.   28.  29.  33)  zu  lesen. 


ß54  ^*  Pietschraann, 

inaypwi  caypi  chiuanuayUa 

maypim  caypi  hamancayUa 
jjFlüstre  Schatten!  Flüstre  Schatten!  Heimlich,  Schatten!  Wo 
denn  hier  du  Rosenblüte  ?  Wo  denn  hier  du  Drosselblümchen  ? 
Wo  denn  hier  du  kleine  Lilie  ?^'^).  Bei  der  Feldarbeit  —  chacra 
yapuy  —  singen  die  Männer,  die  in  Reih  und  Grlied  mit  ihrem 
primitiven  Spaten  das  Land  umbrechen: 

a  yau  haylli  yau       a  yau  haylli  yau 

a  yau  haylli  yau       a  yau.  haylli  yau 

chai  mi  coya     cliai  mi  palla, 
und   die  Frauen,   die  davor   knien    und  mit  den  Händen  dies  auf- 
gebrochene Erdreich  zerkleinern  rufen  ia  haylli  j    und  ebenso    ruft 
ein  verwachsenes  Mädchen,  das  einen  Becher,  wohl  mit  Chicha,  zur 
Erfrischung  herbeibringt  -). 

Überhaupt  verspricht  auch  für  die  Freunde  der  Sprachen  des 
Inkareiches  das  Werk  einige  Ausbeute.  Gruaman  Poma  schreibt 
unter  anderm  verschiedene  christliche  Gebete  in  Quechua  nieder, 
die  er  seinen  Landsleuten  empfiehlt.  Es  wird  zu  untersuchen 
sein,  ob  und  wieweit  sie  von  den  Grebetsammlungen  abhängig  sind, 
die  damals  schon  gedruckt  waren.  Er  führt  einige  Beispiele  für 
mißlungene  Quechua-Predigten  an  und  dazu  die  Nachahmung,  mit 
der  die  Jungen  sich  lustig  darüber  machen.  Die  Zahl  der  For- 
meln aus  dem  heidnischen  Kultus ,  die  wir  bereits  besitzen,  wird 
nicht  unwesentlich  vermehrt.  Guaman  Poma  hat  Sinn  für  das 
Volkstümliche  und  will  den  Eingebornen  Feste  und  Lieder  lassen, 
soweit  sie  harmloser  BeschaiFenheit  sind.  Das  sei  nicht  Alles 
ohne  weiteres  heidnisch.     Als  Probe  einheimischer  Lieder  teilt  er 


1)  Eosastica  mag  zwar  nichts  weiter  sein  als  eine  kreolische  Deminutivform 
des  spanischen  rosa ,  doch  kann  es  auch  ein  hybrides  Gebilde  sein  mit  dem 
Quechua-Worte  tica  „Blume"  als  zweitem  Bestandtheil.  Für  chiuaniiaylla  habe 
ich  „Drosselblümchen"  gewählt,  da  das  Wort  chihuanhuai  sowohl  eine  Drosselart 
bezeichnet  als  auch  eine  Blume  von  roter  und  gelber  Farbe.  Vergl.  auch  den 
Text  auf  Seite  657  Anm.  1. 

2)  HaiUi  ist  der  Jubelruf  sowohl  des  Siegers  wie  das  Triumph-Frohlocken 
nach  getaner  Arbeit.  Zu  ihm  gesellt  sich  hier  der  Anruf  yau.  Eigentlichen 
Sinn  hat  wohl  nur  der  letzte  Satz:  „Das  ist  es,  Coya,  das  ist  es,  Palla".  Mög- 
lich, daß  diese  schmeichelhafte  Begrüßung  der  Überbringerin  des  Getränks  gilt. 
Doch  singt  auch  der  Inka  am  Schlüsse  des  Puca  llama  harahui:  Chaymi  coya 
und  die  Frauen  entgegnen:  Chaymi  palla  .  .  .  chaymi  ciclla.  Das  Wort  Palla 
ist  inzwischen  weiter  gemißbraucht  worden  und  bedeutet  nur  noch  soviel  "wie 
Maitresse. 


Nueva  Corönica  y  Biien  Gobierno  des  Don  Felipe  Guaman  Poma  de  Ayala.    655 

ein  Harahui  mit^).     Es  kann  erst  nach   der  Conquista   entstanden 
sein,  wenn  das  spanisclie  dios,    und  cino  (=  senor),   das  darin  vor- 
kommt,   nicht   erst    nachträglich    eingeflickt    sind.     Einige  Zeilen 
werden  ausreichen,  einen  Begriff  davon  zu  geben: 
haray  haraui  - 

acoymquicho  coya  raquiriuanchic 

tiyoyracßdcho  ^)  tmsta  ^)  raquiriuanchic 

cicllallay  chinchircoma  captiquicho 

utnallaypi  soncorurollaypi  apaycacliayquiman 

unoyrirpollulJam  canqui 

yaciiyrirpopallcom  canqui 

maytacsallayuan  caynayconich o 

„Trennt  uns,  Coya,  ein  feindliches  Geschick? 

Trennt  uns,  Nusta,  eine  Sinnestäuschung  ? 

Bist  Du,  meine  liebe  Siclla,  Chinchircuma-Blume  *), 

So  möchte  in  meinem  Haupte,  in  meinem  Herzenskerne  ich 

Dich  herumtragen. 
Wasserspiegel-Lüge  bist  Du. 
Wasserspiegel- Trug  bist  Du"  .  .  .  .  ^) 


1)  Die  Überschrift  lautet:  Canciones  y  mucicas  del  ynga  y  de  los  yndios 
llamado  haraui  y  uanca  pingoUo  quena  quena  en  la  lengua  general  quichiua 
aymara  dize  aci:  .  .  .  —  Huanca  heißen  nach  Middendorf  gegenwärtig  Lieder 
von  melancholischer  Tonart,  die  von  den  Frauen  Abends  nach  der  Feldarbeit  an- 
gestimmt werden.  PingoUo  =  pincullu,  eine  Flöte ,  quena ,  im  Aimarä  quena 
quena  pincollo,  ist  eine  Rohrflöte. 

2)  In  diesem  Texte  wie  in  den  andern  Stellen,  die  ich  hier  zum  Abdruck 
bringe,  habe  ich  die  Schreibweise  des  Originals  —  Rechtschreibung  kann  man 
sie  nicht  nennen  —  beibehalten.  Die  Wortabteilung  rührt  von  mir  her.  — 
Acoyraqui  und  tiyoyraqui  sind  wohl  nicht  so  sehr  Synonyma,  wie  v.  Tschudi,  die 
KecJiua- Sprache,  Abt.  3  S.  12  und  501  für  akoyraJci  und  tiuyrahi  annimmt.  Zu 
acoyraqui  vergl.  Ollanta ,  Vers  382  =  376 ,  auch  Middendorf ,  WöHerbuch  des 
Buna  iSimi,  S.  12.    Ich  möchte  tiyoyraqui  mit  fiyuy  „Rausch"  zusammenbringen. 

3)  Lies:  nusta.     Der  Verfasser  setzt  in  Quechua-Worten  niemals  Tilde. 

4)  Ciclla  =  Sijlla,  Name  einer  blauen  Blume,  auch  Eigenname  und  Be- 
nennung für  das  schlanke  junge  Mädchen,  die  Maid.  Chinchircuma  oder  Chin- 
chilcuma  ist  nach  Markham ,  Vocahularies  of  the  general  language  of  the  Incas, 
S.  74  die  Mutisia  acuminata.  Nach  ihm  wird  (S.  72  ebd.)  bei  Tarma  die  Salvia 
oppositißora  mit  dem  Namen  Chenchelcoma  belegt.  Aus  Abbildungen,  die  mir 
Albert  Peter  freundlichst  nachwies,  ergibt  sich,  daß  die  Mutisia  und  die  Salvia 
grundverschieden  sind.  Doch  wird  das  Quechua-Wort  vielleicht  eine  allgemeinere 
Grundbedeutung  haben,  wie  chihuanhuai.  Hier  scheint  diese  Blume  Reinheit  und 
Treue  zu  bedeuten. 

5)  Der  Wechsel  im  Ausdruck  zwischen  u7io  —  unu  „Wasser"  und  yacu  = 


g56  R.  Pietschmann, 

diay  pallco  mamnyquim  uanoypac  raquicnmchicca 
chay  auca  yayayquim  uacchacnincliicca  : 
„Deine  falsche  Mutter,  die  mir  zum  Tode  uns  getrennt  hat. 
I         Dein  böser  Vater,  der  in  Elend  uns  gebracht  hat". 
chay  asic  naaiquita  yuyanspa  titinipuni 
chay  pudlac  nniiqnita  yuyarispa  oncoyman  chayani 
„Im  Gedenken  an  Deine  lachenden  Augen  rede  ich  irre. 
Im  Gedenken  an  Deine  munteren  Augen  gelange  ich  zu 
Siechtum''. 
Auf  derselben    Seite   folgt   ein   anderes  Lied  mit  der  Vorbe- 
merkung :   en  la  lengua  aymara  llamaäo  uanca  dize  ad.     Dieser  Text 
enthält  jedoch    keineswegs    etwa    eine  Übersetzung    des    vorange- 
henden.    Er  ist  ohne  Zweifel  erst  in   spanischer  Zeit   entstanden, 
wie    schon    aus    den   Lehnworten  —   cauallu   ==   cahallo  „Pferd", 
wiüa    ,, Maultier",    cüla  =  silla  —   zu    ersehen   ist.     Unmittelbar 
danach  kommen  noch  einige  kurze  Lieder  unter  der  Bezeichnung: 
eachiua  ^)  disc  aci. 

Namentlich  bei  der  Besprechung  des  Kultus  und  der  Feste 
bringt  aber  auch  das  Buch  des  Guaman  Poma  uns  den  Wortlaut 
von  Texten  und  Formeln,  bei  denen  an  fremden  Einfluß  nicht  gut 
zu  denken  ist.     Er  erzählt  z.  B.  von  einem  Reigen  Caiacaia  uarmi 


„Wasser"  läßt  sich  deutsch  nicht  wiedergeben.  Beide  Worte  werden  gegenwärtig 
je  nach  dem  Dialekt  als  ganz  gleichwertig  gebraucht.  Ebenso  einander  parallel 
stehen  sie  in  einer  Anrufung  der  Mondgöttin  bei  Guaman  Poma,  der  da  gesagt 
wird,  yacuc  zallayqui  unoc  rallat/qui:  „yacuc  (ist)  dein  Geliebter,  imoc  (ist)  dein 
Geliebter".  Die  Formen  unoy,  unoc,  yacuy,  yacuc  sind  beachtenswert.  —  Für 
die  nächste  Zeile  vermöchte  ich  eine  Übersetzung  nur  mit  großem  Vorbehalt  zu 
geben,  obgleich  im  einzelnen,  soviel  ich  sehe,  keine  Schwierigkeiten  da  sind. 
niaytac  ist  wohl  als  Nominativ  zu  fassen.  Im  Genetiv  würde  es  in  dieser  Zeit 
noch  maytap  lauten.  Dann  bildet  es  mit  zaUay  „buhlen"  ein  Kompositum,  caynay 
ist  eigentlich  „Station  machen'',  dann  „sich  in  etwas  ergehen"  und  caynaycuy 
würde  eine  Reflexivform  davon  sein,  „sich  ergetzen  in  (huany.  clio  =  chu, 
Fragepartikel.  Doch  ist  zalla  Substantivum  und  y  das  Pronomen,  so  würde  der 
Satz  bedeuten:  „Habe  ich  Jüngling  meiner  Geliebten  mich  erfreut"? 

1)  Der  Verfasser  sagt  nicht  quichua,  sondern  quichiua.  Danach  würde 
eachiua  einem  cachua  entsprechen  können,  eachiua  würde  danacli  dasselbe  be- 
zeichnen können  wie  das  Wort  cachhua,  das  J.  J.  v.  Tschudi,  die  Kechua-Sprache, 
Abt.  3  S.  142  erklärt:  eine  Art  Tanz  im  Chor,  bei  welchem  sich  je  zwei  und 
zwei  bei  den  Händen  fassen  und  auf  der  nämlichen  Stelle  in  kurzen  Schritten 
tanzen.  Auch  Cobo  (4 ,  231)  erwähnt  cachua  als  Namen  eines  Reigentanzes. 
Dann  ist  eachiua  hier  die  Gattung  von  Liedern ,  der  die  betreffenden  Texte 
angehören.  Ist  das  der  Fall,  so  soll  in  der  Rubrik  darüber  uanca  ebenfalls 
nichts  anderes  sein  als  die  Benennung  der  Gattung,  der  das  Lied  angehört,  das 
heißt  die  Gattung,   die  Middendorf  (vergl.   oben  Seite  655  Anm.  1)  huanca  nennt. 


Nueva  Corönica  y  Buen  Gobiemo  des  Don  Felipe  Guaman  Poma  de  Ayala.   657 

aitca  der  Indianer  in  den  Anden,  in  denen  sie  in  Weibertracht, 
die  itarmi  anca  (=  kuarmi  auca),  das  heißt  „Weib-Krieger'',  die 
viel  erwähnten  Amazonen  Südamerikas,  vorstellen  und  dazu  singen: 

uarmi  anca  chinanuaylla 

uruchap  apanascatana 

anti  auca  chiuanumßla  ^). 

Nur  den  Rundgesang  teilt  Guaman  Poma  von  dem  Lama-Gesange 
des  Inka  mit.  Der  Inka  stellte  sich  vor  ein  angebundenes  Lama 
und  ahmte  eine  ganze  Zeit  lang  dessen  Stimme  nach:  yn.  Dann 
sang  er  eine  lange  Reihe  von  Strophen.  Darauf  folgte  der 
Gesang  der  Frauen  nnd  ein  "Wechselgesang.  Eine  andere  Dar- 
stellung betrifft  ein  Eest ,  das  im  Chinchaysuyu  und  zwar  nach 
der  Unterschrift  des  Bildes  in  Guanocpampa  und  Paucarpampa 
gefeiert  wurde.  Es  scheint  auf  die  Vorstellung  zurückzugehen, 
die  viele  Völker  sich  gemacht  haben,  daß  die  Erlegung  des  Wildes 
eine  Art  Sühne  erfordert,  die  dann  wieder  Jagdglück  einträgt. 
Es  hieß  uauco.  Die  Männer,  den  Federkranz  auf  dem  Haupte,  den 
Mantel  wie  eine  Schärpe  um  den  Arm  geschlungen,  halten  den 
Kopf  eines  Rehs,  in  den,  wie  es  aussieht,  vom  Halse  her  eine 
Röhre  eingesetzt  ist,  und  blasen  hinein.  Die  Mädchen  singen 
dazu  beim  EQange  der  Handtrommel  und  bedauern  den  Ta- 
ruscha  ^)  den  Andenhirsch,  und  Ltiycho,  das  Reh : 

mana  taruscha  riclio 

maquillayquip  ^)  naucitycaconqtii 

mana  luycho  aniicho 

cincallayquip  uaucuycaconqui 

ua  yayay  turilla 

tia  yayay  turilla. 
Die  Männer  aber,  die  das  Wild  vorstellen,   blasen  und  antworten : 

uauco  uauco  uauco  uauco 

chiclio  chicho  cliicho  cliicho. 


1)  Huarmicauca  chiuanuaylla  bedeutet  „  du  Weib -Krieger  Chihuanhuai  ", 
anti-auca  chiuanuaylla  „du  Anden-Krieger  Chihuanhuai".  Sind  die  Worte  da- 
zwischen so  richtig  abgeteilt,  würde  apanascatana  der  Akkusativ  von  apanasca 
„beladen"  mit  angehängtem  na  „bereits"  und  uruchap  ein  Genetiv  sein.  Wegen 
Chihuanhuai  vergl.  oben  Seite  654  Anm.  1.  Das  Wort  bezeichnet  auch  einen 
Federbusch.  —  Die  Unterschrift  unter  der  Darstellung  des  Amazonen  -  Tanzes 
verlegt  ihn  nach  curipata  anti,  den  Anden  von  Curipata. 

2)  Altertümliche  Form  für  taruca  (Cervus  antisiensis). 

3)  maquilla,  wörtlich  „Händchen" ;  es  wird  also  die  Pfote  gemeint  sein  oder 
der  Lauf,    dnqualla,  von  senlca  „Nase",  das  „Schnäuzchen". 


R.  Pietschmann, 

Bernab^  Cobo  erwähnt  diesen  Tanz.  Er  nennt  ihn  nach  dem 
Kehrreime  Guayayturüla.  Männer  und  Frauen,  berichtet  er,  färbten 
dazu  das  Gesicht  und  banden  einen  Streifen  Gold-  oder  Silber- 
blech darüber  oberhalb  der  Nase  von  Ohr  zu  Ohr.  Der  Rehkopf, 
auf  dem  wie  auf  einer  Flöte  geblasen  wurde ,  war  gedörrt  mit 
dem  Geweih  daran.  Etwas  ähnliches  war  der  Tanz  der  Uacones. 
Nach  Guaman  Poma  wurde  dabei  gesungen: 

panoyaypano  panoyaypano 
und  der  Tänzer  erwiederte: 
yahaJiaha  yahaha 
cucipatapi  acllay  uarmi  ricoclla 
hay  caypafapi  llamapata  ricoclla 
yahahahaha. 
Nach  Cobo  wurde  dieser  Tanz  ,    der  der  Gruacones ,    nur   von 
Männern  getanzt.     Sie    sprangen   herum,   maskiert,    in  der    Hand 
den  Balg  oder  gedörrten  Leib  eines  Raubtiers  oder  Wildes. 

Zum  Schlüsse  noch  ein  Lied,  das  einen  altertümlichen  Ein- 
druck macht.  Es  wird  aus  einer  Erzählung  entnommen  sein.  Ob 
Guaman  Poma  ganz  das  Richtige  aus  ihr  gefolgert  hat,  möchte 
ich  bezweifeln.  Glaubt  man  ihm ,  so  wurde  in  der  Inkazeit  die 
freie  Liebe  zwischen  Unverheirateten  damit  bestraft,  daß  man  die 
Liebenden,  die  sich  mit  einander  vergangen  hatten,  bei  den  Haaren 
an  einer  Felsspitze,  Arauay  (=  Arahua),  „Pranger",  oder  Anta- 
caca,  „Kupferfels",  auch  Ya[h]uarcaca,  „Blutfels"  genannt,  aufhing, 
und  während  sie  dort  schmachteten,  sangen  sie,  bevor  sie  um- 
kamen, ihr  Harahui: 

yaya  condor  ajmiiay 

iura  guaman  pusaitay 

mamallayman  uillapuuay 

nam  pisca  j)unchau 

mana  micosca 

mana  upyasca 

yaya  cachapuric 

quilcaapac  chasquipuric 

cimülayta  soncoUayta  apapullauay 

yayallayman  mamallayman  uillapullauay  . 

„Vater  Kondor  nimm  mich  fort, 
Bruder  Falke  bring  mich  fort. 
Meinem  Mütterchen  melde  mich. 
Schon  sinds  fünf  Tage, 


Nueva  Corönica  y  Buen  Gobierno  des  Don  Felipe  Guaman  Poma  de  Ayala.    659 

Nicht  gegessen, 
Keinen  Schluck  getrunken. 
Vater  Botengänger, 
Zeichenträger,  Eillaufgänger, 

Mein  Mündchen,  mein  Herzchen  nimm  bitte  mir  fort, 
Meinem  Väterchen,  meinem  Mütterchen  bitte  melde   mich 

doch!«. 
Da  der  Bruder  nur  von  seiner  Schwester  tura  genannt  wird 
von   seinem  Bruder   dagegen  Jiuauki ,   würden   wir   hier   nicht   die 
Klage  eines  Paares,  sondern  die  eines  Mädchens  haben. 

Ein  Werk ,  wie  Sahagun  es  für  Mexiko  geschaffen  hat ,  be- 
sitzen wir  für  Peru  nicht.  Immerhin  aber  einigen  Ersatz  dafür 
verspricht  die  Bilder  -  Chronik  des  Felipe  Guaman  Poma  trotz 
mancher  Mängel  und  Schwächen. 


Shakespeare  und  der  Euphuismus. 

Von 

Lorenz  Morsbaeb. 

Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  25.  Juli  1908. 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,  Shakespeare's  Verhältnis  zum 
Euphuismus  im  ganzen  darzulegen;  was  er  von  ihm  übernommen, 
inwieweit  er  ihn  verspottet  hat.  Es  ist  so  vieles  schon  darüber 
geschrieben  worden,  aber  die  Frage  ist  noch  nicht  spruchreif.  Nur 
an  einem  der  wichtigsten  Punkte  des  Euphuismus  will  ich  ein- 
setzen, ihn  schärfer  bestimmen,  als  es  bisher  gelungen  ist,  und 
seinen  Einfluß  auf  Shakespeare  an  einem  prägnanten  Fall  er- 
weisen. 

Schon  in  den  Anmerkungen  zu  Fr.  Vischers  Shakespeare-Vor- 
trägen ist  gesagt  worden,  daß  wir  beim  Euphuismus  zweierlei  zu 
scheiden  haben,  die  konstitutiven  und  ornamentalen  Ele- 
mente, die  architektonischen  Grundlinien  und  das  äußere 
Beiwerk.  Den  Begriff  des  Euphuismus  hat  man  früher  zu  all- 
gemein, in  letzter  Zeit  zu  enge  gefaßt,  indem  man  nur  dort  den 
Euphuismus  finden  will,  wo  alle  euphuistischen  Elemente  ver- 
einigt seien.  Das  ist  nicht  richtig  und  gibt  auch  ein  falsches  Bild 
von  den  tatsächlichen  Verhältnissen.  Auch  wird  diese  Auflassung 
den  Absichten  Lyly's  nicht  gerecht.  Es  gibt  einen  Euphuismus 
im  engeren  und  im  weiteren  Sinne.  Die  konstitutiven  Elemente 
genügen  an  sich  schon,  um  den  Euphuismus  erkennen  zu  lassen; 
es  sind  die  wesentlichen  und  charakteristischen  Elemente,  die  or- 
namentalen sind  nur  Beiwerk.  Auch  Lyly's  Prosakomödien  sind 
im  euphuistischen  Stile  geschrieben;  es  ist  derselbe  architekto- 
nische Bau,  nur  fehlen  hier  öfter  gewisse  Ornamente.  Aus  begreif- 
lichen Grründen;  weil  sie  den  raschen  Fluß  des  Dialogs,  die  geist- 


Shakespeare  und  der  Euphuismus.  661 

reich  zugespitzte  Unterlialtung  stören  würden.  Welches  aber  sind 
die  eigentlichen  Grundlagen,  was  ist  das  innerste  Wesen  des  Eu- 
phuismus ? 

Der  Euphuismus  unterscheidet  sich  von  den  andern  Prosa- 
und  Modestilen  der  Zeit  vor  allem  durch  eine  härm onisch- 
rythmische  Gliederung  der  Sätze,  die  auf  völlig  glei- 
cher oder  annähernd  gleicher  Zahl  der  Sprechtakte 
(stress  groups)  beruht.  Sie  tritt  nur  da  ein  —  und  das  ist 
gleichfalls  wesentlich  —  wo  etwas  besonderes  gesagt,  ein 
wichtiger  Gedanke  ausgesprochen,  etwas  bedeutungs- 
voll hervorgehoben  werden  soll.  Zu  diesem  rythmischen 
Gleichmaß  gesellt  sich  häufig,  aber  nicht  notwendig,  ein  Paralle- 
lismus des  Satzbaus,  der  sich  oft  sogar  in  strenger  Korre- 
lation der  einzelnen  Sätze  und  Satzteile  äußert.  Mit  dieser  Neben- 
einander Stellung  größerer  und  kleinerer  syntaktischer  Reihen  ver- 
bindet sich  schließlich  gern  ein  antithetisches  Gegenspiel,  das  sich 
häufig  zu  scharfen  Kontrasten  und  wirkKchen  Antithesen  zuspitzt, 
es  oft  aber  bloß  bei  einer  mehr  spielenden  Gegenüberstellung  be- 
wenden läßt. 

In  den  parallelen  Reihen  ist  die  Zahl  der  Sprechtakte  in  der 
weit  überwiegenden  Mehrzahl  die  gleiche.  Die  einzelnen  Reihen 
haben  sehr  verschiedenen  Umfang,  sie  können  aus  einem,  zwei, 
drei,  auch  vier  und  fünf  Sprechtakten  bestehen,  vereinzelt  auch 
aus  sechs.  Sie  stellen  sich  ebenso  leicht  und  natürlich  ein  wie 
die  Yerstakte,  obwohl  sie  beständig  wechseln,  da,  wie  oben  gezeigt, 
äußere  im  Bau  der  Sätze  und  Satzteile  begründete  Formelemente 
meist  hinzutreten.  Und  da  die  parallelen  Reihen  auch  in  einem 
begrifflich  engeren  Zusammenhang  stehen,  schließen  sie  sich  wie 
Verspaare  oder  ganze  Reihen  gleichgebauter  Verse  zusammen. 

Alle  anderen  Elemente  des  Euphuismus  sind  nur  accessorisch. 
Sie  geben  aber,  da  sie  häufig  wiederkehren,  dem  Ganzen  eine 
eigenartige  Färbung.  Sie  dienen  teils  als  Schmuck  oder  helfen 
das  antithetische  Gegenspiel  markieren,  wie  Alliteration,  Asso- 
nanz, Reim  und  Wortspiel,  oder  sie  beleben  die  Rede  durch 
Stilfiguren,  unter  denen  die  rhetorische  Frage,  Klimax,  Ana- 
phora, Antistrophe  vorwiegen,  oder  endlich  sollen  sie  das  Gesagte 
deutlicher  veranschaulichen,  wie  Gleichnisse  undBeispiele, 
die  meist  der  fabelhaften  Naturgeschichte  entnommen  sind. 

Um  das  Gesagte  zu  illustrieren,  will  ich  im  Folgenden  einige 
Proben  geben  und  die  wesentlichsten  Elemente  des  euphuistischen 
Stils  durch  den  Druck  so  hervortreten  lassen,  daß  die  Eigenart 
sofort  in  die  Augen  springt.     Die  Akzente  markieren  die  Sprech- 

Egl.  Gee.  d.  Wiss.    Nachrichten.    Philolog.-hist.  £1.    1908.    Heft  6.  46 


062  Lorenz  Morsbach, 

takte,  die  beigefügten  Ziffern  geben  ihre  Zahl  an.  Ein  wahres 
Prachtstück  euphuistischen  Stils  ist  die  Vorrede  Lyly's  za  seinem 
Euphues  in  der  Ausgabe  von  1581. 


To  my  rery  good  Friends  the  Gentlemen  Scholars  of  Oxford. 

There  is  no  privilege  tbat  needeth  a  pardon,  neither  is  there 

any  remission  to  he  dsJced  2 

where  a  commission  is  gränted.  2 

I  speak  this,  Gentlemen, 

not  to  excuse  the  offence  \  which  is  täJcen,  2  +  1 

hut  to  off  er  a  defence  \  where  I  was  mistdken.  2  -f  1 

A  clear  conscience  is  a  sure  card;  trnth  hath 

the  prerogative  to  speak  with  plainness,  .  3 

and  the  mödesty  to  Mar  with  pdtience.  3 

It  was  repörted  of  söme,  2 

and  believed  of  mdny,  2 

that  in  the  education  of  Euphoebus,  where  mention  is  made 

of  Universities,  that  Oxford  was  too  much 

either  defdced  1 

or  defdmed.  1 

I  know  not 

what  the  envious  have  picked  out  hy  mdlice^  3 

or  the  Ciirious  hy  wit,  3 

or  the  guilty  hy  their  öwn  galled  cönsciences;  3 

bat  this  I  say 

that  I  was  as  far  from  thinking  ill,  3 

as  I  find  them  from  jüdging  well.  3 

But  if  I  should  now  go  about 

to  mdke  amends,  2 

I  were  then  faulty, 

in  sömewhat  amiss,  2 

and  shonld  show  myself  like  Appelles'  prentice  wbo  coveting 

to  mend  the  nöse,  2 

nidrred  the  cheek,  2 

and  not  unlike  the  foolish  dyer  who  never  thought  his  cloth 

black  until  it  was  bumed.   If  any  fault  be  committed,  impute  it 

to  Euphues  who  knew  you  not^  2 

not  to  Lyly  who  hdte  you  not  .  ,  ,  2 

Euphues,  at  bis  arrival,  I  am  assured,  will  view  Oxford,  where 

he  will 


Shakespeare  und  der  Euphuismus.  663 

either  recdnt  Ms  säyings  2 

or  renew  his  complaints.  2 

He  is  now  on  the  seas ;  and  how  he  hatli  been  tossed,  I  know 

not.     But  whereas  I  thought 

to  receive  him  at  Döver^  2 

I  must  meet  him  at  Hdmpton,  2 

Isothing  can  hinder  his  Coming  but  death,  4 

ncither  dnything  hdsten  his  depdrtiire  biit  unJdndness.  4 

Concerning  myself  I  have  always   thought   so  reverently  of 

Oxford 

of  the  schölars,  1 

and  the  mdnners,  1 

tliat  I  seemed  to  be 

rather  an  idölater  1 

than  a  blasphemer.  1 

They  that  invented  this  töy  were  unwise,  3 

atid  they  that  reported  itj  unkind;  2 

and  yet  none  of  them  can  pröve  me  unhönest.  3 

But  suppose  I  glanced  at  some  abuses :  did  not  lupiter's  egg 

bring  forth 

as  well  Helen,  \  a  light  hoüseivife  in  earth,  1  +  2 

as  Cdstor,  \  a  light  stär  in  heaven  ?  1  +  2 

The  ostrich  that  taketh  the   greatest  pride  in  her  feathers, 

picketh  some  of  the  worst  out,  and  burneth  them; 

there  is  no  tree  but  hath  some  bläst,  2 

no  coüntenance  but  hath  some  blemish;  2 

and  shall  Oxford  then  be  bldmeless?  2 

I  wish  it  tvere  so,  2 

but  I  cannot  thhik  it  is  so,  2 

But  as  it  iSj  \  it  may  be  better -,  1  +  1 

and  ivere  it  bädder,  \  it  is  not  the  tvörst.  1  +  1 

I  think  there  are  few  universities  that  have  less  faults  than 

Oxford, 

mdny  that  have  möre,  2 

none  but  have  some,  2 

But  I  commit  my  cause  to  the  consciences  of  those 

that  either  know  wJiat  I  dm.  2 

or  can  guess  what  I  shöuld  be,  2 

The  one  will  dnswer  themselves  \  in  cönstruing  friendly,  2  +  2 

the  other,  if  I  knew  them,  \  I  tvould  sdtisfy  reasonably.  2  +  2 

Thus  loath  to  inciir  the  suspicion  of  tmkindness  \  in  not  telling 

my  mindj  4  +  2 


ß4  Lorenz  Morsbach, 

And   not  willing   to  maJce  dny  excüse  \  tvhere  there   need  no 
amends,  4-f2 

/  can  neither  cräve  pdrdon,  \  lest  I  shoidd  confess  a  fault,  2-f2 

7ior  conceal  my  meaning,  \  lest  I  should  be  thöught  a  fool  2-|-2 

*And  so  I  end,  yours  assured  to  use  John  Lyly. 

Ich  füge  noch  eine  andere  Probe  ans  Lyly  hinzu  und  zwar 
aus  einer  seiner  besten  Komödien:  Alexander  and  Campaspe. 
Akt.  I.   Sc.  1. 

Clytus.    Parmenio,  I  cannot  teil  whether  I  should  more  com- 

mend  in  Alexander' s  victories  courage  or  courtesy, 

in  tJie  öne  heing  a  resolütion  ivithout  fear,  3 

in  the  öther  a  liberälity  above  cüstom.  3 

Thebes  is  rdzed,  2 

the  people  not  räcJced ;  2 

towers  thrown  down,  2 

bödies  not  thrust  aside:  2 

a  cönquest  witJiout  conflict,  2 

and  a  crüel  war  |  in  a  mild  peace.  2-|-2 

Parmenio.     Clytus,    it  becometh  the   son   of  Philip  to  be 

none  other  than  Alexander  is;  therefore 

sceing  in  the  fäther  a  füll  perfection,  3 

who  could  have  doübted  in  the  son  an  excellency?  3 

For,   as   the   moon  can  borrow  nothing  eise  of  the  sun  but 

Hght: 

so,  of  a  sire  in  whom  nothing  but  virtue  was,  2 

what  could  the  child  receive  but  Singular?  2 

It  is  for  turkies  to  stain  each  other,  not  for  diamonds: 

in  the  öne  to  be  made  a  difference  in  göodness,  2 

in  the  öther  no  compärison.  2 

Clytus.    You  mistake  me,  Parmenio,  if,  whilst 

1  commend  Alexander,  2 

you  imagine 

/  call  Philip  into  question;  2 

unless ,   happily,    you  conjecture  —  which  none  of  judgment 

will  conceive  —  that 

because  I  like  the  fruit,  2 

therefore  1  heave  at  the  tree,  2 

or  coveting  to  kiss  the  child,  3 

I  therefore  go  ahoüt  to  poison  the  teat.  3 

Parmenio.    I,  but,  Clytus, 

I  perceive  you  are  börn  in  the  east,  8 


Shakespeare  und  der  Euphuismus  665 

and  never  Idiigli  hut  at  tJie  sun  rising :  3 

which  argnetli, 

though  a  duty  where  you  öttght,  2 

yet  no  great  devötion  where  you  migld.  2 

Clytus.     We  will  make   no    controversy  of  that  which 

there   ought   to    be    no   question ;    only  this    shall  be  the 

opinion  of  us  both, 

that  none  was  ivörthy  \  to  he  fdther  of  Alexander  \  hut  Philip,  2  +  2  +  1 

nor  dny  meet  \  to  he  the  sön  of  Philip  \  hut  Alexander.  2  +  2  +  1 

Mit  diesen  wenigen  Proben  aus  Lyly's  Werken,  die  aber  für 
unsern  Zweck  genügen  mögen,  halte  man  nun  die  bekannte  Prosa- 
rede des  Brutus  im  Akt  III,  Sc.  2  von  Shakespeare's  Julius  Caesar 
zusammen.  Ich  lasse  sie  in  gleicher  Weise  wie  die  Proben  aus 
Lyly  hier  abdrucken,  da  schon  das  äußere  Bild  für  die  Sache 
sprechen  dürfte. 

Brutus.     Be  patient  tili  the  last. 
Romans,  countrymen,  and  lovers! 

hear  me  for  my  cäuse^  \  and  be  silent,  \  that  yon  may  he  an  2  +  1  +  1 
helieve  mefor  mine hönour,  \  and have respect to mine hönour,  \ 

that  you  may  helieve:  2  +  2  +  1 
Censure  me  in  your  wisdom,  \  and  awake  yoiir  senses,  \ 

that  you  may  the  better  jüdge.  2  +  2  +  1 

If  there  be  dny  in  this  assembly,  2 

any  dear  friend  of  Cdesar^s,  2 
to  him  I  say, 

that  Brutus"  Jöve  to  Caesar  2 

was  no  less  than  his.  2 
If   then    that   friend   demand   why   Brutus   rose   against 
Caesar,  this  is  my  answer: 

Not  that  I  loved  Cdesar  less,  3 

hut  that  I  loved  Börne  more.  3 

Had  you  rather  Cdesar  were  living  \  and  die  all  sldves,          2  +  2 

than  that  Cdesar  ivere  dead,  \  to  live  all  free  nienP  2  +  2 

Äs  Caesar  loved  me,  \  I  weep  for  him ;  1  +  1 

as  he  was  förtunate,  \  I  rejoice  at  it;  1  +  1 

as  he  was  vdliant,  \  I  hönour  him:    •  1  +  1 

hut  as  he  was  ambitious,  \  I  sleio  him.  1  +  1 

There  is  tears  for  his  löve;  2 

joy  for  his  förtune;  2 

hönour  for  his  välour;  2 

and  death  for  his  ambition.  2 


666  Lorenz  Morsbach, 

Who  is  Jiere  so  hdse  fhat  would  he  a  böndman  ?  3 

If  dny ^  speak;  \  for  htm  have  I  offended.  2  +  2 

Who  is  here  so  rüde  that  toould  not  he  a  BömanP  \  4 

If  äny,  speaJc,  \  for  him  have  I  offended.  2  +  2 

Who  is  here  so  vile  that  will  not  love  Ms  cöuntry?  4 

If  dny,  speah'^  \  for  him  have  I  offended,  2  +  2 
I  pause  for  a  reply. 
All.  None,  Brutus,  none. 

Brutus.     Then  nöne  have  I  offended,  2 

I  have  done  no  more  to  Caesar  2 

than  you  shall  do  to  Brutus.  2 
The  question  of  bis  death  is  enrolled  in  the  Capitol; 

his  glory  not  extenuated,  \  wherin  he  was  wörthy,  2+|l 

nor  his  offinces  enförced,  \  for  which  he  suffered  death.  2  +  1 
[Enter  Antony  and  others,  with  Caesar's  body.] 
Here  comes  his  body,  monrned  by  Mark  Antony: 

who^  though  he  had  no  hdnd  in  his  death,  2 

shall  receire  the  henefit  of  his  dying^  2 

a  pldce  in  the  Commonwealth]  2 

as  which  of  you  shall  not?  2 
With  this  I  depart,  — 

that  as  1  slew  my  hest  lover,  \  for  the  göod  of  Börne,  2  +  2 

I  have  the  same  ddgger  for  myself,  2 

when  it  shall  please  the  cöuntry  \  to  need  my  death.  2  +  2 

Wir  haben  bei  Shakespeare  dieselbe  symmetrische  Gliederung 
der  emphatischen  Stellen  wie  bei  Lyly,  mit  einer  auffallend  regel- 
rechten Gleichzahl  der  Sprechtakte,  verbunden  mit  starker  Korre- 
lation der  Sätze  und  Satzteile  und  mannigfachen  Antithesen.  Auch 
von  dem  äußeren  Beiwerk  und  den  omamentalen  Elementen  ist 
einiger  Gebrauch  gemacht.  Die  Alliteration  hebt  bedeutungs- 
volle Wörter  und  Silben  gelegentlich  wirksam  hervor.  Assonanz 
und  Wortspiel  fehlen,  letzteres  würde  dem  Ernst  der  Situation 
zu  wenig  entsprechen.  Die  beliebten  Stilfiguren  der  rhetorischen 
Frage,  der  Klimax,  der  Anaphora  und  Antistrophe  sind  reichlich 
ausgestreut.  Aber  die  bei  Lyly  so  beliebten  Gleichnisse  und 
Beispiele  fehlen  ganz.  Mit  Recht,  denn  sie  würden  der  knappen, 
eindrucksvollen  Rede  Abbruch  tun;  sie  sind  auch  in  Lyly's  Ko- 
mödien seltener  als  in  seinem  Roman. 

Somit  zeigt  sich  Shakespeare  hier  nicht  nur  stark  beeinflußt 
von  Lyly's  Stil,  sondern  er  hat  ihm  geradezu  die  Grundelemente 
mit  deutlicher  Absicht  entnommen.     Und  dennoch  würde  es  völlig 


Shakespeare  und  der  Euphuismus.  667 

falsch  sein,  wenn  wir  Brutus  Rede  euphuistiscli  nennen  wollten. 
Daß  manches  Beiwerk  fehlt,  wie  vor  allem  die  Gleichnisse  und 
Beispiele,  kommt  nicht  in  Betracht;  sie  fehlen  auch  öfter  auf 
längere  Strecken  in  Lyly's  Komödien.  Aber  eines  fehlt  ganz 
bei  Shakespeare:  die  Lyly'sche  Eedseligkeit  und  Weitschweifig- 
keit, die  so  häufige  Variierung  desselben  Gredankens  innerhalb 
der  rythmischen  Reihen,  der  geringe  Ernst  der  Sache,  das 
Spielen  und  Kokettieren  mit  bloß  geistreich  witzelnden  Phrasen 
und  Antithesen.  Shakespeare's  Stil  hat  nichts  Pretiöses.  Er 
hat  sich  nur  das  Beste  von  Lyly's  Stil  angeeignet  und  mit 
künstlerischer  Absicht  verwertet.  Denn  der  Stil  Lyly's  hat  auch 
seine  guten  Seiten.  Man  braucht  ihn  nur  mit  den  anderen,  meist 
schwerfälligen  und  überladenen  Prosastilen  der  Zeit  zu  vergleichen. 
Von  diesen  unterscheidet  sich  Lyly  vorteilhaft  durch  den  ein- 
fachen Wortschatz  und  die  Vermeidung  gelehrter  Fremdwörter, 
durch  die  klare,  lichtvolle  Satzbildung  und  das  Bestreben,  alles 
deutlich  zu  sagen.  In  den  beiden  letzten  Punkten  ist  er  freilich 
vielfach  entartet,  der  Satzbau  ist  zu  getüftelt  und  die  Deutlichkeit 
zu  aufdringlich. 

Shakespeare  hat  die  Uebertreibungen  Lyly's  und  das  Manie- 
rierte seines  Stils  ferngehalten  und  daher  alles  vermieden,  was 
an  Lyly's  Modestil  direkt  erinnern  könnte.  Es  ist  daher  auch 
nur  ganz  vereinzelt  von  den  Forschern  bemerkt  worden  (z.  B.  von 
Boyle),  daß  Brutus  Rede  vom  Euphuismus  beeinflußt  sei.  Andere 
(z.B.  Hudson)  sprechen  von  „well  balanced  sentences",  ohne  jedoch 
den  wahren  Sachverhalt  durchschaut  zu  haben,  Herford  (Introd.  p.  9 
Note)  aber  weist  mit  vollem  Recht  darauf  hin,  daß  eine  Stelle  im 
Plutarch  offenbar  die  besondere  Redeweise  des  Brutus  bei  Shake- 
speare veranlaßt  habe.  Das  ist  allerdings  ein  wichtiger  Punkt, 
der  jetzt  neues  Licht  erhält.  Ich  setze  zunächst  die  Stelle  bei 
Plutarch  hierher,  in  der  Uebersetzung  des  Thomas  North,  die  der 
Dichter  bekanntlich  benutzt  hat.  Es  heißt  da  von  Brutus'  Weise 
zu  schreiben  (in  der  Ausgabe  Skeat's  S.  107): 

But  for  the  Greek  tongue  they  do  note  in  some  of  his  epistles, 
that  he  counterfeited  that  brief  compendious  manner  of  speech 
of  the  Lacedaemonians.  As,  when  the  war  was  begun,  he  wrote 
unto  the  Pergamenians  in  this  sort: 

„1  understand  you  have  given  Dolabella  money: 

if  you  have  döne  it  willingly.  2 

you  confess  you  have  offended  me;  2 

if  against  your  will,  2 


ßßg  Lorenz  Morsbach, 

show  it  then 

hy  giving  me  willinyly^,  2 

Another  time  again  unto  tlie  Samians  : 

y,Your  Councils  he  long,  2 

your  döings  he  slow  2 

consider  the  end.^  2 

And  in  another  epistle  he  wTote  unto  the  Patareians :  ^^Xanthians, 

despising  my  good  will,  2 

have  made  their  coüntry  a  grave  despair\  2 

and  the  Patareians, 

that  put  thetnselves  into  my  protection,  2 

have  lost  no  jot  of  their  liherty :  2 

and  therefore,  whilst  you  have  liberty,  either  chose 

the  judgemetit  of  the  Patareians,  2 

or  the  förtune  of  the  Xänthians'^.  2 

These  were  Bratns's   manner    of  letters,    which  were  honoured 
for  their  briefness. 

Wie  man  sieht,  ist  auch  der  Uebersetzer  North  von  der  Zeit- 
strömung erfaßt  und  hat  den  prägnanten  Stellen  eine  harmonisch- 
rythmisrhe  Grliederung  mit  gleicher  Zahl  der  Sprechtakte  gegeben. 
Diese  Stelle  war  ohne  Zweifel  für  Shakespeare  der  erste  Anlaß 
zu  seiner  künstlerischen  Grestaltung  der  Rede  des  Brutus.  Sie 
war  aber  auch  gleichsam  die  geistige  Brücke,  die  ihn  zu  Lyly's 
Euphuismus  hinüberführte.  Mit  scharfem  Blick  erkannte  er  die  Ver- 
wandtschaft der  Plutarchstelle  mit  Lyly's  pointiertem  Antithesen- 
ßtil,  der  wie  wir  jetzt  wissen  indirekt  auf  gewisse  Vorbilder  des 
griechischen  Altertums  zurückgeht  (von  Norden,  Die  antike  Kunst- 
prosa vom  VI.  Jahrhundert  bis  in  die  Zeit  der  Renaissance,  Band  II, 
1898;  dazu  Heiberg,  Nord.  Tidskr.  for  Fil.  1900,  S.  121).  Er  hat 
daher  der  Rechtfertigungsrede  des  Brutus  das  künstlerische  Gewand 
gegeben,  das  ihm  am  besten  mit  Brutus'  überlieferter  Sprechweise 
übereinzustimmen  schien.  Daher  auch  die  Anwendung  der  Prosa, 
die  zugleich  einen  bedeutungsvollen  Gregensatz  zu  Antonius'  poe- 
tischer Leichenrede  bildet. 

Diese  Erkenntnis  zeigt  uns  Shakespeare  nicht  nur  als  einen 
schaffenden  Künstler,  der  mit  bewußter  Absicht  fremde  Stilarten 
sich  aneignet  und  künstlerisch  verwertet ,  sondern  gibt  uns  auch 
den  sicheren  Maßstab  zur  ästhetischen  Beurteilung  der  Rede  des 
Brutus.  Indem  der  Dichter  Lyly's  Stil  das  Beste  entnahm,  Ein- 
fachheit und  Klarheit  des  Satzbaus  und  scharfe,  oft  antithetische 
Zuspitzung  der  Gedanken,    legt  er  Brutus  Worte   in   den  Mund, 


Shakespeare  und  der  Euphuismus.  669 

die  durch  Prägnanz  und  Kürze  des  Ausdrucks  und  durch  „geist- 
voll schlagende  Antithesen"  (Fr.  Vischer)  der  Situation  und  dem 
Wesen  des  Brutus  voll  entsprechen.  Die  ßede  ist  mit  ausge- 
suchter Kunst  angelegt,  aber  alles  Künstliche  ist  femgehalten. 
Wer  sie  unbefangen  hört  oder  liest,  ahnt  kaum,  wie  sehr  der 
Dichter  hier  mit  feinsten  künstlerischen  Mitteln  einen  natürlichen 
Totaleindruck  erzielt. 


AS  Akademie  der  Wissenschaften, 

182  Göttingen.     Philologisch- 

Cr8l22  Historische  Klasse 
1908  Nachrichten 


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